Horie Michiaki u. Hildegard, Umgang mit der Angst

06/27/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Ein Leben voller Angst

Ich erinnere mich an Heidrun. Sie war verlobt und liebte ihren Bräutigam. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich wieder von ihm zu trennen. Doch am Tag ihrer standesamtlichen Hochzeit wurde sie von einer Panik erfaßt. Was hätte sie darum gegeben, alles rückgängig machen zu können. Indem Augenblick, als sie ihren Namen unter die Urkunde setzen sollte, wäre sie am liebsten davongelaufen. Sie fing an zu weinen und konnte nicht begreifen, daß ihr Verlobter erwartungsvoll und freudig das ganze Zeremoniell verfolgte. 

Sie wünschte, alles wäre nur ein Traum, und sie könnte in ihre altvertraute Lebensweise zurück. Aber die Gäste waren bereits versammelt, so spielte sie das Stück weiter - wie in Trance. Alles in ihr schrie: nein! War es Angst vor der Bindung? Angst vor der Endgültigkeit? Oder war es die Angst vor dem Neuland, das sie betreten sollte, dem Leben zu zweit? Wer garantierte ihr, daß sie sich nicht getäuscht hatte?
Einige Tage später ließ dieser akute Angstanfall nach. Doch als sie dann nach wenigen Wochen entdeckte, daß sie schwanger war, überfiel die Angst sie aufs neue mit solch einer Gewalt, daß sie fürchtete, wahnsinnig zu werden.


Sie hatte nie Kinder gewollt. Sie fühlte sich durch Kinder zu stark gefordert. Sie fürchtete, ihnen nicht das geben zu können, was sie eigentlich geben müßte. Sie hatte bis jetzt nur für sich selbst gelebt. Sie hatte Angst vor der Verantwortung. Kinder waren in ihren Augen eine Last, vor der man sich nach Möglichkeit drücken sollte. Sie stellten eine Bindung dar, die nicht rückgängig zu machen war, die man nicht einfach abschütteln konnte.
Während dieser ersten Schwangerschaft versuchte sie, ihren Ängsten auf den Grund zu gehen und nach der tieferliegenden Ursache zu forschen. War es wirklich die Angst vor einer Bindung? Oder war es das Neue, was ihr Angst machte, dem sie sich nicht gewachsen fühlte? Oder das Risiko, gegen das sie sich nicht genügend abgeschirmt glaubte?

Mit jedem Tag, der sie der Geburt näher brachte, wuchs auch die Angst, ein krankes oder unnormales Kind zur Welt zu bringen. Diese monatelange Spannung war für sie beinahe unerträglich. Dann kam die Stunde der Geburt. Sie wußte, daß es nun kein Zurück mehr gab, nur noch ein Vorwärtsgehen. Sie berichtete mir später, es wäre gewesen, als sei sie bewußt in ihren eigenen Tod hineingegangen. »So muß Sterben sein«, dachte sie, »so ausgeliefert.« Als dann ein gesundes Kind geboren wurde, konnte sie ihr Glück nicht fassen. Alle Angst war vergessen. Einige Tage lang war sie die »glücklichste Frau der Welt«, wie sie sagte. Die Beziehung zu ihrem Kind war spontan.

Sie war glücklich als Ehefrau und Mutter, Doch dieses Glück dauerte nicht lange. Plötzlich tauchte ein neues Angstgespenst auf: Krebs. Obgleich keinerlei Anzeichen für einen Krebsverdacht bestanden, war sie fest davon überzeugt, in sich diese todbringende Krankheit zutragen, die jeden Tag ihrem jungen Glück ein jähes Ende bereiten könnte. Von da an löste eine Angstvorstellung die andere ab Sie war derart von Angst gequält, daß sie kaum das Nötigste erledigen konnte. Manchmal verbrachte sie die Tage wie im Nebel und steigerte sich in ihre Angstvorstellungen hinein, tastete ihren Körper nach irgendwelchen Krebsgeschwüren ab und lebte in einer quälenden Abschiedsstimmung. Durch die Angst war sie wenig belastbar, so daß sie sich dem Kind gegenüber ungeduldig verhielt, was dann wieder Schuldgefühle in ihr hervorrief. Hinter all ihren Ängsten aber verbarg sich immer dasselbe Motiv: »Ich habe Angst, das Leben, das ich jetzt lebe, zu verlieren. Jetzt weiß ich, was es bedeutet, glücklich zu sein. Aber ich denke, das Glück hat sich nur in mein Leben verirrt. Es wird den Irrtum entdecken und wieder von mir gehen. Ich bin dazu bestimmt, im Dunkeln zu leiden und auf denTod zuwarten.

« Das hatte sie oft genug von ihrer Mutter gehört. Seitdem zog sie alles Negative wie mit magnetischer Kraft an sich. Ja, sie fürchtete, daß jedes Schicksal, das sie von anderen hörte, sich in ihrem eigenen Leben wiederholen müßte. Ihr Denken hatte etwas Magisches an sich. Sie durchschaute wohl die Unsinnigkeit, aber konnte sich zugleich nicht davon distanzieren. Im Laufe der Gespräche stellte sich heraus, daß sie noch immer in einer symbiotischen» Beziehung zu ihrer Mutter lebte, deren negative Lebenserwartung sie unbewußt übernommen hatte. Wie ihre Mutter, so war auch Heidrun davon überzeugt, daß Leben gleichzusetzen ist mit Leid: Leben = Leid. Wenn diese Formel nicht zutraf, mußte irgendein Fehler vorhanden sein, der sich früher oder später herausstellen würde, so glaubte sie. Sie kannte kein Vertrauen, weder zu Menschen noch zu Gott.

Angst im Spiegel der Zeit
Heidegger bezeichnete die Angst als »Grundbefindlichkeit des Daseins. Und im der Tat es hat noch nie eine angstfreie Zeit gegeben Doch wenn wir die Geschichte der Menschheit zuruckverfolgen müssen wir feststellen daß sich die Erscheinungsbilder oder Ausdrucksfonnen der Angst verändert haben Durch ein erweitertes Weltbild hat auch die Angst ein neues Gesicht erhalten, einen neuen Namen. Der Mensch aber ist derselbe geblieben Vieleicht mögen wir die Menschen früherer Jahrhunderte belächeln die sich beim Gewitter zitternd und betend in einen Raum zusammendrngten bis das »Unheil« an ihnen vorübergezogen war.
Heute wissen wir, daß es sich bei einem Gewitter nicht um zürnende Gottheiten, sondern um die Entladung atmosphärischer Elektrizität hanndelt. Dennoch gibt es auch heute zahlreiche Menschen, die sich ängstlich vordem Grollen eines nahenden Gewitters verkriechen, als
müßten sie vor einer vernichtenden Übermacht Schutz suchen. Durch die Erkenntnis der Wissenschaft ist Licht in manches Dunkel gekommen; doch die Angst ist geblieben.
Seit der Aufklärung rühmt sich der Mensch seiner Erkenntnisse und läßt weder Wunder noch Geheimnis gelten. Mit seinem Verstand glaubt er, allen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Und wenn es ihm nicht gelingt, wird es umgedeutet, bis eine befriedigende Erklärung gefunden ist. Noch heute neigt der Mensch dazu, was nicht erklärt werden kann; zu leugnen oder als Zufall, als Laune der Natur zu deklarieren. Der Mensch als Gedanke Gottes aber kann sich nur dann recht entfalten, wenn er auf Gott bezogen lebt. Allein vom Blickwinkel des Ewigen ist Leben erklärbar. Wo die Welt noch als Schöpfung gilt und der Mensch sich als Geschöpf dieser Schöpfung zugehörig weiß, gibt diese Zugehörigkeit ihm zugleich Sicherheit. Je mehr dieses Bewußtsein schwindet, desto größer wird seine Ungeborgenheit.

Der Mensch ist auf eine Beziehung hin erschaffen. Darum erlebt er Isolation als Bedrohung. Früher war es die Großfamilie, die ihm Halt und Geborgenheit vermittelte. Darüber hinaus bildete im Mittelalter die Berufsgruppe oder Zunft einen festen Rahmen. Zwar war der einzelne in seiner Handlungs- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt, aber diese Umzäunung war auch zugleich ein Schutz. Zudem war der Drang nach Freiheit bei weitem nicht so ausgeprägt wie heute. Im all-gemeinenblieb ein Mensch dort, wo er geboren war und setzte das fort, was er von seinem Vater übernommen hatte. 

Das änderte sich nun mehr und mehr. Alte' Normen wurden nicht selbstverständlich übernommen, sondern neue Wege erprobt. Der Individualismus gewann an Raum, auch das Streben nach persönlichem Besitz. Doch mit der wachsenden Macht des einzelnen wuchs auch die Einsamkeit und damit verbunden die Angst. Die Angst, das wieder zu verlieren, was er errungen hatte.
Der Mensch durchbrach seinebisherigen Grenzen und versuchte in allen Richtungen vorzustoßen und Erde und Weltall zu erobern. Er durchbrach die Schranken der Kirche und feierte in Wissenschaft und Technik die ersten Erfolge. Er stellte fest, daß die Erde nicht Mittelpunkt des Alls ist. Er sah sich hineingestellt in einen unendlichen Raum.

Aber noch war der einzelne einem festen Staatsgefüge einverleibt. Mochten auch innere Krisen an seiner Existenz nagen - sein Vertrauen war dadurch nicht erschüttert. Staat und Fürsten waren wie Säulen, die das Land stützten.
Erst durch den Sturz der Monarchien wurde das Vertrauen der Bürgers zutiefst erschüttert. Die Ordnung, die dem Leben sein Ge-
präge gab, war aufgelöst. Das bedeutete Orientierungslosigkeit.
Werte, die bis dahin Gültigkeit hatten, wurden ins Lächerliche gezogen. Diese innere Auflösung machte auch vor den Familien nicht
halt. Väterliche Autorität und alte Moral galten nicht mehr wie bisher. Die Freiheit des Menschen wurde auf den Thron erhoben, der Trieb vergöttert und der Mensch - seit Freud* - als Triebwesen analysiert.
Was war dem Menschen geblieben? Wunder und Geheimnisse waren ihm geraubt. Das feste Gefüge des Staates ins Wanken geraten. Ist es da noch verwunderlich, wenn sich Tausende an die paradiesischen Verheißungen eines Dritten Reiches klammerten?
Der Mensch sucht Beständigkeit. Er sucht etwas, das ihn über die Vergänglichkeit das Daseins hinwegtäuscht. Daher fanden Parolen vom Tausendjährigen Reich geöffnete Ohren.
Doch als sich dann diese Hoffnung als Trugbild entlarvte, war das Chaos endgültig. Auf was konnte der einzelne noch bauen? Wie sollte
er in Zukunft Wahrheit von Lüge unterscheiden? Aber der Mensch hatte keine Zeit, bei seiner Niederlage stehenzubleiben. Der Wiederaufbau erforderte alle Kräfte. Doch wofür sollte er sich einsetzen? 

Für Freud, Sigmund, Nervenarzt, 1856 - 1939, Begründer der Psychoanalyse eine bessere Zukunft? Wußte er, was morgen sein würde? Und wenn der Schrecken von gestern sich morgen wiederholt? -
Mit der unbewältigten Vergangenheit im Rücken und einer ungewissen Zukunft vor Augen begann der Mensch, die zerbrochenen Steine wieder zu sammeln.
Nach dem Geschehen in Auschwitz und Hiroshima war ihm der Glaube an das Gutsein des Menschen erstorben. Nicht selten machten seine Kinder ihn verantwortlich für das, was geschehen war. Er konnte es zwar nichtungeschehen machen, aber vorbeugen wollte er, daß sich das Grauen nicht wiederholt. So fing er an, auf den Trümmern der Vergangenheit Zukunft zu bauen.
Die Industrialisierung wuchs ins Gigantische. Aber damit schaffte er sich zugleich neue Probleme. Rauchende Fabrikschlote undchrom-blitzende Autoschlangen konnten sein Problem Angst nicht lösen.
Der Sprung in den Weltenraum war ihm zwar gelungen, und sein Geist forschte, um den Ursprung des Lebens aufzuspüren, dabei stellte er frühere Erkenntnisse wieder infrage; aber sein innerstes Fragen blieb -unbeantwortet. Er selbst ein Geheimnis.
Was dem Menschen in allem Wechsel erstrebenswert erschien, war der Besitz. Er wollte wiedergewinnen, was er verloren hatte. Und er baute, als könnten Preßlufthammer und Bagger seine Angst übertönen. Bis heute. Doch dann, wenn es still um ihn herum wird, stellt er fest, daß die -Angst tief in ihm lauert wie ein Feind im Hinterhalt.
Um dieser Angst zu entfliehen, schaltet er das Fernsehen an, das schließlich seine freie Zeit ganz in Anspruch nimmt. Und wenn er nachts schlaflos in seinem Bett liegt, ist die Angst immer noch da. So greift er zur Tablette, die seinen Geist einschläfert. Tagsüber, wenn trotz aller Hektik sich tief im Innern die Angst regt, gibt es andere Mittel, sie zu betäuben: ein Griff zur Flasche oder zur Spritze mit dem sogenannten »süßen Gift,<, oder er versucht, im Sex seine unterschwellige Angst zu ersticken.
psychologisch zum Triebwesen degradiert, historisch als Zufall propagiert und physikalisch als Zusammensetzung vieler Atome erklärt - genügt das zum Leben?
Wo der Mensch nichts mehr-ist als eine Kombination von verschiedenen Elementen, deren Wert in DM ausgezahlt wird, findet eine zerstörende Selbstentfremdung statt, die von Angst begleitet ist. Er weiß nicht mehr, wozu er lebt. Diese Beziehungslosigkeit äußert sich entweder in Aggression oder Resignation - aber beides ist letztlich die Sprache der Angst.
@1979 R.Brockhaus