Die Beterin

01/12/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Vor meinem Auge steht das Bild meiner betenden Mutter. Es gehört zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen, daß ich in das Wohnzimmer hineingestürmt bin und dort vor ihrem kleinen Nähtisch meine Mutter sitzen sah, die aufgeschlagene Bibel vor - sich, die Hände gefaltet auf den Tisch gelegt, mit geschlossenen Augen betend. Wenn sie morgens die erste Hausarbeit erledigt und die Zimmer aufgeräumt hatte, zog sie sich in die Stille zurück. 

Dann las sie auch erst die Briefe, die sie vielleicht schon eine Stunde lang in der Tasche trug. Und dann schlug sie ihre geliebte Bibel auf, in der sie außergewöhnlich zu Hause war, zumal auch, was das Alte Testament anbetraf. Wir wüßten später alle, daß wir sie in der Stunde nicht stören durften. 

Wir haben wohl nie darüber gesprochen; aber für uns alle war das Heiligtum unserer Mutter und die Tatsache, daß wir von ihrem Gebetsleben wußten., von tiefstem Eindruck. Nichts hat vielleicht solche bewahrende Kraft und bedeutet solch ernste Zucht für ein Kindergemüt, als wenn es weiß, daß die Mutter alles und jedes und vor allem ihre Kinder mit ihren Freuden und Leiden, ihren Fehlern und Sünden im Gebet vor Gott bringt.

Als sie mit 43 Jahren verwitwet war und sich nun noch in die Leitung des Geschäftes einleben mußte und, wie wir sie oft neckten, als »Handelsfrau« in amtlichen Anschreiben von Behörden und anderen Stellen angeredet wurde, habe ich es oft beobachtet, wie sie nun auch alle Einzelheiten des Geschäfts mit ins Gebet hineinzog. 

Ob mancherlei zu schnellen Entschlüssen drängte, ob auch dem Geschäftsführer einmal das Verhalten unserer Mutter als zu zögernd und unlcaufmännisch vorkam, sie ließ sich nicht zu schnellen Entschlüssen treiben und legte am liebsten eine Nacht zwischen Frage und Antwort, damit sie am Abend und in der Stille auf ihrem Lager alles noch mit ihrem Gott durchsprechen konnte. In den langen Jahren, in denen unser Vater krank war und in denen sie deshalb die Andachten bei Tisch hielt, war es uns immer ein großer Halt, es mit zu erleben, wenn unsere Mutter die Anliegen där Familie im Abendgebet vor Gott den Herrn brachte. 

Eine solche Leidenszeit des Familienvaters, die durch Jahre, bei uns durch etwa sieben Jahre, hindurch dauerte, hat ja an sich schon einen vertiefenden Einfluß auch auf die jungen Kinder. Allmählich wuchsen wir auch mit in die Sorgen des Hauses hinein. Da haben wir es von unserer Mutter gelernt, was es heißt: »Alle eure Sorgen werfet auf ihn!« 

Sie war sehr zurückhaltend in der Beeinflussung ihrer Kinder mit christlichen Ermahnungen, wie sie überhaupt sehr schwer aus sich herausging und sich mir vieles von ihrem Innersten erst in ihrer letzten Krankheit erschloß. Sie war auch durchaus kein Freund von besonderen christlichen Gesten und Formen. Um so mehr machte es auf mich einen tiefbewegenden Eindruck, als ich eines Abends den Mut faßte, zu ihr zu gehen und ihr ganz zaghaft zu sagen, ich glaubte vom Heiland angenommen zu sein. 

Da nahm sie mich mit in ihr Zimmer. Und das einzige Mal in meinem Leben ist da meine Mutter mit mir niedergekniet und hat mich in feierlichem und liebevollem Gebet dem guten Hirten ans Herz gelegt, um Bewahrung und Leitung für mein Leben gefleht. Dann gab es einen kurzen Abschied. Wir haben, glaube ich, nie wieder darüber gesprochen. Aber solch ein Gebet bindet einen jungen Mann an die Wirklichkeiten der ewigen Welt.

Wenn ich den Eindruck, den sie auf uns gemacht hat im wichtigsten Punkt, was das Innerlichste ihres Wesens angeht, zusammenfassen soll, so kann ich nur sagen: Unsere Mutter war für uns ein lebendiges Rogate - Betet!

Liebe zu Gottes Reich

01/12/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Bei meinen Kreuz- und Querzügen durch London, die ich als Kandidat der Theologie wochenlang machte, kam ich eines Tages auch in ein großes Büro der Heilsarmee. Es war der Mittelpunkt der Versicherungsgesellschaft der ganzen Heilsarmee. Als ich den Oberst, der mich herumführte, im Blick auf die Angestellten, die in den großen Sälen arbeiteten, fragte: »Sind das nun alles gläubige Christen?«, sah er mich ernst an und sagte: »Gläubige Christen? Arbeitende Christen!« Daß Christen arbeiten müssen für Gottes Reich, das haben wir schon von frühester Jugend an von unserer Mutter gelernt.

Die Arbeiten des Reiches Gottes hatten die uneingeschränkte Teilnahme unserer Mutter. Sie las eine ganze Reihe Missionsberichte und andere Zeitschriften. Von der Rheinischen Mission waren immer drei Blätter im Haus, ferner der Neukirchener Heidenbote, die Berichte der Brüdergemeine und andere. Und was sie gelesen hatte, davon erzählte sie uns Kindern sehr oft bei Tisch. 

Die Namen Bandjermassin, Odjimbingue und wie sie alle heißen, die Stationen in Surinam und am Tana in Ostafrika waren uns eher bekannt, ehe wir sie lesen konnten. Dazu kam, daß in unserem Hause eine große Zahl von Arbeitern im Reiche Gottes aus- und eingingen. Unsere Mutter war sehr gastfrei. Eigentlich sollte ich sagen: 

Unsere Eltern waren es. Unser Vater ging in dieser Hinsicht wohl manchmal weiter, als nötig gewesen wäre. Er hatte eine sehr gesellige Art und gern Gäste um den Tisch. Aber die Gastfreundlichkeit ist doch wohl vor allem Sache der Mutter. 

Als ich einmal jemand, und zwar eine Dame, rühmen hörte, wie gastfrei der ehrwürdige Pastor Engels in Nümbrecht, der bekanntlich unverheiratet geblieben ist, gewesen sei, habe ich einen Augenblick an einer Antwort schlucken müssen. Ich wollte sagen: »Männer haben leicht gastfrei zu sein; die Arbeit von den Gästen haben doch die Frauen.« Aber obwohl unsere Mutter die Arbeit hatte und auch den kämpf mit dem Haushaltungsgeld, das bei den vielen Gästen manchmal nicht reichen wollte, wiewohl dies letztere in damaliger Zeit noch nicht so wichtig war wie heute, war sie doch sehr gastfrei.

Wie viele Pastoren und Festprediger, die in unserm Jünglingsverein und bei Missionsfesten das Wort verkündigten, sind bei uns eingekehrt! Wie mancher Evangelist hat wochenlang bei uns gewohnt! Aber alle nahm die Mutter herzlich auf, und mehr als einer konnte den Eindruck gewinnen, als ob sie ihm zurief: »Du kehrst zur rechten Stunde, o Wanderer, hier ein.«

Es war ihr eine Lust, Christen zu beherbergen, ganz gleichgültig, ob es die einfachen Brüder vom Siegerländer Reisepredigerverein oder vom Brüderverein waren, die Boten der Evangelischen Gesellschaft, wie der unvergeßliche Inspektor Munz, oder kollektie-rende Pastoren wie Calvino von den Waldensern oder Sublet von der belgischen Missionskirche oder Missionare von der Rheinischen oder Brüdergemeine-Mission. Aus meiner frühesten Jugend stehen mir noch ganz dunkel die Gestalten vor Augen von Fritz von Schlümbach, dem feurigen deutsch-amerikanischen Evangelisten, und dem ehrwürdigen Georg Müller aus Bristol.

Und die wir nicht persönlich sahen und im Hause begrüßen konnten, von denen erzählte uns unsere Mutter. Sie hatte eine große Liebe für Lebensbilder und las sehr viel. Eigentlich hatte sie immer etwas Wertvolles als Lesestoff unter den Händen. Und dabei umfaßte sie weite Gebiete der Literatur. Ich erinnere mich, daß sie noch, bald 50jährig, jeden Mittag in ihremErholungs-stündchen Goethes »Wilhelm Meister« las, weil sie es sich nicht verzeihen konnte, daß sie dieses Werknoch nicht gelesen hatte. 

Vor allem aber waren es die Lebensbilder der Männer des Reiches Gottes und die Gestalten aus der Kirchengeschichte, besonders die Vorkämpfer der Hugenotten und Waldenser, die ihre ganze Liebe 'besaßen. Und von ihrem Lesetisch fielen reichliche Brosamen auch für uns, die Kinder, ab, weil sie wundervoll zu erzählen verstand. Als wir heranwuchsen, war es ihre ganze Freude, daß wir Brüder uns so lebhaft in dem Jungmännerverein beteiligten, dessen Vorsitzender unser Vater bis zu seinem Tode war. Ich habe keinen einzigen Fall in Erinnerung, daß unsere Mutter etwa unseren Vater oder einen von uns von den Vereinsstunden zurückgehalten hätte. Im Gegenteil, sie ermunterte uns und machte auch dem Vater in den Jahren seiner Krankheit, wenn die Kraft oft nicht einmal zum Weg ausreichen wollte, Mut, seine Pflicht zu tun und zu gehen. 

Sie war nicht eine von den Frauen, die, wenn ihre Männer ihre Arbeit im Reich Gottes tun, dann schmollend zu Hause sitzen und sich vernachlässigt fühlen. Sie langweilte sich nie. Wenn wir gingen, nahm sie ihre geliebten Berichte vor, von denen sie keinen überschlug. Kamen wir nach Hause, oft übervoll von dem Erlebten, dann hatte sie auch etwas zu erzählen, vielleicht aus dem Lande der Eskimos oder aus China, wo sie die Stunden hindurch in ihrem Geist geweilt hatte.


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