Humburg Paul, Sein Rat ist wunderbar

07/19/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Die Lehre von der Erwählung ist kein reformiertes Sondergut

Ehe ich in die Behandlung des Themas selbst eintrete, seien einige Vorbemerkungen gestattet.
»Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum glauben oder zu ihm kommen kann«, sagt Luther in der Erklärung des dritten Artikels. Das ist ein kräftiger Ausdruck der Lehre von der Erwählung der Gläubigen. Wir haben es hier nicht mit einer reformierten Sonderlehre zu tun. Immer wieder stößt man in unseren christlichen Kreisen auf diesen großen Irrtum. Keiner von den Reformatoren hat die Erwählung der Gläubigen mit solcher Deutlichkeit, ja Schärfe gelehrt wie Luther; und zwar auch in der Form, wie sie von den meisten immer als die eigentümlich reformierte Lehre verabscheut wird, nämlich daß er auch die Verwerfung eines Teils der Menschen aus Gottes Bestimmung lehrte. Diese Lehre hat Luther zuerst ausgesprochen.


Einige Zeit danach hat die lutherische Kirche angefangen, die Lehre von der Erwählung umzubiegen und abzuschwächen. Schon Melanchthon in seinen späteren Jahren begann damit; aber das war ihre Schuld. Damit ist sie von ihrem Meister abgewichen, denn dieser hat bis zuletzt festgehalten an dieser Lehre.
Wenn man die populäre Ansicht der meisten lutherischen Brüder heutzutage hört, so könnte man meinen, Luther habe den freien Willen gelehrt. Es wird ihnen schwer, sich daran zu erinnern, daß Luther als eine seiner Hauptschriften geschrieben hat »De servo arbitrio«. Darin stellt er dar, daß der freie Wille nichts sei.
Alle echt lutherischen Brüder standen daher damals und stehen heute ebenso wie ihr Meister auf der Lehre von der Gnadenwahl. Man hält diese Lehre darum weithin für eine besondere reformierte, nicht weil sie Calvin so besonders scharf gelehrt hat - das hat er getan, und er ist meines Erachtens darin zu weit gegangen -‚ sondern deshalb, weil die reformierte Kirche an diesem Punkt mehr an der reinen, ursprünglichen Lehre aller Reformatoren festgehalten hat. Das ist ohne Zweifel ihre Stärke.
Es gibt ein Buch von Klimptsius über die Gnadenwahl vom Jahre 1712 von »einem evangelisch-lutherischen Diener des Wortes zu Fischbach in Schlesien, samt einem nachdenklichen Anhang, worin klar vorgestellt wird, daß in der Lehre von der Gnadenwahl alle wahren Reformierten recht gut lutherisch gesinnt sind«. Man muß dem Märchen entgegentreten, als ob die Lehre von der Erwählung eine besondere Lehre Calvins gewesen sei. Man tut Luther bitter Unrecht, wenn man meint, er habe diese allerköstlichste Lehre von dem tiefsten Trost der Kinder Gottes nicht gekannt oder geliebt.
Paul Gerhardt, der doch wohl nicht als reformiert verdächtigt werden kann (denn um seines Kampfes gegen die Reformierten
willen ist er aus Amt und Beruf gegangen), singt: »Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren.« Und Joh. Gottfried Herrmann singt in
seinem Lied: »Geht hin, ihr gläubigen Gedanken, ins weite Feld der Ewigkeit«:
 
»Der Grund der Welt war nicht geleget,
der Himmel war noch nicht gemacht,
so hat Gott schon den Trieb geheget,
der mir das Beste zugedacht.
Da ich noch nicht geschaffen war,
da reicht er mir schon Gnade dar.

o Wunderliebe, die mich wählte
vor allem Anbeginn der Welt;
die mich zu ihren Kindern zählte,
für welche sie das Reich bestellt!
o Vaterhand, o Gnadentrieb,
der mich ins Buch des Lebens schrieb!«

Noch im Jahre 1543 hat Melanchthon, als ein gewisser Pighius von Kampen die Erwählungslehre von Luther, Calvin und Me-lanchthon angegriffen hatte, mit der Verteidigung der gemeinsamen Anschauung der Reformatoren Calvin beauftragt. Wir handeln also nicht über eine konfessionelle Sonderlehre, sondern über eine Botschaft, die Allgemeingut aller Reformatoren gewesen ist. »Unser Stammbaum geht über Calvin und Luther sowie alle großen Theologen aller Zeiten, über Augustin und Paulus auf Christus zurück«, sagt Charles Haddon Spurgeon, der große englische Baptistenprediger.

Wir müssen uns allein an die Schrift halten
Natürlich kann man auf den Seiten eines kleinen Heftes nicht alles sagen, was hier zu sagen wäre. Ich bitte, mir keinen Vorwurf daraus zu machen, wenn ich nicht alle einschlägigen Fragen eingehend und erschöpfend besprechen kann.
Ich möchte auch nicht Gedanken von Menschen, die über diese Lehre geschrieben und geredet haben, aufführen und besprechen. Es soll sich hier nicht um Gedankengebilde von Menschen handeln, sondern um den Versuch, Gottes Wort und seine Aussagen allein maßgebend sein zu lassen.
Man darf die Erwählungslehre nicht dadurch in Mißkredit bringen, daß man ein kaltes Lehrgebäude daraus macht und dieses auch noch in möglichst abschreckender Form vorträgt, vielleicht so: Gott hat die einen zum Heil, die andern zum Verderben bestimmt. Sie unterliegen beide einem unabänderlichen Schicksal. - Wenn man das sagt, dann wird alsbald die Entrüstung laut: Das ist kein Gott der Liebe und der Gerechtigkeit, das ist ein grausamer Tyrann.
So darf man diese Lehre nicht darstellen. Das ist nicht das biblische Wort von der Erwählung. Die starken Ausdrücke der Reformatoren, die beinahe und ungefähr so lauten, sind sicher nicht daher zu erklären, daß diese Männer Gottes den Gott der Liebe nicht gekannt hätten. Die Reformatoren sind mit ihren Aussprüchen ohne Zweifel der Wahrheit, auch der Wahrheit über Gottes Liebe, viel näher als viele weichliche und schwächliche Theologen, die sich vor diesen Aussagen so schrecklich fürchten.
Aber ich bin auch der Meinung, daß die Reformatoren in den verstandesmäßigen Konsequenzen, die sie gezogen haben, zu weit gegangen sind. Gleich zu Anfang will ich sagen, daß ich nicht glaube, in der Bibel werde gelehrt, daß ein Teil der Menschen von Ewigkeit her zum ewigen Verderben bestimmt sei. Gottes Zorn ist nicht der erste und nicht der letzte Wille Gottes (Adolf Schlatter). Gottes Zorn ist die Antwort auf unsere Sünde.
Wir müssen uns bei der Lehre von der Erwählung vor allem verstandesmäßigen, logischen Konsequent-Sein-Wollen hüten. Am springenden Punkt, das möchte ich gleich vorwegnehmen, werde ich jedesmal eine Auffassung vertreten, die verstandesmäßig ganz unkonsequent ist, sich logisch nicht reimen läßt und die doch das einzige ist, was ich zu sagen weiß. Wir haben es nicht zu tun mit einem Gedankengebäude oder gar mit Gedankenkunststücken, die uns eine Erklärung geben sollen, wie es nur kommt, daß einige Menschen selig werden und andere nicht, und wodurch wir dieses drückende und schwere Rätsel aus der Welt schaffen wollen. Wir werden es nie aus der Welt schaffen.

Wir haben es bei dieser Lehre nur zu tun mit einem Trost für die Gläubigen. Nur so weit geht auch die Schrift. Sie gibt uns die Lehre vom Heil für alle, die danach dürstet und hungert, nicht die Lehre vom Heil und Unheil. Sie zeigt uns den Weg, wie man selig werden kann, »erklärt« aber nicht, warum viele nicht selig werden. Und wir wollen uns in allen Stücken an die Schrift allein halten. Soweit diese uns Klarheit gibt, wollen und müssen wir sie annehmen. »Aber sobald der Herr seinen Mund zutut, muß auch der Mensch den Weg, weiter zu forschen, verlassen; denn jeder Schritt, den wir außerhalb des Wortes Gottes tun, muß uns in die Irre führen. Wir müssen uns gewöhnen, uns zu bescheiden, denn hier ist Unwissenheit die rechte Gelehrsamkeit« (Calvin).
Denselben Standpunkt vertritt Luther. Zwar betont er, »man muß über diese Dinge nicht mit einem überhinrauschenden, gemarterten oder zweifelhaftigen und auch wohl lasterhaftigen Glößlein zufrieden sein, aber man darf sich nur von der Schrift führen lassen. Denn wer wissen will, was Gott verborgen hat und will sich weise dünken, der sieht nicht, daß dies das Übel ist, daran Adam und Eva samt ihren Nachkommen den ewigen Tod gefressen haben.« Gottes Wort müssen wir fragen, und »es ist mit Gottes Wort nicht zu scherzen. Kannst du es nicht verstehen, so zeuch den Hut vor ihm ab« (Luther).
Es gilt, sich mit ganzer Entschlossenheit unter Gottes Wort zu beugen, auch wenn man es nicht versteht. Es ist für Gottes Wort eine Ehre, wenn es nicht so flach ist, daß man ihm alsbald auf den Grund sehen kann. Und wir werden, wenn wir überhaupt davon überzeugt sind, daß unser Wissen Stückwerk ist, uns daran ganz besonders erinnern müssen, wenn wir nachzudenken beginnen über die Tiefen der göttlichen Weisheit, die nicht mehr im Bereich dieser Welt und ihrer Geschichte liegen, sondern in die Ewigkeit hineinreichen. Da wird Bescheidenheit in den Aussagen doppelt angebracht sein. Manchmal beim Gewitter wird das Telefon abgestellt, weil man sonst elektrische Schläge bekommen könnte. So gibt es Gebiete im Reich des Glaubens, wo man gut tut, das Telefon abzustellen. Man telefoniert nicht ungestraft hinein. Wenn man keine Schläge bekommen und Schaden leiden will, so bescheide man sich.
»Ich laß die Runen stehen,
es kommt ein Sonnentag,
da bei des Morgens Wehen
kein Rätsel bleiben mag.«   (Gottlob Schrenk)
 
Ein Brautgeheimnis der Jünger des Herrn
Noch eins ist zu sagen, ehe wir an den Gegenstand näher herantreten. Wir haben es bei den Aussagen über die Erwählung in der Schrift mit Glaubensaussagen zu tun, die von persönlichem Glaubensleben nicht abzutrennen sind. Mit anderen Worten: Diese Lehre ist nur für die gläubigen Kinder Gottes bestimmt. Wer über diese Fragen nachdenkt und sucht dabei in Gottes geheime Kanzlei einzudringen mit seinem Vorwitz, ob er wohl erwählt sei, der sucht die Wahrheit »neben dem Weg« und stürzt in Abgründe der Verzweiflung (Calvin).
Auch Luther warnt davor. Man solle nicht den Römerbrief bei Kapitel 9 anfangen zu lesen. Viele gehen an diese Stelle zuerst heran und wollen erst den Abgrund der göttlichen Versehung verstehen. Das ist falsch. »Folge der Epistel in ihrer Reihenfolge, suche erst die Wahrheit über Sünde und Gnade zu erreichen, dann erst hindurch durch Trübsal und Leiden, von denen Kapitel 8 spricht. Dann wirst du erst fähig sein, die Tiefe der Lehre von der Versehung zu verstehen. Ohne Kreuz, Leiden und Todesnöte kann man die Versehung nicht ohne Schaden und heimlichen Zorn wider Gott handeln. Eine jegliche Lehre hat ihr Maß, Zeit und Alter, und Säuglinge sollen nicht starken Wein trinken.«
Zumal aber sollen die überhaupt nicht an diese Lehre herangehen, die noch nicht in Christo sind, die noch nicht wiedergeboren sind zu dem Leben aus Gott. Erwählung ist eine Tat der Liebe; nur der kann sie verstehen, der die Liebe Gottes selbst erfahren hat. Und alles, was Liebe ist, ist ein Geheimnis, auch Gottes Liebe.
Die Lehre von der Erwählung ist eine Wahrheit des Glaubens, nicht der Philosophie. Das Grübeln nach der Weise des Verstandes hilft hier keinen Schritt weiter. Das Wort von der Erwählung ist ein Brautgeheimnis der Jünger des Herrn. Die sein eigen sind, die lernen es verstehen. So wie die bemalten Kirchenfenster von außen gesehen uns nur den Anblick verworrener Linien und unverständlicher Bleifassungen darbieten, aus dem Innern der Kirche gesehen aber, wenn das Licht hindurchscheint, herrliche Gemälde zeigen so ist es auch mit dieser Lehre. Wer außen steht, außerhalb Christus, sieht nur verworrene Linien, die ihn selbst verwirren. Wer innen steht, in der Gemeinschaft mit Christus, der hat klare Bilder, deutliche Wahrheiten.

@1982 Francke-Buchhandlung