Hoff, Kontinent der Hoffnung

01/31/2025
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Zwischen Bestimmung und Verzweiflung

Fahr hin, mein Lied, wie der reißende Strom, der dem großen Meer entgegeneilt. James Clarence Mangan An Bord der Providence im Atlantik, gegen Ende September 1839 Die Koje knarrte, als Terese Sheridan sich umdrehte, um nach dem kleinen Mädchen zu sehen, das neben
ihr lag. Obwohl es noch nicht dämmerte, war das Kind wach und starrte Terese mit jenen großen, ruhigen Augen an, hinter denen sich ein Ozean voller Sorgen zu verbergen schien. Zu ihrer beider Füßen schlief der kleine Bruder des Mädchens einen unruhigen Schlaf.

Die Kinder waren bereits von der Reise gezeichnet. Shona, das Mädchen, war beängstigend lethargisch geworden. Mit Ausnahme Tullys, ihres kleinen Bruders, schien sie überhaupt nichts mehr zu interessieren. Was den Jungen anbetraf, so litt er an Husten, der von Tag zu Tag schlimmer zu werden schien. Und so eingepfercht, wie sie waren, dicht an dicht umgeben von
zahllosen Menschen mit allen Arten von fiebrigen Erkrankungen, mochte man gar nicht daran denken, was sie sich womöglich noch wegholen könnten.
Terese drehte sich erneut um – sie suchte nach einer Stellung, in der ihr der Rücken nicht so weh tat.


Die Schlafpritschen waren nicht viel mehr als hölzerne Borde, die man an das Schott genagelt hatte, und es 10 gab nichts, womit man Liegefläche oder Wand hätte polstern können, um nicht beim Rollen des Schiffes fortwährend gegen die hölzerne Verschalung geworfen zu werden. Niemand war darauf gekommen, dass man womöglich eigene Matratzen würde mitbringen
müssen, und so hatten sie sich mit nichts als einem Minimum an Bettzeug eingeschifft, das ihnen die Gesellschaft der Waisenfreunde zur Verfügung gestellt hatte. Am ersten Tag an Bord hatte Terese versucht, die Kojen mit Decken auszupolstern, aber die Nächte waren viel zu kalt, um ohne Zudecke zu schlafen, und so drohten ihnen jetzt lange Wochen voller Torturen
auf den nackten Holzbrettern.
Nach einer Woche auf See fingen einige der Zwischendeckspassagiere an, die Providence einen schwimmenden Sarg zu nennen. Eine sehr zutreffende Bezeichnung, dachte Terese, soweit sich das, was einem hier
zugemutet wurde, überhaupt beschreiben ließ. Es glich einem Verlies, dieses stinkende Loch: Kalt und duster
dünstete die verbrauchte Luft den Geruch feuchten
Holzes aus. Unzählige Leiber waren auf engstem Raum
zusammengepfercht, vegetierten im eigenen Schmutz.
Im Zwielicht der unbelüfteten Zwischendecksquartiere mischten sich leises Schnarchen und schluchzende
Frauenstimmen unter das Jammern derer, die auf ihren
Pritschen zusammengekrümmt lagen und die Qualen
der Seekrankheit erduldeten, sowie unter die Gebete
derer, die noch stark genug waren, um ihre Erlösungssehnsucht dem Himmel entgegenzuschreien.
Und bei alledem das unerträgliche Schlingern und
Rollen des Schiffes.
Was ihr Los um so bitterer machte, war die Tatsache, dass sie eigentlich nicht im Zwischendeck hatten
reisen sollen. Wenigstens das hatte Brady ihnen ersparen wollen, indem er mit Hilfe der finanziellen Mittel
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des Zeitungsverlages seines Bruders für Terese und die
Kinder anständige, saubere Kabinen in der zweiten
Klasse buchte.
Am Ende ihres ersten Seetages jedoch waren sie von
einem gemeinen Offizier, der sie als „dreckiges Bauernpack“ titulierte, gemeinsam mit einigen anderen, die
sich gleich ihnen an Bord verlaufen hatten, wie Vieh
ins Zwischendeck hinabgetrieben worden.
Terese hatte den Burschen angeschrien, ja sogar
versucht, sich an ihm vorbeizudrängen, um einem
anderen Offizier, der im Hintergrund zuschaute, ihre
Lage vorzutragen, doch dem Rüpel machte es keinerlei
Mühe, sie abzuschütteln und samt den Kindern gewaltsam unter Deck zu befördern, wo sie nun mit den
anderen armen Seelen, die hier eingepfercht waren,
buchstäblich gefangen lagen.
Die ganze Zeit über hatte Terese ihre Wut kaum zügeln können. Kein Tag verging ohne Hass auf Brady,
der sie, nicht Manns genug, die Verantwortung für das
Kind zu übernehmen, das sie unterm Herzen trug, von
sich gestoßen und es dann noch nicht mal nötig gehabt
hatte, sie an Bord zu begleiten, um ihre Unterkünfte
in Augenschein zu nehmen – ja, es gab kein Übel auf
der Welt, einschließlich des widerwärtigen Bordfraßes
und des verdorbenen Trinkwassers, die sie nicht Brady
angelastet hätte.
Unfähig, noch länger still zu liegen, stand sie auf,
trat ein paar Schritte von ihren Kojen weg und blickte
auf die Masse menschlicher Körper, die kreuz und quer
durcheinander lagen. Ein nur allzu vertrautes Gefühl
beschlich sie, drohte sie zu überwältigen: das Gefühl
des Gefangenseins, wie wenn sie alleingelassen in der
Falle säße, abgeschnitten von allem und jedem außer
der düsteren Unterwelt dieses Kahns.
Immer wieder ging ihr durch den Kopf, es müsste
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doch leichter sein, sich zum Oberdeck durchzukämpfen und in die See zu springen, als dieses verfluchte
Elend auch nur einen Tag länger zu ertragen. So am
Ende, so am Boden zerstört vor Enttäuschung und
Verzweiflung war sie, dass sie womöglich genau das
getan hätte, hätte es da nicht das Kind in ihrem Leib
und die zwei jungen Waisen gegeben, deren Wohl und
Wehe von ihr abhingen.
Also kämpfte sie die Versuchung nieder und zwang
sich, all der Verwahrlosung, die sie umgab, den Rücken
zu kehren. Sie kniff die Augen zu, schlang die Arme
so fest um sich, dass sie vor Anstrengung zu zittern
begann, und klammerte sich daran, dass sie sich mit
jedem Tag, den sie in diesem Höllenloch hinter sich
brachte, ein Stück weiter von der Misere entfernte, in
der sie ihr bisheriges Leben in Irland gefristet hatte.
Plötzlich meinte Terese, gleich dem Wind, der in
den Wanten der Takelage heulte, die Stimme Jane
Connollys zu hören, jener armen, verkrüppelten Frau,
hinter deren schroffer Fassade sich ein überraschend
mitfühlendes Herz verbarg. Terese hob die Hand und
betrachtete den goldenen Ring, den sie am Finger trug.
Am Vorabend von Tereses Abreise hatte Jane ihr
nicht bloß einen vollen Wochenlohn extra ausgezahlt,
sondern sie obendrein mit dem Geschenk eines massiven goldenen Fede-Rings überrascht, eines Treueringes,
wie man ihn in Claddagh trug. Denselben Ring hatten
einst Jane und nach ihr ihre Tochter getragen.
„Trag ihn an deiner Hand rüber nach Amerika!“,
hatte Jane gesagt, als sie ihr den Ring gegeben hatte.
„Trag ihn – und denk an mich und an Claddagh …
Denk an Irland! Denn Irland – das ist nicht bloß deine
Herkunft, Terese Sheridan; Irland, das ist, was du bist.“
Aber Jane hatte sich geirrt! Irland hatte nichts mit
dem zu tun, was sie war. Irland war nichts weiter als
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ihre Vergangenheit, und zwar eine Vergangenheit von
solcher Düsternis, Kälte und Bitterkeit wie die Innereien dieses verfluchten Kahns.
Immer noch mit dem Rücken zu der widerwärtigen
Wirklichkeit des Zwischendecks stehend, erinnerte
sie sich daran, dass Irland nun hinter ihr lag, während
sie Amerika, ihre Zukunft, vor sich hatte. Sie musste
nichts weiter tun, als dieses fahrende Höllenloch zu
überleben, dann würde sie frei sein, ein neues Leben
zu beginnen.
Und überleben, das würde sie. Um jeden Preis!
Falls Gott es geschehen ließ …
Eine innere Mahnung löschte ihre hitzige Entschlossenheit ab wie ein eisiger Wasserguss. Je weiter sie auf
die hohe See hinausfuhren, um so schwerer fiel es ihr,
an ihrem sowieso schon schwankenden Glauben festzuhalten. Sie konnte geradezu fühlen, wie er ihr entglitt, achteraus geriet gleich den Wellen im Kielwasser
des Schiffes. Immer wieder, vor allem mitten in der
Nacht, wenn das Knarren und Knirschen des alten
Schiffsrumpfes die Geräusche menschlichen Leidens
noch übertönte, die von allen Seiten an ihr Ohr drangen, kam es ihr vor, als hätte Gott sie ganz und gar
verlassen.
Was wäre denn, wenn Gott ihr wegen der Sünde,
die sie mit Brady begangen hatte, völlig zu Recht den
Rücken kehrte? Was, wenn es für sie und ihr Kind gar
keine Zukunft gäbe, sondern nur einen unspektakulären Tod in diesem elendigen Loch, lange bevor sie den
Hafen New Yorks erreichte?
Dieser Gedanke ließ sie erschauern, und all ihrer
Entschlossenheit, sich nicht unterkriegen zu lassen,
zum Trotz verspürte sie mit einem Mal richtige Angst.
Eiskalt lief es ihr den Rücken hinunter, und ein Zittern
packte sie, das schier nicht aufhören wollte.
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Ach Herr, bitte, ich bestreite ja gar nicht, dass ich deine Strafe verdient habe – aber mein Baby hat sich doch
nichts zuschulden kommen lassen, oder?! Bitte, bitte –
kannst du mir nicht wenigstens helfen, dass ich diesen
Schrecken hier überlebe und meinem Kind ein besseres
Leben bieten kann?
Ach lieber Heiland, bitte mach doch, dass am Ende dieses Alptraums ein neues Leben auf uns wartet, eine Zukunft für uns beide – in Amerika!
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1. Ein überaus ehrbarer Mann
Das kostbarste Juwel ist das,
welches man niemals bekommen kann.
Irisches Sprichwort
New York, Anfang November
Jack Kane saß in seinem Büro beim Vanguard und
grübelte darüber nach, – beileibe nicht zum erstenmal
– wann es eigentlich gewesen war, dass die Faszination, die Samantha Harte in ihm auslöste, in Liebe umschlug, und was in aller Welt er mit dieser Liebe nun
anfangen sollte.
Es war ein herbstlicher Montagmorgen wie aus dem
Bilderbuch. Vergangene Woche hatten sie typisches
New Yorker Herbstwetter gehabt, grau und feucht,
aber heute würde es vielleicht doch noch, wenn auch
verspätet, einen Tag vom Schlage „goldener Oktober“
geben, so wie ihn die Dichter besangen: frisch, klar
und sonnig.
Jacks Stimmung war beinahe heiter, so sehr, dass
es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren. Dabei hatte
er mehr als genug Arbeit, um für den Rest des Tages
beschäftigt zu sein, aber er konnte an nichts anderes
denken als an Samantha.
Wie war er nur in diesen Zustand geraten?
Schließlich hatte er die Frau, abgesehen von einem
gelegentlichen Händedruck, gar nicht berührt. Die
eine Gelegenheit, aus der man mit gutem Willen vielleicht etwas mehr ersehen konnte als eine belanglose
freundliche Geste ihr gegenüber, ja bei der er sich um
ein Haar hätte hinreißen lassen, ihr einen Kuss zu ge-
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ben, lag Wochen zurück. Es war eine impulsive Bewegung gewesen, in der er abrupt innegehalten hatte, als Samantha buchstäblich von ihm zurückprallte.
Seitdem hatte Jack jedes Mal, wenn sie zusammen waren, seine Gefühle mit geradezu religiöser Inbrunst im
Zaum gehalten.
Mehr Selbstbeherrschung hätte auch ein Priester
nicht aufbringen können.
Aber zum Donner, er war kein Priester, und so sehr
er sich auch einredete, nichts mehr sein zu wollen als
ihr Chef und väterlicher Freund, war er doch mehr
denn je betört von der Frau!
Wenn es ihm gelungen war, seine selbstauferlegte
Disziplin nicht zu brechen, so nicht nur, weil er alles
daransetzte, ihr Vertrauen zu gewinnen – obschon es
im Kern genau darum ging –, sondern wahrscheinlich
auch aus Angst, sie sonst ein für allemal zu verlieren.
Auch wenn Samantha ihm so gut wie nichts über ihre
frühere Ehe erzählt hatte, so hatte sie doch zumindest
seinen Verdacht bestätigt, dass sie von ihrem verstorbenen Mann misshandelt worden war. Wie sehr oder auf
welche Weise, das freilich wusste er und würde es womöglich niemals zu wissen bekommen, war doch Samantha offenkundig entweder außerstande oder nicht
willens, darüber zu sprechen. Ja, sie hatte angedeutet,
dass nicht einmal ihre Eltern in diese Dinge eingeweiht
waren.
Einerseits sehnte sich Jack nach ihrem Vertrauen,
verzehrte sich gar danach, wenn er auch kaum Chancen zu haben schien, jemals ihre Zuneigung zu gewinnen. Und dann wieder gab es Momente, wo es ihn fast
erleichterte, dass sie ihr Stillschweigen gewahrt hatte,
war er sich doch nicht sicher, ob er die Wahrheit würde
ertragen können.
Es machte ihn verrückt, sich vorzustellen, dass je-
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mand Samantha weh getan hatte; allein der Gedanke
daran ließ ihn sich krümmen wie im Schmerz. Es waren nur wenige Male gewesen, in denen er sich erlaubt
hatte, näher darüber nachzusinnen, wie es in ihrer Ehe
mit Bronson Harte wohl zugegangen sein mochte, und
jedes Mal war eine gefährliche Wut in ihm hochgestiegen. Es war wohl besser, dass er die Details nicht
kannte.
Andererseits kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob
das nicht bloß eine Art Feigheit war, aber diesen Gedanken schüttelte er ab, indem er sich fest vornahm,
Samantha bereitwillig zuzuhören und sich für ihr Vertrauen dankbar zu erweisen, sollte sie sich je überwinden können, ihm ihr Herz auszuschütten.
Die Wahrheit war, dass er sich verzweifelt danach
sehnte, Samanthas Vertrauen zu gewinnen, koste es,
was es wolle.
Er wollte, dass sie ihm traute. Ihn brauchte.
Und er wollte, dass sie ihn heiratete.
Seufzend lehnte Jack sich in seinem Sessel zurück.
Nein, es ging ihm nicht gut – keine Frage.
Er ertappte sich bei der Überlegung, ob sein vorbildliches Verhalten irgendwelche Auswirkungen auf Samantha hatte. Machte er sich bloß etwas vor, wenn er
sich der Hoffnung hingab, seine Gentleman-Manieren
trügen dazu bei, ihre Zuneigung zu gewinnen? Nach
wie vor war er sich nicht sicher, woran er bei der Frau
war.
Mehr als einmal hatte Jack der beunruhigende Verdacht beschlichen, dass sie ganz genau wusste, wie
schwer es ihm fiel, immerzu den Gentleman zu spielen. Zwar mochte er nicht so weit gehen, sie fände seine Bemühungen bloß belustigend, aber gelegentlich
sah sie ihn mit eigenartig hochgezogenen Brauen an,
als rechnete sie jeden Moment damit, dass er die Zäu-
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ne seiner neuerworbenen Wohlanständigkeit niederreißen würde.
Erneut seufzte er unzufrieden, konnte aber zugleich
ein Lächeln nicht unterdrücken, als ihm einfiel, dass er
Samantha ja heute sehen würde. Ja, wenn alles gutginge, dürfte er sich Hoffnungen machen, sie sogar zweimal zu treffen: noch heute morgen und dann wieder
am Abend.
An diesem Punkt hellte sich seine Stimmung beträchtlich auf, und voller Erwartung stand er auf. Der
heutige Tag konnte für sein Leben sehr wichtig werden, und er wollte nicht eine kostbare Minute mehr
verschwenden, sondern die Dinge ohne Umschweife
in die Wege leiten.
* * *
Samantha hatte erwartet, dass Tommy Ryder mit der
Ausgabe vom Tage vorbeikommen würde, deshalb war
sie nicht überrascht, als es kurz nach elf an ihrer Tür
klopfte.
Tommy kam spät, also würde sie sich ranhalten
müssen, um mit der Korrektur rechtzeitig fertig zu
werden, bevor am Nachmittag ein weiterer Bote erscheinen würde, um die Druckfahnen wieder abzuholen. Dennoch war sie nicht wirklich ärgerlich, eher
ein wenig erleichtert, dass der Junge nun endlich zur
Stelle war.
Allerdings gefror ihr das Lächeln jäh auf den Lippen,
als sie vor ihrer Wohnungstür nicht den jugendlichen
Büroboten des Vanguard gewahrte, sondern den Eigentümer des Blattes höchstpersönlich.
„Jack!“
Groß und dunkel wie ein hochgewachsener Schwarzbär stand er in der Tür. Die heutige Zeitung unter den
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Arm geklemmt, hielt er ihr mit der anderen Hand einen Strauß Herbstblumen hin.
Wortlos starrte Samantha ihn an, wobei ihre Blicke
zwischen seinem leicht schiefen Lächeln und dem Blumenstrauß hin- und herwanderten. Sie war so verlegen, dass sie wirklich nichts sagen konnte.
Immer noch brachte sie Jacks Gegenwart – gelinde
gesagt – aus der Ruhe, Monate nachdem sie in seine
Dienste getreten war und trotz der sonderbaren und
oft verwirrenden Freundschaft, die sich zwischen ihnen gebildet hatte.
Gerade so, als wäre ihm Samanthas Verlegenheit
hochwillkommen, wurde sein Lächeln noch breiter.
„Na, heute bin ich mal dein Botenjunge“, sagte er
forsch und streckte ihr das Bouquet entgegen. „Darf
ich reinkommen, Samantha?“
Regungslos starrte Samantha die Blumen an. „Äh –
ja, hm … Ich weiß nicht recht, ob das so ’ne gute Idee
wäre.“
Eigentlich hatte sie gedacht, dass die Zeit lange hinter ihr läge, in der Jack Kane – oder irgendein anderer
Mann natürlich – sie zum Stottern bringen könnte
wie ein dummes Schulmädchen. Doch so sehr sie sich
auch anstrengte, die Fassung wiederzugewinnen, Samantha konnte nichts dagegen tun, dass ihr das Herz
weich wurde.
Sie rief sich selbst zur Ordnung, indem sie sich klarmachte, dass sie alles andere war als ein Schulmädchen,
schließlich ging sie auf die Dreißig zu. Nichts, so ging
ihr durch den Sinn, stand einer reifenden Frau schlechter zu Gesicht, als wenn sie plötzlich anfing, sich wie
ein kopfloser Backfisch aufzuführen.
Es wäre wohl in der Tat richtig, so ihr nächster Gedanke, ihn hereinzubitten – schließlich war er allen
Problemen ihres Miteinanders zum Trotz ihr Arbeitge-
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ber. Doch brauchten ihre Vermieterinnen eine Treppe
tiefer, zwei alte Jungfern namens Washington, bloß
Wind davon zu kriegen, dass sie einen Mann in ihrer
Wohnung empfangen hatte, und ihr wäre ein Skandal
sicher, der sich gewaschen hätte.
Plötzlich wurde sie gewahr, dass Jack sie mit einem
belustigten Gesichtsausdruck musterte, als wüsste er
haargenau, was sie dachte.
„Ich bin sicher, du hast Angst, deinen entzückenden
Wirtinnen zu nahe zu treten“, sagte er. „Doch sei unbesorgt. Ich bin sicher, die Teuren finden mich ziemlich charmant.“
Wortlos starrte Samantha ihn an.
„Oh, ähm – ich bin Miss Rena und ihrer Schwester
beim Reinkommen über den Weg gelaufen“, fuhr er
fort, als antwortete er auf eine unausgesprochene Frage
ihrerseits. „Sie waren dabei, die Blumen aus der Veranda ins Haus zu holen – scheinen wohl der Meinung zu
sein, wir würden heut Nacht Frost kriegen –, und ich
bot ihnen meine Hilfe an. Ich hab’ ihnen erklärt, mein
Besuch sei ziemlich dringend und im übrigen rein geschäftlicher Natur, und sie waren sehr verständnisvoll.
Und ausgesprochen hilfsbereit“, fügte er hinzu, immer
noch amüsiert vor sich hin lächelnd. „Du siehst also,
Samantha, es geht völlig in Ordnung, wenn du mich
reinbittest. Natürlich lassen wir die Tür offen, aber ich
kann dir versichern, dass sowohl Miss Rena als auch
Miss Lily mir vollkommenes Vertrauen entgegenbringen. Mir scheint, die beiden sehen in mir den Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle.“
Samantha konnte nicht umhin zu denken, dass er
wie ein Pirat aussah. Freilich ein Pirat in einem perfekt
geschnittenen Anzug – wie immer – samt Kavalierssträußchen am Revers.
Aber trotzdem: ein Freibeuter.
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Jack hielt ihr erneut das Bouquet hin, und diesmal
riss Samantha es ihm buchstäblich aus der Hand. „Also
schön, dann kannst du wohl ebenso gut reinkommen.“
„Oh, vielen Dank, Samantha“, sagte er mit einer raschen, knappen Verbeugung, bevor er an ihr vorbeieilte. „Ich hoffte, du würdest mich einladen.“
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2. Ein Anflug von Rebellion
Da wohnt etwas im rechtschaff’nen Herzen,
das aufbegehrt, wo Unrecht ist.
Anonym
Samantha stellte die Blumen ins Wasser, während sie
sich den Kopf darüber zerbrach, was sie wohl sagen
könnte, das nicht vollends belanglos klang. Jack war ihr
in die Küche nachgegangen, hatte die Druckfahnen der
Zeitung auf den Tisch gelegt und sah ihr nun, lässig
am Ausguss lehnend, beim Arrangieren der Blumen zu.
Als er an ihr vorbei die Hand ausstreckte, um eine
fahl aussehende Blüte zu ergreifen, die nicht recht zu
den anderen passen wollte, kam Samantha in ihrer
Hast, ihm auszuweichen, fast ins Stolpern. Er hob eine
Braue, sagte aber nichts, sondern hantierte seelenruhig
mit der schlaffen Blüte, indem er sorgfältig erst ein,
zwei Blätter entfernte, bevor er die Blume zwischen
zwei größeren, frischer aussehenden zurechtsteckte.
Lächelnd richtete er sich auf und wandte ihr erneut
das Gesicht zu. Erst in diesem Moment gelang es Samantha, ihren Blick von seinen Händen abzuwenden.
„Heute kommt das Blatt aber spät“, sagte sie schroff,
selbst erschrocken über den kratzbürstigen Ton ihrer
Stimme. „Da muss ich mich total ranhalten, um bis
zwei Uhr fertig zu sein.“
„Na ja, wenn das so ist, kann ich ja dableiben und
dir helfen“, sagte er und schien Anstalten machen zu
wollen, sich seines Mantels zu entledigen.
„Nein!“, blaffte Samantha in schärferem Tonfall, als
sie es beabsichtigt hatte.
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Da war sie wieder, die emporgewölbte dunkle Augenbraue. Zögernd stand er da, den Mantel halb ausgezogen.
„Ich meine, das tut nicht nötig.“ Die Wörter sprudelten übereilt aus ihr heraus, während sie sich alle
Mühe gab, ihre Verlegenheit zu verbergen. „So spät ist
es nun auch wieder nicht. Außerdem“, fügte sie fahrig
hinzu, „möchte ich auch nicht, dass du dir den Anzug
mit Druckerschwärze besudelst.“
Er musterte sie, und in seinen Augen glomm etwas,
womit Samantha nichts anzufangen wusste. „Als ob
mir ’n bisschen Druckerschwärze was ausmacht. Ich
darf doch?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, legte er
den Mantel vollends ab und das Jackett gleich dazu.
Entschlossen krempelte er sich die Hemdsärmel hoch.
„Hör auf, dir das Leben schwerzumachen, Samantha.
Ich geh’ dir jetzt hierbei zur Hand und nehme die Fahnen dann mit zurück ins Büro.“
Sprach’s, rückte sich einen Stuhl am Küchentisch zurecht und fing an, die Titelseite durchzuarbeiten. „Im
übrigen gibt’s ein paar Dinge, die ich gern mit dir besprechen möchte. Deshalb bin ich eigentlich hier, um
ehrlich zu sein.“
Samantha war drauf und dran, erneut zu widersprechen, aber die Wörter blieben ihr im Halse stecken.
Es kam ihr vor, als wäre ihre kleine, behagliche Küche
plötzlich noch winziger geworden, um nicht zu sagen:
beengt, geradezu erstickend. Das musste wohl an Jacks
langen Beinen liegen, die sich unter ihren Tisch streckten, und an seinem dunklen Haupt, das sich über die
Arbeit beugte.
Mehrere Minuten lang gingen sie stumm ihrer Arbeit nach, bis Samantha endlich das lastende Schweigen brach. „Ich hab’ mich noch gar nicht für die Blumen bedankt. Sie sind sehr schön.“
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„Aber bitte sehr“, entgegnete er, ohne aufzusehen.
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Einer der
Gründe, warum ich dich sehen wollte, war, dich um
einen Gefallen zu bitten, falls du erlaubst.“
Samantha blickte von den Druckfahnen hoch.
„Ich mach’ mir sehr große Sorgen wegen Cavans
Schwester und den beiden kleinen Maddens. Sie müssen jetzt jeden Tag eintreffen.“
Natürlich hatte Samantha daran gedacht. Es gehörte
zu den diversen Verpflichtungen ihrer Stellung bei Jack
Kane, dass sie bereits vor Wochen damit angefangen
hatte, Vorkehrungen für die Ankunft Terese Sheridans
und der beiden Waisenkinder in ihrer Begleitung zu
treffen.
Jacks Zeitung, der Vanguard, hatte damit begonnen,
eine Artikelserie über die irischen Einwanderer abzudrucken, die immer mehr in die Vereinigten Staaten
strömten. In jedem seiner Aufsätze stellte der Verfasser,
Cavan Sheridan, eine Einzelperson oder eine Familie
vor und schilderte sowohl die Ursachen ihrer Auswanderung aus Irland wie auch die Schwierigkeiten, auf
die sich die Immigranten bei ihrer Ankunft in Amerika gefasst machen mussten. Die Serie hatte überall
in der Stadt, ja sogar im ganzen Staat bereits beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ihr war es zu
verdanken, dass die Abonnentenzahlen des Vanguard
im Steigen begriffen waren – und dass einem gewissen
Cavan Sheridan seine erste Nebentätigkeit sicher war.
Samantha war froh, an diesem beispiellosen Projekt
mitarbeiten zu können, einem Projekt, das an sich
Cavan Sheridans ureigenste Idee gewesen war. Die
Zeitung tat nämlich mehr, als nur die Geschichten zu
recherchieren und zu veröffentlichen: Sie finanzierte
auch die Schiffspassage der jeweiligen Einwanderer,
unterstützte sie bei der Wohnungs- und Arbeitssuche
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und behielt ihr Leben während der Eingewöhnung in
ihre neue Umgebung im Auge.
Der Umstand, dass eine der ersten, die in New York
ankamen, ausgerechnet Cavans Schwester sein würde,
die einzige Angehörige, die ihm verblieben war, machte das Projekt für Samantha noch wichtiger.
Cavan war ihr Meisterschüler aus der Zeit, in der sie
in den Einwanderervierteln Abendunterricht gegeben
hatte. Von Anfang an war er ihr als außergewöhnlich
begabter junger Mann aufgefallen. Er hatte einen hellwachen, flinken Verstand und besaß eine Fähigkeit,
sich plastisch auszudrücken, wie sie selbst vielen erfahrenen Reportern der Stadt abging.
Außerdem war es jener junge irische Einwanderer
gewesen, der dafür verantwortlich war, dass Samantha
überhaupt beim Vanguard arbeitete. Cavan, der bei
Jack Kane anfangs als Kutscher und Stallbursche angestellt gewesen war, hatte Samantha auf die freie Stelle
einer Korrektorin hingewiesen und Jack Kane persönlich auf Samantha.
Zuerst hatte Samantha Jacks andauernden Versuchen, sie einzustellen, widerstanden, hauptsächlich
dank Jacks schlechtem Ruf. Inzwischen sah sie die Stelle beim Vanguard längst als das beste, was ihr hatte passieren können. Das Korrekturlesen machte ihr Spaß,
mehr aber noch die sonstigen Lektoratsaufgaben, die
Jack ihr seit neuestem übertrug. Und die zusätzlichen
Zuständigkeiten, die ihr demnächst mit der Ankunft
der ersten vom Vanguard betreuten Einwanderer zufallen würden, machten den Job noch attraktiver. Der
Job hatte für sie wirklich fast nur Vorzüge und kaum
Nachteile.
Vielleicht mit Ausnahme des Mannes, der ihn ihr gegeben hatte.
Verstohlen sah sie zu Jack hinüber und bemerkte,
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dass er sie anschaute und immer noch auf ihre Antwort wartete.
„Äh, was sagtest du gerade?“
„Ich fragte dich, ob es dir was ausmachen würde, den
Hafen im Auge zu behalten, solange ich weg bin.“
„Weg?“
Er sah sie an. „Ich fahre Mittwoch nach Philadelphia, weißt du es nicht mehr?“
Es gab keine Rechtfertigung für den jähen, aber
unleugbaren Stich der Enttäuschung, der Samantha
durchzuckte. Er würde nur ein paar Tage fort sein,
mehr nicht, aber diese Aussicht vermittelte ihr aus irgendwelchen Gründen ein beinah schmerzhaftes Gefühl der Leere.
„Oh, das hatte ich vergessen. Du wolltest dich ja mit
Mr Poe treffen.“
Er nickte. „Ja, ich treffe ihn am Donnerstag und
danach vielleicht noch ein-, zweimal mehr, bevor
ich zurückkomme – je nachdem, wie die Dinge sich
entwickeln.“ Er hielt inne und sah sie an. „Was meine Einladung betrifft, wirst du deine Meinung wohl
kaum geändert haben?“
Samantha spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht
schoss. „Du weißt doch ganz genau, dass ich dich unmöglich begleiten kann. Bitte fang nicht wieder davon
an.“
„Aber es wäre doch eine völlig saubere Sache“, sagte
er nachdrücklich. „Du würdest als meine Sekretärin
reisen.“
Samantha kam es vor, als legte er alles darauf an, sie
zu ködern. Überrascht registrierte sie, dass sie sich sekundenlang bei dem Wunsch ertappt hatte, mit ihm
reisen zu können.
„Ich kann mir kaum vorstellen, dass man das für
sauber befinden würde“, erwiderte sie und musste sich
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doch zwingen, nicht anzubeißen. „Außerdem bin ich
nicht bereit, noch länger darüber zu reden. Und jetzt
sollten wir zusehen, dass wir mit der Korrektur fertig
werden, falls du die Zeitung heute noch rausbringen
möchtest.“
Er tat, als seufze er enttäuscht, bevor er den Blick
wieder auf die Druckfahnen richtete. „Du machst dir
viel zu viele Gedanken darüber, was die Leute denken
könnten, Samantha.“
Sie entgegnete nichts. Minuten verstrichen, bevor sie
das Gespräch auf festeren Boden lenkte. „Versteh’ ich
das recht, dass du von dem Schiff immer noch keine
Nachricht hast?“
Er schüttelte den Kopf. „Das Sheridan-Mädchen
weiß, dass sie einen der Lohnboten vom Hafen raufschicken soll, sobald sie die Quarantäne hinter sich haben. Bis jetzt ist nichts gekommen. Ich nehme an, das
Schiff ist noch gar nicht eingelaufen, aber ich wüsste
es gern genauer. Du erinnerst dich: Brady schrieb, die
beiden Kinder seien nicht in guter Verfassung.“
Samantha nickte. Shona und Tully Madden waren
zwei irische Waisenkinder, die Jacks Bruder für das
Vanguard-Wohltätigkeitsprogramm vorgeschlagen hatte. Zugleich hatte er dafür Sorge getragen, dass Terese
Sheridan sich während der Überfahrt um sie kümmerte. Offenkundig befanden sich beide Kinder in ziemlich erbärmlichem Gesundheitszustand, als Brady diese Vorkehrungen getroffen hatte.
„Es hätte doch in den Hafennachrichten stehen
müssen, wenn das Schiff eingetroffen wäre?“, fragte sie
Jack.
Er winkte ab. „Darauf kannst du dich nicht verlassen. Denen geht mehr durch die Lappen, als sie mitbekommen. Ich vermute, dass sie womöglich in der
Quarantäne festgehalten werden, sobald sie landen.
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Wir müssen deshalb aufpassen, dass uns ihre Ankunft
nicht entgeht.“
Samantha sah ihn an. „O Jack, ich kann’s nicht ertragen, mir vorzustellen, wie sie diese Kinder in Tompkinsville festhalten. Du glaubst nicht, was das für ein
schrecklicher Ort ist.“
„So ist es“, sagte er säuerlich. „Aber wie auch immer,
du wirst also Verbindung zum Hafen halten, während
ich fort bin?“
„Natürlich. Doch wäre es nicht besser, du würdest
das Cavan auftragen und nicht mir? Er jagt schon tagelang zu den Docks runter. Ich glaube, er kann’s gar
nicht mehr abwarten, endlich seine Schwester wiederzusehen nach all den Jahren.“
„Kann er nicht“, pflichtete Jack bei, „aber er kommt
nicht vorm Wochenende aus Albany zurück, eher erst
am Montag. Bill Worth liegt mit Grippe flach, also
hab’ ich Sheridan zum Sitz des Gouverneurs raufgeschickt, um zu recherchieren, welchen Unfug Weed
diesen Monat wieder ausgeheckt hat.“
Samantha beobachtete, wie sein Gesichtsausdruck
düster wurde. Jack hatte noch nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen Thurlow Weed und seine WhigPolitik gemacht.
„Selbstverständlich wollte ich nicht sagen, dass du
allein zum Hafen runtergehen sollst“, fuhr er fort. „Bis
Sheridan zurückkommt, wird einer der Jungs von der
Zeitung dich kutschieren.“
Dagegen hatte Samantha nichts einzuwenden. Ihr
behagte nicht, auf eigene Faust im New Yorker Hafen
herumzustiefeln.
Binnen weniger Minuten waren sie mit ihren Korrekturen fertig, und Jack lehnte sich auf seinem Stuhl
zurück und reckte sich. „Na siehst du, pünktlich auf
die Minute“, bemerkte er, ohne Samantha aus den
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Augen zu lassen. „Magst du heute Abend mit mir essen?“
Samantha wandte den Kopf ab. Sie wollte ihn nicht
sehen lassen, wie gerne sie diese Einladung angenommen hätte.
„Bitte“, schob er rasch nach.
„Jack –“
„Ich hab’ das Mittagessen verpasst. Wir werden früh
essen. Wenn du magst, gehen wir in den Club.“
Drei- oder viermal hatte Samantha im Laufe der vergangenen zwei Monate mit Jack zu Abend gegessen,
und zwar stets im Portico-Club, einem unauffälligen,
etwas abgelegenen Restaurant in der Innenstadt, wo
man nicht damit rechnen musste, irgendeinem bekannten Gesicht zu begegnen.
Samantha wusste, dass Jack mit Blick auf ihren Ruf
den Club vorzuschlagen pflegte, wann immer er sie
zum Abendessen einlud. Einerseits berührte es sie tief,
wie viel Rücksicht er auf sie nahm. Andererseits aber
widerte es sie an, dass ihr Ruf irreparablen Schaden
nehmen könnte, bloß weil sie mit einem Mann essen
ging, der in der feinen Gesellschaft als persona non grata galt.
Bei Licht betrachtet war es Jack, der alles daransetzte, sie vor einem Skandal zu bewahren. Auf sich selbst
gestellt hätte Samantha vermutlich die Klatschmäuler
ignoriert und wäre hingegangen, wo immer sie wollte
und mit wem auch immer es ihr gefiel. Er aber bestand
darauf, dass sie um ihretwillen Diskretion wahrten,
und sie wollte gern glauben, dass er mit dieser Vorsicht
richtig lag. Wenigstens würde so ihre Mutter, der die
gesellschaftliche Anerkennung ebensoviel bedeutete,
wie Samantha sie verachtete, nicht mit der Nase auf
den schlechten Leumund gestoßen werden, der wie
eine düstere Wolke über Jack zu hängen schien.
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Mittlerweile glaubte Samantha den Gerüchten
längst nicht mehr, die an Jack zu kleben schienen. Sicher hatte er eine Vergangenheit, wie ihre Mutter nicht
müde wurde zu wiederholen. Das ließ sich nicht leugnen, aber er machte auch keinerlei Anstalten, es vor
Samantha zu verbergen. Ein-, zweimal hatte er sogar
von seiner früheren Zocker-Existenz gesprochen und
keinen Hehl daraus gemacht, dass er den Großteil des
Geldes, mit dem er den Vanguard gekauft hatte, bei
einem Blackjack-Marathon gewonnen hatte.
Doch Samantha glaubte ihm, wenn er sagte, er habe
das Laster hinter sich gelassen. „Ich hab’ gezockt, weil
ich drauf aus war, so schnell wie möglich ’ne Menge
Geld zu machen“, hatte er ihr einmal offenherzig erzählt. „Als ich herausfand, dass ich eine Glückssträhne
nach der anderen hatte, hab’ ich immer höher gepokert. Doch sobald ich hatte, was ich wollte, hab’ ich
aufgehört. In Wirklichkeit hat es mir nie so richtig
Spaß gemacht. Es war einfach nur“, sagte er schulterzuckend, „ein Mittel zum Zweck.“
Was die Gerüchte anbetraf, er sei ein notorischer
Schürzenjäger, hatte Samantha keine Möglichkeit,
ihnen auf den Grund zu gehen. Eines wusste sie genau: Es war völlig unmöglich, in seiner Gesellschaft
einen Raum zu betreten, ohne zu bemerken, welche
Wirkung er auf die anwesende Weiblichkeit ausübte.
Selbst die hochgeachteten reiferen Damen der Gesellschaft konnten nicht anders, als ihm nachzuschauen.
Jack war geradezu unverschämt attraktiv: enorm hochgewachsen und ganz außergewöhnlich gutaussehend,
dazu von einem unübersehbaren Flair von Macht umgeben – um nicht zu sagen, von einer gewissen Skrupellosigkeit –, das so greifbar war, dass der ganze Raum
vor Erregung zu flirren schien, sobald er eintrat.
Sein Verhalten Samantha gegenüber war tadellos.
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Er setzte offenbar alles daran, ihr in äußerster Schicklichkeit zu begegnen, was ihm auch meistenteils recht
ordentlich glückte – ja, sein Gebaren ihr gegenüber
grenzte oft genug an eine ganz altmodische Ritterlichkeit. Gelegentlich ertappte Samantha sich dabei,
wie sie ein Schmunzeln unterdrücken musste bei dem
Gedanken, wie viel Anstrengung es ihn wohl kosten
mochte, den Musterknaben zu spielen.
Zumeist jedoch berührten sie seine Versuche zutiefst, ihre Zuneigung zu gewinnen, auch wenn sie
den Verdacht hegte, dass er, würde sie es denn darauf
anlegen, unumwunden zugäbe, genau der Schurke zu
sein, zu dem die Gerüchte ihn stempelten. Ja, er schien
es mit einer unerklärlichen grimmigen Befriedigung
zu genießen, nichts gegen seinen fragwürdigen Ruf zu
unternehmen, und letzten Endes war es diese Tatsache,
die Samantha daran hinderte, das Geschwätz über ihn
in Bausch und Bogen von sich zu weisen. Ungeachtet der unleugbaren Anziehung, die er auf sie ausübte, musste sie zugeben, dass es sehr wohl möglich war,
dass Jack haargenau der skrupellose, kaltblütige Atheist
war, als den ihn die Klatschbasen hinstellten.
Ihre Mutter jedenfalls glaubte diesbezüglich die allerschlimmsten Geschichten und fand sogar Geschmack
daran. Bei jeder Gelegenheit nervte sie Samantha mit
Bemerkungen von der Art, „dieser widerliche Kerl, für
den du da arbeitest“, sei nichts weiter als ein irischer
Gangster, dessen Erfolg auf unrechtem Grund gediehen und dessen Renommee unter aller Würde sei.
Und wenn ihre Mutter recht hatte?
Ja – was dann?
Doch wie dem auch sei: Mochte Jack früher so gewesen sein, ihr gegenüber hatte er sich niemals anders
gezeigt denn als vollendeter Gentleman – freundlich
und ritterlich, um nicht zu sagen ein wenig überbehü-
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tend. Auf den meisten anderen Gebieten ihres Lebens
hatte Samantha sich längst von ihrer Neigung gelöst,
ihr Verhalten an den auf bloßen Konventionen gründenden Erwartungen ihrer Mutter auszurichten. Wieso nicht diese harterkämpfte Unabhängigkeit auf ihr
Verhältnis zu Jack ausdehnen?
Unvermittelt drehte sie sich zu ihm um und sagte,
bevor sie es sich noch anders überlegen konnte: „Ja, ich
würde heute Abend sehr gerne mit dir essen. Und warum sollten wir zur Abwechslung nicht mal ein anderes
Lokal ausprobieren?“
Lange sah er sie unverwandt an. Dann lächelte er
und fesselte sie mit dem Blick seiner dunklen Augen,
während seine Antwort sie völlig überrumpelte.
„Was ich wirklich möchte, Samantha, ist, dich bei
mir zu Hause zum Essen zu haben. Ich muss zugeben,
dass ich schon lange damit geliebäugelt habe, dich an
meine eigene Tafel zu laden. Aber das wirst du wohl
gar nicht erst in Betracht ziehen mögen.“ Er hielt nur
kurz inne, so dass sie nichts entgegnen konnte, und
fuhr dann fort: „Es wäre eine durch und durch anständige Angelegenheit, das verspreche ich dir. Meine
Haushälterin wäre zugegen, ebenso wie meine Köchin,
Mrs Flynn. Wir wären nicht allein im Haus. Ganz und
gar nicht.“
Samantha musterte ihn. Fast tat ihr ihre Impulsivität
schon wieder leid, doch zugleich hatte er sie in Versuchung gebracht, ganz gegen den unüberhörbaren Protest ihres gesunden Menschenverstands. Dieser Vorschlag war das letzte, womit sie gerechnet hätte. Doch
er wirkte so eifrig, so hoffnungsvoll, dass es ihr gemein
vorkam, ihm einen Korb zu geben.
„Ich – also, ich finde … ich meine, das ist nicht gerade die feine Art deiner Köchin gegenüber, so unverhofft einen Gast mitzubringen.“
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Jack winkte ab. „Mrs Flynn kann gar nicht anders,
als für mindestens ein halbes Dutzend Leute zu kochen, sobald sie auch nur den Herd befeuert. Wirklich,
so ist sie: je mehr, um so besser. Weißt du, ich tu mein
Bestes, um ihre Großzügigkeit zu würdigen, aber selbst
ein gieriger Ire ist früher oder später restlos voll.“
Als Samantha zauderte, sah er sich in der Küche um
und sagte: „Schau, jetzt hab’ ich dein Zuhause kennengelernt. Um so mehr würde ich es schätzen, wenn
du meinem einen Besuch abstatten würdest.“ Er beugte sich vor und langte über den Tisch, um sanft ihre
Hand zu berühren. „Es wäre mir eine große Ehre, Samantha.“
Da war er wieder, jener unerwartete, fast schon skurrile Zug von Bescheidenheit, der so gar nicht zu seinem sonstigen, durch und durch unerschütterlichen
Selbstbewusstsein zu passen schien.
Heute war für sie offenbar ein Tag der Augenblicksentscheidungen.
„Ich … also schön. Aber nur am frühen Abend, dass
das klar ist!“
Der Glanz, der sich über seine Züge zu legen schien,
machte ihn augenblicklich um Jahre jünger. Plötzlich
war er heiterster Laune, freute sich beinah wie ein kleiner Junge, der soeben ein langerträumtes Geschenk
bekommen hatte.
„Okay, ja … großartig! Ich schick’ dir Ransom gegen
sieben her – was hältst du davon? Und er wird dich
nach Hause fahren, wann immer du es wünschst; das
versteht sich.“
Seine Freude brachte Samantha zum Lächeln. Zugleich tat sie alles, um sich nicht einzugestehen, wie
glücklich sie selbst in diesem Moment war.

ISBN: 9783868271881
Auflage: 17.06.2010
Seitenzahl: 528 S.
Maße: 11 x 18 x 3,9 cm
Gewicht: 377g
Sachgebiet: Erzählungen/Romane
Hersteller nach GPSR
Francke-Buch GmbH
Abt. Verlag
Am Schwanhof 19
35037 Marburg