Hueck-Dehio Else, Liebe Renata - Geschichte einer Jugend in Dorpat

07/06/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

DA TAGEBUCH

Renata saß im Boot undAchrieb. Die schwatze Wachstuchkladde lag auf ihren Knien, und der Bleistift wanderte munter auf den Zeilen der Seite entlang. Manchmal hob sie den Kopf und schaute übers Schilf hinweg, das wie ein steiler Wald ihr Boot umstand, oder sie tauchte die linke Hand neben dem Bootsrand ins Wasser. Das Wasser war dunkel und lauwarm von der starken Sonne, unzählige Wasserläufer glitten darüber hin. Das Holz des Bootes und des kleinen morschen Steges duftete nach Teer und nach Fischen, und- die Stille - zwischen Wasser, Wiese und Himmel - war ungestört und groß.
Sie war so groß, daß Renata sogar den Schritt nackter Füße vernehmen konnte, der sich auf dem Uferweg näherte. Sie kannte den Schritt. So vorsichtig und leise konnte nur Thea auf ihren braunen Kindersohlen schleichen. Renata meinte, den warmen schwarzen Moorboden bei jedem Schritt zwischen den Zehen des kleinen Mädchens vorquellen zu sehen, und sie lächelte vor sich hin, während sie ihren Satz beendete.

Gleich darauf schob sich Theas rundes Gesicht vorsichtig zwischen die Schilfhalme. Ihre Augen, blank und aufmerksam wie die eines Hasen, überschauten schnell den kleinen Anlegeplatz. Als sie ihre Schwester sah, drängte sie sich durchs Schilf, sprang auf den Steg und lief lustig wippend zum Boot. »Erst Füße waschen!« rief Renata ihr entgegen, und die Kleine in ihrem blauen Kleidchen setzte sich gehorsam auf die heißen Bretter und tauchte ihre Füße ins Wasser. Darin sprang sie zu Renata auf die hölzerne Bank.

Das Boot schwankte einen Augenblick, und Wellenkreise liefen flüsternd durchs Schilf in den See hinaus. Draußen auf dem freien Wasser sah man sie kaum mehr, höchstens wie einen gleitenden Glanz, der den ruhenden Spiegel verschönte. Dann war es wieder still. Weder Luft noch Schilf, noch Wasser regten sich. Nur eine Heuschrecke begann in der Wiese zu schrillen.
»Was machst du hier eigentlich?« fragte Thea und guckte mit unmißverständlicher Wißbegierde in die schwarze Wachstuchkladde.
»Du siehst doch, ich schreibe«, antwortete Renata und klappte die Kladde zu.
»Ja, aber was?« beharrte die Kleine, »Tagebuch?« Renata nickte. Dann schwiegen beide, und die Sonne briet auf ihrem Haar, ihren Armen und ihrem braunen Sommernacken.
Schließlich begann Thea wieder: »Kannst du mir nicht etwas vorlesen?« Renata kannte diese Bitte schon und hatte sie sogar erwartet. »Von heute!« bat Thea weiter, und Renata schlug die Kladde wieder auf. Sie las:
»... Übermorgen müssen wir also nach Dorpat zurück, denn die Schule fängt an. Das Wetter ist allerdings noch schön, warm wie im Sommer, aber in Waimola summt schon alle Tage die Dreschmaschine, und wenn man barfuß über die Felder läuft, dann stechen. einen die Stoppeln. Mama hat schon angefangen, unsere Koffer zu packen, und am Abend geht sie durch alle Zimmer, schaut aus dem Fenster, an dem früher Urgroßmamas Nähtischchen stand, und legt ihre Hand auf den Rücken unseres breiten, guten Backofens, in welchem Urgroßmama immer das Schwarzbrot buk und den Geburtstagskuchen mit den dreißig Eiern.
Ich glaube, Mama bliebe noch gerne hier. Ich übrigens auch! Sie sagt, so schön wie hier im Küsterat seien früher ihre Kinder-Sommerferien nirgends gewesen. Am Abend geht sie oft zwischen den Feldern entIg bis zinn >Hohen Haupt' und sieht von dort aus zu, wie die Sonne untergeht. Dann erzählt sie uns, wie es früher hier war, wie Urgroßpapa am Sonnabendnachmittag ins Pastorat hinunterging, um mit dem neuen Pastor den Gottesdienst
zu besprechen, und wie sie selber unterdessen mit der jungen Pastorin zwischen den Erdbeeren saß und zählte, wer von ihnen beiden mehr futtern konnte.

Der 'neue Pastor' - das ist jetzt Onkel Johannes. Seine Löwenmähne ist schon ganz grau! Und das kleine, süße Baby, das damals in seinem Wägelchen hinter der Jasminhecke schlief - das ist jetzt unser frecher Vetter Kurt mit der Studentenmütze. Von seiner Süßigkeit ist gar nichts mehr übriggeblieben. Aber Urgroßpapa liegt oben bei der Kirche auf dem Kirchhof, und sein Grabstein ist schon bemoost.
Nur die Glocken am Sonntagmorgen klingen noch genauso wie damals, sagt Mama, und die Estenwagen mit ihren kleinen Pferden und den bunten Decken überm Stroh kommen noch genau wie damals von allen Seiten zur Kirche gefahren. Die Frauen tragen ihre seidenen Sonntagstücher um den Kopf, die Männer binden ihre Pferde an die langen Balken vor der Kirchhofsmauer, und wenn jemand die Kirchentür öffnet, um hineinzugehen, dann brummt die Orgel wie damals fromm und verheißeüd in den Sonntagmorgen hinaus .«
Thea unterbrach den Zauber der Stunde. »Warum schreibst du das alles eigentlich?« fragte sie.
Renata antwortete: »Weil es mir Spaß macht und weil es meinen Kindern wahrscheinlich auch Spaß machen wird, wenn sie einmal lesen, wie ihr Ur-Urgroßvater in Waimola an der Orgel saß, wie ihre Großmutter, schlank und jung, mit der Pastorin Arm in Arm durch die Felder schlenderte, wie ihre Mutter mit Pastors Ellinor in die Lindenlaube hinaufkletterte, um ungestört lesen zu können, und wie Vetter Kurt sie. einen typischen Backfisch nannte.«
»Tut er das wirklich?« fragte Thea mit hörbarer Parteinahme in der Stimme.
Renata begann zu erzählen: »Ja, gestern, als Ellinor und ich in den Linden saßen, erschien er plötzlich auch oben und setzte sich auf meinen Ast. Er fragte, was wir lesen. Ich weiß nicht, warum ich mich schämte, jedenfalls, als er das Heftchen nehmen wollte, steckte ich es vorne in meinen Ausschnitt und zeigte ihm die Zunge. Darauf betrachtete er mich von oben bis unten und sagte: >Weißt du, was du bist? Ein tü-ü-üpischer Backfisch!< Dann kletterte er voll Verachtung wieder hinunter.

 Dabei lasen wir doch nur eine ganz blöde Reklame von >Kufeices Kindermehl<, in der beschrieben wurde, wie man Babys badet, wickelt und füttert..
»Es hätte ihn bestimmt nicht einmal interessiert«, meinte Thea altklug. »Aber weißt du, gegen mich ist Klaus genauso greulich. Und dabei ist er erst elf... Er fährt mir mit allen fünf Fingern ins Haar oder schubst mich in die Brennesseln beim Stall - und wenn ich die Treppe hinauflaufe, dann hält er mich plötzlich am Fuß
fest.« Renata lachte und nahm die kleine Schwester in den Arm. »Laß sie nur, es sind eben Männer«, sagte sie, »die sind immer stärker und frecher als Mädchen. Aber warte, wenn wir beide einmal groß sind, dann werden wir uns schon rächen.«
»Können wir das denn?«
»Und ob! Ich weiß jedenfalls ganz genau, wie ich sie an der Nase herumführen werde.« Sie stand auf und reckte sich. Sie war mehr als einen Kopf größer als Thea, hatte braune Arme und braune, schlanke Beine unter dem kurzen Rock. Im hellen Haar steckte eine knallrote Schleife. Da Renata erst fünfzehn Jahre alt war, durfte sie zu ihrem Kummer den Zopf noch nicht aufstecken. Sie klemmte das Tagebuch unter den Arm und sprang auf den Steg. »Ich glaube, wir müssen nach Hause.«
Das Schilf flüsterte, als es die beiden Mädchen hindurchljeß. Die Grille verstummte, und auf dem moorigen Wiesenweg verklang der leichte Laut der Schritte.
Oben am Hügel, unter dem breiten A}iornbaum hinter dem Roggenfeld, streckte sich das graue Dach des Küsterats. Der Mittagsfisch war draußen gedeckt, und eine Tonschüssel voller Schwarzbeeren stand duftend in seiner Mitte.
An der- Verandatür lehnte Mama und schaute unter dem Laubdach her auf das Stückchen Roggenfeld, das noch nicht gemäht war, und auf die Waldlinien dahinter. Bis an den Rand des Himmels blaue dieser Wald, und der Duft seiner Fichten und Birken, seiner Pilze und Beeren zitterte in der Mittagssonne zum Himmel empor.
Rosi, die zu Matt- Füßen auf der Verandastufe saß und Bohnen schnippelte, folgte dem Blick ihrer Hausfrau, atmete auf und wischte die Hände an ihrer Schürze ab. »Kinder kommen«, sagte sie auf estnisch, »man muß jetzt essen.«
Über den Roggenähren waren Renatas und Theas Köpfe aufgetaucht. Rosi stand aufnalun ihre Schüssel und ging ins Haus. Auf ihrem blanken, schn\ geordneten Haarknoten tanzte das grüne Licht des Laubes. Auch Mama strich sich mit der Hand übers Haar. Sie rief nach Brigitte, die im Gartenzimmer am Klavier saß und ein Schubert-Impromptu übte, dann schaute sie lächelnd ihren beiden Jüngsten entgegen.

DIE TREIBJAGD
In Dorpat begann das Semester, und im Hallerschen Garten wurden die Pflaumen reif. Solange Renata sich entsinnen konnte, gingen diese beiden Dinge immer Hand in Hand. Morgens lagen die roten und gelben Früchte klar, von winzigen Tauperlen wie von einem matten -Pelz überzogen, im nassen Rasen, und man konnte sich die Manteltaschen für den Schulweg damit vollstopfen.
Der Schulweg über den Domweg war wunderschön, nur trat Renata ihn leider meist etwas verspätet an. Daher hatte sie nur selten Zeit, seine Schönheiten, den blauen Dunst in der Sandgrube, die darüberhinschießenden Sonnenstrahlen und die Fülle des goldgelben Laubes auf allen Wegen, gebührend zu betrachten. Immerhin - die Zeit, ihre Pflaumenkerne möglichst weit vom Vorplatz der Domruine auf die Tennisplätze hinunterzuspucken - diese Zeit nahm sie sich doch. Dann ging es im Trabe an Papas Klinik vorbei. In der gläsernen Flügeltür mit den messingnen Gitterstangen stand Jurij, der Portier. Er grinste über sein breites Russengesicht, wenn er das Fräulein sah, verneigte sich, und wenn es besonders spät war, dann winkte er mit seiner Pranke in Renatas Fahrtrichtung.
Im Wallgraben konnte es geschehen, daß man einigen Studenten begegnete, die zum Frübkolleg wollten. Leider waren es meist nur Theologen, die dieser angreifenden Tugend frönten; sie stammten zum Teil aus den deutschen Wolgalcolonien und trugen keine Farben: für ein richtiges Dorpater Mädchen ein Unding, fand Renata. Denn für sie gehörte es sich, daß ihre Freunde einer der vier alten, farbentragenden Verbindungen angehörten. 

Daher kam es, daß sie diesen bescheidenen und fleißigen Menschen keinerlei Beachtung schenkte. Auf den Senfschen Treppen raschelte das Laub der Kastanien, und zwischen den gelben Blättern lagen die grünen Stachelfrüchte. Renata zertrat einige mit dem Absatz und freute sich an den blanken, braunen Kernen, die aus ihrer Hülle heraussprangen.
Wenn Renata dann schließlich oben in der Sternstraße ankam, hieß es nicht mehr Trab, sondern Galopp. Keine Kameradin war mehr zu sehen, und dort wanderte bereits Herr von Miler, der russische Lehrer, bei dem die erste Stunde fällig war. Wenn es nicht mehr glückte, ihn einzuholen dann kam man unrettbar zu spät.
Zu Hause zeigte sich der beginnende Herbst auch noch auf andere Weise. Rosi kochte Berge von Strickbeeren und Kranzbeeren (Preiselbeeren und Kronsbeeren) ein und füllte sie in steinerne Töpfe. Frau Rammat, mit einem schwarzen Samnietbändchen um den Hals und einem zierlichen Teeschürzchen vor dem Bauch, kam und probierte Renata die Winterkleider an. Sie rutschte vor ihr auf den Knien herum, steckte und heftete und erzählte dabei in ihrem drolligen Estnisch-Deutsch von den neuen Toiletten der Landrätin und dem wundertätigen Korsett der Baronin Baer.
Mama sagte »Ja« und »Ach wirklich?« und befreite dabei Pelze, Fellmützen und wollene Strümpfe aus ihren Mottenhüllen. Das ganze Schneiderzimmer begann allmählich nach Kampfer zu riechen, und Renata war froh, wenn sie endlich entlassen wurde.
Vor der Veranda lehnte ihr Rad. Mit einem Anlauf sprang sie darauf und sauste, so schnell es gehen wollte, die kiesbestreuten Gartenwege entlang. Der Abend kam; die Luft wurde kühl und wehte spürbar uni Renatas Gesicht und Arme. Drüben, im Garten des Livländer Konventsquartiers an der anderen Seite der Mühlen-straße, verbrannte jemand welkes Laub und Äste. Der Rauch stieg blau und herbstlich empor, und sein Duft breitete sich über Straßen, Häuser, Gärten uti4 nahe Felder aus. Renata sog Kühle, Duft und Dämmerung mit, ungestümen Atemzügen in sich ein, und ihr Herz sang dabei wild und griutdlos glücklich: >Wie ist das Leben schön! oh, wie ist das alles stark und herrlich. 

Zum Abendessen kam Brigitte verspätet aus der Stadt. Man hatte sich gesetzt, und Liesi, im schwarzen Kleid und schwarzen Haar, reichte schon das Gemüse herum. Brigitte stand einen Augenblick etwas befangen und geblendet an der Tür. Renata, neben dem summenden Samowar, sah, wie rot ihre Wangen vom Laufen waren, wie schnell ihre neunzehnjährige Brust sich unter dem Blüschen hob und senkte und wie beschwichtigend ihr Mund zu lächeln versuchte.
>Sie ist doch die Schönste von uns!< dachte Renata, >ich könnte jetzt bestimmt nicht mit ihr schimpfen!<
Etwas Ähnliches schien auch Papa zu denken, denn er zwinkerte ihr ermunternd zu und sagte: »Komm nur h,rein; du sollst trotzdem
noch etwas mitbekommen!«
Brigitte setzte sich schnell und erleichtert an ihren Platz. Ober ihrem Gesicht mit der schmalen Nase; den zarten Wangen und dem beweglichen Munde schwang lebendige Heiterkeit.
»Verzeiht bitte!« begann sie, »aber lilo ließ mich nicht fort. Sie hätte so schrecklich viel zu erzählen! Denkt euch, sie lud mich zu einer großen Treibjagd ein.«
»Wie nett!« sagte Mama, und Papa fügte hinzu: »Die Jagden in Ilgast sind eine ganz bekannte Sache. Am Tage knallt man tüchtig, und am Abend tanzen die einen, trinken die andern, und die dritten machen ein 'Jeuchen<.«
»Ja«, rief Brigitte dazwischen, »und diesmal hat Illös Vater zum ersten Mal auch die Jugend eingeladen. lilo soll ihre Freundinnen mitbringen und Otto seine Freunde. Die halbe Livonia wird vertreten sein. Am Freitag fahren wir also zusammen hin, zuerst mit der Bahn bis Laisholm, und dann mit Pferden weiter. Sonnabend ist Jagd, und wir Mädchen bringen das Frühstück in den Wald. Am Abend ist dann der Ball. Sonntag wird wohl noch etwas gejagt und ein tüchtiges Katerfrühstück gehalten, und Montag kommen wir alle wieder zurück. .
Während Brigitte erzählte, saß Renata mit weitgeöffneten Augen neben ihrem Samowar. Sie hörte es kaum, daß Thea ihr vom unteren Tischende her zuflüsterte: »Gieß mir heute nicht soviel Milch in meinen Tee!«
Sie sah bunte, herrliche Bilder vor sich, verlockende Bilder, die sie mit stechender Sehnsucht und Erwartung erfüllten. 

Sie sah die Eisenbahn auf ihrem erhöhten Bahndamm zwischen Tannenhecken entlangprusten. Sie sah das kleine Stationsgebäude, den kiesbestreuten Bahnsteig, die Asternbeete an seinem Rande und die zweispännigen Jagdwagen und Brettdroschken* auf dem Vorplatz. Viel-
leicht saß Brigitte auf einer solchen Droschke hinter Illos Bruder und neben ihr Axel Fersen. Die Räder des Wagens mahlten durch den Sand des Weges, und während die Dämmerung feucht auf gelbe Birken heruntersank, bat er sie um den ersten Tourenwalzer morgen. beim Ball.
Dann sah Renata das Jagdfrühstück mitten im Wald, lange Bretter, von Baumstumpf zu Baumstumpf gelegt, und auf diesen Brettern gefüllte Schüsseln, Teller und Gläser. Die jungen Mädchen holten sie eifrig, unter nicht endenwollendem Gelächter, aus den Waschkörben hervor. Die Pferde am Rande der Lichtung scharrten mit den Hufen, in der Ferne bellten Hunde und Schüsse knallten. Der Förster kam und fragte, ob die Damen so weit seien? Dann setzte er sein Horn an den Mund, und Renata meinte den Ton zu hören, der sich schmetternd über die dunklen Fichtenhäupter in den blauen Himmel hineinschwang. Als hätte der Hornruf die Luft erschüttert, wehte ein Schwarm gelber Blätter über Schüsseln und Menschen, und aus der Ferne der Wälder antwortete ein zweites Horn.
Mitten in dieses Bild hinein erschien eine Teetasse vor Renatas Augen, und während sie sich aufschreckend daran machte, den Tee einzuschütten, fragte Mama freundlich: »Woran dachtest du denn?«
»Ich dachte nur. . .«‚ murmelte Renata und fühlte, daß sie rot wurde, »ich dachte nur, daß ich auch gerne mit auf die Jagd fahren würde.«
»In zwei Jahren bist du so weit«, sagte Mama.
»In Wirklichkeit ist es überhaupt nicht so schön, wie du denkst«, fügte Brigitte hinzu. »So schick angezogen wie Isa bist du niemals, und der, ynit dem du am liebsten tanzest hat bestimmt schon eine andere zum Souper aufgefordert. Ober Pferde und Rebhühner verstehst du nicht mitzusprechen, und für Goethe und die Frauenbewegung intersseren sich wieder die anderen nicht. Abends beim Schlafengehen schwatzen wir nur von unseren Flirts und wie man
* Brettdroschke = niedriger Jagdwagen mit einem federnden Brett als Sitz

sich die Haare bei der modernen Frisur recht hoch auftoupiert; oder wir lachen uns halb tot über die Sprüche und Zeichnungen, welche die Jungen in ihrem >Kämmerchen< an die Wand gemalt haben.«
»Ich würde das alles trotzdem gerne einmal kennenlernen«, seufzte Renata.
Dann schwiegen alle einen Augenblick, und nur der Samowar summte. Jeder spann seinen Gedankenfaden zu Fde. Mama dachte, es sei doch schade, daß Renata den ihr zugemesenen Lebenskreis bereits so früh und manchmal so leidenschaftlich zu zersprengen versuchte. Brigitte sah vor sich auf dem leergegessenen Teller die Tanzkarte mit Goldrand und Amoretten, die lilo ihr vorhin in die Handtasche gesteckt hatte. Würde sie sich wieder -. wie schon so oft - mit Namen füllen, die ihr langweilig und im tiefsten Herzen gleichgültig waren? Würde sie es von neuem lernen müssen, daß ein Baron Fersen am Ende doch zu seinesgleichen hielt und daß Schönheit und Klugheit leichter wogen als ein altes Wappen?
Renata lauschte mit leicht geneigtem Kopf den Klängen eines Galopps, der sich aus dem Summen der Teemaschine zu entwickeln schien. Sie sah den Saal von Ilgast mit heruntergebrannten Kerzen; sie sah die Reihe der Tanzenden über das alte, dunkle Parkett stampfen und drehen. In den Nebenräumen flogen Karten auf die grünen Tuch-Tischplatten, klimperte das Spielgeld und wurden Flaschen aufgezogen. Oben in den Gästezimmern waren die Betten längst aufgedeckt und standen wartend in der Stille der niedrigen, breiten Zimmer. Und über allem lag die schwarze Herbstnacht - über Wald und See, Sand und Moor, Feld und Stall und auch über dem hohen Giebeldach des Schlosses.
Schließlich unterbrach Papa das Schweigen. »Du hast ganz recht, Brigitte«, sagte er, »du gerätst durch deine Freundinnen in eine andere Welt. Diese Welt ist scheinbar viel verlockender als unsere bürgerliche; viel leichtlebiger, reicher und vornehmer. Aber du würdest dir wahrscheinlich manchen Kummer ersparen, wenn du dir von vornherein klar machtest,. daß du in ihr nur als Gast geduldet bist.«
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