J Schriftsteller

Lois Walfrid Johnson, Abenteuerwälder 10 Die unheimliche Drohung,

08/19/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Mit der Belohnung, die sie in Red Jacket erhalten hat, macht sich Kate mit Anders und Erik auf den Weg, um sich ein eigenes Pferd – Windsong – zu kaufen. Als sie dann nach Hause reitet, versucht jemand, ihr Windsong wegzunehmen. Kate kann zwar dem »Möchtegern-Dieb« entkommen und schafft es sicher nach Hause, aber sie hat sich furchtbar erschrocken.

Wer sollte ein heruntergekommenes, unterernährtes Pferd stehlen wollen? Als schließlich auch noch das Führungsseil absichtlich losgebunden wird und Windsong verschwindet, ist Kate davon überzeugt, dass ihr Pferd wertvoller ist, als es den Anschein hatte. Kate ist entschlossen, Windsong zu...

Für Jessica – weil du so sehr Pferde liebst, hilfst du anderen dabei, sie auch zu lieben.

Das Jahr, in dem Kate erwachsen wird Big Gust Anderson (der Dorfmarshal von Grantsburg),
Charlie Saunders (Sheriff von Burnett County) und Walfrid Johnson lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts
im Nordwesten Wisconsins. Augustus Nelson war damals Pastor in Trade Lake. Jim Frawley war damals für Nevers Damm verantwortlich. Robert Lang leitete den Bau der nach ihm benannten
»Lang-Schleuse«. Die Farm, die der Baustelle des Damms weichen musste, gehörte Charles Nevers.
Alle weiteren Charaktere sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Feuer! Von Anfang an wusste Katherine O’Connell, dass dies ein ganz besonderer Tag werden würde.
»Ich kann es kaum erwarten!«, rief sie aus. »Ich werde mir das beste Pferd auf der ganzen Welt kaufen!« Als sie vom Farmwagen sprang, fuhr Papa Nordstrom weiter. Kate lief hinüber zu Charlie Saunders’ großem Stall. Ihr Stiefbruder Anders und ihr gemeinsamer Freund Erik Lundgren folgten ihr. Wohl zum hundertsten Mal steckte Kate ihre Hand tief in ihre Tasche. Die Dollarmünzen waren noch immer da und klirrten gegeneinander.
»Ich will ein schwarzes Pferd«, sagte Kate. »Ein schwarzes Pferd mit einer weißen Blesse!«
Anders lachte. »Kate, schau doch erst mal, was Charlie anzubieten hat. Du kannst dir nicht einfach eine Farbe wünschen, ohne zu wissen, ob du so ein Pferd überhaupt kaufen kannst.«
Aber Kate hörte nicht auf ihn. »Warte nur ab. Ich werde genau das Pferd finden, das ich haben will!« Neben der Tür zum Mietstall hing ein großes Plakat, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog:
WARNUNG
EXTREM TROCKENE WETTERLAGE ENTFERNEN SIE ALLES UNKRAUT, HOHES GRAS UND GESTRÜPP VON DEN GEBÄUDEN
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Kate starrte auf die Worte. Auf dem ganzen Weg in die Stadt hatte sie gesehen, dass die Felder ungewöhnlich trocken waren. Jede Erinnerung daran, welche Folgen dies haben könnte, bereitete Kate Sorgen.
»Habt ihr das gesehen?«, fragte sie die Jungen, als sie auf das Plakat zeigte.
Anders nickte grimmig. »Ich mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn unsere Wälder Feuer fangen!«
Kate verdrängte ihre Sorgen und öffnete die Tür zum Stall. An der Wand hingen Pferdegeschirre und Sättel. Mittendrin stand Charlie Saunders selbst, der Sheriff von Burnett County und Besitzer des Stalls. »Wir suchen nach einem Pferd«, sagte Anders schnell, so als fürchtete er, Kate könnte etwas Falsches sagen.
Charlie strich sich über seinen langen Schnurrbart.
»Für dich, Anders?«
Kates großer, blonder Bruder schüttelte den Kopf. 
»Für Kate, Sir.«
Charlies Grinsen verriet Kate, dass er sich an sie alle erinnerte, weil sie vor ein paar Monaten ein Rätsel
gelöst hatten. »Ich habe genau das richtige Pferd für ein mutiges Mädchen wie dich«, sagte er und führte sie zu den Boxen. Der Stall war voll, und Kate schätzte, dass hier mehr als sechzig Pferde untergestellt waren. Sie gingen an einem Pferd nach dem anderen vorbei und
Kate sah sich jedes gründlich an. Viele gehörten Leuten, die ihre Pferde hier abgegeben hatten, während sie in Grantsburg einkauften. In dieser letzten Juli- Woche des Jahres 1907 verlieh Charlie auch Pferde an Personen, die eines brauchten.
Aber Charlie hatte noch Aufregenderes anzubieten. Hin und wieder kaufte er einen Güterwaggon voller Broncos – Wildpferde aus dem Westen. Vielleicht hatte er einen feurigen Schwarzen, den sie kaufen konnte!
Als sie an die letzte Box kamen, blieb Kate stehen. Da stand es, ein schwarzes Pferd. Sogar im schwachen Licht des Stalls glänzte sein Fell.
»Was ist mit dem?«, rief Kate Charlie zu, als er mit
den Jungen weiterging.
Charlie schüttelte den Kopf. »An das hatte ich
nicht gedacht.«
»Ist er zu verkaufen?«, erkundigte sich Kate
schnell.
»Midnight? Klar«, antwortete Charlie. »Aber er ist …«
»Kann ich ihn bitte sehen?«
Anders trat zurück und sah sich das Pferd an. »Kate, der ist nichts für dich.«
Kate schaute an ihrem Bruder vorbei zu Charlie hinüber. »Bitte!«, sagte sie.
Charlie schaute erst Anders an, dann Kate. »Wie oft bist du denn schon geritten?«, wollte er von ihr wissen.
»Oh, viel«, sagte Kate schleunigst. »Ich habe Wildfire geritten, das Pferd meines Bruders.«
»Ach, Kate …«, begann Anders. »Du bist noch nicht viel geritten.«
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Aber Kate stand da und wartete. Charlie ging in die Box und befestigte ein Führungsseil am Halfter von Midnight. Dann führte er ihn heraus. Das Pferd warf seinen Kopf zurück, kämpfte gegen das Seil an und tänzelte seitwärts.
Charlie hielt ihn gut fest und sagte scharf: »Jetzt beruhig dich mal.« Mit seinen langen, dünnen Beinen sah das Pferd fast etwas adlig aus. Als Charlie jedoch das Tor erreichte, versuchte Midnight, sich loszureißen. Charlie gab nicht nach. Draußen machte er das Seil los und ließ das Pferd in dem eingezäunten Hof laufen. Kate und die Jungen warteten in der Nähe
des Tors und beobachteten jede Bewegung. Mit hoch
erhobenem Kopf und fliegendem Schweif trabte
Midnight über die etwa fünfzehn bis achtzehn Meter
lange Fläche.
»Ist er nicht ein wunderbares Pferd?«, fragte
Kate.
»Nee!« Zum ersten Mal, seitdem sie den Mietstall
betreten hatten, sagte Erik etwas. Wie Anders war
Erik über 1,82 Meter groß und hatte breite Schultern
von der Farmarbeit. Aber Erik hatte braune Haare,
während Anders durcheinandergewirbelte blonde
Haare hatte.
»Was meinst du mit nee?«, fragte Kate Erik.
Anders drehte sich um. »Das ist zu viel Pferd für
dich!«
»Zu viel Pferd!«, zischte Kate. »Genau das will
ich!«
Anders prustete los.
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»Seit du Wildfire hast, wollte ich ein schwarzes
Pferd wie sie.«
»Ich fürchte, meine liebe Schwester, ich muss dir
sagen, dass dieses Pferd nicht wie Wildfire ist. Das
ist ein Hengst!«
Als Charlie nach dem Halfter von Midnight griff,
wich der Hengst zurück und rollte mit den Augen.
Beim zweiten Versuch schnappte Charlie ihn sich,
aber Midnight warf seinen Kopf zurück und wollte
flüchten. Charlie befestigte das Führungsseil und
brachte ihn zurück in den Stall.
»Ich kann ihn reiten, auch wenn es ein Hengst
ist«, sagte Kate zu Anders.
Anders schüttelte den Kopf. »Nein, kannst du
nicht!«
»Es ist mein Geld!« Als sie auf der Oberen Halbinsel
von Michigan waren, hatte Kate die Dollarmünzen
als Belohnung geschenkt bekommen. Sie
liebte das Gefühl, selbst entscheiden zu können.
Wieder griff Kate in ihre Tasche. »Ich mache, was
ich will!« Sie ging Charlie hinterher.
Hinter Kate war Anders’ Seufzen zu hören.
»Schwestern! Ich kann einfach nicht begreifen,
warum sie so dumm sind!«
»Ich habe Kate noch nie so unvernünftig ge -
sehen!« Erik klang enttäuscht. »Ich kann mir
keine schlechtere Wahl für sie vorstellen als einen
Hengst.«
Vor Verlegenheit wurde es Kate ganz heiß im
Gesicht. Nachdem sie den Stall betreten hatte und
die Jungen sie nicht mehr sehen konnten, blieb sie
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stehen. Es war schon schlimm genug, wenn Anders
ihr sagte, was sie tun sollte. Vor anderthalb Jahren
hatte sein Vater Kates Mutter geheiratet. Mama und
Kate waren von Minneapolis in den Nordwesten von
Wisconsin gezogen. Jetzt war Erik ihr Nachbar und
besonderer Freund. Kate wollte nicht, dass er sie für
unvernünftig hielt.
Sie wartete noch einen Augenblick und lauschte.
Als Erik nichts mehr sagte, versuchte Kate es mit
einem Achselzucken abzutun. »Pah, was die schon
sagen!«, murmelte sie. »Nur weil sie Jungs sind,
glauben sie alles zu wissen!«
Der dunkle Stall schien wie ein kühler Kontrast
zur Juli-Sonne. Kate spürte noch die Hitze der
trocke nen Felder, die sie auf dem Weg in die Stadt
ge sehen hatte. Ein seltsamer Gedanke kam ihr in
den Sinn. Wenn wir als Familie nicht zusammenhalten,
werden wir es nicht schaffen.
Kate schob den Gedanken beiseite. Seitdem sie
eine Familie waren, hatten sie zusammengearbeitet.
Warum sollte es jetzt anders sein? Aber der Gedanke
ließ sie nicht mehr los – so wie eine Klette, die an
ihrer Kleidung haftete.
Als Kate Charlie eingeholt hatte, kam Papa Nordstrom
durch die Tür. Charlie neigte seinen Kopf zu
Kate hin.
»Sie ist an diesem Pferd interessiert«, sagte er
gelassen, dann ging er weiter zur Box.
Papa warf einen Blick auf Midnight und wandte
sich dann an Kate. »Was hat Anders gesagt?«
»Ja, also …« Kate wollte es ihm nicht sagen.
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Papa schaute noch einmal zu Midnight herüber.
»Anders hat ein gutes Auge für Pferde. Er meinte,
dass es nicht das richtige Pferd wäre, stimmt’s?«
Als Charlie den Hengst in die Box brachte, stellte
Midnight sich auf die Hinterbeine. Als er wieder
auf den Boden kam, band Charlie das Führungsseil
schnell an einem Ring fest. Charlie machte einen
Bogen um die Hinterhufe und ging rückwärts aus
der Box.
Kate hatte kein gutes Gefühl, als sie Midnight so
sah, aber sie hasste es nachzugeben. »Ich will ein
temperamentvolles Pferd«, sagte sie. »Nicht so eine
alte Mähre.«
»Aber Anders hat recht«, meinte Papa. »Diesem
Hengst bist du nicht gewachsen.«
»Er ist genau das, was ich schon immer haben
wollte!«, jammerte Kate. »Ein feuriges, schwarzes
Pferd!«
Papa sah sie mit warnenden Augen an.
Kate schwieg, aber ihre zornigen Gedanken hörten
nicht auf. Du bist mit Anders einer Meinung, weil er
dein Sohn ist!, wollte sie sagen.
Gerade noch rechtzeitig hielt Kate die Worte
zurück. Wenn sie respektlos werden würde, würde
Papa einfach hinausgehen. Dann hätte sie überhaupt
kein Pferd. Auch die Tatsache, dass es ihr Geld war,
würde dann keine Rolle mehr spielen.
»Du möchtest ein temperamentvolles Pferd?«,
fragte Charlie Kate.
Kate nickte, während ihr Blick noch immer auf
Midnight gerichtet war.
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»Dann habe ich eins, das dir gefallen könnte. Es
ist nicht schwarz, aber temperamentvoll.«
Charlie führte Kate und Papa nach draußen, wo
Anders und Erik auf dem Zaun saßen. Auf der an -
deren Seite des Hofs stand ein hellgelbes Pferd in der
Nähe des Wassertanks. Bei jeder Bewegung schienen
seine Muskeln im Sonnenlicht zu spielen.
Kates Herz hüpfte vor Freude. Es war ein temperamentvolles
Pferd, ganz sicher, aber nicht auf
dieselbe wilde Art und Weise wie der Hengst.
Charlie griff das Halfter und führte das Pferd zu
Papa und Kate. Papa beobachtete jeden Schritt.
»Auf dem kannst du gut reiten«, sagte Papa zu
Kate, als Charlie sich umdrehte und das Pferd wieder
von ihnen wegführte.
Mit wachsendem Interesse sah Kate zu. Als Charlie
jedoch die andere Seite des Pferchs erreicht hatte,
entdeckte Kate zwei weitere Pferde. Obwohl Kate
weit entfernt von ihnen stand, konnte sie erkennen,
dass sie in keinem guten Zustand waren. Charlies
andere Pferde sahen im Gegensatz dazu so gut aus,
dass Kate neugierig wurde.
Sie entfernte sich von den Jungen und eilte über
die eingezäunte Fläche. Eines der Pferde war eine
schwarze Stute mit einem weißen Stern auf ihrer
Stirn, einem kleinen weißen Fleck auf der Nase und
einer weißen »Socke« am linken Hinterbein. Das
andere Pferd hatte ein kastanienbraunes Fell, aber
Mähne und Schweif waren flachsfarben. Ihr Fell sah
struppig und trocken aus, so als wäre es seit Monaten
nicht mehr gestriegelt worden.
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Die schwarze Stute wirkte besonders schäbig.
Kate schnürte es die Kehle zu, wenn sie sie nur
anschaute. »Wo haben Sie diese Pferde her?«, fragte
sie Charlie.
»Von einem Mann, der am Nevers Damm ar -
beitete. Er sagte, er bräuchte das Geld.«
»Nevers?«, fragte Kate. »Dort arbeitet mein Onkel
Ben. Vielleicht kennen sie sich sogar.«
Am St. Croix River gelegen, zehn Meilen oberhalb
der Zwillingsstädte von St. Croix Falls, Wisconsin,
und Taylors Falls, Minnesota, war Nevers als der
Holzfällerdamm bekannt. Er steuerte den Wasserpegel
für die gefällten Baumstämme, die über den
Fluss zu den Sägemühlen in Stillwater hinuntergeschickt
wurden.
Während Kate so dastand, kam die Stute langsam
näher und berührte sie sachte an der Schulter. Das
Pferd schien zutraulich, aber an ihm war jede Rippe
zu erkennen.
Kate streckte ihre Hand aus und streichelte den
struppigen Rücken der Stute. Sie war wütend auf
den Vorbesitzer, der sein Pferd offensichtlich so
schlecht behandelt hatte. Als sie und Charlie zu den
anderen zurückkehrten, kam die Stute Kate hinterhergelaufen.
Anders grinste. »Ich glaube, du hast eine neue
Freundin!«, rief er.
Fürsorglich legte Kate ihre Hand auf den Hals des
Pferdes. »Sie braucht gute Pflege!«
»Das stimmt wohl«, meinte Charlie.
Das kastanienbraune Pferd war der Stute gefolgt.
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Sein dunkelrotbraunes Fell sah genauso stumpf und
leblos aus. Obwohl es bereits die letzte Juli-Woche
war, hatten weder dieses Pferd noch die Stute ihr
Winterfell verloren.
Als Kate sie so sah, stiegen ihr Tränen in die
Augen. Hatte monatelang keiner mehr diese Pferde
gestriegelt? Was haben sie zu fressen bekommen?
Kate blinzelte ihre Tränen weg und hoffte, dass
niemand sie bemerkt hatte. Aber Papa war es aufgefallen.
»Du solltest nicht ein Pferd kaufen, nur weil es dir
leidtut«, sagte er sanft. »Es muss das richtige Pferd
für dich sein.«
Kate nickte. »Ich weiß. Aber vielleicht ist das richtige
Pferd eines, das ein gutes Zuhause braucht.«
»Die Pferde gehörten demselben Mann«, erklärte
Charlie Papa. »Die beiden sind so unzertrennlich wie
Zwillinge.«
»Sie sind beide vernachlässigt worden«, stellte
Papa fest.
Jetzt war es Kate egal, dass sie sich immer ein
Pferd mit einem geschmeidigen Fell gewünscht hatte.
Sie wollte die Stute unbedingt wieder aufpäppeln.
»Kann ich die schwarze Stute mal reiten?«, fragte
sie plötzlich.
Anders starrte Kate an. »An diesem Pferd bist du
interessiert?«
Kate nickte. »Sie mag mich.«
»Verrücktes Mädchen!« Anders schüttelte den
Kopf. »Du springst einfach von einem Tier zum
anderen!«
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Kate hob ihr Kinn. »Ich kann doch meine Meinung
ändern«, sagte sie. »Das ist schließlich das
Recht einer Frau.«
»Du bist ein Mädchen, keine Frau!«, entgegnete
Anders mürrisch.
»Wie heißt die Stute?«, fragte Kate Charlie.
»Windsong«, sagte er.
»Windsong?« Kate war überrascht. Es war ein wunderschöner
Name und passte überhaupt nicht zum
Aussehen des Pferdes. Vielleicht hat der ursprüngliche
Besitzer sie wirklich geliebt. Vielleicht rennt die
Stute wie der Wind.
Kate schaute sich das Pferd noch einmal genauer
an. Windsong – also wie ein Lied des Windes? Kate
mochte Musik schon immer gern.
Papa ging einen Schritt zurück und studierte den
Körperbau des Pferdes. »Lass Anders sie zuerst reiten«,
sagte er zu Kate.
Anders sprang auf und ritt langsam mit der
Stute im Hof umher. Dann ließ er sie traben. Als
Charlie das große Gatter öffnete, ritt Anders auf die
Straße.
Kate, Papa und Erik folgten ihm. Als sie auf die
Hickerson-Mühle zugingen, nahm Kate im Augenwinkel
eine schnelle Bewegung wahr. Sie wirbelte
herum und sah einen Heuwagen in der Nähe des
Stalls. Die großen Zugpferde, die vor den Wagen
gespannt waren, standen allein da, so als würden sie
auf die Rückkehr des Fahrers warten.
Als Kate sich wieder zu Anders umdrehte, fing
Windsong langsam an zu galoppieren. Kate und die
20
anderen gingen ihnen hinterher, während Anders
um eine Kurve bog.
»Windsong bewegt sich gut«, meinte Papa, aber
Kate wusste, dass er seine wahre Meinung zurückhielt.
In diesem Augenblick schrie jemand: »Feuer!«
Kate fuhr herum.
In der Nähe des Stalls schrie ein Mann nochmals:
»Feuer!«
Eine Rauchwolke stieg vom Heuwagen auf. Gierige
Flammen züngelten am Heu.
Kate rannte los. Die Flammen sprangen bereits bis
zur offenen Tür des Heuspeichers hoch.
21
Eine überraschende
Entscheidung
A
ls Kate das Tor des Gatters erreichte, waren
Papa und Erik direkt hinter ihr. Charlie kam
gerade aus dem Stall gerannt. Während Papa die
verängstigten Pferde festhielt, befreiten Charlie und
Erik sie vom Wagen.
»Eimer!«, schrie Kate, und Charlie rannte zurück
in den Stall.
Als Kate zum Gatter lief, wieherten die Pferde
vor Angst. Gerade noch rechtzeitig konnte Kate es
wieder schließen. Wären die Pferde ausgebrochen,
wären sie durch die Straßen von Grantsburg gerast.
Kate kletterte über den Zaun. Als sie auf der an -
deren Seite heruntersprang, begann die Feuerglocke
zu läuten.
Anschließend lief Kate zum Wassertrog für die
Pferde, wo Charlie bereits die Eimer hingebracht
hatte. Kate tauchte sie in das große Becken und füllte
sie mit Wasser. Charlie rannte über den Hof und
reichte sie über den Zaun.
Der Heuwagen brannte bereits lichterloh, und
seine hölzernen Querbalken schienen wie ein
Skelett durch die Feuerzungen hindurch. Vor Angst
schnürte es Kate den Magen zu. Wie sollten sie nur
die Pferde herausbekommen, wenn der Stall an -
fangen würde zu brennen?
Dann sah Kate auf der Straße einen sehr großen
Mann auf sie zukommen. Big Gust!
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Statt Zeit zu verlieren, um Pferde anzuspannen,
zog der 2,28 Meter große Dorfmarshal den Feuerwehrwagen
selbst. Mit großen, langen Schritten eilte
er zum Feuer. Andere Männer liefen hinterher und
versuchten, mit ihm mitzuhalten.
Am brennenden Heuwagen blieb Big Gust stehen.
Schnell zogen Männer den Schlauch von beiden
Enden des Pumpenwagens. Einer von ihnen rannte
zum Zaun herüber, steckte den Schlauch durch und
hängte das Ende des Schlauchs in den Wassertank.
Big Gust schnappte sich das andere Ende des
Schlauchs. An beiden Seiten des Wagens stellten sich
Männer auf. Auf und ab, auf und ab bedienten sie
die stangenähnlichen Griffe. Während sie in einem
gleichmäßigen Rhythmus arbeiteten, spritzte am
Schlauch-Ende Wasser heraus.
Big Gust hielt den Schlauch hoch und richtete ihn
auf die Seite des Stalls. Während die Männer weiterpumpten,
feuchtete Gust die Bretter an. Dann richtete
er das Wasser auf den Heuwagen.
Mittlerweile war vom Heuwagen nicht mehr viel
übrig geblieben. Gust durchnässte die verkohlten
Bretter und erstickte so jeden Glutherd.
»Das hätte schlimm ausgehen können«, sagte
Charlie, als das Feuer aus war. »Ich mag gar nicht
daran denken, was mit meinen Pferden hätte passieren
können.«
Big Gust nahm ein großes Taschentuch und
wischte sich den Schweiß von der Stirn. Neben ihm
stand ein Feuerwehrmann, der sich einen Eimer
Wasser über den Kopf schüttete.
23
»Wer hat das Feuer angezündet?«, fragte Charlie.
»Hat einer von euch jemanden hier herumschleichen
sehen?«
Kate dachte nach. Vorhin war sie an dem Wagen
vorbeigegangen. Sie erinnerte sich an die schnelle
Bewegung, die sie wahrgenommen hatte. Aber sie
hatte niemanden gesehen, der herumschlich.
Mit etwas Abstand betrachtete Kate die Vorderseite
des Stalls, dann die Reste des Heuwagens.
»Wir sind von hier weggegangen«, erzählte
sie Charlie. »Wir hatten dem Wagen den Rücken
zu gedreht. Aber man braucht nur einen kurzen
Augenblick, um sich um die Ecke zu schleichen.«
»Oder die Straße entlangzukommen«, sagte Erik.
»Er brauchte nur ein Streichholz ins Heu werfen.«
»Hat es jemand auf Sie abgesehen?«, fragte Papa
Charlie.
»Tja, ich weiß nicht …« Charlie strich sich über
seinen Schnurrbart, so als wollte er nicht an Rache
denken. Aber seine Augen sahen nachdenklich aus.
Dachte er an jede Person, die er jemals verhaftet
hatte?
Als Big Gust und die Feuerwehrmänner wieder
aufbrachen, zuckte Charlie mit den Schultern. »Wer
auch immer für dieses Feuer verantwortlich ist, er ist
jetzt verschwunden. Du wolltest ein Pferd kaufen,
Kate. Lass uns das richtige aussuchen.«
Während des Feuers war Anders mit der schwarzen
Stute zurückgekehrt. Jetzt brachte Charlie einen
kleinen Sattel heraus und warf ihn auf Windsongs
Rücken.
24
»Sie wird in kürzester Zeit wieder was auf die
Rippen bekommen«, versprach Charlie. »Sie muss
nur besser gefüttert werden.«
»Können wir ihr zusätzlichen Hafer geben?«,
fragte Kate Papa.
»Ja, natürlich«, antwortete er, nachdem er kurz
nachgedacht hatte. »Wir werden unser Bestes
geben.«
Als Kate sich in den Sattel schwang, trat Papa nah
an sie heran. »Sei vorsichtig, bis du weißt, wie sie
reagiert«, warnte er. »Wenn ein Tier schlecht behandelt
wurde, weiß man nie, wie es sich verhalten wird.«
Kate beugte sich vor und sprach mit Windsong.
Die Stute drehte ihre Ohren in Richtung ihrer
Stimme. Zuerst ritt Kate ganz langsam mit ihr durch
den Pferch, und Windsong reagierte auf all ihre
Anweisungen.
Erik schwang sich auf das kastanienbraune Pferd,
das Breeza hieß, und ritt mit ihm über die eingezäunte
Fläche. Als Charlie das Tor öffnete, führte
Kate die Stute auf die Straße. Als Erik ihr folgte,
dachte Kate daran, was er gesagt hatte: »Ich habe Kate
noch nie so unvernünftig gesehen!«
Auf einmal schämte sie sich. Sie wünschte, sie
könnte ihre zornigen Worte zurücknehmen. Ich
werde Erik beweisen, dass ich ein Mensch bin, den man
bewundern kann – jemand, auf den meine Familie stolz
sein kann!
Kate brachte die Stute in den Galopp. Auf halber
Strecke zur Hickerson-Mühle wurde ihr plötzlich
klar: Das könnte mein Pferd sein – mein eigenes Pferd!
25
Als Erik sie einholte, blieb Breeza auf gleicher
Höhe mit Windsong. Erik grinste Kate an. Es war
leicht zu erkennen, dass es ihm Spaß machte.
Als Kate und Erik zum Stall zurückkamen, re deten
Charlie und Papa Nordstrom miteinander. »Mir ist
es wichtig, dass Kate ein sicheres Pferd bekommt«,
sagte Papa. »Ein Pferd, das sie nicht abwirft.«
»Ich habe beide schon geritten, Windsong und
Breeza«, meinte Charlie. »Ich hatte kein Problem. Ich
glaube, vor dem letzten Besitzer gehörten die Pferde
einem guten Mann.«
Als Kate vom Sattel rutschte, schaute Papa Windsong
ins Maul, prüfte die Zähne und nahm jeden
Huf hoch. »Ein paar Hufeisen sind locker«, sagte er
zu Charlie. »Und die Hufe müssten nachgeschnitten
werden.«
»Ich weiß«, antwortete Charlie. »Ich werde die
Kosten für einen Hufschmied vom Preis abziehen.«
Als Charlie die Kaufsumme nannte, die er haben
wollte, war Kate erleichtert. Sie hatte reichlich
Dollar münzen. Sie konnte sich sogar noch etwas an -
deres dafür leisten.
»Bist du dir sicher, dass es das richtige Pferd für
dich ist?«, fragte Papa. »Wenn du Windsong nimmst,
musst du viel dafür tun, sie wieder in Form zu bringen.
Schaffst du das?«
Kate nickte.
»Noch kannst du dich für das hellgelbe Pferd entscheiden.«
Kate wusste, dass Papa darauf hoffte, aber sie
schüttelte nur ihren Kopf.
26
»Dann habe ich nur noch eine Bedingung«, meinte
er. »Wenn sich die Stute nicht benimmt, kommt sie
zurück zu Charlie. Wenn du damit einverstanden
bist, kannst du sie haben.«
Wieder stimmte Kate zu. Sie war sich sicher, dass
sie aus Windsong ein gutes Pferd machen würde.
Papa wandte sich an Charlie. »Wenn sie Ärger
macht und wir sie nicht behalten können, bringe ich
sie zurück. Okay?«
»Geht klar«, antwortete Charlie.
Windsong stand in der Nähe. Als Kate der Stute
die Mähne aus den Augen strich, hatte sie den Eindruck,
als sei das schwarze Fell des Pferdes genauso
trocken wie die Felder.
»Du hast einen weißen Stern, wie ich es mir
gewünscht hatte«, sagte Kate. »Aber du siehst
wirklich furchtbar aus.« Kate streichelte das Pferd
zwischen den Augen. »Du wirst mir helfen, nicht
wahr?«
Die Stute nickte, so als würde sie antworten.
Kate kicherte. »Sie scheint mich zu verstehen!
Aber wie kann sie wissen, was ich sage?«
Kate war ganz aufgeregt. Dann sah sie zu Erik
herüber. Er strich Breezas Mähne glatt, so als würde
er sich nur ungern von ihr trennen.
Kate kam eine Idee. Sie drehte sich zu Papa um.
»Wenn wir beide Pferde nehmen würden, könntest
du sie dann als Gespann verwenden?«
Papa warf Kate einen sonderbaren Blick zu. Er
ging einen Schritt zurück und studierte die beiden
Pferde. Anschließend ließ er sie nebeneinanderher
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gehen. »Sie wären kein gleiches Paar, aber sie haben
dieselbe Gangart.«
»Wie viel kosten beide zusammen?«, fragte Kate
Charlie.
»Wenn du beide haben willst, mache ich dir ein
Sonderangebot. Und ich gebe noch zwei gebrauchte
Sättel hinzu. Einen leichteren für dich, damit du ihn
besser hochheben kannst.« Wieder nannte Charlie
seinen Preis.
Kate schaute sich die Pferde noch einmal an. Sie
konnte den Gedanken nicht ertragen, dass eines
von ihnen wieder einen schlechten Besitzer be -
kommt.
»Gekauft!«, sagte sie.
»Gekauft?«, fragte Anders ungläubig. »Meinst du
das ernst?«
»Klar!«, grinste Kate. »Es ist mein Geld!« Sie sah
Papa an. »Okay?«
Er nickte. »In Ordnung.«
»Was um alles in der Welt willst du mit zwei Pferden?«
Anders war noch immer fassungslos.
Kate hob den Kopf und warf ihren langen schwarzen
Zopf über die Schulter. »Wenn Papa sie braucht,
kann er sie als Gespann haben.«
Sie schaute zu Erik hinüber, um seinen Gesichtsausdruck
zu sehen. »Und wenn Erik will, kann er
Breeza reiten.«
Erik starrte sie an. »Kein großes, schönes Pferd?
Keinen wilden Hengst?«
Kate schüttelte den Kopf. Sie war erleichtert, dass
die Entscheidung gefallen war.
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Ein breites Grinsen lag auf Eriks Gesicht. »Danke,
Kate!«, rief Erik aus. »Vielen Dank!«
Anders klopfte ihm auf den Rücken. »Jetzt können
wir alle zusammen ausreiten!«
Als die Pferde gesattelt und fertig waren, ritten
Kate und Erik aus dem umzäunten Bereich heraus.
Anders ging neben ihnen.
Erik drehte sich zu Kate um. »Ich kann nicht glauben,
dass du es geschafft hast, zwei Pferde zu kaufen!«
Kates Herz wurde ganz warm, als sie hörte, was
Erik empfand. Vielleicht denkt er jetzt, dass ich doch
nicht so schrecklich bin. Sie wusste, wie ungewöhnlich
es für einen jungen Menschen war, ein Pferd
zu haben. Im ganzen Nordwesten von Wisconsin
kannte sie kein anderes Mädchen, das ein Pferd
hatte, geschweige denn zwei.
»Obwohl ich die Belohnung bekommen hatte,
gehörte sie doch nicht wirklich mir.« Kate wollte
erreichen, dass Erik seine vorhin geäußerte Meinung
über sie änderte. »Wir haben alle zusammengearbeitet
und meiner Cousine in Michigan geholfen.«
»Trotzdem, vielen Dank!«, erwiderte Erik.
»Ich werde alles tun, was ich kann, um für Windsong
zu sorgen«, sagte Kate.
Erik dachte dasselbe über Breeza. »Wir werden
das Fell der beiden in kürzester Zeit zum Glänzen
bringen.«
Die Hufschmiede von Walfrid Johnson lag ebenfalls
an der Hauptstraße von Grantsburg, ein Stück
weit von Charlies Mietstall entfernt. Papa wollte sie
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dort treffen, sobald er die Einkäufe im Lebensmittelladen
erledigt hatte.
Als Kate und die anderen beim Hufschmied
an kamen, arbeitete Stretch gerade draußen, wo es
kühler war. Vor fast einem Jahr war der große Junge
in die Schule am Spirit Lake gekommen. Nachdem
Stretch die Schule verlassen hatte, quetschte er sich
seine Hand zwischen zwei großen Eisblöcken.
Als er Kate sah, blickte er sie mit freudestrahlenden
Augen an. »Ist das dein Pferd?«, fragte er.
Trotz des Aussehens von Windsong war Kate auf
einmal stolz auf sie. »Das andere gehört auch mir.«
Sie neigte ihren Kopf zu Breeza herüber. »Aber meistens
werde ich Windsong reiten.«
Stretch hob einen Huf der Stute nach dem an -
deren und überprüfte sie alle. »Das habe ich in null
Komma nichts in Ordnung gebracht.«
Stretch hielt einen Vorderhuf zwischen seinen
Knien, zog die lockeren Nägel heraus und ersetzte
das Hufeisen.
»Deine Hand!«, rief Kate, als Stretch den Huf
nachschnitt. »Ist sie wieder in Ordnung?«
Stretch hielt Kate seine verletzte Hand hin. Nach
seinem Unfall konnte er drei Finger nicht mehr richtig
ausstrecken. Doch mittlerweile sahen zwei wieder
normal aus. Der dritte Finger war noch nicht
ganz in der richtigen Position. Aber Stretch konnte
seine Hand wieder gebrauchen.
Er passte Windsong gerade ein Hufeisen an, als
ein junger Mann auf sie zukam. Trotz der Hitze hatte
er sein Hemd ordentlich zugeknöpft. Ein schma
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ler, modischer Schal – den einige Leute »Krawatte«
nannten – hing ihm fast bis zur Hüfte.
Als der Mann sich den Pferden näherte, wurde
Breeza unruhig. Er schnaubte laut und stampfte mit
einem Fuß auf den Boden.
Windsong warf ihren Kopf zurück. Plötzlich entriss
sie Stretch ihren Huf. Ihre Ohren legten sich
flach an den Kopf, so als wäre sie bereit auszutreten.
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Überfall aus dem Hinterhalt!
A
ls sie das Weiße in Windsongs Augen sehen
konnte, erschrak Kate. Schnell schnappte Erik
sich Breezas Halfter.
»Brr, brr!«, befahl er. »Beruhige dich!«
Vor Angst wich Kate zurück. »Was habe ich da
gekauft?«, fragte sie die Jungen. »Habe ich ein Paar
Wildpferde?«
Stretch sah zu dem Mann herüber, der gerade
angekommen war. »Sie sind in Ordnung«, sagte
Stretch zu Kate. »Du musst sie nur gut behandeln.«
Der junge Mann ging um Stretch herum und
hielt sich von den beiden Pferden fern. »Gehören sie
dir?«, fragte er Kate.
»Ja, das sind meine!« Wieder spürte Kate, wie
stolz sie war. »Ich habe sie gerade erst gekauft.«
»Du wohnst hier in der Nähe?« Seine Stimme
klang nicht sehr interessiert, so als wollte er nur ein
bisschen reden.
Kate schüttelte den Kopf. »Elf Meilen entfernt von
hier.«
Der Mann nahm eine Zigarre aus der Tasche, dann
ein Streichholz. »In welcher Richtung?«, fragte er.
»In der Nähe von Trade Lake«, erzählte Kate ihm.
»Auf der Windy Hill Farm.«
In dem Augenblick, als sie das sagte, bekam Kate
ein ungutes Gefühl. Mama hatte sie gewarnt, dass sie
nicht mit Fremden sprechen sollte. Aber dieser sah
so gut aus und war so ordentlich gekleidet, dass es
32
wohl nicht weiter schlimm war. Außerdem waren
Anders, Erik und Stretch bei ihr.
Der Mann zündete die Zigarre an und schüttelte
das Streichholz in der Hand aus.
»He, passen Sie auf!«, warnte Stretch ihn. »Es hat
heute schon mal gebrannt in der Stadt.«
Der Mann ließ das Streichholz fallen und trat es
dann in den Boden. »Du hast einen langen Heimweg,
Flüsse und all das«, sagte er zu Kate.
»Nicht so schlimm«, entgegnete sie. »Erst geht’s
nach Süden und dann nach Osten. Ich komme gerne
in die Stadt.«
Kate blickte zu Stretch herüber, der sich wieder
an den Hufeisen der Stute zu schaffen gemacht hatte.
»Jetzt kann ich Windsong reiten. In null Komma
nichts wird sie wieder gut aussehen. Ihr letzter Be -
sitzer hat sich nicht um sie gekümmert.«
»Ach, wirklich?« Ein seltsamer Blick huschte über
das Gesicht des Mannes.
Kate wunderte sich darüber. Was war es nur?
Groll? Sie war sich nicht sicher. Was auch immer der
Blick bedeutete – jetzt war er wieder verschwunden.
Stretch griff wieder nach Windsongs Huf. Als er
ein Hufeisen annagelte, sah Stretch zu dem Mann
herüber. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Ich komme wieder, wenn du nicht mehr so viel
zu tun hast«, erwiderte der Mann. Dann drehte er
sich zu Kate um und griff mit seiner Hand nach oben,
so als würde er einen Hut anheben. »Viel Glück mit
deinen Pferden!« Er machte einen weiten Bogen um
Windsong und Breeza und ging auf die Straße.
33
Stretch war mit Windsong noch nicht fertig, als
Papa kam.
»Ich muss zurück zur Farm«, sagte er zu Kate.
»Und Stretch braucht noch etwas Zeit, um Breeza zu
beschlagen. Willst du die Pferde mit Erik nach Hause
reiten?«
»Warum fahren Sie nicht schon vor, Sir?«, antwortete
Erik schnell. »Wir kommen schon zurecht.«
Papa sah erleichtert aus. »Ich sollte Opa das Melken
nicht allein überlassen.«
Erik senkte ein Augenlid und zwinkerte Anders
langsam zu.
»Ich pass auf deine kleine Schwester auf«, sagte
er. »Auf Kate aufpassen« war zu einem Scherz zwischen
ihnen geworden.
Aber Kate fand das gar nicht lustig. »Ich passe
auf mich selbst auf!« Als Papa und Anders gingen,
drehte Kate Erik den Rücken zu und trat näher
an Stretch heran, um ihn bei der Arbeit zu be -
obachten.
»Deine Stute hat kleine Hufe«, sagte Stretch zu
ihr. »Siehst du die Größe ihrer Hufeisen?« Er verglich
sie mit einem Hufeisen, mit dem er Breeza
beschlagen wollte.
Als Stretch seine Arbeit beendet hatte, schwangen
sich Kate und Erik auf die beiden Pferde. Sie winkten
kurz und ließen Stretch zurück.
Bald kamen sie auf die Straße, die aus Grantsburg
herausführte. Eine Brise wehte über ein offenes
Feld und blies Kate das Haar ums Gesicht. Nach der
Hitze des Tages tat die kühle, frische Luft gut.
34
Kurze Zeit später ritten sie an einer Farm vorbei,
die von vielen Baumstümpfen umgeben war.
Obwohl Kate zuvor nur auf Wildfire, dem Pferd
ihres Bruders, geritten war, hatte sie keine Probleme,
Windsong zu führen. Sie brauchte die Zügel nur
leicht zu bewegen, und schon reagierte die Stute.
Erik beugte sich vor und streichelte Breezas Hals.
»Du hast gute Pferde gekauft, Kate.«
»Das hoffe ich doch.« Beim Hufschmied war sie
sich nicht mehr ganz so sicher gewesen. Hätte Papa
gesehen, wie sie reagierten, hätte sie sie zu Charlie
zurückbringen müssen.
»Sie sind ruhig und zuverlässig«, meinte Erik.
»Aber nicht, als dieser Mann zur Hufschmiede
kam.« Das bereitete Kate Sorgen.
Erik grinste. »Sie haben ihn sicher nicht gemocht.
Aber irgendjemand hat sie gut abgerichtet.«
»Ich wünschte nur, sie hätte etwas mehr ›Feuer‹«,
sagte Kate. »Temperamentvoll in guter Hinsicht,
meine ich.«
Erik lehnte sich im Sattel zurück. »Weißt du, wie
Menschen reagieren, wenn sie geschlagen worden
sind? Pferde sind da nicht anders. Wenn man gut mit
ihnen umgeht, merken sie sich das.«
»Ich muss ständig an den letzten Besitzer denken«,
meinte Kate. »Wenn ein Mensch Pferde so
schlecht behandelt, wozu ist er außerdem imstande?
Wem könnte er noch Schaden zufügen?«
»Was meinst du?«, fragte Erik.
»Ich möchte wissen, wo der ehemalige Besitzer
jetzt ist? Diese Pferde umgibt ein Geheimnis, Erik.
35
Gerne würde ich mehr erfahren. Aber ich fürchte
mich fast ein bisschen davor, es herauszufinden.«
Als Kate Windsong antrieb, hielt Breeza mit. Kate
ritt ein Stück vor Erik, als sie einen Baum auf der
Straße liegen sah.
Kate zog an den Zügeln. »Wieso ist dieser Baum
wohl umgefallen?« Sie hatte ein ungutes Gefühl. Der
mittelgroße Ahornbaum hatte eine breite Krone mit
belaubten Ästen.
»Vielleicht rodet ein Farmer sein Land«, meinte
Erik. »Wir können um den Baum herumreiten.«
Links von ihnen war ein schmaler Pfad zwischen
der Baumspitze und den Büschen am Straßenrand.
Erik ritt wieder los, und daraufhin setzte sich auch
Kates Stute wieder in Bewegung. Als Windsong dem
Baum jedoch näher kam, blieb sie plötzlich stehen.
»Geh weiter, Mädchen«, sagte Kate, als die Stute
ihren Kopf zurückwarf. »Du hast genug Platz. Geh
herum.«
Mit Kates Unterstützung machte Windsong einen
Schritt, dann noch einen. Der Durchgang war schmal
und das Laub des Baumes dicht. Als Kate nahe an
die Äste herankam, bewegte sich einer von ihnen.
Erschrocken zuckte Windsong zurück, aber sie
gehorchte dem Druck von Kates Beinen. Als die
Stute an den Ästen vorbeischritt, kam eine Männerhand
heraus und griff nach ihrem Zaumzeug.
Kate schlug das Herz bis zum Hals. Ängstlich
schaute sie nach unten und versuchte die Person zu
erkennen, die das Zaumzeug festhielt. Ein großer
Hut verdeckte sein Gesicht.
36
»Lauf los!«, schrie Kate und drängte das Pferd
vorwärts. Aber der Mann hielt Windsongs Zaumzeug
fest in der Hand.
37
Papas Warnung
E
rik war direkt hinter Kate. Er streckte schnell
seine Hand aus und schlug Windsong aufs Hinterteil.
Die Stute machte einen Satz nach vorn und
riss dem Mann das Zaumzeug aus den Händen.
Als der Mann stolperte und hinfiel, raste Windsong
los.
Als würde sie von einer Meute von Hunden
gejagt, stürzte Windsong die Straße entlang. Kate
klammerte sich an den Zügeln fest und schmiegte
sich an den Hals der Stute.
Sie hatte nur einen Wunsch – weg von diesem
schrecklichen Mann. Kate sah die Bäume am Wegrand
nur so vorbeirauschen. Als würde ihr Leben
an ihr vorüberziehen, wusste sie, was geschehen
würde, wenn sie jetzt neben den fliegenden Hufen
landen würde.
Starr vor Angst griff Kate nach Windsongs
Mähne. Als sie die schnellen Hufschläge immer stärker
in ihrem eigenen Körper spürte, wurde Kates
Angst immer größer. Würde sie jetzt fallen, wäre es
der sichere Tod.
»Bring sie zum Stehen!«, schrie Erik.
»Brr!«, rief Kate. »Brr!« In ihrer Panik hatte Kate
fast vergessen, was sie tun musste. Aber die Angst
hatte das Pferd ebenso sicher im Griff wie Kate.
»Brr!«, rief sie wieder. Sie zerrte an den Zügeln
und zog dadurch die Trense im Maul der Stute fester
an.
38
Als Breeza neben ihr ritt, ließ Windsong sich in
einen leichten Galopp fallen. »Halte sie gut fest«,
schrie Erik zu Kate herüber, und sie fühlte sich schon
allein dadurch besser, dass sie ihn hörte.
»Alles ist gut, Windsong. Alles ist gut«, sagte sie
zu der Stute.
Windsong reagierte auf ihre Stimme, und Kate
klopfte ihr an den Hals. »Gutes Mädchen! Du hast
gewusst, dass ich flüchten musste, oder?«
Als Windsong wieder in den Schritt wechselte,
hatten sie bereits eine ziemlich große Strecke zurückgelegt.
Erst als Kate das Pferd unter Kontrolle hatte,
begann sie zu zittern. Erik hielt neben ihr an.
»Was war das bloß?«, fragte sie. Obwohl sie sich
bemühte, ganz ruhig zu bleiben, hörte das Zittern
nicht auf.
Erik sah grimmig aus. »Als ich deinem Vater
sagte, ich würde auf dich aufpassen, hatte ich nicht
mit einem Überfall gerechnet!«
Kate kicherte nervös.
»Das ist nicht lustig!« Erik klang gleichermaßen
wütend und besorgt. »Ich weiß nicht, was dieser
Mann vorhatte. Dein Pferd stehlen oder was?«
Kate atmete tief ein und versuchte ihre Angst zu
verdrängen. »Vielleicht hat er von meinen Dollarmünzen
erfahren. Oder er glaubt, dass ich reich bin.«
Erik blickte mürrisch drein. »Hör auf mit den Witzen!
Wäre ich nicht da gewesen, hättest du ernsthafte
Probleme bekommen.«
Kate zweifelte nicht daran, dass Erik recht hatte.
Tief in ihr wusste sie, in welch großer Gefahr sie
39
gewesen war. Trotzdem wollte sie nicht zugeben,
wie viel Angst sie hatte.
»Ich habe noch nie gehört, dass jemand einen derartigen
Raubüberfall begangen hat«, sagte Erik. »Das
war immer ein sicherer Ort zum Leben.«
Er drehte sich um und blickte zurück. »Wer auch
immer dieser Mann ist – man kann ihm auf gar keinen
Fall trauen!«
Kates Hände schlossen sich fest um die Zügel. Als
Windsong ihren Kopf hob, beugte sich Kate vor und
redete mit ihr.
»Konntest du erkennen, wie der Mann aussah?«,
wollte Erik wissen.
Kate schüttelte den Kopf. »Als er seine Hand ausstreckte,
hatte ich solche Angst, dass ich an gar nichts
mehr denken konnte.«
»Ich auch nicht. Er trug einen großen Hut …«
»Einen Hut, der sein Gesicht verdeckte.« Sogar
Kates Stimme bebte. Sie presste ihre Hände auf die
Knie und versuchte so, das Zittern zu beenden.
Erik bemerkte es. »Tut mir leid«, sagte er, und
Kate wusste, dass er es ehrlich meinte. »Ich wollte
dir nicht noch mehr Angst machen, aber wir müssen
vorsichtig sein. Dieser Mann könnte uns nach Hause
folgen. Dann wüsste er, wo du wohnst.«
Kate lief es kalt den Rücken herunter. Daran hatte
sie auch schon gedacht. Sie schaute sich um. »Was
sollen wir tun? Wir könnten uns in den Bäumen verstecken
und schauen, ob er vorbeikommt?«
»Oder wir könnten versuchen, vor ihm zu bleiben«,
schlug Erik vor.
40
»Lass uns das machen«, sagte Kate. »Wir brauchen
einen guten Vorsprung.«
Erik stimmte ihr zu. »Ich habe kein Interesse, ihm
noch mal zu begegnen, solange wir nur zu zweit
sind.«
Sie machten sich wieder auf den Weg. Eine Zeit
lang hielten Kate und Erik ein gutes Tempo und
schauten sich oft um. Als sie an einen kurven reichen
Abschnitt kamen, blieben sie ab und zu stehen und
lauschten. Zwei Mal fragten sie sich, ob sie Hufschläge
hörten. Beide Male waren sie sich einig, dass
sie sich getäuscht hatten.
Als sie schließlich den langen, kurvigen Weg
durch die Wälder zur Windy Hill Farm erreichten,
ließen sie die Pferde wieder im Schritt laufen. Hoch
über den Baumwipfeln schien die Sonne, als wäre
alles in bester Ordnung. Auf der Farm angekommen,
hatte Kate das Gefühl, dass Windsong nun wirklich
ihr gehörte. Die Gefahr, die sie gemeinsam durchstanden
hatten, verschaffte Kate auf seltsame Weise
Respekt vor der Stute.
Kate wollte, dass jeder ihr neues Pferd bestaunte,
und führte sie zur Küchentür. Erik folgte mit Breeza.
Kates 9-jähriger Stiefbruder Lars sah sie kommen.
Als er sie im Haus ankündigte, eilte Kates Stiefschwester
Tina, die jetzt fünf Jahre alt war, mit Mama
nach draußen.
Durch die Sommersonne hatte Lars noch mehr
Sommersprossen bekommen. »Du hast zwei für
den Preis von einem gekauft?«, fragte er schwer be -
eindruckt.
41
Kate nickte. »Aber das hier ist das Pferd, das ich
reite.« Als sie mit der Hand durch Windsongs Mähne
strich, spürte Kate, dass das Haar der Stute ein verfilztes
Durcheinander war.
Schnell nahm sie ihre Hand weg und hoffte, die
anderen hätten nichts gemerkt.
Mama umrundete Windsong einmal vollständig
und sagte schließlich: »Sie ist ein schönes Pferd, aber
hat sie noch etwas Winterfell?«
»Der Vorbesitzer hat sich nicht um sie gekümmert«,
erklärte Kate. »Sie braucht gutes Futter und
muss gestriegelt werden. Dann werden die beiden
Pferde ganz schnell wieder gut aussehen.«
»Hielt Papa es für einen guten Kauf?« Mama
klang, als wollte sie etwas Positives sagen, aber sie
wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte.
»Er weiß, dass ich den Pferden helfen will.« Kate
begann sich unwohl zu fühlen.
»Wenn Papa nichts dagegen hatte, wird das schon
in Ordnung gehen«, meinte Mama, so als wollte sie
ihr Mut machen. »Papa hat sich noch nie geirrt. Er
kennt sich mit Pferden aus.«
»Das hoffe ich«, mischte Tina sich ein. Sie redete
jetzt mehr Englisch als zu der Zeit, als Kate ihr zum
ersten Mal begegnete.
Tina kam näher und starrte auf Windsongs Bauch.
»Ist dein Pferd hungrig?«
Lars sagte ihr, dass sie still sein solle. »Kate kann
nichts dafür, dass man Windsongs Rippen sieht.«
»Papa sagte, ich kann ihr zusätzlichen Hafer
geben«, meinte Kate schnell.
42
»Siehst du, Tina?«, sagte Lars. »Das ist alles, was
Windsong braucht.«
»Es muss ein gutes Pferd sein«, meinte Tina mit
weit aufgerissenen blauen Augen. »Es hat Kate den
ganzen Weg nach Hause gebracht.«
»Vielen Dank!« Als Kate Windsong wegführte,
sah sie Eriks Grinsen.
Mittlerweile fühlte Kate sich wie ein Heißluftballon,
dem die Luft ausgegangen war. Der Stolz,
den sie kurz zuvor noch gespürt hatte, war nicht
mehr da. Sie sagte sich, dass alles in Ordnung wäre.
Aber dann erinnerte sie sich daran, wie sich die
Pferde beim Hufschmied verhalten hatten. Was ist,
wenn sich Windsong aufbäumt, während ich sie reite?
Bei der Scheune rutschte Kate von dem Pferd herunter.
Sie nahm Windsongs Sattel ab, und Lars be -
obachtete alles, was sie tat.
Er streckte seine Hand aus und streichelte die
Stute. »Ich wünschte, ich hätte ein solches Pferd wie
du.«
In diesem Augenblick kam Opa aus der Scheune.
Er hinkte noch immer, weil er auf der Überfahrt nach
Amerika gestürzt war. Als sie ihn sah, schnappte
Kate sich Windsongs Zaumzeug und wollte durch
eine andere Tür hinausgehen. Wenn es etwas gab,
was sie jetzt nicht gebrauchen konnte, dann war es
noch jemand, der ihr sagte, wie furchtbar das Pferd
aussah.
Aber Opa stellte sich vor sie hin, und Kate musste
stehen bleiben. Er ging um Windsong herum und
betrachtete sie aus jedem Winkel. Nachdem er das
43
selbe bei Breeza getan hatte, sagte er schnell etwas
auf Schwedisch.
»Das sind gute Pferde«, übersetzte Erik für Kate.
Von Kates Schultern schien eine große Last zu fallen.
Wenn Opa meinte, die Pferde seien gut, dann
waren sie es auch.
Als Erik sich auf den Heimweg begab, eilte Kate
in die Sommerküche. Jeden Frühling transportierten
Papa und Anders den Kochofen in das kleine
ein räumige Gebäude, damit beim Kochen nicht das
Haupthaus aufgeheizt wurde.
Heute Abend war die Sommerküche noch ganz
warm von der Hitze des Tages und vom Kochen.
Doch die herrlichen Gerüche des Abendessens krochen
Kate in die Nase. Vor Hunger fühlte sie sich
innerlich ganz hohl und setzte sich an den Tisch.
Ihr Onkel Ben war heute Abend schon weg, so
wie fast immer, seit er die Arbeit am Nevers Damm
bekam. Doch selbst wenn Ben zu Hause war, verbrachte
er die meiste Zeit mit Fräulein Sundquist,
Kates Lehrerin an der Schule am Spirit Lake. Aber
der Rest der Familie war beisammen, einschließlich
Opa und Oma.
Seit ihrer Ankunft aus Schweden lebten Mamas
Vater und Mutter bei ihnen. Mit ihrem weißen Haar
saß Oma so aufrecht da wie eine junge Frau. Jetzt
lächelte sie, als wollte sie Kate sagen: »Ich bin stolz,
dich zu meiner Enkeltochter zu haben.«
Beim Essen hielt Oma Bernie, das Baby, in ihren
Armen. Kates kleiner Bruder war schon fast fünf
Monate alt. Als er quengelig wurde, sprang Kate auf
44
und nahm ihn ihrer Oma ab. Sie entfernte sich etwas
vom Tisch und wiegte ihn hin und her. Als Bernie
zu ihr aufblickte, schienen seine Augen ihr Gesicht
abzusuchen.
Mit einem Finger streichelte Kate ihm über die
Wange. Als er seinen Mund zu ihrer Hand hindrehte,
lachte sie. »Du bist nicht hungrig! Du hast gerade
erst gegessen!« Sie hob Bernie auf ihre Schulter und
wiegte ihn, während sie in dem kleinen Raum ein
bisschen hin und her ging.
Als Papa zu Ende gegessen hatte, schob er seinen
Teller beiseite. Sein Gesichtsausdruck war so ernst,
wie Kate es noch nie zuvor gesehen hatte.
Er berichtete Mama und den anderen vom Feuer
in Charlies Stall: »Es ist eine Warnung, wie schnell
so etwas passieren kann. Bei uns gibt es aber einen
wichtigen Unterschied. Wir haben keine Feuerwehr
direkt um die Ecke.«
Papa blickte Mama quer über den Tisch an. Dann
blickte er von einem zum anderen.
»Wir haben alle die trockenen Felder und Wälder
gesehen. Sie erinnern mich an das große Hinckley-
Feuer.«
Mit nervösen Fingern zwirbelte Kate an ihrem
Rock. Jeder hatte von diesem schrecklichen Feuer
gehört. Vor dreizehn Jahren hatte es in Minnesota
vierhundert Quadratmeilen Wald abgebrannt.
»Es war etwa um diese Jahreszeit«, fuhr Papa fort.
»Am 1. September 1894. So wie es aussieht, könnte
ein Feuer hier denselben Schaden anrichten.«
45
Tina saß mit weit aufgerissenen Augen da. Mama
erlaubte es ihr nie, ein Streichholz anzünden. Sogar
die Fünfjährige kannte schon die Gefahr einer kleinen
Flamme.
»Wenn ihr eine Kerze oder Laterne anzündet,
dann achtet darauf, dass nicht irgendwo ein Funke
hinfällt«, warnte Papa. Er blickte noch einmal in die
Runde, um sicherzugehen, dass es jeder verstanden
hatte.
»Ich werde vorsichtig sein«, versprach Anders.
»Und du, Lars?«
»Ja, Sir.«
»Tina?«, fragte Papa. »Keine Streichhölzer.«
»Ja, Papa«, antwortete das kleine Mädchen.
Als er schließlich Kate ansah, klopfte ihr Herz,
weil es eine so ernste Sache war.
»Das verspreche ich, Papa«, sagte sie ihm. »Du
kannst mir vertrauen.«
Papa nickte. Entspannt griff er nach seiner Tasse
Kaffee.
Als Bernie sich in Kates Armen bewegte, blickte sie
zur Tür hinüber. »Da ist jemand«, sagte sie schnell.
In diesem Augenblick musste sie an den Mann auf
der Straße denken. Hatte er sie doch gefunden?
Kate zog Bernie fest an sich und kämpfte mit ihrer
Angst.
46
Na, warte!
D
ie Eingangstür quietschte, als sie geöffnet
wurde. Dann kam Kates 1,90 Meter großer
Onkel herein. Ben sah Kate an und grinste.
Trotz des Schreckens beruhigte sich Kates Herz
sofort wieder.
Fräulein Sundquist, Kates Lehrerin in der Schule
am Spirit Lake, stand dicht hinter ihm. Neben Ben
sah Fräulein Sundquist noch kleiner aus. Während
sie Opa und Oma einen guten Abend wünschte, funkelten
ihre blauen Augen.
»Habt ihr schon gegessen?«, fragte Mama schnell.
Ben war ihr jüngster Bruder.
Als er den Kopf schüttelte, machten die anderen
am Tisch Platz.
Nachdem er in Schweden Geld gestohlen hatte,
war Ben nach Amerika geflüchtet. Später schickte er
dem schwedischen Ladenbesitzer das Geld zurück,
um seine Tat wiedergutzumachen. Aber manchmal
holte seine Vergangenheit ihn ein und bereitete ihm
Sorgen. Mehr als einmal hatte Kate ihrem Onkel ein
glücklicheres Leben gewünscht.
Im Sommer hatte Fräulein Sundquist Ben oft
Nachhilfe im Lesen und Schreiben der englischen
Sprache gegeben. Vor Kurzem hatte Kate bemerkt,
dass sie die Bücher immer schon nach kurzer Zeit
beiseitelegten, um sich Zeit für einen Spaziergang zu
nehmen.
Heute Abend war die Stimmung so besonders – es
47
schien fast so, als hätten Ben und Fräulein Sundquist
ein Geheimnis. Ben hat gute Nachrichten!, dachte Kate.
Einmal streckte Fräulein Sundquist ihre Hand
aus. Ben ergriff sie und hielt sie unter dem Tisch. Ein
andermal schenkte er ihr ein langes Lächeln. Kate
war sich sicher, dass sie den Grund dafür kannte.
Schließlich kam der Augenblick. Als Kate das
Geschirr wegräumte, bat Ben sie, sich hinzusetzen.
»Jenny und ich wollen euch etwas mitteilen«,
sagte er.
Jenny, dachte Kate. Was für ein schöner Name! Der
Name erinnerte Kate an Jenny Lind, die begabte Sängerin,
die als »schwedische Nachtigall« bekannt war
und vor einigen Jahren auf Tour durch die Vereinigten
Staaten war. Kate hatte ihre Lehrerin immer Fräulein
Sundquist genannt. Doch nun hörte Kate genau
hin, wie Ben den Namen Jenny aussprach.
Als Ben nun erneut die Hand von Fräulein
Sundquist ergriff, versteckte er sie nicht wieder unter
dem Tisch. »Jenny hat mir die Ehre gegeben, mir zu
versprechen, meine Frau zu werden!«
»Oh, gut!«, rief Mama aus. Ihr herzliches Lächeln
schien das Paar zu umgeben.
»Prima!«, jubelte Lars. Tina klatschte in die Hän -
de, während Anders ein breites Grinsen aufsetzte.
»Herzlichen Glückwunsch!« Papa sprang auf und
schüttelte beiden die Hand.
Vor lauter Stolz traten Opa Tränen in die Augen,
und Oma sagte: »Ich mag gar nicht glauben, dass wir
nach Amerika gekommen sind, um das erleben zu
dürfen!«
48
»Wann werdet ihr heiraten?«, wollte Mama von
dem Paar wissen.
»Sobald ich ein Haus auf meinem Stück Land
gebaut habe – unserem Stück Land«, antwortete Ben.
»Euer Land?« Das war eine Überraschung für
Opa.
»Ja, sicher«, erwiderte Ben. »Deshalb habe ich
die Stelle am Nevers Damm angenommen. Die Be -
zahlung ist gut, und mein Chef, Herr Frawley, hat
mir erst vor Kurzem eine bessere Arbeit zugeteilt.«
»Eine Beförderung?«, erkundigte sich Papa.
Ben nickte. »Einen Teil der Arbeitszeit verbringe
ich noch als Nachtwächter. Die restliche Zeit arbeite
ich im Büro.«
»Machst du die Abrechnungen?«, erkundigte sich
Papa.
Wieder nickte Ben. Er hatte schon immer ein
Händchen für Zahlen. Sogar an seinem ersten Tag
an der Schule am Spirit Lake hatte er jede schwierige
Rechenaufgabe gelöst, die Fräulein Sundquist
ihm gab.
»Herr Frawley bildet mich aus«, fuhr Ben fort.
»Jenny und ich haben Geld gespart. Mit unseren
Dollar haben wir ein Stück Land angezahlt.«
Ben sah Papa an. Der Blick, den sie austauschten,
verriet Kate, dass Papa in diesen Teil des Geheimnisses
eingeweiht war.
Neugierig lehnte sich Kate vor. »Wo ist dein
Land, Ben?«
»Weit, weit weg«, sagte er ernsthaft. »So weit,
dass du uns nie wieder sehen musst.«
49
»Oh …«, seufzte Tina. Ihre blauen Augen füll ten
sich mit Tränen. »Ich will euch aber wiedersehen!«
Daraufhin grinste Ben. »Das wirst du auch, Tina.
Wenn du mit mir kommst, werden wir zu dem Stück
Land gehen.«
»Wir alle?«, fragte Mama. »Ist es nah genug, dass
wir hingehen können?«
»Nun …« Ben dachte darüber nach. »Ein paar von
euch sollten vielleicht besser den Wagen nehmen.
Wenn wir sofort aufbrechen, könnt ihr das Stück
Land noch sehen, bevor es dunkel wird.«
Innerhalb einer Minute hatten alle die Sommerküche
verlassen. In der Scheune zogen die Männer
Dolly und Florie, den großen Zugpferden der
Nordstroms, schnell das Zaumzeug auf. Kate eilte
mit Windsongs Zaumzeug nach draußen. Die Stute
graste auf der anderen Seite der Weide.
Als Kate sie dort sah, erinnerte sie sich an den
Pfiff, den Anders ihr beigebracht hatte. Sie legte
den Daumen und einen Finger zwischen ihre Lippen
und blies kräftig. Windsong hob den Kopf und
schaute zur Scheune herüber.
Mama starrte Kate an. »Das war aber nicht sehr
damenhaft!«
Aus lauter Verlegenheit wurde Kate rot. Seit sie
es von Anders gelernt hatte, hatte sie immer darauf
geachtet, dass Mama nicht in der Nähe war.
Als Windsong weitergraste, pfiff Kate noch einmal.
Schrill und laut drang der Ton durch die Luft.
»He, Windsong!«
Wieder hob die Stute ihren Kopf. Diesmal schien
50
sie sich an etwas zu erinnern, was sie von früher
kannte. Gemächlich hob sie einen Huf nach dem
anderen und bewegte sich langsam auf Kate zu.
Als Kate sie ein drittes Mal rief, kam die Stute an -
getrabt.
Voller Stolz lächelte Oma Kate an. Als Windsong
näher kam, hielt Kate ihr eine Möhre hin.
»Du bist ein tolles Pferd!«, rief sie aus. Die Möhre
knirschte zwischen den Zähnen der Stute.
Als der Farmwagen fertig vorbereitet war, sprang
Papa auf. Mama saß neben ihm mit dem kleinen
Bernie. Opa und Oma nahmen hinten auf dem weichen
Stroh Platz.
»Wohin führst du uns?«, fragte Tina Ben, als sich
alle auf den Weg machten. Sie schob ihre kleine
Hand in seine große, aber Ben verriet ihr nichts.
Ben und Fräulein Sundquist gingen auf dem Weg
voraus, der über die Farm führte. Kurze Zeit später
bog Ben nach rechts ab.
Nach fünfzehn Minuten hatten sie einen kleinen
Bach erreicht. Wegen des trockenen Sommers führte
er nur wenig Wasser und schlängelte sich unter
hohen Kiefern entlang.
»Das ist wirklich ein schöner Ort!«, rief Kate aus,
als Ben sie zu der Anhöhe brachte, wo er mit seinem
Haus begonnen hatte. Er hatte schon einige Kiefern
gefällt, ihre Äste abgesägt und die Rinde von ihnen
entfernt. Zwei bis drei Baumstämme waren übereinandergestapelt
und zeigten den Umriss des Hauses.
Auf dem Boden lagen weitere gefällte Stämme bereit,
die noch eingekerbt und angepasst werden mussten.
51
»Wie hast du nur die ganze Arbeit geschafft?«,
fragte Mama.
Ben grinste Papa an. »Carl hat mir geholfen. Wir
wollten euch überraschen.«
Kate drehte sich zu Fräulein Sundquist um. In
Gegenwart dieser hübschen jungen Frau war Kate
noch etwas schüchtern. Aber jetzt, wo Kate den
Anfang ihres Hauses sah, schien ihr die bevorstehende
Hochzeit von Ben und Fräulein Sundquist ganz real.
Kate war ganz aufgeregt, wenn sie nur daran dachte.
»Sie leben dann ganz in unserer Nähe! Und werden
meine Tante!«
Als Fräulein Sundquist lächelte, hätte Kate sie am
liebsten fest umarmt. Gerade noch rechtzeitig überlegte
Kate es sich anders. Auch wenn sie mit Ben verlobt
war, war Fräulein Sundquist doch ihre Lehrerin,
wenn die Schule wieder anfing.
Als würde sie verstehen, wie Kate sich fühlte,
schaute Fräulein Sundquist Ben an. Dann schaute sie
wieder zu Kate, und ein Lächeln erhellte die Augen
der Lehrerin. »Wir wollen dich um einen besonderen
Gefallen bitten«, sagte sie. »Du hast uns zusammengebracht.
Würdest du bitte meine Brautjungfer sein?«
»Ich?« Von der Überraschung überwältigt,
kicherte Kate. »Sie wollen mich zu Ihrer Brautjungfer?«
Die Lehrerin nickte. »Wir wollen dich!«
»Wirklich?«, fragte Kate. »Glauben Sie wirklich,
dass ich das kann?«
»Ja, klar doch«, sagte Anders schnell. »Du würdest
eine gute Brautjungfer abgeben.«
52
Kate starrte ihren Bruder an. Ein solches Lob war
selten, aber sie wusste, dass er es so meinte.
Auf einmal stieg die ganze Freude über die bevorstehende
Hochzeit in ihr hoch. Wieder hätte sie am
liebsten die Arme um ihre Lehrerin geworfen. Aber
diesmal fragte sie: »Darf ich Sie umarmen, Fräulein
Sundquist?«
Die Lehrerin lachte. »Nur wenn du mich Jenny
nennst.« Dann umarmte Jenny Kate.
Nachdem sie zur Windy Hill Farm zurückgekehrt
waren, blieben Ben und Kate an dem eingezäunten
Bereich neben der Scheune stehen.
»Irgendetwas ist merkwürdig an deinen Pferden«,
sagte Ben.
»An meinen Pferden ist vieles merkwürdig«, entgegnete
Kate.
»Du hast sie bei Charlie Saunders gekauft?« Bens
Englisch war schon erstaunlich gut. »Ich glaube, ich
weiß, wo er sie herhat.«
»Charlie sagte, sie seien von einem Mann vom
Nevers Damm. Kennst du ihn?«
»Tja, irgendwie …« Ein Schatten huschte über
Bens Gesicht. »Vor ein paar Wochen habe ich ihn
beim Stehlen im Büro erwischt.«
Ben strich mit den Fingern durch sein hellbraunes
Haar. »Ich wollte nichts sagen. Da ich selbst mal
was gestohlen habe, ist es schwer, jemand anderen
zu verpetzen.«
Kate sah den Schmerz im Gesicht ihres Onkels.
»Aber du hattest keine andere Wahl.«
Ben nickte. »Ich sagte, er solle das Geld zurück
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legen. Er wollte es nicht, und ich musste es meinem
Chef melden. Herr Frawley feuerte ihn.«
»Wie hieß der Mann?«, fragte Kate schnell.
»Er nennt sich Dugan.«
Kate kannte niemanden mit diesem Namen. Doch
es waren heute seltsame Dinge geschehen. »Wie
sieht dieser Dugan aus?«, wollte sie wissen.
»Er ist jung«, sagte Ben. »Ein feiner – wie nennt
ihr das doch gleich?«
»Ein feiner Pinkel – ein Snob.«
»Ja, genau. Manchmal trug er sogar bei der Arbeit
eine Krawatte.«
»Eine Krawatte!« Kate dachte zurück an das, was
sie in der Hufschmiede erlebt hatte. Sie erklärte Ben,
was geschehen war. »Würde Dugan sich in Grantsburg
herumtreiben?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, antwortete
Ben. »Ohne Arbeit hat er nicht viel zu tun.«
»Haben die Pferde ihn gemocht?«, fragte Kate.
»Sie hassten ihn«, erzählte Ben ihr. »Dugan war
gemein. Ich habe gesehen, wie er sie mit einer Peitsche
schlug.«
Ben ging in die Box und streichelte Windsongs
Rücken. »Siehst du, was für ein gutes Pferd sie ist?
Sie muss nur richtig behandelt werden.«
Kate stimmte ihm zu. Sie freute sich, dass ihr
Onkel derselben Meinung war.
»Und dieser Mann, Dugan, … Was ist aus ihm
geworden?«, fragte Kate.
Ben sah Kate an. »Das möchte ich dir nicht
sagen.«
54
»Das wäre aber besser.« Kate versuchte ruhig zu
klingen, aber innerlich war sie ganz schön aufwühlt.
»Ich glaube, ich sollte es wissen.«
Ben kam aus der Box. »Nachdem der Chef ihn
gefeuert hatte, kam Dugan zu mir. Er ballte seine
Faust vor mir …«
Ben streckte seine eigene Faust aus. »Er sagte:
›Na, warte! Dir werde ich’s heimzahlen!‹«
55
Die leere Scheune
K
ate lief es kalt den Rücken herunter. Sie konnte
nicht anders, als sich vor diesem Dugan zu
fürchten. Wenn er so etwas zu Ben sagte, wozu wäre
er dann noch fähig?
»Gibt es irgendeinen Grund, weshalb Dugan es
vielleicht mir heimzahlen will?«, fragte Kate. Sie
dachte an den Fremden, der ihr auf dem Heimweg
aufgelauert hatte.
»Wenn Dugan weiß, dass wir verwandt sind …«
Ben unterbrach sich, um ihr keine Angst zu machen.
Doch Kate spürte die Angst schon in allen Fasern
ihres Körpers. »Weiß Dugan, dass du hier lebst,
wenn du nicht arbeitest?«, fragte sie.
Ben dachte nach. »Vielleicht. Er arbeitete im Büro.
Er könnte die Liste der Arbeiter gesehen haben und
wo sie herkommen. Oder vielleicht habe ich es ihm
auch gesagt, ohne darüber nachzudenken. Wenn
Dugan weiß, dass du meine Nichte bist …« Bens
Blick verfinsterte sich, so als fürchtete er, Dugan
könnte dies herausfinden.
»Da habe ich aber was gemacht«, meinte Kate.
»Wenn es wirklich Dugan war in der Hufschmiede,
dann habe ich ihm erzählt, wo ich wohne. Außerdem
habe ich ihm gesagt, dass er seine Pferde nicht
ordentlich gepflegt hat.«
»Das hast du?« Ben schüttelte den Kopf. »Das ist
nicht gut.«
Kate dachte bereits dasselbe. Was wie ein harm
56
loses Gespräch schien, hatte ihr nun schon eine
Menge Schwierigkeiten eingebracht.
»Da ist etwas, was ich nicht verstehe«, sagte sie.
»Breeza und Windsong sind gute Pferde. Warum hat
Dugan sie nicht gepflegt?«
»Er ist einfach nicht klug«, erzählte Ben ihr. »Er
kümmert sich um nichts außer um sich selbst.«
In diesem Augenblick rief Lars sie. Auf dem Weg
zum Haus blieb Ben auf einmal stehen. »Kate, du
musst vorsichtig sein«, warnte er sie. »Dugan denkt
nicht wie andere Menschen. Er ist so voller Wut,
dass …«
»Dass was?«, fragte Kate.
»Dugan hasst mich so sehr, dass er sich vielleicht
an dir rächt«, antwortete Ben. »Er könnte alles Mögliche
tun – sogar etwas Verrücktes.«
Als sie sich zum Rest der Familie gesellten, schien
Bens Sorge wie ein alter Mantel von ihm abzufallen.
Immer wenn er Jenny ansah, wirkte er unbekümmert
und glücklich. Nur Kate wusste, was wirklich
in ihm vorging.
»Ich habe heute einen Kuchen gebacken«, sagte
Mama zu ihm. »Wir wollen damit eure Verlobung
feiern.«
Als Ben Jenny nach Hause brachte, zündete Kate
eine Kerosin-Laterne an und ging nach draußen. Sie
wollte ihren neuen Pferden »Gute Nacht« sagen,
ohne jemanden dabeizuhaben.
In der Nähe der Sommerküche sah Kate sich um.
Keiner von ihren Brüdern war in Sicht. Geräuschlos
erreichte Kate die Scheune und schlüpfte hinein.
57
Schnell lief sie hindurch zum eingezäunten Be -
reich auf der anderen Seite. Breeza trank aus dem
großen Wassertrog. Windsong stand am Tor zur
Straße und stieß mit dem Maul an den Riegel.
Um die Stute nicht zu erschrecken, bewegte
sich Kate langsam auf sie zu. Windsong hob ihren
Kopf, so als würde sie Kate erkennen. Kate streckte
ihre Hand aus und strich über die Schulter der
Stute.
»Wie gefällt dir dein neues Zuhause?« Kate be -
festigte ein Führungsseil an Windsongs Halfter und
brachte die Stute zur Scheune.
Als Kate sich der Tür näherte, sah sie sich um.
Breeza war direkt hinter ihr. Wenn Kate anhielt, blieb
auch Breeza stehen, so als würde er be obachten, wo
Kate die Stute hinführte.
Die Pferdeboxen lagen am westlichen Ende der
Scheune. Hohe Bretterwände trennten die Pferde
voneinander. Dolly und Florie fraßen schon ihren
Hafer. Neben ihnen stand Wildfire, die Stute, die
Anders gehörte.
Auf der anderen Seite von Wildfire waren drei
leere Boxen. Kate brachte Windsong in die mittlere
von ihnen. Ohne ein Wort von Kate ging Breeza in
die Box links von Windsong.
Kate band das Führungsseil nur leicht an einen
Ring in Windsongs Box. Dann ging sie mit einem
anderen Seil zu Breeza, der schon auf sie wartete,
als wollte er sagen: »Ich bin hier. Mach mich für die
Nacht fertig.«
Sein Gesichtsausdruck wirkte auf Kate lustig.
58
»Seid nett zueinander!« Sie war froh, dass sie beide
gekauft hatte.
Als Kate zu der Stute zurückging, kaute Windsong
am Ende ihres Führungsseils.
»Komm schon, Mädchen, so hungrig bist du doch
gar nicht«, meinte Kate zu ihr. Aus dem Hafereimer
holte sie Hafer für beide Pferde. Dann fand sie eine
Schere, eine Bürste und einen Kamm.
Als Kate begann, Windsongs schwarze Mähne
zu bürsten, stellte sie schnell fest, dass die Mähne
zu verfilzt war und sie es nicht schaffen würde.
Die Stute stand still da, als wüsste sie, dass Kate
ihr helfen wollte. Trotzdem musste Kate aufgeben
und fing an, das struppige Fell der Stute zu
striegeln.
Kate bürstete immer mehr lange, schwarze Haare
heraus. Dabei wurde sie immer wütender auf den
Mann, der die Pferde so vernachlässigt hatte. Dann
dachte sie an Bens Worte. »Na, warte!«, hatte Dugan
gesagt. »Dir werde ich’s heimzahlen!«
Kate hatte keinen Zweifel daran, dass Dugan
auch tun würde, was er gesagt hatte. Aber wie? Das
war die Frage. Auf welche Weise würde Dugan es
ihm heimzahlen?
Kate hatte noch Bens Warnung im Ohr. »Dugan
hasst mich so sehr, dass er sich vielleicht an dir rächt.«
Allein der Gedanke daran, was das bedeuten könnte,
machte Kate Angst.
Windsongs knochige Rippen standen hervor, als
hätte sie seit Monaten nichts Anständiges mehr zu
fressen bekommen. Wenn Dugan so etwas einem
59
Pferd antun konnte, was würde er dann erst mit
einem Menschen anstellen, den er hasste?
»Du brauchst ganz viel Hafer«, sagte Kate zu der
Stute.
So als würde sie den Klang von Kates Stimme
mögen, schaute Windsong vom Fressen auf. Als
Schmutz und altes Haar von ihr abfielen, veränderte
die Stute die Haltung ihres Schweifs, so als würde sie
sich jetzt selbst besser leiden können.
Das machte Kate neugierig. Konnte ein Pferd
stolz auf sich sein? Kate wusste es nicht. Aber hin
und wieder schien Windsong menschliche Züge zu
haben.
Kate drehte sich zur Laterne um und zupfte
Windsongs Haar aus der Bürste. Die kleine Flamme
spendete nicht annähernd so viel Licht, wie sie sich
gewünscht hätte. Plötzlich hörte Kate einen seltsamen
dumpfen Schlag.
Was ist das?, fragte sie sich und war sofort in
Alarmbereitschaft.
Das Geräusch kam von draußen – von ganz in
der Nähe, wie es schien. War jemand gestolpert und
hatte sich dann an der Wand abgefangen? Kate wirbelte
herum und sah einen Schatten am Fenster vorbeihuschen.
Kate rührte sich nicht und blickte eine Weile
aufmerksam zum Fenster. Der Schatten hatte sich
schnell bewegt – so schnell, dass Kate sich nicht
sicher war, was sie gesehen hatte. War es vielleicht
eine Wolke, die sich vor den Mond geschoben
hatte?
60
Trotzdem eilte Kate zum Scheunentor. Durch die
offene obere Hälfte spähte sie hinaus. Die Seitenwand
der Scheune war in dunkle Schatten getaucht.
Kate glaubte, dass dort niemand war.
Ich habe es mir nur eingebildet, beschloss Kate, als
sie zu der Stute zurückkehrte. Noch einmal schaute
sie sich die verfilzte Mähne an. Wie kann jemand ein
Pferd nur so vernachlässigen?
Kate verdrängte ihre Furcht und begann wieder,
Windsongs Mähne zu bürsten. Als sie sich nach oben
streckte, rutschte ihr die Bürste aus der Hand, traf
Windsong und fiel dann auf den Boden. Plötzlich
beugte Windsong ihre Vorderbeine unter sich. Sie
ließ sich auf die Knie herunter und berührte mit dem
Maul die Erde.
Kate starrte sie an. »Wüsste ich nicht, dass Pferde
sich nicht verbeugen, würde ich glauben, dass du
das gerade machst!«
Windsong blickte auf und bewegte die Lippen.
Kate kicherte. Es schien tatsächlich so, als würde
das Pferd sprechen wollen. Kate wünschte sich, sie
könnte es – und Windsong würde ihr alles erzählen,
was sie weiß. Aber dann stand die Stute wieder auf
und stellte sich hin wie jedes andere Pferd auch.
In diesem Augenblick hörte Kate, wie direkt über
ihr die Bodenbretter knarrten. Jemand war auf dem
Heuboden!
Kate erstarrte und lauschte. Während sie versuchte,
irgendein Geräusch zu hören, dachte sie an
den Schatten. Vielleicht hatte sie doch jemanden
61
gesehen. War die Person durch eine Tür am anderen
Ende der Scheune hereingekommen?
Dann kam Kate ein noch schrecklicherer Gedanke.
Sind es vielleicht zwei Personen? Eine draußen? Und die
andere hier drinnen?
Zum Heuboden führten drei Leitern hinauf. Zwei
waren am anderen Ende der Scheune, weit weg von
Kate. Die dritte Öffnung befand sich näher an den
Pferden, doch auch sie war außerhalb der Reichweite
der Laterne. Die Wände lagen tief im Schatten.
Da hörte Kate wieder das Knarren der Bodenbretter.
Kein Zweifel – jemand war auf dem Heuboden!
Als der Sommer anfing, hatte Papa frisches Heu
nach oben gebracht. Sogar eine große Person könnte
dort hinaufgehen, ohne viel Lärm zu machen.
Als sich Schritte der Öffnung und der Leiter
näherten, musste Kate wieder an den Mann auf der
Straße denken. Vielleicht ist er uns nach Hause gefolgt!
Vielleicht ist es Dugan!
Im nächsten Augenblick hörte Kate jemanden auf
der Leiter. Die Dunkelheit verbarg ihn.
Kate fuhr blitzschnell herum. Voller Panik suchte
sie nach einer Fluchtmöglichkeit. Aber die Leiter
befand sich zwischen ihr und der nächstgelegenen
Tür.
Es war bereits zu spät. Was ist, wenn er mich hier
allein antrifft?
62
Das verschwundene Pferd
I
n der Nähe der Stelle, an der die Kerosin-Laterne
hing, erspähte Kate eine Heugabel und schnappte
sie sich. Sie hielt die Gabel vor sich her und machte
sich bereit für den, der aus dem Dunkeln kam.
Auf dem weichen Boden der Scheune konnte sie
seine Schritte kaum wahrnehmen. So leise wie eine
Katze!, dachte Kate.
Genau in diesem Augenblick trat er ins Licht.
»Lars!« Jetzt kam Kate sich albern vor, und sie
nahm die Heugabel herunter. »Was machst du denn
hier?«
Ihr jüngerer Bruder zuckte mit den Schultern.
»Wollte nur mal nachsehen.«
»Nur nachsehen!« Aus Kates Angst wurde Wut.
»Hat dir nie jemand gesagt, dass man sich nicht an
andere heranschleicht?«
»Ich habe mich nicht angeschlichen.« Lars klang
verärgert. »Ich war nur neugierig.«
»Ziemlich neugierig! Hätte ich dich nicht gehört,
hättest du mich zu Tode erschreckt.« Kate sah ihn
miss trauisch an. »Wie lange bist du schon in der
Scheune?«
Lars zuckte mit den Schultern. »Halbe Stunde
vielleicht. Als ich dich kommen hörte, habe ich mich
auf dem Heuboden versteckt.«
»Seit einer halben Stunde bist du schon hier?«
Kate bekam wieder Angst. »Bist du dir sicher?«
63
Lars dachte nach. »Vielleicht eine Dreiviertelstunde.«
Das ist noch schlimmer! Kate verdrängte den Ge -
danken und versuchte sich einzureden, dass sie sich
den Schatten, der am Fenster vorbeihuschte, nur eingebildet
hatte. Aber den dumpfen Schlag gegen die
Wand hatte sie sich nicht eingebildet. Wenn jemand
dort war, konnte das nicht Lars gewesen sein.
»Warum bist du hier?«, fragte sie ihn noch einmal.
Im Schein der Laterne hob Lars sein Kinn. »Ich
wollte mir die Pferde ansehen.«
»Warum?«, wollte Kate wissen. »Willst du etwa
eines von ihnen reiten?«
Lars starrte sie an. »Du hast zwei Pferde, und du
willst mich nicht mal eins reiten lassen? Erik durfte
auch auf Breeza reiten. Warum darf ich es nicht?«
»Weil …« Kate wollte ihm erzählen, wie die
Pferde in Grantsburg reagierten. Dann erinnerte sie
sich aber daran, wie ehrlich Lars war. Wenn er es
Papa weitersagte, würde Papa die Pferde zu Charlie
zurückbringen.
»Du darfst sie nicht reiten, weil ich es nicht will«,
sagte Kate.
»Du bist mir vielleicht eine schöne Schwester!«,
rief Lars aus. »Wie egoistisch bist du bloß?«
»Ich will nicht, dass du dich verletzt«, meinte Kate
nur. Die Ausrede kam ihr selbst etwas schwach vor.
Lars prustete los. »Lange bevor du auf diese Farm
gekommen bist, habe ich schon geritten! Ich bin neun
Jahre alt, aber schon größer als du!«
64
Kate richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf. »Es
sind meine Pferde, und du musst mich zuerst um
Erlaubnis fragen.«
Lars wurde rot. Im Gehen sah er Windsong an, so
als wollte er seine Kränkung verbergen. »Dein Pferd
sieht wirklich nicht gut aus!«
»Was verstehst du denn davon?« Aber Kate fühlte
sich schrecklich.
»Sie sieht aus, als wäre sie seit ihrer Geburt nicht
gestriegelt worden.«
»Ich habe sie mindestens eine Stunde gebürstet«,
sagte Kate steif.
»Soll ich dir zeigen, wie das geht?«
»Das weiß ich selbst«, erwiderte Kate. »Ich muss
es nur oft genug machen. Dann wird sie schon wieder.«
»O.K.!« Lars klang, als wäre es ihm egal. Aber der
Blick in seinen Augen verriet, dass er sich verletzt
fühlte.
Er fühlt sich ausgeschlossen, dachte Kate, als ihr
Bruder zum Tor eilte. Sie, Anders und Erik machten
viele Dinge gemeinsam. Aber wie oft hatten sie Lars
mitgenommen?
Kate mochte die Antwort auf diese Frage nicht
und lief ihm hinterher. Sie wollte ihren jüngeren
Bruder nicht verletzen.
Plötzlich blieb Kate stehen. Was ist, wenn er es
Papa erzählt? Kate wollte die Pferde nicht verlieren.
Um nichts auf der Welt.
Aber Lars drehte sich um. »Ich glaube, du hast ein
Zirkuspferd.«
65
Kate starrte ihn an. »Wirklich? Warum glaubst du
das?«
»Warum sollte ich dir das verraten?«
Kate zuckte mit den Schultern. »Das musst du
nicht. Aber lass uns einen Handel machen. Wenn
du mir versprichst, dass du ein Geheimnis für dich
be halten kannst, erzähle ich dir, warum ich dich die
Pferde nicht reiten lassen will. Und du sagst mir, warum
du meinst, dass Windsong ein Zirkuspferd ist.«
»Tja …« Lars war sich nicht sicher. »Welches
Geheimnis?«
»Versprichst du mir, dass du es nicht weitersagst?«
»Was weitersagen? Ich weiß ja nicht, was ich verspreche.«
Kate wartete, bis Lars’ Neugierde groß genug
war.
»O.K.«, sagte er. »Ich verspreche es dir.«
Als Kate Lars erzählte, wie die Pferde sich in
Grantsburg verhalten hatten, beobachtete sie den
Blick ihres Bruders. »Vergiss nicht, dass du es versprochen
hast«, erinnerte sie ihn zum Schluss. »Du
darfst es nicht Papa sagen.«
»Warum nicht?«, fragte Lars so ehrlich, wie Kate
es erwartet hatte. »Bei anderen Menschen verhalten
sich Pferde auch anders. Du hast doch selbst gesagt,
dass sie den Mann beim Hufschmied nicht mochten.
Wie hieß er noch? Dugan?«
Kate nickte. »Ich glaube, das war er.«
»Wenn Dugan gemein zu ihnen war, erinnern sie
sich daran«, meinte Lars.
66
Kate sah ihn an. Vielleicht hatte Lars recht. Trotzdem
hatte sie Angst, dass Papa es erfuhr.
»Also warum meinst du, dass Windsong ein Zirkuspferd
ist?«, wollte Kate wissen.
Lars schaute hoch zur Decke über Windsongs
Box. »Siehst du das Astloch? Ich habe euch beobachtet
und gesehen, wie Windsong sich verbeugte.«
»Wusste ich’s doch, es war eine Verbeugung.«
Kate war ganz aufgeregt, als sie hörte, dass Lars es
erkannt hatte. »Aber warum macht sie das zu einem
Zirkuspferd?«
»Erinnerst du dich noch daran, als wir im Zirkus
waren?«, fragte Lars. »Als du und Anders zu
tun hatten, habe ich einem Mann zugeschaut,
der Pferde dressierte. Er zeigte mir ein paar ihrer
Kunst stücke.«
Lars nahm die Bürste, die Kate gebraucht hatte,
und ging zu Windsong zurück. Lars klopfte mit der
Bürste leicht auf den oberen Teil eines Vorderbeins
der Stute. Windsong neigte sich in Richtung Boden.
»Siehst du?«, grinste Lars. »Siehst du? Wie ich
dir gesagt habe! Glaubst du etwa nicht, dass das ein
dressiertes Pferd ist?«
Die Sonne war gerade erst über dem Horizont aufgegangen,
als Kate am nächsten Morgen aus dem
Haus schlich. Mit zwei Möhren in der Tasche lief sie
zur Scheune.
Sie hatte gerade die Hälfte des Weges zurückgelegt,
als Lutfisk bellte. Einen Augenblick später
kam er angerannt.
67
»Guter Junge!« Kate kniete sich hin und kraulte
den Hund hinter seinen Ohren. »Wo warst du?«
Lutfisk wurde nach dem Stockfisch benannt, den
die Schweden zu Weihnachten essen, und gehörte
Anders. Jetzt jaulte er auf und lief von Kate weg, um
hinter der Ecke des Getreidesilos zu verschwinden.
»He, Lutfisk!«, rief Kate. Anders hatte dem Hund
beigebracht, wie man Verstecken spielt, und er
wollte, dass Kate ihm hinterherlief. Als sie es nicht
tat, kam er wieder zu ihr zurück.
»O.K., Lute fisk.« Als Kate den Namen des Hundes
langsam aussprach, wedelte er vor Freude mit
dem Schwanz. »Wo warst du gestern Abend, als ich
dich brauchte?«
Als Kate in die Scheune ging, sprang er neben ihr
her und lief dann voraus. Plötzlich blieb er stehen.
Er setzte sich direkt vor Kate hin, neigte seinen Kopf
auf die Seite und bellte.
Kate lachte. »Ich weiß. Wir haben zwei neue
Pferde.«
Wieder sprang Lutfisk los. Am anderen Ende der
Scheune melkten Papa, Anders und Ben bereits die
Kühe. Als Lutfisk zu Windsong kam, schnüffelte er
an den Hinterhufen der Stute.
Kate konnte es noch immer nicht so richtig glauben,
dass ihr beide Pferde gehörten. Nachdem sie
ein bisschen mit Windsong gesprochen hatte, ging
Kate näher an sie heran, damit die Stute sich an sie
gewöhnte.
An der Vorderseite der Box hatte sich Windsongs
Führungsseil gelöst. »Was habe ich nur falsch
68
gemacht?«, fragte Kate sich laut. »Wahrscheinlich
habe ich es nicht fest genug gebunden.«
Kate sagte sich, dass ihr das nicht noch einmal passieren
würde, und band das Seil ganz los. Sie führte
Windsong und Breeza zu dem eingezäunten Bereich
außerhalb der Scheune und ließ sie auf die Weide.
Wie ein Kind, das gerade aus der Schule kommt,
raste Windsong über das Feld. Sie galoppierte hin
und zurück, von einem Ende zum anderen, und ihre
schwarze Mähne und ihr schwarzer Schweif wehten
im Wind. Breeza folgte ihr, und Lutfisk rannte
nebenher und jaulte, so als hätte er viel Spaß mit seinen
neuen Freunden.
Kate kletterte auf den Zaun. Einmal kam Windsong
in ihre Nähe, so als wollte sie Kate untersuchen.
Dann sprang die Stute wieder weg und zog große
Kreise um die Baumstümpfe auf dem Feld. Auf der
anderen Seite der Weide blieb sie stehen, senkte den
Kopf und steckte ihr Maul ins Gras.
Nachdem sie dem Pferd eine Weile zugesehen
hatte, pfiff Kate nach Windsong. Diesmal kam sie
sofort. Als die Stute näher kam, hielt Kate ihr eine
Möhre hin. »Komm schon, Windsong! Komm! Das
ist gut für dich!«
Direkt hinter Windsong folgte Breeza wie ein
Schatten. Als die frühe Morgensonne auf seine flachsfarbene
Mähne und seinen flachsfarbenen Schweif
schien, wirkten diese Körperteile noch heller. Die
zweite Möhre war für ihn. Kate streichelte die beiden
Pferde und freute sich über die Umstände, wie sie zu
ihr gekommen waren.
69
Kate griff Windsongs Halfter, befestigte daran ein
Führungsseil und brachte sie in die Scheune. Nachdem
sie das Seil an den Ring an der Vorderseite der
Box gebunden hatte, ging Kate zurück, um Breeza zu
holen.
Als Kate mit ihm in die Scheune kam, sah sie,
wie Windsong aus ihrer Box trat. Kate starrte sie an.
»Ich bin mir sicher, dass ich dein Seil festgebunden
habe!« Sie dachte kurz darüber nach. Wie konnte ich
nur einen solchen Fehler begehen?
Nachdem sie beiden etwas Hafer gegeben hatte,
begann Kate Breeza zu striegeln. Sie hatte sich vorgenommen,
das Fell der beiden Pferde seidig glatt zu
bekommen. Sie hatte Breeza erst zur Hälfte fertig, als
Mama zum Frühstück rief.
Als Kate die Sommerküche betrat, waren die
Decken und Kopfkissen ihrer Brüder bereits weggeräumt.
Als Opa und Oma aus Schweden kamen,
haben Mama und Papa ihnen ein Zimmer im Erdgeschoss
des Hauses gegeben. Während Mama und
Papa das Schlafzimmer im ersten Stock be nutzten,
schliefen Anders und Lars in der kleinen, einräumigen
Sommerküche. Wenn Ben nach Hause
kam, rollte auch er seine Decke auf dem Boden
aus.
Jetzt war die Familie um den Tisch versammelt.
»Ich helfe dir heute mit dem Hafer«, sagte Ben zu
Papa, als Kate sich setzte.
Aber Papa schüttelte den Kopf. »Du bekommst
nicht häufig frei von deiner Arbeit am Damm. Du
musst mit deinem Haus weiterkommen.«
70
»Bist du dir sicher?« Obwohl er fragte, schien Ben
erleichtert.
»Ja, bin ich«, meinte Papa. »Ich brauche nicht
lange mit dem Hafer.«
Er schaute zu Mama herüber, und ihre Blicke trafen
sich. Es schien, als würden sie ohne Worte miteinander
reden. Kate fragte sich, was sie sich wohl
zu sagen hatten.
Als alle mit dem Essen fertig waren, las Papa aus
der Bibel vor und betete. Anschließend gingen er,
Anders und Opa zur Arbeit im Haferfeld südlich des
Hauses. Lars brach zu den Schweinen auf, um sie zu
füttern.
Sobald Kate wegkonnte, lief sie zurück zur
Scheune. Kate wusste, dass die Männer Dolly, Florie
und Wildfire mitgenommen hatten. Breeza wandte
seinen Kopf und sah Kate an, aber Windsongs Box
war leer.
Das ist seltsam!, dachte Kate. Papa hätte sie nicht
herausgenommen, ohne sie vorher gefragt zu
haben. Außerdem hätte er Windsong mit Breeza an -
gespannt, nicht mit Wildfire.
»Wo ist deine Freundin?«, fragte Kate Breeza.
Je mehr Kate darüber nachdachte, umso verwirrter
fühlte sie sich. Dann dachte sie an Lars. »Wahrscheinlich
reitet er gerade Windsong!«
Kate eilte aus der Scheune. Draußen stand das
Tor zur Weide offen. Aber wo war Windsong?
»Dafür bekommt Lars Ärger!«, murmelte sie.
71
Wo Rauch ist …
W
ut stieg in Kate hoch. Sie schlüpfte durch das
Scheunentor, schlug es zu und verriegelte es.
Als Sonnenschutz hielt Kate ihre Hand über die
Augen und suchte die Weide ab.
Zunächst sah sie nur Kühe. Dann kletterte sie auf
den Holzzaun, um besser sehen zu können. Da, in
der Nähe des Waldes, erkannte Kate etwas Größeres.
Etwas Schwarzes. Windsong!
Kate seufzte vor Erleichterung. Aber dann wuchs
ihr Zorn wie ein frisch entzündetes Feuer. Lars muss
sie herausgelassen haben. Sonst war niemand hier, der es
hätte tun können!
Auf einmal hatte Kate Angst, dass ihrem Bruder
etwas zugestoßen sein könnte. Was ist, wenn Windsong
ihn abgeworfen hat? Was, wenn Lars verletzt oder
sogar tot ist?
Doch im nächsten Augenblick ärgerte sich Kate
darüber, dass sie Lars ein Geheimnis anvertraut
hatte. Blöder Bruder! Er hat mich ausgenutzt!
Kate warf ihren Zopf über die Schulter. Sie wollte
es mit Lars auf der Stelle klären.
Als Kate zur Sommerküche zurücklief, kam
gerade Mama heraus.
»Hast du Lars gesehen?«, fragte Kate.
»Ist er nicht mit Papa gegangen?«, antwortete ihre
Mutter. »Stimmt was nicht?«
»Das weiß ich noch nicht!« Kate erklärte ihr nichts.
»Bringst du Papa etwas Kaffee?«, fragte Mama.
72
Aus der Sommerküche holte sie einen Korb mit
Plätzchen, Sandwichs und einen Krug mit einem
selbst gemachten kühlen Getränk. Und außerdem
noch einen Krug mit Kaffee für Papa und Opa.
Papa und die anderen waren am anderen Ende
des Haferfelds beschäftigt. Als Kate näher kam, sah
sie Opa auf dem Mähbinder sitzen. Die große Rolle
brachte die Haferähren alle in dieselbe Richtung.
Von dort gingen sie in den Teil der Maschine, der sie
zu Bündeln zusammenband.
Anders und Papa gingen hinterher und stellten
etwa zehn Bündel auf, indem sie sie gegeneinanderlehnten,
damit die Ähren trocknen konnten.
Als Anders Kate sah, hörte er auf zu arbeiten.
Er nahm seinen Strohhut ab und wischte sich die
Stirn mit einem roten Halstuch ab. »Gerade rechtzeitig!«
Als Kate den Korb auf das frisch geschnittene Feld
stellte, konnte sie ihren Ärger nicht mehr zurückhalten.
»Wo ist Lars?«
Papa blickte zum Rand des Feldes. »Er ist losgegangen,
um Milch zu holen.«
Lars kam gerade über den Hügel. Kate lief ihm
entgegen, weil sie es nicht in Hörweite der anderen
sagen wollte.
»Was hast du dir dabei gedacht, als du Windsong
rausgelassen hast?«, wollte sie von ihm wissen.
Lars starrte sie nur an. »Ich habe Windsong rausgelassen?
Wovon sprichst du überhaupt?«
»Wer hätte es sonst gewesen sein können?«, fragte
Kate. »Alle anderen arbeiten!«
73
»Na, wenn das so ist«, rief Lars aus. »Ich arbeite
auch!«
Lars hielt einen Eimer Milch in der Hand. In seinen
Augen blitzte Wut auf. »Ich habe dein blödes
Pferd nicht genommen, wenn du dich das fragst.«
Kate sah ihn ärgerlich an. »Es geht nicht darum,
was ich mich frage, sondern was ich denke. Wenn du
Windsong nicht rausgelassen hast, wie ist sie dann
auf die Weide gekommen?«
Lars zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht,
und es interessiert mich auch nicht.«
Wieder brach Kates Ärger heraus. »Es interessiert
dich nicht?«
»Warum sollte es?« Vor Wut wurde Lars immer
lauter. »Du hast zwei Pferde, und du lässt mich nicht
mal eines von ihnen berühren! Gestern Abend habe
ich ein schlechtes Geschäft gemacht!«
Aus Sorge, Lars könnte noch mehr sagen, blickte
Kate über die Schulter. Papa, Anders und Opa hörten
ihnen zu. Kate war sich sicher, dass sie alles mitbekommen
hatten.
Bereit, sich zu verteidigen, machte Kate den Mund
auf. Dann sah sie aber Opas Gesichts ausdruck. Ob -
wohl er nicht alle englischen Worte verstand, wusste
er doch genau, was vor sich ging.
Als sie in seine freundlichen alten Augen blickte,
war es Kate unangenehm. Opa hatte sie schätzen
gelernt. Jetzt sah er eine andere Seite von ihr. Wie Erik
zuvor war nun sicher auch Opa von ihr enttäuscht.
Kate wurde rot. Und ich wollte, dass Erik mich be ­
wundert! Ich wollte, dass meine Familie stolz auf mich ist!
74
Kate drehte sich nicht mehr zu Opa und den
anderen um und lief zurück über das Feld. Die Stoppeln
des frisch geschnittenen Hafers knackten vor
Trockenheit. Dann schlurfte sie mit gesenktem Kopf
über den Boden. Bei jedem Schritt fühlte sie sich
elender.
Als sie die Bienenstöcke am Rand des Feldes
erreicht hatte, blickte Kate zurück. Papa und die
anderen saßen auf dem Feld und aßen. Kate sah, dass
sie bereits mehr als die Hälfte des Hafers geschnitten
hatten. Zum ersten Mal erkannte Kate, dass es
anders war als im letzten Jahr.
Mit gemischten Gefühlen starrte Kate das
Getreide an und zwang sich zum Nachdenken. Was
war nur anders als sonst?
Dann fiel es Kate auf. In den vergangenen Mo -
naten hatte Papa mehr als einmal besorgt aus -
gesehen. Nachdem sie die meiste Zeit ihres Lebens
in der Stadt verbracht hatte, konnte Kate nicht verstehen,
was es bedeutete. Aber hier am Rande des
Feldes, wo ein paar Halme stehen geblieben waren,
sah sie es selbst. Weil nicht so viele Getreidehalme
gewachsen waren, standen die Haferbündel weit
auseinander. Die Ähren waren trocken und klein.
Um der Wahrheit nicht länger ins Gesicht sehen
zu müssen, eilte Kate zum Haus. Aber es gelang ihr
nicht, diese furchtbaren Gedanken zu verdrängen.
Es hatte nicht genug geregnet, also konnte das Getreide
nicht richtig wachsen.
75
Als Anders zum Mittagessen zurückkam, fand er
Kate in der Scheune, wie sie Windsong striegelte.
»Weißt du, Kate, vielleicht warst du ein bisschen zu
hart zu Lars.«
Kate sah Anders an. Diese friedensstiftende Rolle
schien gar nicht zu ihrem ständig stichelnden Bruder
zu passen. »Ah, setzt du dich jetzt für Lars ein?«,
fragte sie.
»Nee! Ich versuche nur, dich vor dir selbst zu
schützen!«
Kate starrte ihn an.
»Das meine ich so! Ich glaube nicht, dass Lars
Windsong rausgelassen hat. Manche Pferde können
ein Führungsseil losbinden. Sie ziehen mit ihren
Zähnen dran.«
Trotz ihrer Wut erkannte Kate, dass seine Worte
einen Sinn ergaben. Zwei Mal hatte Kate festgestellt,
dass Windsongs Führungsseil losgebunden war. Ein
weiteres Mal war es lose.
Anders hatte ihr einmal gezeigt, wie sie es machen
musste. Seitdem hatte Kate viel geübt, das Seil auf
genau die gleiche Weise festzubinden, wie sie es bei
Anders gesehen hatte.
»Aber was ist mit dem Tor zur Weide?«, fragte
Kate. »Wie konnte Windsong das öffnen?«
»Mit ihrem Maul«, sagte Anders. »Sie hat einfach
den Riegel hochgedrückt. Wäre Breeza nicht an -
gebunden gewesen, wäre er Windsong hinterhergelaufen.«
Kate seufzte. »Was soll ich tun?«
76
Anders nahm sie mit nach draußen zum Tor. Er
zeigte Kate, wie man mit einem Stück Draht den Riegel
so fest machte, dass die Stute ihn nicht öffnen
konnte. »Du kannst noch froh sein, dass Windsong
nicht das Tor zur Straße geöffnet hat.«
Auf dem Weg zurück zur Scheune beugte sich
Anders nach vorn. »Weißt du, ich mache mir wirklich
Sorgen um dich, Kate.«
»Um mich?«, fragte sie. »Das überrascht mich
aber!« Es schien zu schön, um wahr zu sein.
»Ja, klar doch.« Anders schaute in ihr Gesicht. »Ist
das etwa ein Pickel auf deiner Nase?«
Kate schreckte zurück. Erst am Morgen hatte sie
in den Spiegel geschaut und sich gefragt, was sie
gegen den kleinen roten Punkt unternehmen könnte.
Anders schüttelte den Kopf. »Noch sieht er hellrosa
aus, aber er wird schon langsam dunkelrot.«
Obwohl sie schon dreizehn war, streckte Kate einfach
ihre Zunge heraus. Aber Anders kannte keine
Gnade.
»Mit einem Pickel auf der Nase wird Erik dich
bestimmt nicht mögen!«, sagte er warnend.
Kate sah ihn an. »Anders Nordstrom! Ich hasse
den Boden, auf dem du stehst!«
»Vielleicht«, meinte er ruhig. »Aber möglicherweise
gibt es da was, das du von mir lernen solltest.«
»Von dir könnte ich nie und nimmer was lernen!«
Kate stolzierte weg.
Anders rief ihr hinterher. »Ich zeige dir, wie man
das Seil anders bindet. Dann kann es kein Pferd auf
der ganzen Welt entknoten.«
77
Kate drehte sich um. »Doch was ist, wenn Windsong
sich einmal befreien muss?«
»Dann musst du dort sein, um das Seil durchzuschneiden«,
sagte Anders. Und er meinte es auch
so.
Als Kate die Scheune verließ, sah sie, wie Papa an
ihren drei Bienenstöcken arbeitete. Zu dieser Jahreszeit
sah jeder dieser Bienenstöcke aus wie ein hohes
weißes Gebäude.
Bienen krabbelten hinein und heraus. Noch mehr
Bienen schwirrten durch die Luft und kehrten mit
Nektar nach Hause zurück. Um nicht in deren Flugbahn
zum Bienenstock zu geraten, näherte Kate sich
vorsichtig.
Papa grinste, als er sie sah. »Dieses heiße, trockene
Wetter ist wenigstens für etwas gut!« Die Bienen
waren den ganzen Sommer über fleißig und hatten
Blütenstaub und Nektar gesammelt.
Der untere Teil des Bienenstocks bestand aus tiefen
Holzkisten. Jede dieser Kisten war mit mehreren
Rahmen gefüllt, in denen die Bienen ihre Waben
bauten. In die kleinen sechseckigen Löcher legte die
Königin ihre Eier hinein und Arbeitsbienen lagerten
dort Honig und Pollen ab.
Mittlerweile war der Stock sehr hoch, weil Papa
oben flachere Kisten daraufgestellt hatte. Auch in
ihnen befanden sich Rahmengestelle, in die die Bienen
Waben bauten. Aus diesen Rahmen nahm Papa
den Honig, den die Bienen nicht für den Winter
brauchten.
78
»Wenn alles gut geht, bekommen wir einen
ordentlichen Honigvorrat!«, erzählte er Kate.
»Wenn alles gut geht?«, fragte sie. »Was könnte
denn passieren?«
»Ohhh … Stinktiere schlagen manchmal gegen
die Seite der Bienenstöcke. Wenn die Bienen dann
herauskommen, sammeln die Stinktiere sie auf und
fressen sie.«
»Sie fressen sie?« Kate konnte sich nicht vorstellen,
eine Handvoll Bienen zu essen.
»Aber am schlimmsten sind die Bären«, sagte
Papa. »Sie sind nicht oft in unserer Gegend, aber …«
»Bären?« Kate wurde ganz anders zumute. Bevor
sie in den Nordwesten von Wisconsin kam, hatte ihre
Freundin Sarah Livingston sie vor Bären gewarnt.
Erst vor Kurzem begann Kate zu glauben, dass die
Wälder sicher waren.
»Sie reißen einen Stock einfach auf.« Papa nahm
eine Abdeckung hoch, schaute hinein und legte
noch eine kleine Kiste darauf. »Weißt du, die Bienen
machen sich viel Arbeit, um die Kisten im Stock
zusammenzukleben. Aber Bären sind so stark, dass
nichts sie aufhalten kann.«
Papa schüttelte den Kopf, so als wollte er nicht
daran denken. »Wir werden den Honig bald ernten
können.«
Kate glaubte zu wissen, was er dachte. Dann wäre
der Honig wenigstens in Sicherheit.
Nach dem Abendessen gingen Papa, Opa, Anders
und Lars zu Ben hinüber, um ihm beim Hausbau
79
zu helfen. Mama trat vor die Tür, um die Regentonnen
zu überprüfen, die sie zum Kleiderwaschen
benutzte.
Obwohl der Brunnen ihnen einen guten Wasservorrat
lieferte, war er doch sehr eisenhaltig und
hinter ließ orangefarbene Spuren auf der Kleidung.
Statt dieses Wassers nahm Mama das Regen wasser
zum Waschen, das vom Dach herunterkam. Die Dachrinnen
fingen das Wasser auf, das dann durch Rohre
in die Tonnen an jeder Hausecke ge leitet wurde. Da
es schon so lange nicht mehr geregnet hatte, war in
den Tonnen inzwischen recht wenig Wasser.
Am Brunnen pumpte Kate Eimer für Eimer hoch.
Einige Male trug sie Wasser zu Mamas Bohnen- und
Tomatenbeeten und zu den Obstbäumen, die vor
mehreren Jahren angepflanzt wurden.
In der Nähe des Gartens wuchs das, was Kate
»Mamas Gras« nannte. Im letzten Sommer hatte
Papa begonnen, zwischen dem Haus und der
Scheune Gras zu säen. Als dieses Jahr der Sommer
begann, hatten sich Kate und die anderen bemüht,
es saftig und grün zu erhalten. Dann hielt Mama sie
jedoch davon ab.
»Ihr müsst unseren großen Garten bewässern«,
sagte sie. »Beides geht nicht.«
»Ich kann es versuchen«, meinte Kate. Sie wusste,
dass das Gras ein Teil von Mama war – weil sie sich
statt Schmutz etwas Schönes vor ihrer Tür wünschte.
Aber Mama schüttelte den Kopf. Als sie zurück
zur Sommerküche ging, sah Kate, wie sie sich das
Gras noch einmal anschaute. In nur wenigen Tagen
80
war es braun und trocken geworden wie alles andere
auch.
»Wenn es regnet, wird sich dein Gras wieder er -
holen«, sagte Kate jetzt zu ihrer Mutter. »Dann wird
es wieder schön grün.«
»Ja, ganz bestimmt«, erwiderte Mama. Aber sie
drehte sich weg, so als wollte sie das verdorrte Gras
nicht länger sehen.
Als nicht mehr ausreichend Tageslicht zum Ar -
beiten vorhanden war, kamen Ben und die anderen
zurück. Ben war begeistert von dem, was er und die
anderen Familienmitglieder geschafft hatten. »Jenny
und ich können schon bald heiraten!«, erzählte er
Kate.
Lange vor dem Morgengrauen hörte Kate, wie Ben
sein Pferd aus der Scheune nahm und zum Nevers
Damm ritt. Kurz nachdem die Sonne über dem Horizont
aufgegangen war, huschte Kate aus dem Haus
in den kühlen Morgen. Sie empfand es als willkommene
Abwechslung, mal einen Pullover an -
ziehen zu können.
In der Scheune sattelte Kate Windsong. Anschließend
nahm sie mit der Stute die Abkürzung zu Bens
Haus. Eine heruntergetrampelte Grasspur markierte
einen Weg durch die Bäume.
Kurze Zeit später hatte Windsong den Wald hinter
sich gelassen. Kate blickte nach vorn und sah
Bens Haus auf der Anhöhe in der Nähe des Bachs.
Der Boden stieg weit über den Punkt an, den das
Wasser des Bachs im Frühjahr erreichte.
81
Jetzt schien die frühe Morgensonne auf die Baumstämme,
die die Wände des Hauses bildeten. Ben
und die anderen hatten schwer gearbeitet. Das Haus
hatte mittlerweile eine stolze Höhe von sechs oder
sieben Stämmen. Bald schon würde Ben die Kreuzpfosten
für den Heuboden aufrichten können.
Kate zügelte ihr Pferd und blieb einen Augenblick
stehen, um dieses schöne Fleckchen zu genießen.
Fräulein Sundquist war schon immer ihre Lieblingslehrerin
gewesen. Kate konnte es kaum er warten,
ihre Brautjungfer zu werden. Aber es war noch mehr
als das. Sie wollte Ben und Fräulein Sundquist glücklich
sehen.
Nicht Fräulein Sundquist, verbesserte sich Kate.
Jenny. Es schien zu schön, um wahr zu sein, dass
eine so nette Person bald zu ihrer Familie gehören
würde.
Wie eine lästige Fliege durchbrach die Erinnerung
an Dugans Drohung die Morgenstille. Ben hatte
gesagt, Dugan wäre voller Hass. Was würde er tun,
um sich zu rächen? Wenn sie das nur wüssten, könnten
sie Ben und Jenny schützen.
Und mich, fügte Kate noch hinzu. Was könnte
Dugan mir antun?
Als Windsong den Kopf zurückwarf, versuchte
Kate ihre Sorgen zu verdrängen. Doch stattdessen
spannten sich ihre Muskeln vor Angst an.
»Gott, bitte hilf ihnen!«, brach es aus Kate heraus.
»Beschütze Ben. Beschütze Jenny. Zeig uns, was wir
tun können.«
Nachdem Kate wieder Frieden in sich spürte,
82
blickte sie noch einmal zu Bens Haus. Plötzlich roch
sie etwas.
»Das bilde ich mir nur ein!«, sagte Kate sich und
erkannte dann, dass sie laut geredet hatte.
»Seid um alles in der Welt vorsichtig«, hatte Papa
mehr als einmal gesagt. »Nur ein verirrter Funke – und
alles geht in Flammen auf.«
Kate versuchte ihre Sorgen beiseitezudrängen.
Papa hatte sie so oft gewarnt, dass sie schon ganz
schreckhaft geworden war. Trotzdem schnupperte
sie noch einmal.
Jetzt konnte sie sich nicht mehr täuschen. Der
Wind trug den Geruch direkt zu ihr.
Da sah Kate es auch schon. Eine dünne Rauchfahne,
kaum sichtbar, zog am blauen Himmel herauf.
Sie kam direkt aus Bens Haus.
83
Eine schreckliche Nachricht
L
os!« Kate stieß der Stute ihre Fersen in die Seiten.
Windsong brauste los und verfiel in einen
Galopp. Mit jedem Schritt konnte Kate den Rauch
besser sehen. Es brannte, aber niemand war zu sehen.
Im Nu ließ Windsong die restliche Strecke hinter
sich. Als sie das Haus erreichten, rutschte Kate vom
Sattel herunter und lief durch die offene Tür.
Drinnen lag ein Haufen Abfall in einer Ecke. Es
sah nach Kieferzweigen und alten Säcken aus, die
gegen die unteren Baumstämme gedrückt worden
waren. Die Wand hatte schon Feuer gefangen, und
der Rauch kräuselte sich nach oben.
Kate rannte zum Bach. Als sie ihn erreicht hatte,
zog sie ihren Pullover aus und tauchte ihn ins Wasser.
Ruckartig zog sie ihn wieder heraus und raste
zurück zum Haus. Dort schlug sie den Pullover
gegen das Feuer.
Immer und immer wieder peitschte Kate auf den
Abfall und die Baumstämme ein. Unter dem nassen
Pullover ging die Flamme zurück, aber das Feuer ging
nicht aus. Kate war sich sicher, dass es schon einige
Zeit schwelte und sich in die Stämme gefressen hatte.
Wie wild schaute sie sich um. Wenn doch nur …
War hier irgendwo ein Eimer?
Auf einmal erinnerte sich Kate. Als sie das letzte
Mal hier war, hatte sie einen gesehen. Ben benutzte
ihn, um Wasser vom Bach heraufzutransportieren.
Aber wo war er?
84
Kate ließ ihren nassen Pullover auf den schwelenden
Ästen und lief nach draußen. Als sie den Eimer
fand, eilte Kate zurück zum Bach. Sie kniete sich hin
und füllte den Eimer. Dann rannte sie wieder zum
Haus und schüttete das Wasser zielgenau gegen die
brennende Wand.
Nachdem sie mehrmals hin- und hergelaufen
war, war Kate außer Atem und schnaufte vor Er -
schöpfung. Zum Schluss waren sogar die Glutherde
in den Holzwänden gelöscht. Erst jetzt wagte Kate,
sich hin zusetzen, und erkannte, wie schrecklich das
alles war.
Die verbrannten Baumstämme befanden in der
unteren Ecke, wo sich die beiden Wände trafen. Da
ihre Einkerbungen miteinander verbunden waren,
würde Ben das ganze Haus auseinandernehmen
müssen, Stamm für Stamm. Würde er es nicht tun,
wäre hier immer eine Schwachstelle in den Wänden.
»Oh, Ben!« Kate fühlte sich so schlecht, dass
sie laut redete. »Das wirft dich weit zurück!« Kate
wusste, wie sehr ihr Onkel den Hausbau beenden
wollte, damit er und Jenny heiraten konnten. Um
noch vor dem Winter fertig zu werden, hatte ihr
Onkel jeden freien Augenblick daran gearbeitet.
Dann dachte Kate an die Wälder und ihren trockenen
Laubteppich am Boden. Im Nu hätte sich das
Feuer durch die Bäume zur Windy Hill Farm fressen
können. Bei starkem Wind wäre es sogar möglich
gewesen, dass das Feuer andere Häuser in der
Umgebung erfasst hätte.
Kate zitterte. Ihr steckte noch dieses furchtbare
85
Erlebnis in den Knochen, als ihr etwas noch Schlimmeres
in den Sinn kam. Jemand musste das Feuer
gelegt haben. Es gab keine andere Erklärung. Wer
hatte so etwas Schreckliches getan?
Dugan sagte Ben, er würde es ihm heimzahlen. Wie
eine Faust, die gegen eine Wand hämmert, trafen
Bens Worte Kate mitten ins Herz. Wer ist dieser Mann,
der Ben so sehr hasst?
In ihrer Angst erkannte Kate außerdem, dass auch
sie in Gefahr war. Wer schlich an diesem einsamen
Ort herum? War es Dugan? Und war er noch in der
Nähe? Hatte er sie vielleicht sogar beobachtet, als sie
das Feuer löschte?
Kate sprang auf. Ich muss es sofort Papa sagen. In
diesem Augenblick fiel ihr Windsong ein.
Kate eilte nach draußen und sah Windsong in der
Nähe. Ihre Zügel hingen ins Wasser, während sie aus
dem Bach trank.
Kate stürzte die Böschung hinunter und griff sich
die Zügel. Am Zaumzeug führte sie die Stute den
steilen Hang hinauf.
Als Windsong ihr Maul an Kates Arm drückte,
spürte Kate einen seltsamen Trost. Windsong schien
alles zu verstehen, was geschehen war.
Vor Bens Haus legte Kate ihren Arm um den Hals
der Stute. »Woher weißt du so viel?«, fragte sie. Sie
streckte ihre Hand aus und streichelte das Pferd zwischen
den Augen.
»Es ist gut, dich in meiner Nähe zu haben!« Kate
war dankbar für die Gesellschaft der Stute. »Du wirst
mir helfen, nicht wahr?«
86
Als würde sie antworten, nickte Windsong mit
dem Kopf.
Kate kicherte. »Du bist wirklich eine gute Freundin!
Du stimmst mir sogar zu!«
Kate schwang sich in den Sattel und machte sich
mit Windsong auf den Heimweg. Bald kamen sie in
den Wald. Als die Bäume sich über ihnen wölbten,
war Kate erleichtert. Zumindest heute hatte sich kein
Feuer durch die Äste dieser Bäume gefressen. Auf
einem geraden Abschnitt des Weges blieb die Stute
auf einmal stehen.
»Geh weiter, Windsong!« Kate knallte die Zügel.
Doch das Pferd blieb einfach stehen und rührte
sich nicht vom Fleck.
»Komm schon, Mädchen! Ich muss zurück. Das
Feuer könnte wieder ausbrechen!«
Windsong drehte ihre Ohren zu Kate, als ob sie
lauschte. Als Kate aber ein klickendes Geräusch
machte, warf die Stute ihren Kopf nach hinten.
Langsam wurde Kate ärgerlich. »Du hast doch bisher
immer gehorcht. Warum tust du es jetzt nicht?«
Kate spannte ihre Beine an, aber Windsong weigerte
sich weiterzugehen.
Als Kate sie vorwärtsdrängte, stemmte die Stute
ihre Hufe in den Boden, als wäre sie festgewurzelt.
»Windsong!«, rief Kate. »Ich muss nach Hause.
Der Brandstifter muss gefasst werden!«
Ganz gleich, was Kate sagte – Windsong rührte
sich nicht von der Stelle. Schließlich rutschte Kate
vom Sattel herunter. Als sie nach dem Zaumzeug
griff, warf die Stute erneut ihren Kopf zurück. Ihre
87
Augen waren weit aufgerissen, und ihre Nüstern
blähten sich auf.
Kate gab nicht auf. Sie ging vor Windsong her und
führte sie den Weg entlang. Die Stute zerrte noch einmal
am Zaumzeug, so als wollte sie flüchten.
Als die Stute sich endlich beruhigte, fand Kate in
der Nähe einen großen Stein und schwang sich von
ihm aus in den Sattel. Jetzt gehorchte Windsong ihr
seltsamerweise wieder. Auf Kates Drängen begann sie
zu traben, dann zu galoppieren. Kate war erleichtert,
denn sie wollte möglichst schnell zu Papa kommen.
Als sie auf das Farmhaus zuritt, ging Mama
gerade über den Hof.
»Kate! Was ist passiert?«, fragte sie.
Jetzt erst erkannte Kate, wie schmutzig sie war.
Ihre Hände hatte sie im Bach gewaschen, aber ihr
Kleid war mit Ruß bedeckt.
Bevor sie es erklären konnte, kam Anders aus
der Scheune. »Du siehst aus, als hättest du im Dreck
gespielt!«
Als Anders näher kam, verging ihm das Grinsen.
»Das ist Ruß! Wo ist das Feuer?«
Kate fing an, ihm zu berichten, aber Anders unterbrach
sie. »Warte mal«, sagte er und lief los, um Papa
zu holen.
Rasch erzählte Kate allen, was geschehen war.
Papa sah Anders an.
»Wir reiten besser mal hin und sehen uns um.«
Papa und Anders holten Breeza und Wildfire von
der Weide. Ohne Sattel machten sie sich gemeinsam
mit Kate auf den Weg.
88
»Da ist noch was passiert«, erzählte Kate Papa
unterwegs. »Auf dem Heimweg gehorchte mir
Windsong nicht. Kennst du den geraden Abschnitt
auf halber Strecke durch den Wald? Sie blieb stehen
und ging einfach nicht weiter.«
»Hast du alles versucht, was du normalerweise
tust, damit Windsong gehorcht?«
Kate nickte.
»Das können wir nicht dulden«, meinte Papa.
»Wenn sie meint, sie kann mit etwas durchkommen,
wird sie es immer wieder probieren.«
Als sie an dieselbe Stelle kamen, blieb Windsong
erneut stehen. Auch Breeza und Wildfire weigerten
sich weiterzugehen.
»War es beim ersten Mal auch hier?«, fragte Papa
Kate. »Es könnte ein Bär in der Nähe sein.«
»Ein Bär?« Kate pochte das Herz. Sie starrte in
den Wald hinein. Die Blätter hingen schwer von den
Bäumen herunter. Äste und Büsche erschwerten es,
mehr als nur ein kleines Stück in den Wald hineinzusehen.
Versteckte sich hinter den Blättern irgendwo
ein Bär? Bereit, sich auf sie zu stürzen?
»Unsere Bären sind normalerweise nicht gefährlich«,
erklärte Papa Kate. »Aber ich möchte nicht
zwischen eine Bärin und ihr Junges geraten.«
Sowohl Papa als auch Anders stiegen von ihren
Pferden ab und hielten sie am Zaumzeug fest. Als
Kate dasselbe tat, hörte Windsong auf, Ärger zu
machen, sobald sie die besagte Stelle hinter sich ließen.
Als sie an Bens Haus ankamen, führte Kate Papa
89
und Anders hinein. Die verkohlten Baumstämme
glitzerten in der Morgensonne. Lange stand Papa
vor ihnen und starrte in die Ecke, in der es gebrannt
hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Du hast es allein gelöscht, Kate?«, fragte er.
Kate nickte. Als sie sich die verbrannten Stämme
anschaute, kam die Angst zurück. Allein der verkohlte
Geruch beunruhigte sie.
»Du warst sehr mutig«, sagte Papa. »Du hast das
Feuer bemerkt, als es noch sehr klein war. Aber ich
bin wirklich froh, dass du dich nicht verletzt hast.
Wenn du jemals ein Feuer siehst, das außer Kontrolle
geraten ist …«
»Ich weiß«, meinte Kate. »Ich sollte nicht versuchen,
es allein zu löschen.«
Als würde sie den Albtraum noch einmal durchleben,
sah Kate, wie sich der Rauch nach oben kräuselte.
»Es hatte gerade erst angefangen, und der Bach
war ganz in der Nähe.«
Sogar Anders schien beeindruckt. »Wahnsinn,
Kate! Ich bin stolz auf dich!«
Vor Überraschung blinzelte Kate mit den Augen.
Er verändert sich, dachte sie. Zum zweiten Mal in nur
zwei Tagen hatte Anders ihr Mut gemacht. Seine
Anerkennung gab Kate ein gutes Gefühl.
»Du musst wie verrückt gearbeitet haben, um
genügend Wasser hierherzubringen«, sagte Anders.
»Das habe ich«, antwortete Kate. Schon allein
beim Gedanken an die ganzen Wege die Böschung
hinauf und herunter kam sie außer Atem. Sie er -
innerte sich wieder an den Schrecken, als sie das
90
Feuer sah und sie die einzige Person weit und breit
war, die es löschen konnte.
»Kate«, sagte Papa sanft, und sie wusste, dass die
Angst in ihrem Gesicht abzulesen war.
Als sie unfähig war, etwas zu sagen, fuhr Papa
fort. »Ich möchte für dich beten.«
Sie standen in dem Haus ohne Dach, und Papa
nahm seinen alten Strohhut ab. Er neigte seinen Kopf
und sprach ruhig, so als wäre er sich sicher, dass
Gott ganz nah bei ihnen war.
»Ich danke dir, Vater«, betete Papa, und Kate
machte die Augen fest zu. »Ich danke dir, dass du
Kate beschützt hast. Ich bitte dich, ihr die Angst zu
nehmen. Zeige ihr doch, wie sehr du sie liebst.«
Erschrocken hob Kate den Kopf. Woher wusste
Papa das? Woher wusste er, dass sie tief in ihr so viel
Angst hatte und kaum atmen konnte?
Dann hörte sie in den Bäumen einen Vogel zwitschern.
Er klang so, als wäre sein Nest immer in
Sicherheit und nichts könnte geschehen, was es ihm
wegnehmen könnte.
Kate fühlte sich auf seltsame Weise getröstet. Als
sie ihre Augen öffnete, sah sie, wie Anders seinen
Kopf nach unten neigte und betete.
»Es wird immer Zeiten geben, in denen ihr Angst
habt«, erklärte Papa ihnen. »Aber wenn ihr tief in
euch wisst, dass Gott euch liebt und beschützt, werdet
ihr es schaffen.«
Als wäre nichts Beunruhigendes geschehen, be -
gann Papa in aller Ruhe, die Wände zu untersuchen.
»Obwohl du das Feuer so früh bemerkt hast, ist viel
91
Schaden entstanden«, meinte er. »Ben kann sich keine
schwachen Baumstämme am Boden leisten.«
»Muss Ben noch mal von vorn anfangen?«, wollte
Kate wissen.
»Ich glaube, wir sollten Big Gust um Hilfe bitten.
Er könnte diesen Teil der Wand anheben und uns
helfen, die verbrannten Stämme zu ersetzen. An -
derenfalls muss Ben alles auseinandernehmen.«
Papa setzte seinen Strohhut wieder auf. »Hast du
hier jemanden gesehen, Kate?«
»Am Haus nicht«, sagte sie. »Im Wald habe ich
nicht nachgeschaut.«
»Gut«, meinte Papa. »Ich bin froh, dass du das
nicht getan hast.«
»Ich wollte nicht allein hierbleiben«, sagte Kate.
»Wer auch immer dieses Feuer gelegt hat – er hatte
reichlich Zeit, um zu entkommen.«
Bevor sie wieder aufbrachen, ging Kate noch mal
einen anderen Weg um das Haus herum als den,
den sie gekommen waren. In die festgestampfte
Erde hatte jemand eine Nachricht geschrieben. Kate
starrte auf die Worte.
Ich sagte dir ja: Ich zahle es dir heim.
»Was für schreckliche Worte«, rief Kate aus.
In diesem Augenblick war ihr Gespür für Gottes
Liebe wieder verschwunden. Die ganze Angst, die
Kate während des Feuers verspürt hatte, kam zurück.
Das war kein Kind, das nur spielen wollte. Diese
Nachricht galt Ben – und jedem anderen, der sich um
Ben sorgte.
92
Eine große Entdeckung
K
ate!«, rief Anders aus dem Haus. »Komm, wir
gehen!«
Aber Kate stand nur da und konnte nichts
sagen.
»Beeil dich!«, rief Anders, als er um die Ecke kam.
»Papa will zurück.«
Dann sah Anders Kates Gesicht. »Stimmt was
nicht? Du bist ja kreidebleich!«
»Es ist Dugan!«, flüsterte Kate.
Anders schaute auf den Boden. »Oh-oh!«
In diesem Augenblick kam Papa zu ihnen. »War
das vorher schon hier?«
»Ich glaube nicht.« Nervös zwirbelte Kate am
Ende ihres Zopfes und versuchte nachzudenken.
»Als ich das Feuer gelöscht hatte, bin ich ums Haus
herumgegangen. Ich habe nach Anzeichen gesucht,
die mir verrieten, wer hier war. Diese Worte hätte ich
nicht übersehen.«
Papa machte ein grimmiges Gesicht. »Wer auch
immer das geschrieben hat, war also hier, nachdem
du das Feuer ausgemacht hattest?«
Kate drehte sich der Magen um. »Er muss sich
hinter den Bäumen versteckt gehabt haben. Er hatte
mich wohl beobachtet, wie ich das Feuer löschte.
Dann ist er zurückgekommen.«
»Aber warum?«, fragte Anders. »Er hätte doch ein
neues Feuer legen können. Warum hat er das nicht
getan?«
93
»Vielleicht wollte er es«, gab Papa zu bedenken.
»Vielleicht sind wir ihm dazwischengekommen.«
»Wenn das stimmt, sollte ich dann nicht lieber
hierbleiben und aufpassen?«, fragte Anders.
»Schon möglich«, meinte Papa. »Aber wir können
hier nicht rund um die Uhr Wache halten. Dann
bekommen wir unsere Arbeit nie geschafft. Außerdem
würde er es wieder versuchen, wenn wir weggehen.«
Papa blickte noch einmal auf die Erde. »Wer
auch immer das geschrieben hat, hat seine Botschaft
unmissverständlich deutlich gemacht. Das nächste
Mal schlägt er woanders zu.«
»Woanders?« Die Vorstellung machte Kate Angst.
»Wo?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Papa. »Ich wünschte,
ich wüsste es.«
»Ich glaube, ich weiß, wer diese Person ist«, sagte
Kate. »Es muss Dugan sein!«
»Wer ist Dugan?«, erkundigte sich Papa.
Als Kate ihm erzählte, was sie von Ben er fahren
hatte, strömten all ihre Ängste aus ihr heraus.
»Dugan sagte Ben, er würde es ihm heimzahlen«,
meinte Kate abschließend. »Es scheint so, als sei ihm
das gelungen!«
»Hat Ben noch was anderes gesagt?«, fragte Papa.
Kate schaute in seine klaren Augen. Jetzt war sie
froh, dass sie es ihrem Stiefvater sagen konnte.
»Ben warnte mich«, antwortete Kate. »Er meinte,
Dugan hasse ihn so sehr, dass er sich vielleicht an
mir rächen könnte.«
94
Kate räusperte sich und fuhr fort: »Ben sagte,
Dugan wäre zu allem imstande – sogar zu etwas Verrücktem.«
»Ich fahre am besten mal nach Grantsburg«, sagte
Papa. »Ich werde mit dem Sheriff sprechen. Vielleicht
weiß Charlie, wo man Dugan finden kann.«
Auf dem Rückweg zur Windy Hill Farm sah Papa
Kate neugierig an. »Wie ist dir das Feuer aufgefallen?«
»Ich war gerade auf dem Weg zum Haus«, sagte
Kate, »und dachte über die Hochzeit von Ben und
Jenny nach, und dass sie bald hier leben werden.«
»Jetzt wird Ben noch etwas länger warten müssen.«
Papa blickte grimmig drein. »Die ganze
schwere Arbeit an dem Haus – zerstört in nur wenigen
Minuten!«
Aber dann wurde Papas Stimme ganz sanft.
»Beunruhigt dich noch was anderes, Kate?«
Als würde sie gerade noch mit Lars darüber sprechen,
dachte Kate daran, dass Lars wollte, dass sie
mit Papa redet. Sollte sie ihm sagen, wie sich Windsong
und Breeza in Grantsburg verhalten hatten? Sie
war so erleichtert, als sie Papa von Dugan erzählte.
Vielleicht würde Papa auch die Sache mit den Pferden
verstehen.
Papa hörte Kate aufmerksam zu, als sie erklärte,
wie die Pferde beim Hufschmied reagiert hatten.
»Sie benahmen sich sonderbar, als Dugan kam?«,
fragte er.
»Das war das einzige Mal. Ben meinte, Dugan
hätte die Pferde ausgepeitscht.«
95
»Und wir alle wissen, dass er ihnen nicht ge -
nügend Futter gegeben hat«, fügte Papa hinzu. Er
ritt ein paar Minuten schweigend vor sich hin und
dachte darüber nach.
»Lars hat recht«, sagte er schließlich. »Bei an deren
Menschen verhalten sich Pferde auch anders. Ein
willensstarkes Pferd gehorcht einem Reiter, der
weiß, was er tut, einem anderen aber nicht.«
»Kann Lars denn Windsong und Breeza reiten?«,
fragte Kate. »Ist das in Ordnung?«
»Ich sag dir mal was«, meinte Papa. »Lass mich
mit Breeza nach Grantsburg reiten. Dann kann ich
ihn mal testen.«
Kate nickte. Das war ein fairer Vorschlag. Und es
gab ihr das Gefühl, dass es richtig war, so ehrlich zu
Papa zu sein.
»Morgen werden wir den Honig aus den Bienenstöcken
nehmen«, sagte er. »Bevor uns ein Bär
zuvorkommt!«
Als sie zu Hause ankamen, ritt Papa direkt weiter
zu Charlie Saunders. Am späten Nachmittag kam er
wieder zurück und sagte, dass der Sheriff und Big
Gust ihm versprochen hätten, die Augen nach Dugan
offen zu halten. Aber Kate und alle anderen wussten,
dass Charlie und Big Gust elf Meilen von der Windy
Hill Farm entfernt lebten.
Papa hatte auch gute Nachrichten für Kate. »Wenn
sich Windsong so wie Breeza verhält, sind das zwei
prächtige Pferde. Wenn Lars vorsichtig ist, kann er
beide reiten. Und du übrigens auch.«
96
Tränen der Erleichterung traten in Kates Augen.
Als sie Lars erlaubte, Breeza zu reiten, erstrahlte ein
breites Grinsen auf seinem Gesicht.
Nach dem Abendessen holten Kate, Anders und
Lars die drei Pferde aus der Scheune. Ohne Sattel
ritten sie die Straße entlang, die zur Schule am
Spirit Lake führte. Jedes Mal, wenn Kate mit Windsong
redete, zuckte die Stute mit den Ohren, so als
versuchte sie zuzuhören.
Der Weg führte sie am Rice Lake vorbei. Nachdem
sie an einem großen Hügel vorbeigeritten
waren, trabte Wildfire auf einmal auf das Wasser
zu.
»Willst du schwimmen gehen?«, fragte Anders.
Wildfire war gewohnt, mit Anders in den kleinen
See zu steigen.
Als Kate und Lars einverstanden waren, ritt
Anders mit Wildfire ins Wasser. Kate folgte mit
Windsong, und Lars blieb dicht hinter ihnen.
Als das Wasser Kates Beine umspülte, fing Windsong
an zu schwimmen. Der Gedanke, sie könnte
von Windsong herunterrutschen, machte Kate ängstlich
und aufgeregt zugleich. Doch dann sah sie
Anders. Ihr Bruder schrie und brüllte und hatte großen
Spaß dabei. Mal saß er auf Wildfires Rücken,
mal hielt er sich an der Mähne der Stute fest und
schwamm neben ihr. Schon bald fing Lars an, dasselbe
mit Breeza zu machen.
Als sie sie so sah, ließ Kate sich vom Wasser von
Windsongs Rücken spülen. Sie hielt die Zügel mit
der einen Hand fest und ließ sich an der Seite der
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Stute treiben. Mit der anderen Hand fasste sie Windsongs
Mähne.
Während das Wasser über Kates Arme und Beine
wirbelte, fiel die Hitze des Tages von ihr ab. Sogar
die Erinnerung an das Feuer in Bens Haus machte
ihr jetzt kaum noch zu schaffen.
Nachdem sie eine Weile geschwommen waren,
steuerten Anders und Wildfire auf das Ufer zu. Windsong
folgte ihnen, und schon bald berührten ihre
Hufe den Grund des Sees. Kate schwang sich wieder
auf ihren Rücken. Immer wenn Windsong einen Satz
nach vorne machte, wippte Kate auf der Stute hoch.
Wieder fürchtete Kate, sie könnte herunterfallen.
Aber jetzt bewegte sie sich im Rhythmus des Pferds.
Sich noch immer an Windsongs Mähne festklammernd,
erreichte Kate sicher trockenen Boden.
Plötzlich schüttelte sich die Stute wie ein Hund. Als
Breeza dasselbe tat, spritzte das Wasser um sie alle
herum. Kate lachte vor Freude.
Vom Rice Lake führte Anders sie zurück zum
Farmhaus. Jedes Mal, wenn Kate ein Knie oder einen
Fuß einsetzte, gehorchte Windsong. Wenn Kate ihr
Handgelenk auch nur leicht drehte, reagierte Windsong
auf die Zügel. Aber noch immer ließ die Stute
ihren Kopf hängen, als wäre kein Leben in ihr.
Gemeinsam nahmen Kate, Anders und Lars den
Weg durch die Wälder zur Hauptstraße. Als die
Bäume nicht mehr so dicht standen, hörte Kate das
rhythmische Schlagen einer Trommel.
Windsong hob ihren Kopf. Sie drehte ihre Ohren
in Richtung des Geräusches.
98
Dann hörte Kate weitere Instrumente. Als die
Musik lauter wurde, lief die Stute schneller.
»Schaut sie euch nur an!«, rief Kate den Jungen
zu. Sie mochte die temperamentvolle Art des Pferds,
die sie jetzt zum ersten Mal wahrnahm. »Habt ihr
jemals von einem Pferd gehört, das Musik liebt?«
»Ach, Kate …«, stöhnte Anders.
»Das bilde ich mir nur ein, was? Nein, bestimmt
nicht!«
Auf der Straße kamen drei junge Männer in Sicht.
Einer von ihnen schlug auf eine große Basstrommel.
Der zweite spielte einen lebhaften Marsch auf der
Trompete. Der dritte junge Mann bewegte den langen
Zug seiner Posaune hinein und heraus.
»Wer ist das?«, fragte Kate, neugierig wie immer.
Es kam nicht jeden Tag vor, dass drei Musiker die
Straße entlangmarschierten.
»Sie gehören zur Kapelle von Trade Lake«, sagte
Anders zu ihr. »Ich habe sie schon mal gesehen.
Sie üben auf dem Weg zu ihren Proben mit Herrn
Peters.«
Herr Peters war Kates Orgellehrer, und sie kannte
ihn gut. »Wusstest du, dass die Leute meinen, er
wäre der beste Musiker im ganzen Burnett County?«,
fragte sie.
Anders hielt sein Pferd zurück und wartete darauf,
dass die jungen Männer an ihnen vorbeigingen.
Aber Windsong und Breeza schienen Haltung anzunehmen.
»Kate, darf ich Windsong für ein paar Minuten
reiten?«, fragte Lars, nachdem die Musiker an ihnen
99
vorbeigegangen waren. »Ich möchte mal etwas ausprobieren.«
Lars schwang sich auf Windsongs Rücken,
streckte seinen linken Fuß nach vorne und drückte
ihn gegen eine Stelle in der Nähe des Vorderbeins
der Stute.
Plötzlich streckte Windsong ihr rechtes Vorderbein
aus und machte einen besonders langen Schritt.
Als Lars das Gleiche auf der rechten Seite wiederholte,
streckte Windsong ihr linkes Vorderbein aus
und machte wieder einen langen Schritt.
Kate lachte. »Windsong tanzt!«
»Es ist so, wie ich dir sagte!«, rief Lars aus. »Sie
kennt ein paar Kunststücke!«
»Aber woher kanntest du das Zeichen?«, fragte
Kate.
»Ich habe den Pferdedresseur im Zirkus be -
obachtet und mich gefragt, ob Windsong auf die -
selben Zeichen reagiert.«
»Hast du es auch schon bei Breeza versucht?«,
wollte Kate wissen.
»Klar. Er kennt diesen Trick nicht. Aber bei der
Musik wurde auch er lebendig. Vielleicht kann er
Kunststücke, die Windsong nicht kann.«
»Kennt Windsong noch andere Kunststücke?«,
erkundigte sich Anders.
»Sie verbeugt sich«, erzählte Kate ihm.
»Ach, komm schon, Kate! Sie verbeugt sich? Sogar
in einem Zirkus ist es ungewöhnlich, dass einer
Stute Tricks beigebracht werden. Es ist dir zu Kopf
ge stiegen, dass du ein eigenes Pferd hast.«
100
»Aber Windsong hat sich wirklich verbeugt!«,
bestand Kate. »Sie hat ihre Vorderbeine unter den
Oberkörper gebeugt!«
Wortlos rutschte Lars von der Stute herunter und
ging zurück zu den Bäumen.
»Wo gehst du hin, Lars?«, rief Anders.
Kurz darauf kam sein neunjähriger Bruder mit
einem kleinen Stock in der Hand zurück. Behutsam
klopfte er gegen die obere Hälfte eines Vorderbeins
der Stute. Windsong beugte ihre Vorderbeine unter
sich und kniete sich hin.
»Sie verbeugt sich ja wirklich!«, rief Anders aus.
Lars zwinkerte Kate zu. Es gab keinen Zweifel
daran, dass sie wieder Freunde waren, und Kate
freute sich darüber.
»Da ist noch etwas, was mir nicht klar ist«, sagte
Kate, als sie zum Farmhaus zurückritten. »Ben sagte,
Windsong und Breeza gehörten Dugan. Aber warum
sollte ein Zirkus so wertvolle Pferde verkaufen?«
»Möglicherweise war es ein kleiner Zirkus, der
aufgeben musste«, warf Anders ein. »Vielleicht mussten
sie die Pferde dem Nächstbesten ver kaufen.«
Nach jeder neuen Erfahrung mit Windsong hatte
Kate die Stute noch lieber. Kate beugte sich nach
vorn und schlang ihre Arme um Windsongs Hals.
»Du bist mein Pferd, Windsong!«, flüsterte Kate
ihr ins Ohr. »Mein ganz eigenes Pferd! Du sollst
immer mir gehören!«
Als sie die Farm erreichten, öffnete Kate das
Scheunentor und ließ die Stute hinein. Breeza folgte
ihr in die Scheune und ging wieder in die Box links
101
von Windsong. Wildfire nahm ihre übliche Box, die
zweite rechts von Windsong.
Als Kate einen Schritt zurücktrat und sich die
Pferde anschaute, schienen sie ihr wie ein besonderes
Geschenk – ein außergewöhnliches Geschenk für
einen so jungen Menschen wie sie. Doch aus irgendeinem
Grund hatte Kate ein ungutes Gefühl. Sie
konnte sich nicht erklären, warum.
102
Was wäre, wenn?
D
irekt vor Sonnenuntergang verließen Papa,
Anders und Opa leise das Haus. Jeder von
ihnen ging in eine andere Richtung in die um -
liegenden Wälder hinein. Kate war sich sicher, dass
sie wusste, was sie vorhatten – sie wollten sich einmal
umschauen.
Als sie zurückkamen, hörte Kate, wie Papa und
Mama miteinander sprachen. Mehr als einmal fiel
das Wort Feuer.
Papa brauchte nicht weiter vor Feuer warnen.
Vom Ältesten bis zum Jüngsten kannten sie die
Gefahr, die von einem verirrten Funken ausging.
Jedes Mal, wenn Kate die Kerosin-Laterne anmachte,
suchte sie sich ein windstilles Fleckchen. Dann nahm
sie die Glaskugel ab und zündete vorsichtig den
Docht an. Anschließend steckte sie wieder erleichtert
das Glas darauf, das die Flamme umschloss.
»Morgen werden wir den Honig aus den Bienenstöcken
nehmen«, hatte Papa gesagt, bevor er zu Bett
ging. »Wenn wir uns beeilen, bekommen wir alles an
einem Tag heraus und können den Honig in Töpfe
füllen.«
Beim Frühstück am nächsten Morgen war es richtig
heiß. In der Sommerküche war es sogar noch
schlimmer. Mama hatte ein kleines Feuer im Ofen
angezündet, um Kaffee zu kochen.
Direkt nach dem Essen verschwand die Familie.
Sie hatten es eilig, in die kühlere Luft zu kommen.
103
Nur Papa und Mama blieben zurück. Kate stand in
der Nähe eines Fensters und wusch ab.
Draußen kräuselte sich langes Gras über den
Rand des Hügels. Hitze und Trockenheit hatten es
ganz ausgeblichen. Zwischen der Sommerküche und
der Scheune lag das braune, abgestorben wirkende
Stück, das Kate »Mamas Gras« nannte.
Während Kate die Teller spülte, musste sie an die
Wälder denken. Rotbraune Nadeln bedeckten den
Waldboden unter den Kiefern. Unter den Eichen und
Ahornbäumen lagen vertrocknete Blätter wie ein
Teppich auf der Erde.
Im letzten Herbst war Kate mit den Füßen durch
diese Blätter geschlurft, um das Rascheln zu hören.
Bis zu diesem Sommer hatte sie das Geräusch geliebt.
Jetzt kannte sie die Gefahr von trockenen Wäldern,
die so nah am Haus waren.
»Bevor wir den Honig entnehmen, werde ich
etwas noch Wichtigeres tun«, sagte Papa.
Kate drehte sich überrascht um. Sie sah, wie Papa
sich heißen Kaffee in seine Tasse goss.
»Es gibt einen Bibelvers, an den ich denken
muss«, sagte er.
»Ja?«, meinte Mama. »Welcher ist das?«
»Der Vers sagt, dass Noah alles tat, was der Herr
von ihm wollte.«
»Was für ein erstaunlicher Vers!« Mama setzte
sich an den Tisch und schenkte Papa ihre volle Aufmerksamkeit.
»Warum glaubst du, dass Gott dich an
diesen Vers erinnert?«
»Ich habe schon mehrmals darüber nachgedacht«,
104
sagte Papa. »Ich glaube, es ist etwas, was der Herr
von mir will.«
Kate beobachtete die großen blauen Augen ihrer
Mutter, in denen sich viele Fragen widerzuspiegeln
schienen.
»Um die Gebäude herum«, meinte Papa, »muss
ich einen etwa drei Meter breiten Streifen Land ziehen.
Dort dürfen weder Gras noch Büsche wachsen.«
»Als Feuerschneise?«, fragte Mama. »Du
glaubst …« Sie unterbrach sich, so als wollte sie es
nicht sagen.
»Ich weiß es nicht.« Papa blies in seine Tasse, um
den Kaffee abzukühlen. Aber er sah immer noch
Mama an. »Ich weiß nur, dass ich den Boden um die
Gebäude herum bearbeiten sollte.«
»Ja?« Ein sonderbarer Blick huschte über Mamas
Gesicht, so als versuchte sie ihre Angst zu verbergen.
»Ingrid«, sagte Papa sanft. »Da ist noch was an -
deres. Ich muss auch den Boden zwischen dem Haus
und der Scheune umpflügen.«
»Oh, Carl!« Es war das erste Mal, dass Kate mitbekam,
wie Mama einen Einwand gegen etwas hatte,
was Papa sagte. »Du hast dir so viel Mühe gegeben,
um dieses Gras für mich wachsen zu lassen. Wir alle
haben es bewässert, bis wir aufgeben mussten. Aber
wenn es regnet, sprießt es wieder. Dann wird es wieder
grün.«
»Ich weiß. Deshalb möchte ich im Voraus sagen,
dass ich es umpflügen werde. Das Gras ist so trocken,
dass ein winziger Funke …«
»Hast du darüber gebetet?«, wollte Mama wissen.
105
Papa nickte. »Viele Male.« Als würde er allein
schon den Gedanken verabscheuen, Mamas Gras
zer stören zu müssen, legte er seine Hände über ihre.
»Du hast dich nie über den langen Winter be -
schwert, als ich ins Holzfällercamp gegangen bin.«
Papas Stimme war sanft. »Du klagst nie über die
harte Arbeit. Wenn du es nicht willst, dass ich das
Gras umpflüge, werde ich es nicht tun, weil Gott
auch zu dir spricht.«
Sie schauten sich lange an. »Es war gutes Gras«,
sagte Mama schließlich. »Es hat den Schmutz und
den Sand aus dem Haus ferngehalten. Aber ich überlasse
es dir.«
Papa blickte Mama noch ein paar Sekunden in die
Augen. Dann neigte er sich vor und küsste sie auf
die Wange.
Papa ging nach draußen und spannte Windsong
und Breeza an den Pflug. Dann nahm er ein weiteres
Geschirr und einen Pflug zum Aufbrechen der Erde.
An diesen spannte er Dolly und Florie.
Anders ging mit den großen Zugpferden voran
und Papa folgte mit den beiden anderen. Es war
das erste Mal, dass Kate ihre Pferde in einem Ge -
schirr sah, und sie schienen die Arbeit willig zu ver -
richten.
Östlich und westlich der Gebäude auf der Farm
fiel das Land steil ab. Im Norden und Osten lagen
ein Heufeld, Weideland und Erntefelder, und im
Süden befand sich ein Feld mit Hafer.
Dort begannen Papa und Anders mit dem Pflügen,
um das Haus von dem trockenen, braunen Feld
106
zu trennen. Auch Mama kam heraus und sah zu, wie
sie die Erde umgruben.
Als Mama wieder an die Arbeit ging, pflügten
Papa und Anders Furchen in den Hügel östlich
des Farmhauses. Papa und Anders drehten ihre
Kreise, bis sie die andere Seite der Scheune erreicht
hatten.
Kate und Lars brachten Wildfire und die Kühe
herein, und Papa machte eine Öffnung in den Weidezaun.
Dort pflügten er und Anders eine weitere
Feuer schneise. Jenseits des umgepflügten Bodens
lagen das Heufeld und die Wälder, die zu Bens Haus
führten.
Als die Pferdegespanne das Getreidesilo erreichten,
mussten sie anhalten. Das Gebäude reichte zu
nah an den Rand des Steilhangs heran, um die Erde
dort umpflügen zu können. Hinter dem Getreidesilo
pflügten Papa und Anders weiter und beendeten
ihren Kreis.
Als Anders Dolly und Florie zur Scheune zurückbringen
wollte, hielt Papa ihn davon ab. »Wir müssen
noch den Boden zwischen dem Haus und der
Scheune umpflügen.«
Seine Stimme klang schwer, und Kate wusste,
dass Papa sich diese unliebsame Arbeit bis zum
Schluss aufgespart hatte.
Anders sah Papa überrascht an. »Mamas Gras?«
»Es tut mir leid«, erwiderte Papa.
Aber Anders stand nur da. »Willst du Dolly und
Florie nehmen?«, fragte er, so als wollte er nicht
damit beginnen.
107
Als sie die Plätze getauscht hatten, führte Papa
die großen Zugpferde an den Rand der Grasfläche.
Einen Augenblick lang sah er zum Haus hinüber, so
als würde er sich fragen, ob Mama ihn von drinnen
beobachtete. Dann stieß Papa den Pflug in die Erde
und trieb die Pferde vorwärts.
Anders folgte ihm mit dem anderen Gespann.
Kurz darauf waren mehrere Furchen zwischen dem
Haus und der Scheune gezogen.
Am Frühlingsanfang hatte Kate den Anblick solcher
Furchen geliebt. Sie waren immer die ersten
Boten eines neu bepflanzten Bodens. Jetzt aber
hasste Kate die umgepflügte Erde. Die Furchen flößten
ihr Angst ein.
Als Papa und Anders das Pflügen beendet hatten,
schlossen sie den Zaun wieder. Zusammen rollten
sie drei große Fässer an den Rand des Hügels neben
dem Getreidesilo. Während Opa pumpte, füllten die
anderen die Fässer mit Wasser. Innerhalb des Silos
stellte Papa mehrere Eimer bereit sowie einige leere
Säcke, die man notfalls ins Wasser tauchen konnte.
Als Kate Papas gründliche Vorbereitungen be -
obachtete, war sie froh, dass er sein Bestes tat, um
sie zu schützen. Gleichzeitig fürchtete sich Kate aber
auch. Ihr Stiefvater tat alles, was er konnte, um die
Gebäude sicher zu machen, wenn es darauf ankäme.
Trotzdem könnte die Rückseite des Silos – die einzige
Unterbrechung des Schutzkreises – die Stelle
sein, wo eine Feuerschneise am nötigsten war.
Mit Furcht erinnerte sich Kate daran, wie oft der
Wind aus dieser Richtung blies. Was wäre, wenn ein
108
Feuer im langen, ausgetrockneten Gras beim Rice
Lake beginnen würde? In Windeseile könnten sich
die Flammen über den Hang ausbreiten. Das Haus
und die Sommerküche, das Silo und die Scheune
würden vollständig abbrennen.
Kate zitterte. Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen,
aber sie schaffte es nicht.
109
Der unerwünschte Besucher
W
ährend die Familie beim Mittagessen saß, kam
Erik in die Sommerküche. »Josies Vater ist jetzt
so weit, um mit dem Dreschen zu beginnen«, sagte
er.
»Das verändert alles«, sagte Papa zu Mama. »Ich
muss mich sofort auf den Weg machen. Das bedeutet,
dass die Drescher morgen hier sein werden.«
In der Nachbarschaft halfen sich die Farmer
reihum. Aber Kate glaubte zu wissen, woran Papa
dachte. Er machte sich Gedanken, wann er den
Honig aus den Bienenstöcken holen könnte.
Als Erik sich an den Tisch setzte, gab Kate ihm
einen Teller mit Roastbeef und Kartoffeln. Während
Papa und Anders zu Ende aßen, erzählte Kate
Erik von dem Feuer in Bens Haus. Als sie ihm von
Dugans Drohung an Ben berichtete, schaute Erik
missmutig drein.
»Meinst du, Dugan schleicht uns in den Wäldern
hinterher?«, fragte Kate. »Glaubst du, er beobachtet
alles, was wir tun?«
»Das erscheint mir am naheliegendsten!«, sagte
Erik. »Wenn Dugan schon Feuer legt …«
Erik sah Papa an. »Was ist mit dem Feuer in Charlies
Stall? Hätte Dugan einen Grund gehabt, dieses
zu legen?«
»Vielleicht hat er etwas gegen Autoritätspersonen«,
antwortete Papa.
»Wie einen Sheriff?«, fragte Kate.
110
Papa nickte. »Oder jede andere Person, die das
Richtige tut.«
»Wie Ben«, fügte Kate hinzu.
»Wie Ben«, bestätigte Papa und schob seinen Teller
beiseite.
»Ben sagte mir, Dugan sei auf Geld aus, und er sei
sogar bereit, es zu stehlen.« Kate zog ihren langen
Zopf nach vorne und spielte nervös mit dessen Ende.
»Wenn wir nur wüssten, was Dugan vorhat, um an
Geld zu kommen …«
»Dann könnten wir ihm in die Quere kommen!«,
fügte Erik hinzu. »Vielleicht ist das schon passiert
…«
»Mit dem Baum, der über der Straße lag!«, schloss
Kate für ihn. »Meinst du, da gibt es einen Zu -
sammenhang?«
Erik grinste Kate an. »Denken wir an dasselbe?«
Auch jetzt noch mochte Kate nicht an den Mann
denken, der sich hinter den Ästen versteckt hatte.
Als würde sie sich an einen schlechten Traum er -
innern, konnte sie sich gut daran erinnern, wie seine
Hand nach Windsongs Zaumzeug griff.
»Aber was hatten wir, das von Wert gewesen sein
könnte?«, fragte Kate. »Die Pferde? Würde jemand
wie Dugan seine Pferde verkaufen, nur um sie wieder
zu stehlen?«
»So könnte man zu Geld kommen!«, mischte
Anders sich ein. »Man verkauft dieselben Pferde einfach
immer wieder aufs Neue. Aber ihr seid euch ja
nicht einmal sicher, ob es wirklich Dugan war.«
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Erik. »Ich
111
bin mir ziemlich sicher, dass ich außer dem großen
Hut noch was anderes gesehen habe. Als der Mann
hinfiel, flog etwas umher – es könnte eine Krawatte
gewesen sein.«
»Hmmm.« Für Kate fügten sich die Puzzleteile
zusammen. »Ben sagte, Dugan wäre immer fein
angezogen. Manchmal trug er selbst bei der Arbeit
am Damm eine Krawatte. Vielleicht will er mehr
Geld, als er für seine Arbeit bekommen hatte – Geld
für Kleidung.«
»Hat Ben eine Idee, wo Dugan sein könnte?«,
erkundigte sich Erik.
Kate schüttelte den Kopf. »Nein. Ebenso wenig
wie Charlie. Und Big Gust hat ihn auch nicht ge -
sehen.«
»Dugan ist wie vom Erdboden verschluckt«,
stellte Anders fest. »Ich frage mich, wo er als Nächstes
auftaucht.«
»Spannst du Wildfire noch vor den Wagen, bevor
du gehst?«, fragte Mama Papa. »Kate und ich brauchen
ihn.«
Das Grinsen ihres Stiefvaters verriet Kate, dass
die beiden etwas Besonderes für sie geplant hatten.
Als Papa, Anders und Erik gegangen waren, zog
Mama ihre Schürze aus.
»Heute Nachmittag werden wir Stoff für dein
Kleid kaufen!«, kündigte sie an.
»Mein Kleid für Bens Hochzeit?«, erkundigte sich
Kate.
»Aber sicher«, erwiderte Mama. »Ich möchte
gleich mit dem Nähen beginnen.«
112
Kates Herz hüpfte vor Freude. Als sie Jenny
fragte, ob ihr Kleid eine bestimmte Farbe haben
sollte, lächelte die Lehrerin sie an. »Warum trägst du
nicht etwas Blaues, das passt zu deinen schönen Augen?«
Kate sprudelte innerlich über, wenn sie nur an
Jennys Worte dachte. Es gefiel ihr, dass ihre Lehrerin
meinte, sie hätte schöne Augen. Jedes Mal, wenn sie
an Bens und Jennys Hochzeit dachte, war Kate ganz
aufgeregt.
»Aber was ist mit den Dreschern, die morgen
kommen?«, fragte Kate Mama. Im letzten Jahr war
ihre Mutter tagelang mit den Essensvorbereitungen
beschäftigt.
»Ich mache die Pasteten«, sagte Oma schnell.
Kate sah ihre Großmutter an. In Schweden hatte
sie nie Pasteten gemacht; das hatte sie erst in Amerika
gelernt. War Oma ebenso sehr daran gelegen
wie Mama, dass Kate ein hübsches Kleid bekam?
Bevor Papa wegging, spannte er noch Wildfire
vor den Wagen. Kate war stolz, dass Papa glaubte,
sie könnte mit Pferd und Wagen umgehen.
Auf der staubigen Straße nach Trade Lake hielt
Mama den kleinen Bernie in den Armen. Für Kate
würde es ein besonderer Nachmittag mit ihrer Mutter
werden.
»Was ist, wenn wir hier nicht den richtigen Stoff
finden?«, fragte Kate, während sie und ihre Mutter
die Stufen zu Gustafsons Laden hochgingen.
»Dann versuchen wir es bei Kaufmann Carlson.«
»Und was ist, wenn auch er keinen blauen Stoff
hat?«
113
Mama lächelte. »Dann werden wir an einem
anderen Tag nach Grantsburg fahren.«
Die Windy Hill Farm lag elf Meilen von Grantsburg
entfernt. »Du würdest den ganzen weiten
Weg auf dich nehmen, um die richtige Farbe zu be -
kommen?«, fragte Kate. Sie konnte es kaum glauben.
Auf dem Treppenabsatz blieb Mama stehen. »Das
ist dein Erwachsenenkleid, Kate. Ich werde ein Kleid
für die junge Dame nähen, die du mittlerweile bist.«
Kate zwinkerte mit den Augen. »Manchmal
benehme ich mich aber nicht wie eine junge Dame.«
»Ich weiß. Wenn du pfeifst zum Beispiel …«
Mama schüttelte verzweifelt den Kopf und lächelte
dann. »Aber ich schätze, das muss sein, um Windsong
zu rufen.«
»Ja, das glaube ich auch«, antwortete Kate. Sie
war erleichtert, dass Mama es verstand.
In den Stoffregalen fielen Kate drei unterschiedliche
Blautöne ins Auge. Mama nahm jeden Stoffballen
heraus und zeigte ihn Kate. Ein Stoff kam
ihren Vorstellungen nahe, aber Mama verließ den
Laden, ohne ihn zu kaufen. »Das ist nicht die Farbe
deiner Augen«, sagte sie zu Kate, als sie auf der
Straße zu Kaufmann Carlson weitergingen.
Mama nähte schon jahrelang Kleider für Kate und
verwendete dazu übrig gebliebene Stücke von den
Kleidern wohlhabender Damen. Noch nie hatte Kate
ihrer Mutter bei der Auswahl der richtigen Farbe
zugeschaut.
»Ist der Stoff nicht teuer?«, fragte Kate.
»Ich habe etwas Eiergeld zur Seite gelegt.« Mama
114
lächelte, so als würde sie ihr ein Geheimnis ver raten.
»Seit Jenny auf Bens Geburtstag war, wusste ich,
dass sie ein Paar werden!«
Bei Kaufmann Carlson fing Mama noch mal von
vorne an.
Je länger sie suchte, desto mehr fragte sich Kate,
ob sie in dem fertigen Kleid auch wirklich erwachsen
aussehen würde.
Schließlich sagte Mama zu der Verkäuferin: »Ich
möchte den schönsten Stoff, den ich bekommen
kann. Und außerdem muss er blau sein! Sind Sie
sicher, dass Sie mir alles gezeigt haben?«
»Also, ich habe noch einen anderen Stoff -
ballen …« Die Frau holte ihn unter dem Ladentisch
hervor.
Mama nahm eine Ecke und rieb sie zwischen
ihren Fingern, um zu testen, ob er zerknitterte. Dann
hielt sie den Stoff unter Kates Kinn.
»Ahhh«, sagte Mama. »Das ist genau die Farbe
deiner Augen.« Sie wandte sich an die Verkäuferin
und erklärte ihr, wie viel Stoff sie brauchte.
»Mama«, flüsterte Kate. »Du hast gar nicht nach
dem Preis gefragt.«
»Ich weiß«, flüsterte ihre Mutter zurück. »Wenn
sie den Stoff erst einmal geschnitten hat, kann ich
nicht mehr zurück.«
Kate kicherte. Als Mama jedoch den Preis erfuhr,
schluckte sie schwer. Trotzdem öffnete sie ihr Portemonnaie,
ohne zu zögern. Sie nahm die Münzen heraus
und zählte. Nachdem sie bezahlt hatte, blieb ihr
noch ein einziger Penny.
115
»All deine harte Arbeit, Mama!«, sagte Kate, als
sie den Laden verließen. »Tag für Tag hast du Eier
eingesammelt.« So sehr sie das schöne Kleid für Bens
Hochzeit auch wollte, machte Kate sich doch Ge -
danken. »Ich hoffe, das Kleid ist es wert.«
»Ganz bestimmt ist es das«, erwiderte Mama. »Es
ist nicht nur für Bens Hochzeit. Es ist auch für dich.«
Tief im Inneren erwärmte Mamas Lächeln Kate.
Es erinnerte sie an eine Zeit, als sie noch klein war.
Sie war gefallen und hatte sich ihr Knie aufgeschürft,
und Mama küsste den Schmerz weg. Aber dies hier
war noch mehr. Mama kümmerte sich in ihrer Liebe
auch um Kates Zukunft.
Plötzlich wurde Kate etwas bewusst. Mama liegt es
wirklich am Herzen, was für eine Frau ich einmal werde.
»Danke, Mama«, sagte Kate sanft. »Danke für den
wunderschönen Stoff – für das Kleid, das du daraus
machen wirst.« Kate war von dem Geschenk überwältigt.
Dann erkannte sie, dass ihre Mutter ihr noch
etwas Besseres gegeben hatte.
»Danke für diese schönen Stunden mit dir«, sagte
Kate.
Als sie den Weg zur Windy Hill Farm erreichten, hielt
Kate am Briefkasten an. Sie nahm einen Brief heraus,
der an sie adressiert war. »Der ist von Ben!«, rief
sie aus, als sie den Absender las. »Er muss ihn sofort
geschrieben haben, als er wieder auf der Arbeit war!«
Auf der Stelle öffnete Kate den Brief. Sie war
über rascht, dass er auf einer dieser neuen Schreibmaschinen
getippt war. Ein paar Buchstaben fehlten:
116
Liebe K te,
Ich h be große Schwierigkeiten. Wenn
Dug n gewinnt,
d nn h be ich keine rbeit, keine
Hochzeit, keine Jenny. Bitte
die F milie doch, für mich zu beten.
Ben
»Ben schreibt, er sei in großen Schwierigkeiten«,
sagte Kate, als sie die Wörter entziffert hatte, in
denen Buchstaben fehlten. »Er möchte, dass wir für
ihn beten.«
»Du meine Güte!«, rief Mama aus. »Was ist da
bloß passiert?«
»Was auch immer es ist – es muss schrecklich
sein«, meinte Kate. »Ben würde so etwas nicht schreiben,
wenn er nicht wirklich in Not wäre.«
Auf dem restlichen Heimweg redeten Kate und
Mama darüber, was passiert sein könnte.
Als sie an der Scheune ankamen, sprang Kate
vom Wagen, band Windsongs Führungsseil an einer
Stange fest und half ihrer Mutter und Bernie herunter.
Als Mama auf das Haus zuging, schaute Kate
zu den Bienenstöcken.
Kate stockte der Atem. Die Bienenstöcke waren
umgestoßen und lagen kreuz und quer auf dem
Boden, und die Kisten waren im Gras verstreut.
Mit einem stechenden Schmerz in ihrem Herzen
rannte Kate los.
117
Ganz egal was!
A
ls Kate den Bienenstöcken näher kam, blieb
sie plötzlich stehen. Ein wütendes Summen
erfüllte die Luft – die Bienen waren verärgert, weil
ihr Zuhause zerstört worden war. Kate hatte lange
genug mit Bienen gearbeitet, um zu wissen, wann sie
besonders vorsichtig sein musste. Daher bewegte
sie sich nun ganz langsam und ruhig.
Inmitten der kaputten Bienenstöcke standen ein
paar Kisten aufrecht auf der Erde. Als hätte eine
mächtige Pranke sie durch die Luft gewirbelt, be -
fanden sie sich etwa einen Meter entfernt von ihrem
üblichen Platz.
Andere Kisten waren umgekippt, zerbrochen und
in jeden Winkel verstreut. Rahmengestelle lagen
durcheinander auf dem Boden. Die Königinnen in
ihnen waren wahrscheinlich tot.
In dem Wunsch, das Chaos wieder in Ordnung
zu bringen, vergaß Kate sich und ging darauf zu.
Aus den Rahmen krochen und flogen massenweise
Bienen heraus. Als ihr wütendes Summen stärker
wurde, wich Kate zurück. Sie brauchte keine weitere
Warnung.
Eine Spur von zerbrochenen Rahmen führte
zu den Bäumen, die in der Nähe standen. Unter
den Büschen lagen weitere Rahmen und leere Kisten.
Auch dort fanden sich zerschmetterte Rahmen,
die vor Honig trieften. An allem klebte goldener
Honig.
118
Tränen stiegen Kate in die Augen. All die harte
Arbeit von Papa war umsonst! Der ganze Honig, den
sie für den Winter benötigten! Honig, den sie zum
Verkauf brauchten! Honig, den die Bienen brauchten,
um die kalte Jahreszeit zu überleben!
Von der Katastrophe überwältigt, sah Kate nach
unten, und ihre Tränen verwandelten sich in Wut. In
ihrer Nähe lag ein Rahmen auf dem Boden. Er war
mit Honig gefüllt und mit Bienenwachs bedeckt.
Über die Bienenwabe zog sich die Spur von großen
Bärenkrallen.
Als Papa die Verwüstung sah, schüttelte er den
Kopf. »Ausgerechnet heute hätten wir Lutfisk hier
gebraucht.« Aber der Hund war mit Papa gegangen,
als er den Nachbarn beim Dreschen half.
Die Säuberungsaktion war so furchtbar, wie
Kate sie sich vorgestellt hatte. Als Erstes setzte Papa
die Kisten zusammen, die nicht zerbrochen waren.
Aber Kate wusste, dass nicht einmal seine vorsichtigsten
Bemühungen einen Kampf unter den
Bienen ver hin dern konnten. Wenn er nicht die richtigen
Kisten zusammenfügte, würde eine Gruppe
Bienen die andere bekämpfen und sogar die Kö -
nigin töten.
Auf den einen Haufen legte Papa die Rahmen
und Kisten, die er ausbessern musste. Auf den an -
deren kam alles, was nicht mehr zu reparieren war.
Als er schließlich mit dem letzten Bienenstock fertig
war, sackten seine Schultern vor Enttäuschung zu -
sammen.
119
»Da ist kein Honig mehr für uns übrig, oder?«,
fragte Kate, obwohl sie die Antwort kannte.
»Ich bezweifle, dass die Bienen selbst genug für
den Winter haben«, sagte Papa. »Und ich weiß nicht,
wie viele Königinnen getötet wurden.«
Als die Bienen so wütend waren, wollte nicht einmal
Papa in jedem Bienenstock nach der jeweiligen
Königin suchen.
»Doch am schlimmsten ist«, meinte Papa, »dass
der Bär zurückkommen wird.«
Am nächsten Tag kamen alle Farmer aus der Nachbarschaft,
um den Hafer zu dreschen. Ein Mann
stopfte Bündel in die riesige Dreschmaschine. Während
an dem einen Ende Stroh ausgeworfen wurde,
beförderten Schaufeln das Korn hinauf zu einer
Röhre, durch die es herunterrutschte. Ein paar Männer
füllten das Korn in Säcke, die von anderen dann
zum Getreidesilo getragen wurden.
Während Mama und Oma Essen in der heißen
Sommerküche vorbereiteten, deckte Kate den großen
Tisch im Esszimmer. Beim Arbeiten be obachtete
Kate ihre Mutter und Großmutter. Werde ich je zu
einer solchen Frau werden, wie sie es sind?, fragte sie
sich.
Als die Drescher zum Haus kamen, wuschen sie
sich draußen erst einmal an einer großen Schüssel
mit Wasser. Dann versammelten sich alle um den
Tisch herum.
Papa neigte den Kopf. »Wir danken dir, himmlischer
Vater, dass du uns die Ernte schenkst. Wir
120
danken dir dafür, dass du dafür sorgen wirst, dass
die Ernte reichen wird. Wir segnen dieses Essen in
deinem Namen. Amen.«
Das war aber ein seltsames Gebet!, dachte Kate, als
sie das Fleisch und die Kartoffeln aus der Sommerküche
hereinbrachte. Was meint Papa mit »dafür sorgen,
dass die Ernte reichen wird«?
Als die Männer Omas gute Pasteten gegessen hatten
und wieder aufstanden, wurde es Kate klar. Am
Nachmittag gingen die Drescher zur Farm der Lundgrens.
»So schnell?«, fragte Kate ihre Mutter. »Sie waren
doch nur diesen einen Morgen hier!«
»Ja«, sagte Mama, als wäre sie gar nicht überrascht.
»Hier sind sie mit dem Dreschen fertig.«
»Fertig? Schon? Letztes Jahr …« Kate hielt inne
und dachte nach.
Letztes Jahr hatte es immer zur richtigen Zeit
geregnet. Als die Farmer zum Dreschen kamen,
strömte der Hafer nur so in einen Sack nach dem
anderen.
In diesem Augenblick erkannte Kate, was sie getan
hatte. »Oh, Mama! Ich habe zwei Pferde gekauft
– nicht eines, sondern zwei! Zwei Pferde brauchen
mehr Hafer!«
Ihre Mutter sagte nichts, und Kate verstand,
warum. Mama hatte von Anfang an gewusst, dass
das ein Problem werden würde. Als Kate die Pferde
nach Hause brachte, hatte Mama nur gesagt: »Wenn
Papa nichts dagegen hatte, wird das schon in Ordnung
gehen.«
121
»Warum hat Papa mich zwei Pferde kaufen lassen?«,
fragte Kate.
»Er weiß, dass du und Anders alt genug seid, um
eigene Entscheidungen zu treffen.« Kate war sich
sicher, dass Mama so schnell antwortete, weil Papa
und sie bereits darüber gesprochen hatten.
»Aber was ist, wenn ich keine gute Entscheidung
treffe?«, fragte sie. So sehr sie die beiden Pferde auch
liebte – vor allem Windsong –, jetzt machte sich Kate
doch Gedanken.
»Dann musst du mit dieser Entscheidung leben«,
sagte Mama. »Das gehört zum Erwachsenwerden
dazu.«
Ich hatte also doch recht, dachte Kate. Die Ähren
standen zu weit auseinander, die Getreideköpfe waren zu
klein. Und ich mochte gar nicht an die Ernte denken!
Kate hatte das Gefühl, als könnte sie nicht mehr
atmen, und eilte zur Tür.
»Warte mal«, rief Mama ihr hinterher, so als wollte
sie ihr Hoffnung machen. »Warte ab, was Papa sagt.«
Aber Kate konnte nicht warten. Sie musste sofort
mit Papa reden. Sie fand ihn vor dem Haus, er stand
etwas abseits der anderen Männer.
»Mama sagte, dass du nicht viel Hafer eingefahren
hast«, platzte es aus Kate heraus.
»Ja, das stimmt«, antwortete Papa nur. Er schaute
zum Haferfeld hinüber, aber Kate hatte bemerkt, wie
mutlos er wirkte.
»Oh, Papa! Es tut mir leid, dass ich zwei Pferde
gekauft habe! Pferde, die noch viel mehr Hafer brauchen!«
122
Schon der Gedanke daran schmerzte Kate. »Ich
wollte dir helfen – und dir ein zweites Gespann
geben. Ich wollte …«
Kate unterbrach sich. Ich wollte, dass Erik mich mag.
Ich wollte, dass auch er ein Pferd bekommt, das er reiten
kann.
»Papa …« Kates Lippen versteiften sich. Sie
konnte diese schwere Frage kaum stellen. »Werden
wir genug Hafer haben?«
Ihr Stiefvater schaute sie wieder an. »Wir werden
den Hafer so lange strecken, wie wir können.«
»Aber du benötigst Saatgut fürs nächste Jahr. Und
auch wir brauchen Hafer zum Essen!«
»Ja, das stimmt.« Mit einem großen roten
Taschentuch wischte sich Papa die Stirn ab. »Aber
wir werden unser Bestes tun, um die Dinge etwas
zu strecken. Vielleicht gibt es nächstes Jahr mehr
Regen.«
Regen, dachte Kate. Wie konnte ich nur so egoistisch
sein? Ich war so sehr damit beschäftigt, mir zwei Pferde zu
kaufen, und habe dabei ganz vergessen, dass sie etwas zu
fressen brauchen! Ich habe nicht bedacht, was zusätzliche
Pferde für Papa bedeuten würden!
Kate drehte sich um und lief weg. Erst als sie die
Quelle am Fuß des Hügels erreicht hatte, blieb sie
stehen. Dann kniete sie sich hin und spritzte sich
Wasser ins Gesicht. Aber ihre schlechten Gefühle
konnte Kate nicht wegwaschen.
Als sie sich wieder aufsetzte, tropfte das kühle
Wasser auf ihre Schultern. Kate blickte über den Rice
Lake und erinnerte sich an den Gedanken, den sie
123
in Charlies Stall hatte. Wenn wir als Familie nicht zu ­
sammenhalten, werden wir es nicht schaffen.
Im nächsten Augenblick warf Kate ihren Zopf
über die Schulter. Ganz egal, was passiert – ich werde
meiner Familie helfen. Ich werde alles tun, damit wir
zusammenhalten!
124
Bens Schwierigkeiten
A
m Nachmittag legte Mama den blauen Stoff auf
dem Esstisch aus. Sorgfältig schnitt sie die Teile
für Kates Kleid zurecht.
»Mama, tut es dir jetzt nicht leid, dass du so schönen
Stoff gekauft hast?«, wollte Kate wissen. »Hast
du kein schlechtes Gefühl, weil du so viel Geld ausgegeben
hast?«
»Nein, Kate«, antwortete Mama, und Kate wusste,
dass ihrer Mutter es nicht leidtun würde. »Ich werde
dir ein Kleid nähen, an das du dich den Rest deines
Lebens erinnern wirst.«
Zu Kates Überraschung erlaubte ihr Mama
nicht, auch nur einen Stich an dem Stoff vorzunehmen.
Kate wusste: Es lag nicht daran, dass Mama
sie für untalentiert hielt. Oft hatte ihre Mutter ihr
gesagt, was für eine gute Näherin sie war. Es war
mehr.
»Das ist das Jahr, in dem du erwachsen wirst«,
erklärte Mama. »Jedes Mädchen sollte sich daran er -
innern, wie es sich anfühlt, eine junge Frau zu werden.«
Auf der Farm der Lundgrens gab es sogar noch
weniger Hafer zu ernten. Statt bis zum späten Abend
zu arbeiten, kamen Anders und Papa rechtzeitig
zum Abendessen heim. Als sie die Sommerküche be -
traten, sah Kate den Blick in ihren Gesichtern. Auch
Eriks Familie stand ein harter Winter bevor.
125
Nach dem Abendessen dankte Papa Gott noch
einmal für die Ernte – für das, was sie einfahren
konnten.
Wie kannst du nur so beten?, wollte Kate fragen.
Sogar in den schwersten Zeiten hatte sie nie gehört,
dass Papa sich bei Gott beklagte.
Als Erik am Abend zu ihnen kam, gingen er und
Anders, Kate und Lars zur Scheune hinüber. Im
schummrigen Licht sahen die Jungen noch gebräunter
von der Arbeit auf den Feldern aus. Während die
Jungen sich auf kleine Fässer setzten, nahm Kate sich
einen Melkschemel.
Sie fürchtete sich vor dem, was sie ihnen sagen
musste. »Ich habe etwas Schreckliches getan«,
begann sie.
Wortlos warteten die Jungen auf Kates Er klärung.
Keiner von ihnen konnte seine Gefühle verbergen.
Kate sah es in ihren Augen. Sie wusste auch, wie
wichtig die großen Arbeitspferde für ihre Familie
waren.
»Wenn Papa für Dolly und Florie nicht genug
Hafer hat, wie kann ich dann noch etwas für Windsong
und Breeza abzweigen?«, fragte Kate.
Anders seufzte. »Ich will dir nicht sagen, was du
tun sollst.«
»Ich muss die Pferde wieder verkaufen,
stimmt’s?«, fragte Kate. Bei diesen Worten hätte sie
am liebsten lautstark protestiert und gesagt: Nein,
nein, nein!
»Vielleicht könnte ich Breeza verkaufen, aber nicht
Windsong.« Aber Kate wusste: Das würde nicht aus
126
reichen! In dem langen, kalten Winter, der vor ihnen
lag, würde der Hafervorrat schnell leer sein.
Plötzlich nahm Erik das Stroh, auf dem er kaute,
aus dem Mund. Er sprang auf und marschierte zu
einem nahe gelegenen Fenster. Eine Zeit lang stand
er da und starrte hinaus. Kate wusste, dass er wütend
war – vielleicht mehr, als sie es je zuvor bei ihm ge -
sehen hatte. Als er sich wieder umdrehte, schaute er
ihr in die Augen.
»Du hast recht, Kate«, sagte er. »Mir fällt auch
nichts anderes ein. Aber bevor du die Pferde verkaufst,
sollten wir sie noch ein bisschen aufpäppeln.«
»Lasst uns herausfinden, ob sie noch mehr Kunststücke
kennen«, meldete sich Lars zum ersten Mal
zu Wort. »Wenn du sie an einen Zirkus verkaufen
könntest, bekommt du vielleicht mehr Geld.«
»Gute Idee!«, rief Anders aus.
Erik setzte sich wieder auf ein Fass. Als er Kate
ansah, verriet sein Blick, dass er besorgt war. »Je länger
du Windsong behältst, umso schwerer wird es
dir fallen, dich von ihr zu trennen«, warnte er.
»Ich weiß«, erwiderte Kate. »Schon der Gedanke
daran tut weh.«
Sie stand auf und ging in Windsongs Box. Sie
beugte sich zu der Stute herüber und flüsterte ihr ins
Ohr: »Ich liebe dich, Mädchen.«
Als würde sie ihr zustimmen, stupste das Pferd
sie mit der Schnauze an.
Schmerzerfüllt strich Kate über Windsongs Hals.
»Sie ist sanft zu mir«, sagte Kate zu den Jungen. »Sie
gehorcht mir, so als wollte sie mir gefallen.«
127
»Es scheint, als würden eure Persönlichkeiten gut
zueinander passen«, sagte Erik.
»Das ist gut, oder?«, fragte Kate.
»Ja, klar doch!« Zum ersten Mal an diesem Abend
grinste Anders. »Immer wenn jemand mit dir auskommt,
ist das gut!«
Kate wusste, dass er ihr nur helfen wollte, sich
besser zu fühlen. Sie versuchte zu lachen, schaffte es
aber nicht. Stattdessen sagte sie zu den Jungen: »Ihr
habt alle recht. Ich habe keine andere Wahl: Ich muss
die Pferde verkaufen.«
Ab diesem Augenblick begann die Arbeit. Wann
immer sie ein paar Minuten frei hatten, suchten Kate
und die Jungen Windsong und Breeza auf. Wenn
sie ge rade nicht ihr Äußeres pflegten, versuchten sie
heraus zubekommen, was die Pferde alles konnten.
Weil er dem Pferdedresseur zugeschaut hatte, fand
Lars mehr heraus als die anderen. Einmal kam er zu
dem Schluss, dass Breeza ein Pferd war, das auch
ohne Reiter auf einstudierte Signale reagierte.
»Erinnerst du dich an die reiterlose Zirkusnummer?«,
fragte er Kate. »Da war eine Dame mit einer
langen Peitsche. Sie hat sie nie für die Pferde benutzt,
aber es schien ein Zeichen zu sein. Wenn sie mit der
Peitsche knallte oder ihre Hand auf eine bestimmte
Art und Weise bewegte, gehorchten die Pferde.«
Kate erinnerte sich gut. Es war eine fantastische
Nummer mit einem Dutzend weißer Pferde.
»Aber Windsong und Breeza haben unterschiedliche
Farben«, sagte Kate. »Das eine Pferd ist
schwarz, das andere kastanienbraun.«
128
Lars dachte darüber nach. »Vielleicht hat der Zirkus
sie auf unterschiedliche Weise gebraucht. Windsong
verhält sich wie eine Anführerin. Breeza folgt
ihr. Waren vielleicht alle Pferde kastanienbraun
außer Windsong?«
Ihre Bemühungen im Striegeln der beiden Pferde
schienen sich langsam auszuzahlen. Sie sahen beide
inzwischen recht gut aus, und Windsong stach
besonders hervor. Mit ihrem weißen Stern, ihrem
rabenschwarzen Fell, ihrer dicken welligen Mähne
und ihrem Schweif konnte Windsong ohne Weiteres
die Hauptrolle in einer Pferdenummer spielen.
»Erinnert ihr euch?«, fragte Kate. »Die Pferde, die
wir gesehen haben, konnten anscheinend zählen!«
Eines nach dem anderen stellte sich in einer Linie
auf – entsprechend der Zahlen, die sie auf ihrem
Rücken trugen. Direkt vor dem Finale verband die
Frau dem letzten Pferd die Augen. Trotz Augenbinde
lief es in der Manege herum und nahm dann genau
den richtigen Platz in der Mitte der Reihe ein.
»Warum glaubst du, dass Breeza so ein Pferd war,
das auf bestimmte Zeichen reagierte?«, wollte Kate
wissen. »Nehmen nicht viele eine bestimmte Position
ein, weil sie so vor einen Wagen gespannt wurden?«
Dann erinnerte sie sich. Schon in der ersten Nacht
auf der Farm hatte Breeza seine Box selbst gewählt.
Zudem hatte Lars bemerkt, dass Breeza immer an
Windsongs linker Seite ging.
Jetzt sagte er: »Lass uns mal was versuchen.«
Während Lars Breeza eine Augenbinde überstreifte,
führte Kate Windsong nach draußen.
129
»Bist du so weit?«, rief Lars.
Kate klatschte Windsong auf die Hinterbacken.
Als die Stute in dem eingezäunten Bereich herumlief,
ließ Lars Breeza aus der Scheune. Obwohl ihm
die Augen verbunden waren, lief er direkt auf Windsong
zu und gesellte sich an ihre linke Seite.
Kate lachte. »Du hast recht! Wie macht Breeza das
nur?«
»Er riecht sie, glaube ich. Auf diese Weise wissen
die Pferde bei einer reiterlosen Zirkusnummer, wo
sie hinmüssen. Es sieht dann so aus, als würde ein
Pferd seine Zahl finden. Aber in Wirklichkeit stellen
sie sich nur in derselben Reihenfolge auf, wie sie im
Stall stehen.«
»Breeza wurde also trainiert, Windsong zu finden?«,
fragte Kate.
Lars grinste. »Ja, klar doch!« Er klang wie Anders.
An einem anderen Tag entdeckten Kate und Lars
zufällig einen Trick. Als Kate nach einem Ritt von
Windsong herunterrutschte, fiel ihr ein weißes Tuch
aus der Tasche. Kate hatte nicht bemerkt, dass sie es
verloren hatte, aber Breeza. Er nahm das Taschentuch
mit seinen Zähnen auf und brachte es Kate.
Das erinnerte sie an etwas. In Charlies Stall und
später an Bens Haus hatte Windsong genickt, so als
würde sie »Ja« sagen. Als Kate Lars davon erzählte,
fragte er: »Was hast du zu Windsong gesagt, bevor
sie ihren Kopf bewegte?«
Kate dachte nach. Ihr fielen nicht die Worte ein,
die sie in Grantsburg gesagt hatte. Aber die an Bens
Haus …
130
Kate streckte ihre Hand aus und streichelte die
Stute zwischen den Augen. »Du wirst mir helfen,
nicht wahr?«, fragte sie.
Im nächsten Augenblick nickte Windsong, so als
würde sie ihr antworten.
»Das ist es!«, rief Lars.
Noch einmal strich Kate Windsong zwischen den
Augen und sagte das Wort »helfen«. Als die Stute
reagierte, gab Kate ihr zur Belohnung eine Möhre.
Ein andermal übte Kate die Signale, die Lars ihnen
am Rice Lake gezeigt hatte. Wenn Kate von hinten
gegen Windsongs rechtes Vorderbein drückte,
streckte die Stute ihr linkes Bein besonders weit aus.
Wenn Kate dasselbe mit Windsongs linkem Bein
machte, streckte das Pferd sein rechtes Vorderbein
aus.
Die Pferde sahen immer besser aus. Ihr Fell war
zwar noch nicht geschmeidig, aber auch nicht mehr
so zottelig wie am Anfang. Auch Windsongs Rippen
waren jetzt nicht mehr so deutlich sichtbar. Kate
teilte den Hafer vorsichtig aus, weil sie immer an
den vor ihnen liegenden Winter dachte.
Je mehr Zeit sie mit Windsong verbrachte, umso
mehr fürchtete sie sich vor dem Augenblick, in dem
sie sie weggeben musste. Es waren nicht die Kunststücke,
die Kate am meisten bedeuteten, oder der
mögliche Wert der Pferde. Sie hatte die beiden Pferde
lieb gewonnen, vor allem die Stute.
Kate musste oft an den Schatten vor der Scheune
denken. Obwohl sie versuchte, es zu verdrängen,
nagte dieser Gedanke an ihr. Was ist, wenn Dugan
131
Windsong und Breeza stiehlt? Wenn das geschehen
würde, hätte Kate gar nichts mehr. Dann wären
nicht nur die Pferde weg, sie könnte auch den
Hafer nicht nachkaufen, den ihre Pferde gefressen
hatten.
Nachdem zwei, dann drei Wochen seit dem Feuer
an Bens Haus vergangen waren, hatte Kate wieder
mehr Hoffnung. »Vielleicht ist Dugan für immer verschwunden«,
sagte sie zu Anders. »Vielleicht hat er
seinen Groll auf Ben vergessen.« Aber innerlich hatte
Kate kein gutes Gefühl.
Jeden Morgen betete die Familie für Regen und
für Ben. Bei jedem Gebet fragte Kate sich, warum Ben
diesen Brief geschickt hatte. Was ging da vor sich?
Eines Abends kam Ben schließlich nach Hause.
Diesmal kam Jenny nicht mit, und Kate wunderte
sich darüber. Beim Abendbrot stocherte Ben in seinem
Essen herum. Da er normalerweise mehr aß als
Anders, war Kate sich sicher, dass sich seine Schwierigkeiten
noch nicht aufgelöst hatten.
»Der Schaden an deinem Haus tut mir wirklich
leid«, sagte Papa. »Aber ich glaube, ich weiß, wie wir
das wieder hinbekommen.«
Nach dem Feuer hatte Papa Ben geschrieben.
Doch zu Kates Überraschung wollte Ben nicht mehr
darüber erfahren.
»Wie geht es mit dem Nevers Damm voran?«,
erkundigte sich Mama, so als wollte sie mit Ben ins
Gespräch kommen.
Aber Ben zuckte nur mit den Schultern. »Betet
weiter«, sagte er nur.
132
Kurz darauf bemerkte Kate, dass auch Opa und
Oma Ben beobachteten. Es schien, als wäre das Licht
in seinen Augen erloschen. Was konnte es nur sein?
Als alle mit dem Essen fertig waren, sagte Ben,
dass er weiter an seinem Haus arbeiten müsste. Vom
Fenster der Sommerküche aus sah Kate, wie Ben
zum Silo ging und sein Werkzeug holte. Kate war
sich sicher, dass er so viel arbeitete, weil er Jenny
liebte. Aber Ben schlurfte nur, als er sich auf den
Weg zu seinem Haus begab.
Sobald Kate mit dem Geschirrabwaschen fertig
war, sattelte sie Windsong und ritt ihrem Onkel
hinterher. Als sie an seinem Haus ankam, bearbeitete
Ben gerade einen Stamm, den er an einer Seite
abflachte.
Ben stand auf dem Baumstamm und ging rückwärts.
Alle zehn Zentimeter schlug er mit einer breiten
Axt eine Kerbe hinein. Rumms! Rumms! Aber er
bewegte sich so, als wäre er nicht mit dem Herzen
bei der Sache.
»Was ist los?«, fragte Kate.
Ben ließ sich auf einem Baumstumpf nieder, und
Kate setzte sich neben ihn ins Gras. Das letzte Mal,
als sie ihn hier gesehen hatte, strahlten er und Jenny
vor Freude. Warum sah er jetzt nur so mutlos aus?
Eine Zeit lang saß Ben sprachlos da und starrte
zum Bach hinunter. Als er schließlich anfing zu
reden, war seine Stimme ganz leise, fast so, als
würde er sich schämen. »Erinnerst du dich noch, wie
ich dir von Dugan erzählt habe – dem Mann, den ich
an zeigen musste?«
133
Kate nickte. »Er sagte, er würde es dir heimzahlen.«
»Er ist jetzt schon über einen Monat weg.« Ben
sprang auf und ging nervös vor seinem Haus auf
und ab. »Aber es fehlt Geld!«
»Es fehlt? Was meinst du?« Kate war sich nicht
sicher, ob sie es richtig verstanden hatte.
»Dugan ist verschwunden. Er ist nirgendwo zu
finden. Aber seit ich im Büro arbeite …« Ben ballte
seine Faust.
Als würde sie ahnen, was nun kommen würde,
bekam Kate ein flaues Gefühl im Magen.
»Zwei Mal fehlte Geld!«, rief Ben aus. »Nach dem
ersten Mal redete der Chef mit mir darüber.«
Ben sah weg, so als könnte er Kate nicht in die
Augen schauen. »Herr Frawley sagte: ›Ben, du bist
ein guter Arbeiter. Ich möchte dir vertrauen, aber du
bist der Einzige, der als Nachtwächter arbeitet und
gleichzeitig in diesem Büro.‹«
Ben blieb vor Kate stehen. »Woher wusste mein
Chef, dass ich mal was gestohlen hatte? Außer un -
serer Familie und Jenny habe ich niemandem davon
erzählt!«
»Er beschuldigte dich des Diebstahls?«, fragte
Kate.
Ben schüttelte den Kopf. »Er sagte: ›Ich möchte
dir vertrauen.‹«
Kate konnte den Gedanken nicht ertragen, dass
ihr Onkel »Dieb« genannt wurde. Aber warum sollte
Herr Frawley über »Vertrauen« sprechen, wenn er
nicht Zweifel an Bens Ehrlichkeit hatte?
134
»Vielleicht hat er es einfach nur so gesagt, ohne
zu wissen, was du in Schweden getan hast«, meinte
Kate und wollte ihm Hoffnung machen.
Ben setzte sich wieder auf den Baumstumpf und
strich mit den Fingern durchs Haar. »Letzte Woche
fehlte noch mehr Geld. Herr Frawley kam wieder zu
mir! Er sagte: ›Ben, wir müssen der Sache auf den
Grund gehen.‹ Er glaubt, dass ich das Geld ge stohlen
habe!«
»Hat er das gesagt?«
Ben schüttelte den Kopf. »Aber wer hätte es sonst
gewesen sein können? Ich weiß, dass Herr Frawley
denkt, dass ich es war!«
»Aber Ben, du hast es nicht getan!«
Der hochgewachsene, junge Mann versuchte zu
lächeln. »Ich weiß, dass ich es nicht getan habe. Und
du weißt es. Aber was ist mit meinem Chef?«
Bens Stimme versagte. »Und was ist mit meiner
Jenny? Als wir uns anfreundeten, sagte ich ihr, dass
ich in Schweden etwas gestohlen hatte. Ich versprach
ihr, es nie wieder zu tun. Wie kann meine Jenny
jemanden heiraten, der ›Dieb‹ genannt wird?«
Kate traten Tränen in die Augen. »Oh, Ben!«
Als würde Jenny gerade dort stehen, konnte
Kate sich vorstellen, wie sie in Bens glückliches Ge -
sicht schaute. Kate dachte an die kostspielige Ent -
scheidung ihrer Mutter, den blauen Stoff für ihr
Kleid zu kaufen, und an all die Vorbereitungen, die
Mama und Oma bereits für die Hochzeit trafen.
Aber das blaue Kleid und die ganze Arbeit waren
nicht wichtig. Es zählte nur, was mit Jenny und
135
Ben werden würde. Wenn Bens Name nicht reingewaschen
würde, gäbe es keine Hochzeit. Auch
wenn Jenny an ihn glaubte, würde Ben sie niemals
heiraten, solange man ihn als Dieb bezeichnete.
Jetzt sprang Kate auf. »Dieser scheußliche Dugan
hat es dir heimgezahlt! Wir müssen ihn finden!«
Einen Augenblick lang leuchteten Bens Augen
hoffnungsvoll auf. Dann seufzte er. »Aber wo ist
Dugan? Ich habe ihn nie wieder gesehen! Ich habe
die Wälder durchkämmt. Ich habe die Straße, die am
Büro vorbeiführt, beobachtet. Ich weiß nur, dass er
da gewesen ist! Wie können wir jemanden fangen,
den wir nicht sehen?«
Wieder dachte Kate an ihr ungutes Gefühl, das
sie wegen Windsong und Breeza hatte. Den Schatten
vor der Scheune konnte sie die ganze Zeit nie vollständig
vergessen.
»Wenn Dugan noch immer in der Nähe ist …«
Kate dachte darüber nach. »Es besteht eine Verbindung
zwischen dir und uns und Dugan«, sagte
sie langsam. »Die Pferde!«
Kate richtete sich jetzt ganz auf und warf ihren
Zopf über die Schulter. »Wir werden Dugan finden,
bevor er deinen guten Namen ruiniert!«
»Bevor Dugan wieder etwas stiehlt?«, fragte Ben
mit leiser, aber verzweifelter Stimme. »Bevor meiner
Jenny etwas passiert?«
136
Wo ist Papa?
B
evor deiner Jenny etwas passiert!«, rief Kate aus.
»Wie?«, fragte Ben. Ihre Blicke trafen sich. »Wie
kannst du Dugan aufhalten?«
»Das weiß ich nicht, Ben.« Kate wünschte, sie
könnte ihm mehr Trost geben. »Aber ich hoffe, wir
werden es irgendwie schaffen.«
Als Kate zur Windy Hill Farm zurückkehrte, bat
Mama sie, eine Weile auf Bernie aufzupassen. Mit
dem Baby in den Armen machte Kate sich auf die
Suche nach Anders. Sie fand ihn in der Sommerküche.
Zusammen redeten sie über Dugan und Ben.
»Was können wir tun?«, fragte Kate. Sie fühlte
sich so verzweifelt, wie Ben geklungen hatte.
Doch Anders hatte auch keine anderen Ideen als
sie. Schließlich musste Kate die Gedanken an einen
Plan aufgeben. Ihr war heiß, und sie fühlte sich müde
und mutlos.
»Nimmst du mal Bernie?«, fragte sie Anders.
Seit ihr Bruder geboren wurde, wollte Kate einmal
sehen, dass Anders ihn in den Armen hielt. Als
Anders das Baby aber beruhigen wollte, stellte er
sich ziemlich unbeholfen an.
»Gib ihn mir«, sagte Kate und rettete Bernie. »Ich
zeige dir, was er mag.«
Sie hielt ihren kleinen Bruder über die Schulter
und tätschelte seinen Rücken, bis er ein »Bäuerchen«
machte. Dann setzte sie sich neben Anders. Sie nahm
Bernie auf den Schoß und wiegte seinen Kopf in
137
ihren Händen. »Wenn du ihn so hältst, kann er dein
Gesicht sehen. Dann spricht er mit dir.«
»Sprechen?«, lachte Anders. »Wie kann ein fünf
Monate altes Baby mit jemandem sprechen?«
»Wirst schon sehen«, erwiderte Kate. Wieder gab
sie Bernie in Anders’ Hände.
Anders sah noch immer unbeholfen aus, aber
dieses Mal hielt er das Baby auf seinen Beinen und
wiegte den kleinen Kopf in seinen großen Händen.
Bernie blickte zu Anders auf und gluckste und
lächelte.
Anders grinste. Kurz darauf machte er mit seiner
Zunge lustige Geräusche, so als hätte er schon sein
ganzes Leben mit Bernie gesprochen.
»Schau nur!«, rief Anders aus. »Siehst du, wie er
lacht?«
Kate lächelte. Anders hatte seine Verlegenheit
jetzt ganz vergessen.
»Er mag mich!« Anders nahm Bernie von seinen
Knien und wiegte ihn in seinen Armen. »Ich kann
gut mit Babys umgehen!«
Augenblicke später wurde Bernie unruhig.
Anders wippte Bernie noch eine Weile auf und ab, so
wie Kate es oftmals tat.
Plötzlich nahm Anders das Baby hoch. Auf seinem
Hemd war ein dunkler, feuchter Fleck.
»Igitt! Er hat in die Hose gemacht!«
Als Kate kicherte, gab Anders Bernie an sie
zurück. Während Kate ihrem kleinen Bruder die
Windeln wechselte, griff Anders zu einer alten Ausgabe
der Zeitung The Frederic star.
138
In diesem Augenblick kam Erik zur Tür herein.
Kate gab ihm das letzte Stück Apfelkuchen, und Erik
setzte sich neben Anders an den Tisch.
Kurze Zeit später sah Anders von seiner Zeitung
auf. »Kate, hier ist was für dich!«
Er fing an, laut vorzulesen. »›Die reizende Frau
besitzt nicht unbedingt eine perfekte Gestalt und
vollkommene Züge.‹«
Kate seufzte. Anders hatte sich in letzter Zeit so
gebessert. Sie hatte wirklich gedacht, dass er sich
langsam veränderte. Aber jetzt hatte er wieder etwas
gefunden, womit er sie ärgern konnte.
»Hörst du, Kate?« Anders lehnte sich in seinem
Stuhl zurück und blickte über die Zeitung.
»Ich höre dich.« Sie tat so, als würde es ihr nichts
ausmachen, was Anders sagte.
Aber ihr Bruder las weiter: »›Viele dieser
unscheinbaren Frauen, die nie einem Künstler als
Modell dienen könnten, haben diese seltenen Eigenschaften,
die die ganze Welt bewundert …‹«
Kate senkte den Blick, hörte aber jedem einzelnen
Wort zu. So will ich sein. Eine Brautjungfer, die jeder
für schön hält – vor allem Erik. Was bewundert die ganze
Welt?
»›Ordentlichkeit, leuchtende Augen, saubere,
glatte Haut‹«, las Anders vor. »Lass mal sehen,
ob du so was hast, Kate? Vor allem saubere, glatte
Haut?«
Kate zog ein trockenes Hemdchen über Bernies
Kopf. Um nichts in der Welt würde sie ihm antworten,
aber ihre Hand zitterte.
139
»›Eine körperlich schwache Frau ist nie attraktiv,
nicht einmal für sich selbst.‹ Ja, das stimmt!«
Anders grinste Kate an. »Wenn du etwas nicht
bist, dann körperlich schwach. Du kannst einen
Baum schneller hinaufklettern als jeder andere – und
dich an einem Seil über den Heuboden schwingen
– und was kannst du sonst noch alles?« Anders
hielt inne und schien nachzudenken.
»Hin und wieder bringt sie das Beste in dir zum
Vorschein.« Eriks Stimme war sanft, aber es gab keinen
Zweifel daran, was er gerade vorhatte.
Kate wirkte dankbar, weil jemand sie unterstützte.
Aber Anders las weiter aus der Zeitung vor.
»›Magenbitter stärkt schwache Frauen, schenkt stabile
Nerven, leuchtende Augen, glatte, samtige Haut
und eine schöne Gesichtsfarbe.‹«
Schnell legte Kate Bernie in die Wiege. Sie hatte
keinen Zweifel daran, worauf dies hinauslaufen
sollte, und sie wollte dem entkommen, solange sie
noch konnte.
Aber Anders war schneller. »Genau das brauchst
du, Kate – Magenbitter.« Er beugte sich zu ihr herüber.
»Meine liebe Schwester, ist das etwa eine
Hautunreinheit, die ich da auf deiner Stirn sehe?«
Kate wurde ganz rot im Gesicht. Wenn es irgendetwas
gab, was Erik nicht sehen sollte, dann das!
Wie ein frisch entfachtes Feuer blitzte Kates Temperament
auf. »Wie kannst du nur so schrecklich
sein?«, fragte sie.
Ihr Bruder grinste. »Du willst eine starrrke Frau
140
sein! Mit starrrken Nerven! Alles, was du dazu
brauchst, kannst du in der Apotheke kaufen. Für nur
fünfzig Cent!«
Kates Ärger schäumte über. »Starke Nerven,
pah!«
Sie warf ihren langen Zopf über die Schulter.
»Dich als Bruder zu haben, ist so schrecklich, dass
ich jeden Tag stärker werde! Dafür kannst du jetzt
auf Bernie aufpassen!«
Ohne ein weiteres Wort lief sie aus der Küche.
Das Lachen ihres Bruders folgte ihr.
Kate floh ins Haus und in die Ruhe ihres Schlafzimmers.
Durch die geöffneten Fenster hörte sie, wie
Oma die Sommerküche betrat und sich Bernie nahm.
Kate wartete, bis Anders und Erik weg waren. An
dem langen Sommerabend verließ sie schließlich ihr
Zimmer.
Sie ging in die Küche, zündete eine Kerosin-
Laterne an und begab sich dann auf den Weg zur
Scheune. Als sie an Windsongs Box ankam, hängte
Kate die Laterne an einen Nagel an dem Balken über
ihrem Kopf.
In Augenblicken wie diesen schien Windsong ihr
eine ganz besondere Freundin zu sein. Es war, als ob
sie verstand, wie Kate sich fühlte. Als sie ihr Gesicht
in Windsongs Mähne grub, drückte die Stute Kates
Kopf hoch, so als wollte sie Kate trösten.
Langsam und vorsichtig bürstete Kate den schönen
schwarzen Schweif und die schöne schwarze
Mähne des Pferds aus. Windsongs Fell sah jetzt
schon viel besser aus. Bald schon würde es glatt wie
141
Satin sein, wusste Kate. Und die Rippen der Stute
waren auch nicht mehr zu sehen.
Kurze Zeit später rief Mama, und Kate rannte von
der Scheune in die Abenddämmerung. Als sie am
Abend zu Bett ging, wehte eine starke Brise über den
Rice Lake. Nach der Hitze des Tages war der Wind
eine willkommene Abwechslung. Kate öffnete alle
Fenster und schlüpfte dann ins Bett, das sie sich mit
Tina teilte.
Während Kate im Bett lag, hörte sie dem Wind zu,
der durch die Bäume rauschte. Vielleicht ist es morgen
etwas kühler, dachte sie erleichtert. Während ein Ast
gegen das Haus stieß, schlief Kate ein.
Wie aus weiter Ferne hörte Kate einen Hund bellen.
Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte
das Geräusch zu überhören. Aber der Hund bellte
weiter.
Im Halbschlaf erkannte Kate, dass das Geräusch
von irgendwo draußen kam. Das musste Lutfisk
sein. Aber Kate hatte gesehen, wie Anders den Hund
in die Küche gebracht hatte. Beunruhigte ihn etwas?
Einen kurzen Augenblick lang lag Kate da, um zu
sich zu kommen. Lutfisk bellte noch immer, jetzt von
weiter weg. Dann hörte Kate außer dem Hund das
Brüllen von Kühen. Hier schien etwas nicht zu stimmen.
Kate drehte sich um, öffnete die Augen und
blickte zum Fenster herüber. Ein seltsames orangefarbenes
Licht erfüllte den Nachthimmel.
Plötzlich war Kate hellwach. Im nächsten Augen
142
blick sprang sie aus dem Bett und lehnte sich aus
dem Fenster. Die Scheune brannte!
Innerhalb von wenigen Sekunden hatte Kate
ihr Kleid angezogen. Obwohl sie voller Panik
war, machte sie kein Geräusch, um Tina nicht aufzuwecken.
Augenblicke später schlich sie sich aus
dem Raum und zog die Tür hinter sich zu.
Kate klopfte gegen die Schlafzimmertür von
Mama und Papa und öffnete sie schließlich. »Feuer
in der Scheune!«, rief sie.
Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang Kate
die Stufen hinunter. Wieder trommelte sie gegen
eine Tür, diesmal gegen die von Opa und Oma.
»Feuer!«, schrie Kate wieder. »Feuer in der
Scheune!«
Jedes Mal, wenn sie die Warnung ausrief, schien
der Albtraum realer zu werden. Als sie durch die
Küche lief, hörte sie Papa hinter sich. Von draußen
rief sie in die Sommerküche hinein nach Ben, Anders
und Lars.
»Lauf zu Eriks Haus und hole Hilfe!«, sagte Papa
zu dem Neunjährigen.
Papa und Ben rannten zur Scheune, während Opa
ihnen hinterherhumpelte. Als sie durch den nächstgelegenen
Eingang liefen, schossen die Flammen
gerade eine Wand aus Baumstämmen hoch.
Kate lief zur Wasserpumpe, erinnerte sich dann
aber an die Fässer am Rand des Hügels. Anders hatte
bereits die Eimer aus dem Getreidesilo geholt.
»Hol die restlichen Eimer!«, schrie er, und Kate
rannte zum Haus.
143
Als sie zurückkam, schöpfte Mama gerade Wasser
aus einem der Fässer. Als sie den Eimer Oma reichte,
schloss Kate sich der Kette an. Kate übernahm ihn von
Oma und lief damit zu Anders. Er stand der Scheune
am nächsten und schüttete das Wasser aufs Feuer.
Am östlichen Ende der Scheune und an der dem
Haus zugewandten Seite waren die Wände aus
Baumstämmen bereits von Flammen bedeckt. Etwas
davon entfernt stellte Anders eine Leiter an die
Wand. Aber die Hitze zwang ihn zurück, als er versuchte,
Wasser aufs Feuer zu gießen.
Als Anders auf den Boden sprang, sah Kate sein
angesengtes Haar. Sie reichte ihm einen weiteren
Eimer, und Anders schleuderte das Wasser so hoch,
wie er konnte. Aber es erreichte die Flammen nicht.
Das Feuer züngelte bereits am Rand des Daches.
»Es brennt so schnell!«, rief Kate. Die Flammen
krochen schon durch die Ritzen zwischen den Baumstämmen.
Im Innern der Scheune heulten die Pferde auf.
Kühe brüllten vor Angst. Die Schweine quiekten so
laut, dass man sie trotz des prasselnden Feuers hörte.
Es dauerte nicht lange, da waren die Fässer am
Rand des Hügels leer. Mama rannte zu den Regentonnen
am Haus, und Oma und Kate folgten ihr. Wieder
bildeten sie eine Eimerkette bis hin zu Anders.
Obwohl Kate etwas abseits des Feuers stand,
konnte sie die glühende Hitze spüren.
»Verschütte es nicht!«, ermahnte Anders sie, als er
einen Eimer von ihr entgegennahm. Jeden kostbaren
Tropfen Wasser schüttete er über die Flammen.
144
Hustend und keuchend tauchte Ben in dem Scheunentor
neben der Wasserpumpe auf. Mit einem großen
Brett versuchte er eine Sau und ihre Kleinen aus
der Scheune zu treiben.
Papa stand neben ihm und jagte ein anderes quiekendes
Schwein heraus. Im Feuerschein lief Schweiß
Papas Gesicht herunter.
Schnell band er sich ein Stück Stoff vor Mund
und Nase. Er redete kurz mit Anders und lief dann
zurück in die Scheune. Als Ben und Opa ihm folgten,
trieb Anders die Schweine weiter weg von der
Scheune. Sie liefen kreuz und quer um ihn herum
und versuchten, zu ihren Pferchen zurückzugelangen.
Während Anders Mühe hatte, sie vom Scheunentor
fernzuhalten, goss Kate den nächsten Eimer Wasser
aufs Feuer. Wie ein hungriges Tier schossen die
Flammen über das Dach und fraßen sich durch
die Schindeln.
Mittlerweile waren auch die Regentonnen leer,
und Mama fing an zu pumpen. Jeden vollen Eimer
reichte Oma an Kate weiter. Am Firstbalken entlang
erfasste der Wind das Feuer und trieb die Flammen
an.
»Die Pferde!«, schrie Kate, als sich das Feuer zum
westlichen Ende der Scheune ausbreitete. Sie wollte
hineinrennen, um Windsong aus der Scheune zu
bringen, bevor es zu spät war.
Stattdessen brachten Opa und Ben mehr Schweine
ins Freie. Säue und Ferkel liefen umher und versperrten
den Eingang.
145
Papas Augen tränten, als er die nächste Sau hinausjagte.
Hustend rief er Anders zu: »Bring sie weiter
weg!«
Anders und Opa schoben und drängten die
Schweine in eine Richtung, sodass sie nicht zur
Scheune zurückkehren konnten. Kate schüttete jeden
Eimer Wasser auf das Feuer, den man ihr gab. Als
die Flammen näher kamen, stolperte sie zurück und
hustete.
Als Nächstes kamen die Kühe zusammen mit
ihren Kälbern. Auch sie versuchten, zur Scheune
zurückzugelangen. Papa und Ben brachten sie hinaus,
und Opa und Anders führten die Kühe auf
die Weide. Sie zwängten die Tiere durch ein Loch
im Stacheldraht und blockierten anschließend die
Öffnung.
Die Flammen peitschten und prasselten durch
ein Loch im Dach, und das Feuer fraß sich durch das
Heu auf dem Speicher. Durch eine offene Tür konnte
Kate sehen, was vor sich ging. Ganze Heuballen fielen
vom Speicher herunter und entzündeten das
Heu, das auf dem Boden lag.
»Schneller!«, schrie Kate. Während sie auf den
nächsten Eimer wartete, stürzte ein Teil des Daches
ein – der Teil, unter dem die Schweine gewesen
waren.
Als Mama nicht mehr pumpen konnte, lief Kate
los, um ihren Platz einzunehmen. Aber Anders kam
ihr zuvor und pumpte, wie er es noch nie zuvor in
seinem Leben getan hatte. Unter seinen starken Händen
ächzte und knarrte die Wasserpumpe.
146
Dann kam Erik mit seinem Vater und seinem äl -
teren Bruder John. Trotz des furchtbaren Feuers fühlte
Kate sich besser, weil sie wusste, dass Erik da war.
Augenblicke später sah Kate Lars. Während er auf
die Scheune zuraste, schrie Kate ihm hinterher: »Wo
willst du hin?«
»Opa helfen!«
»Nein!«, warnte Kate ihn. »Geh nie in ein brennendes
Gebäude!«
Als Lars weiterlief, rannte Kate ihm hinterher.
»Halt!«, schrie sie. »Nur Erwachsene wissen, was
man tun muss!«
Kate packte ihn am Hemd und zog Lars zu sich in
die Eimerkette.
Dann begann sie wieder, Eimer weiterzureichen.
Am Ende der Kette stand Herr Lundgren. Leere
Eimer kamen zurück.
Ohne den Rhythmus zu verlieren, nahm Erik
Anders’ Platz an der Pumpe ein. Hatte Erik einen
Eimer gefüllt, gab Kate ihn an Lars weiter. Kate
war dankbar dafür. So wusste sie wenigstens, wo er
war.
Jedes Mal, wenn sie einen Eimer weitergab,
schaute sie zur Scheune herüber. Mittlerweile hatten
die Flammen das ganze Dach erfasst. Da der Wind
den Brand anfachte, schien das Feuer überall gleichzeitig
zu sein.
Als Kate einen Eimer weiterreichte, rannte Eriks
Bruder John zum Tor am westlichen Ende der
Scheune.
»Endlich – sie bringen die Pferde raus!«, rief Kate.
147
Sie hörte ein ängstliches Wiehern. Kates Herz
machte einen Sprung. »Ist das Windsong?«, fragte
sie Erik. Beide waren sich nicht sicher.
Wieder wieherte ein Pferd, und ein zweites Pferd
antwortete. Kate wollte nichts hören und hielt sich
die Ohren zu. Aber das Schreien der Tiere drang dennoch
zu ihr durch. Sie konnte sich vor dem Geräusch
nicht schützen.
Dann war wieder ein Eimer voll. Als Kate ihn
nahm, schwappte Wasser über ihre Hände.
»Pass auf, Kate!«, ermahnte Erik sie. »Verlier keinen
einzigen Tropfen.«
Auf und ab, auf und ab ging der Griff der Pumpe,
die Eimer für Eimer füllte.
Im Schein des Feuers tauchte ein Pferd auf. John
Lundgren führte es heraus. Über seinen Kopf war
ein Sack gestülpt, aber Kate wusste, dass es Dolly
war. Opa streckte seine Hand nach dem Halfter aus
und brachte das verängstigte Pferd von der Scheune
weg. Er führte es in Sicherheit jenseits des Streifens
Erde, den Papa vor Kurzem erst umgepflügt
hatte.
Als Ben mit Florie erschien, lief Anders zur
Scheune herüber und griff nach dem Halfter. Das
große Zugpferd wehrte sich gegen ihn, aber Anders
gab nicht auf und führte Florie weg. Als Nächstes
brachte John Wildfire heraus.
In diesem Augenblick stürzte am anderen Ende
der Scheune ein Teil des Speichers ein. Die Flammen
schossen nach oben. Verkohlte Bretter fielen zu
Boden.
148
Mit einem Sack über dem Kopf brachte Ben
Breeza ins Freie. Während Opa das Pferd wegführte,
hielt Kate nach Windsong Ausschau. Aber von der
Stute war nichts zu sehen.
Jetzt machte Kate sich neue Sorgen. »Papa!«,
schrie sie. »Wo ist Papa?«
Verrückt vor Angst lief sie zu Anders. »Du musst
ihn suchen!«
Das Gesicht ihres Bruders war ganz mit Ruß
bedeckt. In dem sonderbaren orangefarbenen Licht
sah Kate seine Augen.
»Papa sagte mir, ich solle draußen bleiben, ganz
egal, was passiert. Wenn es sein muss, sollte ich
Mama und den Rest von euch hier wegbringen.«
Da verstand Kate es. Papa machte sich nicht nur
Sorgen um die Scheune, sondern auch um das Haus
und seine ganze Familie. Er sorgte sich um Bernie
und Tina und um jeden, den die Flammen einschlossen,
wenn sie erst einmal die Feuerschneise überschritten.
Er hatte Angst, das Feuer könne über die
trockenen Felder und durch die ebenso trockenen
Wälder rasen.
»Aber wo ist Papa?«, rief Kate noch mal. »Wo ist
er?«
149
Die vergessene Laterne
D
ie Fragen in ihrem Kopf gingen auf und ab – so
wie die Eimer mit dem Wasser. Bei jedem Eimer,
den Kate weiterreichte, blickte sie zur Scheune herüber.
Wie ein Skelett erhoben sich die Dachbalken unter
dem Nachthimmel. Mit einem Funkenregen stürzte
die Mitte des Speichers ein – der Teil in der Nähe der
Pferdeboxen.
Eine kalte Faust schloss sich um Kates Herz.
Würde Papa sein Leben für Windsong verlieren? So
sehr sie das Pferd auch liebte – das war Windsong
nicht wert.
»Papa!«, schrie Kate erneut. »Wo bist du?«
Dann kam Papa vom westlichen Ende der Scheune
durch eine Rauchwolke auf sie zu.
Hinter Kate rief Anders vor Erleichterung: »Er ist
draußen!«
Einen Augenblick später brach auch der letzte Teil
des Speichers ein. Von oben bis unten mit Rauch und
Ruß bedeckt, wankte Papa auf sie zu.
»Carl!« Mama verließ die Eimerkette. Als sie Papa
erreicht hatte, warf sie ihre Arme um ihn.
»Es ist alles in Ordnung mit mir! Alles in Ordnung!«,
rief Papa aus, und Mama reihte sich wieder
in die Schlange ein.
Als hätte jemand sie losgelassen, schossen die
Flammen hoch. Asche wirbelte nach oben und
wurde vom Wind vertrieben.
150
»Das Haus!«, schrie Kate. »Die Sommerküche!«
Funken sprangen über die Feuerschneise, und
einer landete in der Nähe des Silos. In dem trockenen
Gras in der Nähe des Gebäudes entzündete sich
eine Flamme und fraß um sich.
Voller Panik erinnerte sich Kate an den Hafer, der
im Getreidesilo lagerte. Sie nahm sich einen Sack,
tauchte ihn in den nächsten Eimer und raste zum
Silo. Dann schlug sie mit dem nassen Sack auf den
Boden. Die Männer, die in der Nähe standen, zogen
sich ihre Hemden aus und kamen ihr zu Hilfe.
»Das Dach!«, schrie jemand.
Anders rannte zur Leiter, stellte sie an die Seite
des Silos und kletterte hinauf. Als er das Dach er -
reichte, schlug er die Funken aus, die auf die hölzernen
Schindeln fielen.
Im nächsten Augenblick bildeten sie einen Kreis
um die Scheune und schlugen jeden Funken aus, der
über die Feuerschneise sprang.
Kate blieb in der Nähe des Getreidesilos. Selbst
die Wände fühlten sich heiß an, und die Farbe warf
Blasen von der Hitze des Feuers.
Die Scheune, der Speicher und das Heu, das Papa
dort für den Winter gelagert hatte, waren verbrannt.
Am westlichen Ende der Scheune standen die Holzwände
noch. Aber am östlichen Ende, wo Kate das
Feuer zuerst gesehen hatte, waren die Wände vollständig
eingestürzt.
Während die Männer Wasser gegen die großen
Baumstämme schütteten, starrte Kate auf das verkohlte
Holz. Plötzlich spürte sie einen Regentropfen.
151
Zuerst waren es noch leichte Tropfen, die gegen
das brennende Holz platschten. Dann aber nahm
der Regen stetig zu – er war so willkommen, dass
jeder draußen blieb, die Hände in die Luft streckte
und sich bis auf die Haut nass regnen ließ. Wochenlang
hatten sie für Regen gebetet. Nun war er endlich
gekommen.
Vor Wasser und Schweiß ganz nass standen die
Männer um die Scheune herum und sahen sich an,
was das Feuer übrig gelassen hatte.
Als Erik sich neben sie stellte, klagte Kate: »Der
Regen kam zu spät!«
»Nein!«, sagte er. »Der Regen kam gerade noch
rechtzeitig, um die anderen Gebäude zu retten!«
Kate wollte nicht länger stehen, ihre Knie waren
schwach geworden. So ließ sie sich zu Boden sinken.
Jeder Knochen und jeder Muskel schmerzte sie.
Wenigstens war das Feuer nicht auf die Wälder oder
die anderen Gebäude übergesprungen. Papas Feuerschneise
hatte gehalten!
Als Kate Bernie schreien hörte, lief Mama zum
Haus. Kurz darauf kam sie wieder heraus. Eine
Decke schützte den kleinen Bernie vor dem Regen.
Mama umklammerte ihn fest, so als würde sie ihn
nie wieder loslassen.
»Kate, wo ist Tina?«, fragte sie.
Kate sprang auf. Als sie das Feuer entdeckte, ließ
Kate ihre Schwester im Bett. Was, wenn Tina aufgewacht
ist? Was, wenn sie die Stufen heruntergerannt
und aus dem Haus gelaufen ist? Was, wenn keiner von uns
sie gesehen hat und sie dem Feuer zu nahe ge kommen ist?
152
Atemlos kam Kate im oberen Stockwerk an. Leise
öffnete sie die Tür. Auf Zehenspitzen schlich sie zum
Bett und beugte sich vor. Im trüben Licht, das zum
Fenster hineinschien, erkannte sie Tinas Gesicht.
Das blonde Haar des kleinen Mädchens lag über das
ganze Kissen verteilt, und sie schlief noch immer tief
und fest.
Obwohl sie sehr müde war, schoss Kate die Stufen
hinunter zu ihrer Mutter. »Tina geht’s gut!«,
sagte Kate. »Sie schläft noch.«
Als ob sie es nicht glauben konnte, dass jemand
bei einer solchen Panik schlafen konnte, schüttelte
Mama den Kopf. »Danke, Herr!«, rief sie aus.
Neben Mama stand der nasse und schmutzige
Lutfisk. Er blickte zu Kate auf, wedelte mit dem
Schwanz und bellte. Als er ein zweites Mal bellte, fiel
es ihr wieder ein.
»Das hat mich aufgeweckt! Lutfisk hat gebellt!
Wie ist er aus der Küche rausgekommen?«
Kate lief zurück zum Haus. Jetzt sah sie, was ihr
zuvor entgangen war. Am Fenster neben der Tür
war das Fliegengitter abgerissen.
»Glaubst du, Lutfisk ist da durchgesprungen?«,
fragte Kate, als sie zu Mama zurückkam.
Mama lächelte. »Lutfisk hat es wiedergut gemacht,
dass er den Bär nicht gestellt hat. Diesmal hat er uns
gewarnt.«
Als Kate über die gepflügte Erde zur Scheune
ging, glühten die großen Baumstämme noch immer
– trotz des Regens. In der Nähe der verkohlten
153
Wände standen Papa, Anders und Erik. Als Anders
Kate kommen sah, hörte er auf zu reden.
Während langsam der Morgen graute, sagte er
schnell noch etwas zu den anderen. Papa und Erik
waren ganz still, als sie sich Kate zuwandten.
Kates Sorge verwandelte sich in Angst. »Wo ist
Windsong?«, wollte sie wissen. Die ganze Nacht
über hatte sie ihre Stute nicht gesehen.
Papa überbrachte Kate schließlich die schlechte
Nachricht. »Ich weiß nicht, was mit ihr ist«, sagte er.
»Ich habe Ben und John gefragt, weil sie mir mit den
Pferden geholfen haben.«
In Papas Augen war abzulesen, dass er sich um
Kate sorgte. »Als ich sah, dass Windsong nicht draußen
war, bin ich wieder rein, um sie zu suchen. Ein
Stück Holz fiel herab und traf meinen Kopf.«
Im Licht des frühen Morgens sah Kate Papas
angesengte Haare. In diesem Augenblick erkannte
Kate, wie sehr sie ihren Stiefvater liebte. Trotzdem
wollte sie nicht hören, was er sagte.
»Ich musste wieder raus.« Papas Stimme versagte.
»Ich hatte keine andere Wahl.«
Er streckte seinen Arm aus und legte ihn Kate um
die Schultern. »Es tut mir leid, Kate. Es tut mir wirklich
leid. Aber ich glaube, Windsong ist tot.«
»Das ist nicht wahr!«, schrie Kate und schüttelte
Papas Arm ab. »Windsong ist geflüchtet!«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte Anders, so
als wollte auch er daran glauben, dass die Stute in
Sicherheit war.
154
»Sie hat ihr Seil schon mal losgemacht. Jetzt hat
sie es wieder getan.«
»Wie hattest du sie denn festgebunden?«, fragte
ihr Bruder sie.
Kate biss sich auf die Lippen. Obwohl sie der Wahrheit
nicht ins Gesicht sehen wollte, erinnerte sie sich.
»So, wie du es mir beim zweiten Mal gezeigt hast.«
Vor Schmerz sprach Kate ganz leise. »So, wie du sagtest,
dass kein Pferd auf der Welt sich befreien kann.«
Anders seufzte. Doch als er Papa ansah, wusste
Kate, dass da noch etwas war.
»Was ist es?«, fragte Kate. »Was wisst ihr, was ich
nicht weiß?“
»Selbst wenn Windsong rausgekommen ist, wäre
sie nicht draußen geblieben«, meinte ihr Bruder.
Kate starrte ihn an. »Sie wäre nicht vom Feuer
weggeblieben? Sie wäre in die brennende Scheune
zurückgelaufen?«
Anders nickte. »Selbst wenn die Scheune eingestürzt
wäre, hätte Windsong versucht, ihre Box zu
finden.«
Kate war schockiert. »Aber warum?« Sie hatte
gesehen, wie Anders und Opa mit den Kühen und
Schweinen zu kämpfen hatten. Ihr waren die Säcke
über den Köpfen der Pferde aufgefallen. Dennoch
hätte sie nicht zu träumen gewagt, dass das alles auch
irgendetwas mit Windsong zu tun haben könnte.
»Warum?«, fragte Kate wieder. »Warum gehen
verängstigte Tiere zurück in die Scheune?«
»Das ist ihr Zuhause«, sagte Anders. »Es ist der
Ort, mit dem sie am vertrautesten sind.«
155
»Oh, Anders, deine Witze machen mich krank!
Wie kannst du nur deine Späße damit machen, dass
Windsong tot ist?«
»Ich ziehe dich nicht auf, Kate«, sagte er ruhig.
Kate drehte sich zu Erik um. »Anders lügt mich
an, nicht wahr?«
Als Erik den Kopf schüttelte, fragte Kate noch einmal:
»Erik?« Kate hatte den Eindruck, als würde sie
um Windsongs Leben bitten. »Sagt Anders wirklich
die Wahrheit?«
»Ich fürchte, ja«, meinte Erik, und Kate hörte den
Schmerz in seiner Stimme. »Es tut mir leid, Kate,
aber Anders hat recht.«
»Nein!«, schrie Kate. »Du hast unrecht! Ihr beide
habt unrecht!«
Sie wandte sich an ihren Stiefvater. »Papa, sag
mir, dass sie nicht recht haben.«
»Es tut mir leid, Kate«, sagte Papa. »Aber es
stimmt, was die Jungs sagen.«
Kate musste schwer schlucken. »Selbst wenn Wind -
song es geschafft hätte, sich loszumachen und das
Gatter zu öffnen, wäre sie wieder zurückgegangen?«
Papa nickte. »Ich fürchte, ja.«
Auf einmal fühlte Kate sich wie ein Stein, der in
einen tiefen Brunnen fiel. Die ganze Zeit über, als sie
gegen das Feuer ankämpfte, hatte sie versucht, ihre
Sorgen zu ignorieren. Ein tiefes Schluchzen erschütterte
ihr Herz, und sie floh zurück ins Haus.
Einen Gedanken konnte sie nun nicht länger verdrängen.
Ich habe die Kerosin­Laterne vergessen. Ich
habe sie in der Scheune zurückgelassen!
156
Was ist schlimmer?
S
chnell verbreitete sich die Nachricht von der
abgebrannten Scheune von Farm zu Farm. Den
ganzen Tag über kamen Leute, um Papa zu helfen.
Ein Mann brachte eine Ladung Heu. Ein anderer
kam mit Stacheldraht, um einen Bereich für die Tiere
einzuzäunen. Ein Dritter hatte ein übriges Pferdegeschirr
dabei. Und alle brachten Essen mit.
Ein Nachbar nach dem anderen suchte Kate auf.
»Tut mir leid wegen deinem Pferd«, sagten sie alle.
»Mir auch.« Kate fiel das Sprechen schwer. Jedes
Mal, wenn sie sich die Holzskelette und die eingestürzten
Scheunenwände anschaute, wollte sie es
hinausschreien: »Es ist meine Schuld! Es ist meine
Schuld!« Sie fühlte sich, als würde eine riesige Faust
ihr Herz zusammenschnüren.
Gegen Nachmittag konnte Kate ihre Gedanken
nicht länger ertragen. Sie flüchtete in die Wälder und
begab sich auf den Weg zu Bens Haus. Ohne Windsong
schien es ewig zu dauern.
Als Kate sich ans Ufer setzte und über den Bach
blickte, verwischten Tränen ihre Sicht. Durch den
nächtlichen Regen war der Wasserstand jetzt höher,
was sie aber kaum wahrnahm. Ich habe die Scheune
niedergebrannt. Ich habe mein eigenes Pferd getötet!
Dort am Bach dachte sie zurück an den Tag, an
dem sie Windsong und Breeza gekauft hatte. Ich
wollte meiner Familie helfen. Ich wollte, dass Erik mich
für etwas Besonderes hält.
157
Aber jetzt hatte sich alles in einen Albtraum verwandelt.
Wenn Papa herausfindet, was ich getan habe,
wird er mich hassen. Wenn Erik es erfährt, wird er mich
nie wieder sehen wollen. Und Anders! Anders würde es
mir ewig anhängen. Für den Rest meines Lebens würde
ich von ihm hören, dass ich die Scheune angezündet
habe!
Alles lief auf einen Gedanken hinaus: Es ist meine
Schuld!
Von Sorgen gequält, fing Kate wieder an zu weinen.
Seufzer erschütterten ihren Körper, und sie
weinte, bis sie nicht mehr konnte.
Nach einem langen, tiefen Atemzug hörte Kate
schließlich ein Geräusch hinter sich. Sie drehte sich
um und erkannte Erik, der in der Nähe stand.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er, als
er sich neben sie setzte.
Auf einmal wurde Kate verlegen und schob das
Haar beiseite, das ihr ins Gesicht gefallen war. »Ich
bin ganz unordentlich!«
Erik grinste. »Nein, das bist du nicht. Du siehst so
hübsch aus wie immer.«
Kates Herz machte einen Freudensprung, aber sie
konnte ihm nur schwer glauben. »Mit roten Augen?
Und fleckiger Haut?«
Kate griff in ihre Tasche, nahm ein Taschentuch
heraus und putzte sich die Nase. Obwohl sie schrecklich
aussah, freute sie sich, dass Erik da war.
Eine Zeit lang saß er schweigend da, und Kate
war dankbar für die Stille. »Danke, Erik«, sagte sie
schließlich.
158
»Wofür?« Wieder lächelte er, aber seinen Augen
war abzulesen, dass er mit ihr mitfühlte.
»Danke, dass du dich sorgst«, sagte Kate. »Dass
du dich um Windsong sorgst.« Als sie den Namen
aussprach, schien ihr der Tod der Stute wieder ganz
real.
Der Schmerz schnürte Kate die Kehle zu. »Es
fällt mir schwer, nach vorne zu schauen«, sagte sie
schließlich. »Bis wir über ihren Verkauf sprachen,
glaubte ich, sie würde für immer mir gehören. Ich
dachte, über die Jahre würden wir uns immer besser
kennenlernen und …« Kate konnte nicht weitersprechen.
»Beste Freunde werden?«, fragte Erik.
Kate nickte. »Und jetzt sind meine Träume zerstört.«
»Alle?«, wollte Erik wissen.
Die Frage überraschte Kate. »Nein, nicht alle«,
sagte sie langsam. »Ich möchte noch immer eine
große Organistin werden. Ich möchte Musiklehrerin
werden. Und anderen Menschen helfen, die Musik
ebenso zu lieben wie ich.«
»Du hast große Träume.« Erik wartete.
»Und ich möchte …« Kate verschlug es den Atem.
»Wenn ich einmal erwachsen bin, möchte ich einen
ganz besonderen Mann heiraten. Ich möchte ein
Zuhause haben wie Mama und Papa.« Schon allein
diese Worte machten Kate Angst.
Aber Erik schaute sie weiter fest an. »Kate, ich
möchte genau das Gleiche.«
So als würde auch er große Träume haben, blickte
159
Erik auf den Bach. Im nächsten Augenblick schaute
er ihr wieder in die Augen.
»Kate, ich möchte genau das, was auch du willst.
Wenn ich alt genug bin, möchte ich eine Christin heiraten
…« Erik hielt inne. »Ein Mädchen so wie dich.«
»Wie mich?« Kate brachte die Worte kaum heraus.
Dann erinnerte sie sich. Oh, nein, nicht wie ich!
Wenn Erik herausfindet, dass ich die Scheune abgebrannt
habe …
Kate sprang auf. Sie wirbelte herum und rannte
los.
»Kate! Bleib stehen!«, rief Erik ihr hinterher.
Hinter sich hörte Kate seine langen Schritte. Als
sie den Weg durch die Wälder erreichte, hatte er sie
eingeholt.
»Bleib doch stehen!«, rief er noch einmal. »Habe
ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein!«, meinte Kate. »Nein, nein, nein!«
»Was ist es dann?« Erik nahm ihre Hand, aber
Kate machte sich los und stolperte weiter.
Wenn ich Erik erzähle, was ich getan habe, wird er
mich nie wieder mögen.
Als die Sonne an diesem Abend unterging, hatte
Kate den Eindruck, dass es der längste Tag ihres
Lebens war. Ich habe versprochen, Ben zu helfen, aber ich
habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Wie kann
ich Dugan davon abhalten, Jennys und Bens Hochzeit zu
zerstören? Ich kann mir ja nicht einmal selbst helfen!
Kate kroch leise ins Bett, das sie sich mit Tina
teilte.
160
Sie freute sich über das weiche Bett und die leichte
Decke, die sie sich über die Schultern zog. Außerdem
war sie dankbar, dass sie sich in der Dunkelheit verstecken
konnte. Sie war so erschöpft, dass sie sich
kaum noch bewegen konnte, und schlief sofort ein.
Irgendwann in der Nacht wachte sie auf. Zuerst
schien das Feuer in der Scheune wie ein Albtraum.
Dann fing Kate an zu zittern. Sie hörte, wie die
Schweine quiekten, so als würde es gerade erst passieren.
Kate musste daran denken, wie das Dach einstürzte
und die Pferde aus der Scheune gebracht
wurden.
Kates Arme bewegten sich unruhig. Wieder
reichte sie Eimer weiter. Aber jetzt gingen Schmerz
und Angst viel tiefer.
Wo ist Windsong?, fragte sich Kate immer und
immer wieder. Ist sie wirklich tot? Kate weigerte sich,
das zu glauben.
Erneut hielt sie sich ihre furchtbare Schuld vor
Augen. Ich habe die Scheune angezündet.
Mit der Erinnerung wurde der Schmerz größer.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Ich kann es niemandem
erzählen. Meine Familie wird mich hassen. Erik
wird mich nie wieder mögen. Ich kann mich nicht mal
selbst leiden!
Lange Zeit lag Kate nur da und starrte an die
Decke, die sie nicht sehen konnte. Allmählich nahm
die Dunkelheit der Nacht ab, und Licht schlich sich
in ihr Zimmer.
Durch die offenen Fenster hörte Kate, wie sich die
Küchentür öffnete und schloss. Um Tina nicht aufzu
161
wecken, schlüpfte Kate vorsichtig aus dem Bett und
lehnte sich aus dem Fenster.
Es war Papa, der das Haus verließ. Er hatte die
große Familienbibel bei sich. Kate sah, wie er den
Weg zur Schule am Spirit Lake einschlug. Wo wollte
er nur hin?
Schnell zog sich Kate ihr Kleid an und schlich aus
dem Zimmer. Sie vermied die Bretter, die quietschten,
und huschte leise die Treppe hinunter. Als sie
erst einmal im Freien war, begann sie auf dem Gras
neben dem Weg zu laufen, damit Papa sie nicht
hörte. Warum nahm er seine Bibel mit?
Kurz darauf sah Kate Papa vor sich. Sie folgte ihm
mit genügend Abstand, ohne ihn aus den Augen zu
verlieren.
Hinter der Quelle verlief der Weg durch die Wälder
in der Nähe des Rice Lake. Bald schon schlug
Papa einen Fußweg ein, der einen steilen Hügel hinaufführte.
Vom höchsten Punkt aus konnte man den
See überblicken.
Als Papa hinter der Anhöhe verschwand, ging
Kate schneller und kletterte die Rückseite des Hügels
hoch. Oben angekommen, stellte sie fest, dass sie
direkt hinter Papa war. Er saß auf dem Stumpf eines
gefällten Baums und hatte seine aufgeschlagene
Bibel auf den Knien.
Morgennebel stieg von der ruhigen Oberfläche
des Sees auf. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten
alles in ein weiches Licht. Dann fing Papa an, die Seiten
seiner großen Bibel umzublättern. Suchte er nach
Gottes Hilfe?
162
Beim Lesen neigte ihr Stiefvater seinen Kopf
über die Seiten. Seine Schultern waren zusammengesunken,
so wie seit dem Feuer.
Ich habe ein Pferd verloren. Kate schluckte den
Schmerz hinunter. Aber Papa hat die Scheune ver loren –
den Unterstand, den er für die Tiere braucht. Für das
Heu, das er zum Füttern der Kühe und Pferde be nötigt.
Und irgendwie muss er auch für unser Essen sorgen.
Dann hob Papa den Kopf und machte seine Schultern
gerade. Kate konnte fast hören, wie er vor Erleichterung
seufzte. Was auch immer geschehen war –
Kate wusste, dass es ihrem Stiefvater wieder gut ging.
Plötzlich drehte er sich um und sah sie. Aus
Scham, ertappt worden zu sein, fuhr Kate zusammen.
Aber Papa sagte nur: »Komm zu mir, Kate«, so
als wäre er gar nicht überrascht. »Ich möchte dir was
zeigen.«
Langsam kam Kate näher und setzte sich neben
Papa auf den Baumstumpf. Von dort aus fiel der
Hügel geradewegs nach unten ab zum Rice Lake.
Einige Augenblicke war Papa ganz still. Kate wartete
und fragte sich, ob er ihr die ruhige Wasseroberfläche
zeigen wollte.
Stattdessen sah er seine große Bibel an. »Ich habe
einen besonderen Vers in Psalm 103, Vers 11 ge -
funden: ›Denn so hoch die Himmel über der Erde
sind, ist gewaltig seine Güte über denen, die ihn
fürchten.‹«
»Ihn fürchten?«, fragte Kate. Es war leicht, Gott zu
fürchten, nachdem die Scheune abgebrannt war. »Er
ist freundlich zu denen, die Angst vor ihm haben?«
163
Papa schüttelte den Kopf. »Gemeint sind die Menschen,
die ihn lieben und ehren.«
Kate liebte und ehrte Gott. Aber in Gedanken
schrie sie auf: Wie kann er mich nur so lieben, wie ich
bin? Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden!
Kates Lippen zitterten. Sie presste sie aufeinander
und versuchte nicht zu weinen. »Das ist Gottes Liebe
für andere Menschen«, sagte sie, als sie wieder sprechen
konnte. »Aber nicht für mich.«
»Wegen Windsong?«, fragte Papa. »Weil sie
gestorben ist?«
Kate wusste, dass das ein Grund war, aber da war
noch mehr. Es war meine Schuld!, wollte sie zu Papa
sagen. Ich habe die Scheune abgebrannt! Ich habe mein
eigenes Pferd getötet!
Aber sie brachte es nicht heraus. So wie ein Messer,
das sie innerlich zerschnitt, wurde ihre Scham
größer.
»Ich denke noch immer, dass ich Windsong
irgend wie hätte finden können«, sagte Papa und
blickte über den See. »Aber als das Holz herab -
fiel …«
»Ich weiß, Papa. Ich bin froh, dass du dich nicht
schlimm verletzt hast.«
»Ich konnte nicht bleiben. Ich wäre umgekommen.«
»Ich weiß«, sagte Kate noch einmal. »Danke, dass
du es versucht hast.«
Trotz ihres großen Schmerzes wusste Kate, dass
Papa alles getan hatte, was er konnte.
»Ich habe dir viel Freude an Windsong ge -
164
wünscht«, fuhr Papa fort. »Ich wollte, dass sie ein
besonderer Teil deines Lebens wird.«
»Das ist sie, Papa, das ist sie«, meinte Kate leise. In
diesem Augenblick wusste sie es. Tief in ihr sträubte
sie sich immer noch zu glauben, dass Windsong tot
war. Bis jetzt hatte Kate noch nie ein Tier für sich
gehabt. Wie konnte Windsong da tot sein?
Papa sah sie an und sagte ruhig: »Du hast noch
Breeza, Kate.«
»Aber das ist nicht das Gleiche.« Sie schaute weg.
»Ich weiß.«
»Wirklich?«, fragte Kate.
Papa nickte. »Ich habe mein erstes Pferd auch verloren.«
Kate war nun hellwach. Sie richtete sich auf, und
Papa redete weiter.
»Wir hatten einen Teich auf unserer Weide. Sie
brach im Eis ein. Niemand war in der Nähe, und sie
konnte nicht herauskommen.«
Kate konnte gut nachfühlen, wie schrecklich das
war. Sie starrte ihn an. »Hast du Gott gehasst?«
»Zuerst ja. Schließlich habe ich verstanden, dass
er mir nichts Böses wollte. Manchmal passieren solche
Dinge, das gehört zum Leben.«
»Aber Gott hätte es verhindern können.«
»Ja«, sagte Papa. »Das hätte er. Aber ich lernte
etwas daraus.«
Kate hatte Angst davor, etwas zu sagen, und wartete.
»Ich habe gelernt, dass Gott mich liebt, ganz
gleich, was mir widerfährt.«
165
Papa wartete, bis Kate ihn wieder ansah. Als sie
die Freundlichkeit in seinem Gesicht sah, zitterten
ihre Lippen wieder.
»Vielleicht bist du jetzt an der Reihe, das herauszufinden«,
sagte Papa sanft.
Kate schüttelte den Kopf, aber Papa redete weiter.
»Siehst du die Erde?«, fragte er. »Den Horizont
auf der anderen Seite des Sees?«
Kate saß hoch über dem Wasser und schaute über
den Rice Lake zu den Hügeln in der Ferne.
»Schau jetzt mal zum Himmel hoch«, sagte Papa
zu ihr.
Kates Blick wanderte hinauf zum blauesten Himmel,
den sie je gesehen hatte. »Der ganze Raum zwischen
der Erde und dem Himmel?« Auch das war
für Kate schwer zu glauben. »Gott liebt mich wirklich
so sehr?«
Papa nickte. »Und er liebt dich so, wie du bist.«
»Oh, nein«, meinte Kate. »Gott kann mich unmöglich
so lieben, wie ich bin.«
Wieder sehnte sie sich danach, Papa von der
Scheune zu erzählen. Es ist meine Schuld, dass Windsong
weg ist! Nicht deine.
Stattdessen verdrängte Kate den Gedanken. Wenn
Papa die Wahrheit erfährt, wird er mich nie wieder lieben.
Papa wartete noch einen Augenblick. Dann stand
er auf.
»Papa?«, fragte Kate, als sie sich auf den Rückweg
zum Farmhaus begaben. »Was ist, wenn die Dinge
nicht gut laufen? Glaubst du wirklich, dass Gott dich
liebt, obwohl deine Scheune abgebrannt ist?«
166
»Ich habe beschlossen zu glauben, dass Gott
mich liebt«, sagte er ruhig. »Ich glaube, dass
Gott mich liebt, weil die Bibel es sagt. Das be deutet:
Ich glaube, dass er mich liebt, ganz egal, wie ich mich
fühle – trotz der schlechten Dinge, die mir widerfahren.«
Papa blieb mitten auf dem Weg stehen. »Aber es
gibt Schlimmeres als meine abgebrannte Scheune.«
Diesmal wusste Kate, wovon er sprach. Schlimmer
ist es, derjenige zu sein, der für das Feuer verantwortlich
ist!
167
Neue Hinweise
A
ls Papa weiterging, kämpfte Kate mit sich
selbst. Ich kann es wie Papa machen, dachte sie.
Obwohl alles schiefgelaufen ist, kann ich mich dafür entscheiden,
zu glauben, dass Gott mich liebt.
Aber Furcht überkam Kate – Furcht davor, was
Papa denken könnte.
Jetzt hielt ihr Stiefvater seine Schultern aufrecht
beim Gehen. Während Kate ihn beobachtete, kam ihr
in den Sinn: Ich werde nie glauben, dass Gott mich liebt,
solange ich Papa nicht erzähle, was ich getan habe.
Kate holte tief Atem. »Ich muss dir etwas sagen.«
»Scheint was Ernstes zu sein«, meinte Papa, »so,
wie die Dinge stehen.«
»Ja, etwas Ernstes.« Als sie an der Quelle an kamen,
ließ Kate sich auf die kantigen Holzbalken fallen, die
das Wasser zurückhielten.
»Dann solltest du wohl besser anfangen«, sagte
Papa. Die Karre, mit der die Milchkannen gezogen
wurden, stand in der Nähe, und Papa setzte sich darauf.
Obwohl Kate sich wirklich bemühte, ruhig zu
bleiben, schossen ihr Tränen in die Augen. »Wenn du
hörst, was ich getan habe, willst du mich bestimmt
nicht mehr in deinem Haus haben!«
»Natürlich will ich, dass du bei uns bleibst. Das ist
dein Zuhause!«
»Aber du kennst das Schlimmste von mir noch
gar nicht.« Tränen liefen Kate die Wangen herunter.
168
»Ja?«, fragte Papa. »Dann erzähl mal, Kate.«
»Es ist nicht deine Schuld, dass Windsong tot ist.«
Kates Stimme war leise und voller Scham. »Ich habe
die Scheune in Brand gesetzt.«
Papa starrte sie an. »Warum glaubst du das?«
Nachdem sie einmal begonnen hatte, purzelten
die Worte nur so aus Kate heraus. Als sie fertig war,
sagte Papa erst einmal gar nichts.
So als würde er alles noch einmal durchdenken,
sah er auf den Rice Lake hinaus. Sein Blick folgte
einem Adler, der über dem entfernten Ufer kreiste.
Dann schaute er schließlich wieder Kate an.
»Als ich deiner Mama begegnete, gehörtest du
dazu«, sagte er. »Ich wusste das, bevor ich deine
Mutter bat, mich zu heiraten. Ich wollte dich zu meiner
besonderen Tochter. Ich habe dich lieben gelernt,
Kate – sehr sogar.«
Papa hielt inne, so als wollte er sichergehen, dass
sie ihn verstand. »Diese Liebe hört nicht auf, wenn
du etwas Falsches machst.«
»Nicht?« Kate fühlte sich schwach, als sie das
hörte. »Nicht jeder Vater würde so fühlen.«
»Nein«, meinte Papa. »Nicht jeder Vater. Aber ich
fühle so. Kannst du mir das glauben?«
Noch vor einer Stunde hätte Kate seinen Worten
keinen Glauben geschenkt. Jetzt aber erkannte sie
etwas. »Deine Liebe ist wie die Liebe Gottes«, sagte
sie leise.
»Nicht ganz so groß!« Papas Grinsen erinnerte
Kate an Anders, aber ihr Kichern wurde von Tränen
abgelöst.
169
Papa stand auf. »Ich will dir etwas zeigen. Aber
versprich mir vorher, dass du mir glaubst, dass ich
dich liebe – ganz gleich, was du tust?«
Langsam nickte Kate.
Wieder grinste Papa. »Aber du darfst das nicht
auf die Probe stellen, indem du alle möglichen falschen
Dinge tust!«
Papa brach auf, und Kate folgte ihm. Auf halber
Strecke zum Farmhaus trafen sie Anders.
»Kate meint, sie hätte die Scheune angezündet«,
erzählte Papa ihm.
»Das glaubst du?«, fragte Anders Kate.
Aus Angst vor seiner Reaktion erzählte Kate ihm,
was geschehen war.
»Aber das Feuer fing am anderen Ende der
Scheu ne an«, wandte Anders ein. »Papa meinte, es
war Brandstiftung.«
»Brandstiftung?«, fragte Kate und konnte gar nicht
glauben, dass es nicht ihre Schuld gewesen sein soll.
»Komm mit«, sagte Anders. »Ich zeige es dir.«
Anders führte Kate zum östlichen Ende der
Scheune, dem Ende, an dem Kate das Feuer zuerst
gesehen hatte. Nur ein paar verkohlte Baumstämme
waren übrig geblieben. Alles andere war eingestürzt.
»Erinnerst du dich, wie das aussah, als wir rauskamen?«,
fragte Anders. »Die Stämme brannten
viel zu schnell ab. Jemand hat Petroleum dagegengeschüttet.«
»Ich habe Petroleum auf dem Boden gefunden«,
erklärte Papa. »Als wir uns umsahen, fand Anders
einen leeren Petroleumkanister.«
170
Am westlichen Ende der Scheune – dort, wo die
Pferde standen –, zeigte Anders Kate, was Papa von
Anfang an wusste.
In der Mitte stand noch immer der lange Balken.
Auch die beiden Balken an der Seite waren noch
an ihrem Platz und stützten die verkohlten Wände.
Aber am anderen Ende waren alle drei Balken eingestürzt.
»Wenn das Feuer hier angefangen hätte, würde
das alles nicht mehr stehen«, sagte Anders, während
er auf den langen Mittelbalken zeigte. An diesem
Balken hing an einem Nagel eine geschwärzte Kerosin-
Laterne.
Kate sah die Laterne an, dann Anders. Kurz zuvor
waren er und Papa noch gegen den Hengst gewesen,
den Kate haben wollte. Jetzt waren sie sich schon
wieder einig. Doch diesmal ging es darum, Kate zu
sagen, dass sie keine Schuld hatte.
Kate hatte das Gefühl, als würde eine riesige Last
von ihr abfallen. »Danke«, flüsterte sie. Noch nie
hatte sie ihren Bruder mehr geschätzt.
Am Nachmittag gingen Papa, Anders und Opa mit
Schaufeln und Harken zur Scheune. Kate hielt sich
fern, da sie nicht sehen wollte, was sie taten.
Als sie die Ruinen abgesucht hatten, kamen sie
zu ihr. Schließlich sagte Papa: »Kate, es gibt kein
An zeichen dafür, dass Windsong in der Scheune
war.«
Kate fühlte sich erleichtert. »Du meinst …« Sie
musste es noch einmal hören.
171
»Windsong war nicht in der Scheune, als sie
abbrannte.«
»Ist sie wirklich nicht im Feuer umgekommen?
Ich kann es nicht glauben!« Am liebsten hätte Kate
auf dem Rasen ein Rad geschlagen oder wäre in die
Luft gesprungen. Stattdessen liefen ihr Tränen über
die Wangen.
Jetzt erkannte Kate, dass sie ein ganz anderes Problem
hatte. »Wenn Windsong nicht in der Scheune
war, wo ist sie dann jetzt?«
»Genau das wissen wir nicht«, antwortete Papa.
»Ich bezweifle, dass sie davongelaufen ist.«
Auch Kate hatte Zweifel daran. Nachdem Windsong
am Anfang einmal entwichen war, hatte Kate
den Riegel mit Draht abgesichert.
»Wir glauben, dass jemand sie gestohlen hat«,
sagte Anders zu Kate. »Vielleicht hat der Dieb das
Feuer gelegt, um seine Tat zu vertuschen. Vielleicht
hat er die Scheune aus Rache niedergebrannt.«
»War es also Dugan?«, fragte Kate.
»Das glauben wir«, sagte Papa.
Als Erik am Abend vorbeikam, erklärte Kate ihm,
dass sie die Laterne vergessen hatte.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, wollte
Erik wissen, als er von der Geschichte erfuhr. »Wofür
ist ein Freund da, wenn ich nicht helfen kann?«
Kate ließ den Kopf hängen.
Als die Familie darüber sprach, was sie tun sollte,
waren sie einer Meinung. Wenn sie Windsong fänden,
würde sie sie zu Dugan führen.
»Aber wie können wir Windsong finden?«, fragte
172
Kate. »In der Nacht, als das Feuer war, hat es viel
ge regnet. Ist nicht jede Pferdespur inzwischen verwischt?«
Sie fingen an, den Weg abzusuchen, der zur
Hauptstraße führte. Es waren so viele Wagen darüber
gefahren, dass sie unmöglich herausfinden
konnten, ob Windsong diesen Weg genommen hatte.
Anschließend teilten Kate, Anders, Lars und Erik das
Gelände der Farm unter sich auf, und jeder suchte in
einer anderen Richtung. Doch keiner von ihnen fand
einen Hinweis.
Am nächsten Morgen spannte Papa Dolly und
Florie an. Er und Opa verstauten ein Zelt, Essen
und Sensen hinten auf dem Farmwagen. Ein Mann
hatte Papa erlaubt, wildes Heu auf seinem Land südlich
von Grantsburg zu mähen. Erst würden sie das
Heu mähen und auf der Wiese lagern. Später, wenn
es getrocknet war, würden sie es dann nach Hause
bringen.
Bevor Papa sich auf den Weg machte, redete er
noch mit Anders.
»Eigentlich möchte ich euch nicht allein lassen,
aber ich habe keine andere Wahl«, sagte Papa. »Wir
brauchen unbedingt Heu für den Winter. Im Interesse
von Kate haltet weiter Ausschau nach Windsong.«
Dann wandte Papa sich an Kate. »Ich bin stolz auf
dich«, sagte er.
»Stolz auf mich?« Der Gedanke erschreckte Kate.
Es war genau das, was sie wollte – dass die Familie
stolz auf sie ist. Aber nach all dem, was geschehen
173
war? »Wie kannst du stolz auf mich sein? Ich hätte
deine Scheune abbrennen können!«
»Zwei Mal«, sagte Papa und schaute Kate direkt
in die Augen. »Zwei Mal hast du mir jetzt die Wahrheit
gesagt, auch wenn es sehr schwer war.«
Früh am nächsten Morgen wachte Kate auf, als es
noch dunkel war. Eine Zeit lang lag sie ruhig da und
dachte an Windsong. Was ist mit ihr passiert? Wo ist
sie jetzt?
Unzählige Male hatte Kate sich diese Fragen
gestellt. Doch jetzt beschäftigte sie eine noch größere
Frage: Liebt Gott mich wirklich?
Kate hatte keinen Zweifel mehr daran, dass Gottes
Liebe allen Menschen gilt. Kate wusste und
glaubte, dass Gott in seiner Liebe seinen Sohn auf
die Erde sandte und dass Jesus am Kreuz auch für
ihre Sünden gestorben war. Als sie ihm ihre Sünden
bekannte und ihr Herz öffnete, wurde sein Tod wirksam
und real für sie – ebenso wie Gottes Vergebung.
Aber das war etwas anderes. Liebt Gott mich immer
noch, auch wenn alles schiefgeht?, fragte Kate sich.
Als würde sie noch immer mit Papa am Rice Lake
sitzen, dachte Kate daran, wie sie von der Erde zum
Himmel aufgeblickt hatte. So hoch die Himmel über der
Erde sind …
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie viel Raum
zwischen der Erde und dem Himmel lag. So gewaltig
ist seine Güte über denen, die ihn fürchten.
Vielleicht ist Papas Liebe so ähnlich wie diese Liebe,
dachte Kate. Obwohl sie eine Laterne in der Scheune
174
vergessen hatte, liebte Papa sie noch. Aber was wäre,
wenn sie nicht einen Stiefvater wie ihn hätte? Würde
sie Gottes Liebe dann jemals verstehen?
Leise kroch Kate aus dem Bett. Auf Zehenspitzen
ging sie geräuschlos zum Fenster. Von ihrem Zimmer
aus blickte sie über den Rice Lake.
Als sie die ruhige Wasseroberfläche sah, dachte
Kate zurück an ihre Frage, die sie Papa gestellt hatte.
»Was ist, wenn die Dinge nicht gut laufen?«
»Dann glaube ich, dass Gott mich liebt, weil die
Bibel es sagt«, hatte Papa gemeint. »Das be deutet:
Ich glaube, dass er mich liebt, ganz egal, wie ich
mich fühle – trotz der schlechten Dinge, die mir
wider fahren.«
Vielleicht müssen wir alle lernen, so zu glauben,
beschloss Kate. Ob wir nun einen guten Vater haben
oder einen, der sich nicht um uns sorgt.
In dieser letzten Augustwoche waren die Tage
noch immer warm, aber die Nächte schon recht kühl.
Am frühen Morgen hing der Morgennebel über dem
Wasser.
Was wird der Tag bringen?, fragte sich Kate. Vielleicht
finde ich ja Windsong!
Dann machte sich Furcht in ihren Gedanken breit.
Vielleicht aber auch nicht!
Plötzlich war Kate sich einer Sache sicher. Ich muss
mich entscheiden. Glaube ich Gottes Zusage, dass er mich
wirklich liebt?
Als das Sonnenlicht stärker wurde, warf Kate
ihren Zopf über die Schulter. Mit weit geöffneten
Augen betete sie: »Du hast versprochen, dass du
175
mich liebst, Gott. Ganz egal, was mit Windsong passiert:
Ich will dir glauben, dass du mich wirklich
liebst!«
Später an diesem Morgen passte Mama Kate das
blaue Kleid an. Anschließend nahm Mama sorgfältig
Maß für den Saum.
»Seit deinem letzten Kleid bist du ganze zweieinhalb
Zentimeter gewachsen!«
»Stimmt das?«, fragte Kate überrascht. Immer
war es Anders, bei dem die Markierungen am Türpfosten
höher gesetzt werden mussten.
Kate und Mama waren noch immer in der Küche,
als Anders hereinstürmte. »Da ist ein Brief für dich,
Kate. Du schaust besser gleich mal nach.«
Kate sah sich den Poststempel an. Seltsam! Er war
so undeutlich, dass sie nicht sagen konnte, von wo
der Brief kam. Aber noch merkwürdiger war der
Umschlag. Er war aus dem teuersten Papier, das
Kate jemals gesehen hatte. Und es stand kein Ab -
sender darauf.
»Wer schickt mir so was?«
Im Umschlag steckte ein einzelnes Stück Papier,
das auf die Hälfte gefaltet war. Im Gegensatz zum
Umschlag war das Papier ein ganz normaler Briefbogen.
Als Kate die getippte Nachricht las, fingen ihre
Hände an zu zittern. »Ich hasse es! Ich hasse es!« Sie
schleuderte das Papier auf den Tisch.
Mama kam schnell zu ihr. »Was ist nicht in Ordnung,
Kate?«
176
»Es ist so schrecklich! Ich will es gar nicht mehr
anfassen!«
Als Anders die Worte laut vorlas, schienen sie
noch erschreckender.
W rtet nur.
Ich werde es euch llen heimz hlen.
»Der Buchstabe a fehlt«, sagte Anders.
Mama sah wütend aus. »Nur ein Feigling sendet
einen Brief ohne Unterschrift!«
»Ein Feigling!«, rief Kate aus. »Wer auch immer
diesen Brief geschrieben hat, hat sich schon gerächt!
Es muss der Mann sein, der die Scheune an gezündet
hat!«
»Und Bens Haus und Charlies Heuwagen«, fügte
Anders hinzu. »Es muss Dugan gewesen sein! Aber
wo steckt er?«
Allein der Gedanke an eine Person, die solch
furchtbare Dinge tut, jagte Kate Angst ein.
Normalerweise sah Mama stets unbesorgt aus,
aber jetzt blickte sie beunruhigt drein. »Ich wünschte,
Papa wäre hier«, sagte sie. Aber sie wussten, dass er
frühestens in zwei Tagen zurückkommen würde.
»Was für scheußliche Dinge wird Dugan als
Nächstes tun?«, fragte Kate. »Wird er es noch mal
versuchen, nachdem er schon drei Feuer gelegt
hat?«
Nicht einmal Mama hatte eine Idee, aber einer
Sache war Anders sich sicher. »Was auch immer
Dugan sich ausdenkt – es wird gefährlich sein.«
177
Kate sah ihn an. »Anders, du gibt mir kein gutes
Gefühl!«
»Ich glaube auch nicht, dass das gut wäre. Wir
sollten äußerst vorsichtig sein.«
»Du meinst …«
»Wer kann schon sagen, wozu ein kranker Verstand
noch alles imstande ist?«
Kate zitterte. Sie schaute sich die Nachricht noch
einmal an. Beim zweiten Lesen musste sie an etwas
denken. »Ich habe diese Schreibmaschinenschrift
schon mal gesehen.«
Kate sprang auf und lief aus dem Zimmer. Als sie
zurückkam, legte sie Bens Brief neben den anderen.
»Seht euch das an!«, sagte sie.
Liebe K te,
Ich h be große Schwierigkeiten. Wenn
Dug n gewinnt,
d nn h be ich keine rbeit, keine
Hochzeit, keine Jenny. Bitte
die F milie doch, für mich zu beten.
Ben
»Als ich Bens Brief las, dachte ich, er würde nicht alle
Worte richtig buchstabieren können«, sagte Kate.
»Aber es liegt an der Schreibmaschine. Der Buchstabe
a fehlt!«
»Ah-ha!«, rief Anders aus. »Beide Briefe wurden
auf derselben Schreibmaschine getippt! Wahrscheinlich
stammt sie vom Nevers Damm.«
178
»Lasst uns aufbrechen!«, meinte Kate. »Wenn
Dugan wieder dort ist, müssen wir Ben warnen!«
»Und der ganzen Sache ein Ende machen!«,
meinte Anders verärgert.
Als er mit Erik zurückkam, war Kate bereit aufzubrechen.
Erik schwang sich auf Breeza. Anders ritt
Wildfire ohne Sattel und half Kate dabei, hinter ihm
aufzuspringen.
»Seid vorsichtig«, sagte Mama zu ihnen, als sie
sich verabschiedeten. »Wenn dieser Mann auf Rache
aus ist, muss er voller Hass sein.«
179
Nevers Damm
W
ir müssen uns beeilen«, sagte Kate zu Erik, als
sie von der Farm ritten. »Wir müssen Dugan
finden, bevor er Ben noch weiteren Schaden zufügt.«
Als Kate und die Jungen die Straße nach Süden
Richtung Trade Lake nahmen, holte Lutfisk sie ein.
»Geh heim!«, befahl Anders.
Mit gesenktem Kopf schlich der Hund zurück.
Nicht weit entfernt setzte er sich schließlich hin. Mit
seinen traurigen braunen Augen starrte er Anders an
und wedelte mit dem Schwanz.
Anders rief ihm zu. »Du bist einsam, oder?«
Lutfisk neigte seinen Kopf zur Seite und jaulte.
»Du meinst, ich verbringe zu viel Zeit mit den
Pferden?«
So als hätte er es verstanden, jaulte Lutfisk noch
einmal.
»O.K.! Komm, Junge!«, befahl Anders. »Ich habe
dich nicht vergessen!«
Wie ein Kind, das aus der Schule stürmt, sprang
Lutfisk auf und raste zu Anders. Als sich die Pferde
wieder auf den Weg machten, ging oder lief der
Hund neben Wildfire her.
»Papa meint, Dugan könnte es auf jeden ab -
gesehen haben, der das Richtige tut«, sagte Kate den
Jungen.
»Wenn dieser Mann verrückt genug ist, Gebäude
anzuzünden, dann gibt es nichts, was er nicht versuchen
würde«, meinte Anders.
180
Erik streckte seine Hand aus und tätschelte den
Hals von Breeza. Inzwischen sah sein kastanienbraunes
Fell glatt aus, seine flachsfarbene Mähne
und sein Schweif wirkten gut gepflegt. »Warum hat
Dugan Breeza nicht mitgenommen?«
»Ich schätze, das hatte er auch noch vor.« Anders,
der direkt vor Kate saß, zuckte mit den Achseln.
»Lutfisk ist durch das Fliegengitter gesprungen,
weil er wusste, dass etwas vor sich ging. Ich glaube,
dass Dugan das Feuer da schon gelegt hatte. Als Lutfisk
ihm auf den Fersen war, schnappte sich Dugan
Windsong und flüchtete.«
Anders war noch immer der Ansicht, dass Dugan
seine Pferde verkaufte und sie anschließend wieder
stahl, um sie erneut zu verkaufen.
Kate ballte die Fäuste bei dem Gedanken an einen
Mann, der drei Feuer gelegt hatte. »Ich will Dugan
finden«, sagte sie. »Aber ich fürchte mich davor, ihn
wiederzusehen.«
»Ich möchte ihm nicht in einer dunklen Nacht
begegnen«, meinte Erik.
Kate seufzte. »Aber vielleicht müssen wir das!«
Anders drehte sich um und grinste Kate an. »Sei
vorsichtig, meine kleine Schwester«, warnte er sie
mit tiefer und geheimnisvoller Stimme. »Wo du
auch hingehst, Dugan wird dir folgen. Auf seinen
kleinen Katzenpfoten wird er sich geräuschlos an
dich anschleichen.«
»Hör auf, Anders!«, rief Kate aus.
»An dich wird er sich heranschleichen!«
Kate schlug ihm auf den Rücken. Sie hatte auch
181
schon daran gedacht. Anders musste ihr das nicht
noch ausmalen. Vielmehr wünschte Kate sich, sie
könnte Mamas Worte vergessen. Wenn dieser Mann
auf Rache aus ist, muss er voller Hass sein.
Die achtzehn Meilen zum Nevers Damm schienen
ewig zu dauern. Als Anders und Erik die Pferde
in Cushing anhielten, legte sich Lutfisk neben ihnen
hin, um sich auszuruhen.
Am späten Nachmittag kamen Kate und die
Jun gen durch das Dorf Wolf Creek. Als sie die un -
befestigte Straße Richtung Süden einschlugen,
konnte Kate den Fluss sehen. Von einem Ufer zum
anderen war er voll mit Baumstämmen. Kate dachte
daran, was Ben ihr dazu gesagt hatte.
Den ganzen August über durfte der Damm nicht
geöffnet werden. In diesem Monat benutzten Dampfschiffe
bei Taylors Falls und weiter flussabwärts
den St. Croix, um Passagiere und Vorräte zu be -
fördern.
»Wenn der Damm geschlossen ist, staut sich
der Fluss für zwölf bis vierzehn Meilen«, erzählte
Anders Kate. »Aus den Holzfällerlagern werden
Baumstämme ins Wasser gerollt. Wenn die Sägewerke
in Stillwater mehr Stämme benötigen, melden
sie sich beim Nevers Damm. Dann lässt ein Pförtner
die Stämme durch.«
»Was ist mit den Schiffen flussabwärts?«, er -
kundigte sich Kate. »Was ist, wenn jemand den
Damm zur falschen Zeit öffnet?«
»Das macht niemand«, sagte Anders. »Das würde
den Damm in Verruf bringen.«
182
»Aber was ist, wenn es doch jemand tut? All diese
Baumstämme würden mit den Schiffen zusammenstoßen.«
»Mach dir keine Sorgen«, meinte Anders zu ihr.
»Die Männer vom Nevers Damm warnen die Kapitäne
auf den Dampfschiffen. Sie haben dann noch
genügend Zeit, um zu verschwinden.«
Dennoch musste Kate an die Gefahr denken. Sie
wollte schon immer mal auf einem Schaufelraddampfer
fahren. Allerdings wäre sie nicht gern an
Bord, wenn ein ganzer Schwall großer Stämme auf
sie zukäme. Sie könnten den Rumpf eines Schiffs
problemlos durchbrechen.
Eine Ansammlung von Häusern verriet ihnen,
dass sie am Nevers Damm angekommen waren.
Ein wenig vom steilen Flussufer entfernt befand
sich ein Gebäude, das wie eine Arbeiterbaracke aussah,
ein anderes sah wie ein Küchentrakt aus. Auch
Ställe waren in der Nähe, ebenso ein langer Schuppen
und ein Farmhaus.
Ben war allein im Büro und schrieb Zahlen in ein
großes Buch. Als sie hereinkamen, sprang er auf.
»Ihr kommt gerade rechtzeitig!«
Als Kate ihn fragte, wie es ihm geht, hatte Ben
gute Neuigkeiten für sie. »Heute sagte Herr Frawley
zu mir: ›Ben, wenn alles gut läuft, werde ich dich für
die Büroarbeit ausbilden lassen.‹«
Ben schüttelte den Kopf. »Aber wenn noch was
schiefgeht …« Ein besorgter Blick war in seinen
Augen abzulesen. »Wenn ich irgendetwas tue, was
den guten Namen vom Nevers Damm beschädigt …«
183
»Wirst du dann gefeuert?«, fragte Anders.
»Keine Arbeit, keine Hochzeit, keine Jenny.«
Als Kate von dem Drohbrief berichtete, den sie
erhalten hatten, wurde Bens Gesicht rot vor Zorn.
»Wir glauben, Dugan treibt sich hier irgendwo
herum«, sagte Kate.
Sie zeigte ihm die Mitteilung, und Ben stimmte
ihr zu, dass sie auf der Schreibmaschine des Büros
getippt worden sein musste.
»Dugan muss sich nachts hereingeschlichen
haben«, meinte Ben. »Aber ich kann mir nicht er -
klären, wo er jetzt ist. Ich habe die Wälder abgesucht.
Die Straße im Auge behalten …«
Er unterbrach sich. »Morgen ist ein besonders
großer Zahltag. Außer den üblichen Arbeitern
werden wir die Männer auszahlen, die den Damm
re pariert haben. Wenn Dugan davon weiß, wird er in
der Nacht kommen und das Geld stehlen.«
»Schließt du das Büro ab?« Kate wusste, dass
viele Leute in der Gegend ihre Türen unverschlossen
ließen.
»Ja, sicher«, antwortete Ben. »Aber ich glaube,
Dugan hat einen eigenen Schlüssel. Deshalb sieht es
so aus, als hätte ich das Geld gestohlen. Nie gibt
es Spuren eines Einbruchs.«
»Ist Herr Frawley jetzt hier?«, fragte Erik.
»Ihr habt ihn gerade verpasst«, sagte Ben. »Vor
ein paar Jahren ist er nach St. Croix Falls gezogen, als
sein Sohn Russ in die Schule kam.«
Ben grinste. »Deshalb braucht er mich, um ein
Auge auf die Dinge zu werfen!«
184
Bens Grinsen verschwand. »Normalerweise
nimmt Herr Frawley ein Pferd für den Weg, aber
morgen wird er über den Fluss kommen. Er bringt
ein Zahnrad mit, das die Männer brauchen, um die
Reparaturen am Damm zu beenden.«
»Wäre es nicht einfacher, es mit einem Wagen
hierherzubringen?«, fragte Erik.
Doch Ben schüttelte den Kopf. »Nicht auf der
Straße, die hierhin führt. Zum Reiten ist sie ganz in
Ordnung. Aber um ein Zahnrad auf einem Wagen
hierher zu transportieren – nein, dafür ist der Zu -
stand dieser Straße zu schlecht.«
Er ging zur Tür. »Lasst uns essen gehen. Anschließend
warten wir hier im Dunkeln auf Dugan. Wenn
wir ihn dieses Mal nicht schnappen …« Eilig verließ
Ben das Büro.
Anders und die anderen verschwendeten keine
Zeit und folgten ihm. Der Koch machte ein gutes
Essen für die Männer, die am Damm arbeiteten, und
für die, die das Land in der Umgebung vom Nevers
Damm bebauten. Es war kein Problem, das Essen für
drei weitere Personen zu strecken.
Als sie alle mit dem Essen fertig waren, bot Ben
Kate und den Jungen an, ihnen den Damm zu zeigen.
Als sie aufbrachen, fiel Kate ein Gemälde neben
der Tür auf. Vor einem Dampfschiff stand ein Mädchen
mit tiefbraunen Augen. Ihr Lächeln sprang den
Betrachtern vom Bild entgegen.
Kate fühlte sich von ihr angezogen, so als wäre
das Mädchen jemand, den sie gerne kennenlernen
würde. »Wer ist sie?«, fragte Kate Ben.
185
»Libby? Herr Frawley sagt, sie war eine Kapitänstochter.
Mit ihrem Vater fuhr sie den Mississippi-
Fluss auf und ab. Als sie nach St. Paul kamen, malte
ein Wanderkünstler die Christina – das Dampfschiff,
das ihr auf dem Bild seht. Der Künstler
fragte, ob er auch Libby malen dürfte. Er brachte
das Gemälde hierher, um den Leuten seine Arbeit zu
zeigen.«
Anders schaute Kate über die Schulter. »Wer ist
der Junge? Er dürfte so alt sein wie ich.«
Ben grinste. »Herr Frawley sagte, sein Name sei
Caleb. Er lebte auch auf der Christina. Ein andermal
erzähle ich euch eine Geschichte über ihn.«
Kate sah sich die großen Schaufeln des Schiffs an.
»Wie mag es wohl sein, auf einem Dampfschiff zu
leben?«, fragte sie.
»Du bist auch immer neugierig«, sagte Anders zu
ihr. »Es war ein gefährliches Leben!«
»Viele Schwierigkeiten«, meinte Ben. »Alle möglichen
Arten von Baumstämmen warteten nur darauf,
Löcher in die Schiffswand zu reißen. Eis im
Frühling und Herbst …«
»Und hin und wieder kam ein zweifelhafter
Charakter an Bord.« Eriks Augen strahlten vergnügt.
»Du würdest es mögen, Kate.«
»Du würdest auch die Falschspieler und Diebe
mögen«, neckte Anders sie. »Immer würde etwas
Aufregendes passieren.«
»Aufregend, bestimmt!«, sagte Ben. »Diese alten
Dampfschiffe waren nicht die sichersten. Manchmal
explodierten sie!«
186
»Aber denkt nur!«, sagte Kate. »Denkt an all die
Orte, die Libby gesehen hat, all die Menschen, denen
sie begegnete.«
Erik grinste. »All die Abenteuer, die sie erlebte!
Und die Rätsel, die sie löste!«
Wieder wünschte Kate sich, sie hätte Libby ge -
kannt. Kate war sich sicher, dass sie sehr gute Freundinnen
geworden wären.
Draußen führte Ben sie zum Fluss. Eine befahrbare
Straße reichte den Hügel hinunter zu einem
großen Erd-Damm. Als der Nevers Damm in Sichtweite
kam, blieb Kate die Luft weg.
Ihre Überraschung erfreute Ben. »Gefällt er dir?«,
fragte er.
Obwohl er ihr die Größe des Damms beschrieben
hatte, war Kate noch nicht klar, wie lang 190 Meter
sein konnten.
»Es ist der größte Damm dieser Art auf der Welt«,
erzählte Ben ihr stolz.
Riesige Holzstämme waren in kistenähnliche
Behälter eingesetzt, die mit ganzen Wagenladungen
von Steinen angefüllt waren. Diese Pfeiler bildeten
die Basis und den Halt für die fünfzehn Schleusen,
die gehoben oder gesenkt wurden, um den Wasserfluss
zu kontrollieren.
Oben auf dem Damm verband eine befahrbare
Brücke Wisconsin mit Minnesota. Als Kate und die
Jungen Ben auf die Brücke folgten, gingen sie über
die Schleusentore des Damms. Auf der anderen
Flussseite kamen sie zu einem noch längeren Erd-
Damm, der ans Ufer von Minnesota führte.
187
Als sie zurück nach Wisconsin gingen, hielt Ben
auf dem Brückenabschnitt direkt über der größten
Schleuse an. Von dort hatte Kate eine gute Aussicht
auf den großen See, der durch den Damm gebildet
wurde. So weit flussaufwärts, wie sie sehen konnte,
trieben Baumstämme auf diesem See, die für den
Abtransport durch den Damm bereit waren.
»Was ist, wenn jemand hineinfällt?«, fragte Kate
Ben. »Bei all diesen Holzstämmen würde niemand
ihn finden.«
»Fall einfach nicht hinein«, sagte Ben nur.
Kate lehnte sich gegen das Geländer und schaute
nach unten. Nur wenig Wasser floss durch die
Schleuse. »Ist das die große ›Bärenfalle‹, von der du
mir erzählt hast?«, erkundigte sie sich.
Wieder sah Ben stolz aus. »Es ist die größte
Schleuse der Welt.« Er erklärte, wie sie funktionierte.
Die 24 Meter breite und 6 Meter hohe »Bärenfalle«
hieß offiziell »Lang-Schleuse« und war nach
Robert Lang benannt worden, dem Bauleiter, der
sie entworfen hatte. Wie ein umgekehrtes V hing sie
herab.
Im geöffneten Zustand lag die Schleuse flach auf
dem Flussbett und ließ jeden noch so langen Baumstamm
durch, sogar 10 Meter lange Stämme konnten
seitlich hindurchschwimmen. Geschlossen hielt
die Schleuse das Wasser zurück und bildete einen
See, der zwölf bis vierzehn Meilen flussaufwärts
reichte.
In der Nähe befanden sich die Zahnräder und langen
Kabel der »Bärenfalle«. Durch den Einsatz eines
188
Hebels oder Rades konnte nach Bens Worten selbst
ein Junge oder ein Mädchen die 24 Meter breite
Schleuse öffnen oder schließen.
»In zwei Tagen öffnen wir sie«, sagte Ben. »Dann
solltet ihr mal sehen, wie die Stämme hindurchstürzen!«
Den ganzen August über wurden Stämme
in dem seeähnlichen Bereich gesammelt und lagen
nun bereit, um zu den Sägewerken in Stillwater
geschickt zu werden.
Als die Sonne hinter die Bäume am Minnesota-
Ufer des St. Croix sank, war der Himmel in ein goldenes
Rot gehüllt. Kate spürte die Kühle, die vom
Wasser her hochkam. Sie zog sich ihren Pullover an.
Dann fiel ihr am Steilufer eine Lücke zwischen den
Bäumen auf.
»Von dort haben sie Gestein und Schotter genommen,
um die Erd-Dämme zu bauen«, erklärte Ben.
Mittlerweile war er jedoch unruhig geworden, und
Kate wurde klar, dass er wieder ins Büro zurückwollte.
Anders und Ben gingen vor, Kate und Erik
bummelten hinterher.
»Da ist etwas, was mich beschäftigt«, sagte Erik
zu Kate, als sie über dem Brückenabschnitt standen,
der über der »Bärenfalle« lag. »Warum hast du
mir nicht gesagt, dass du glaubtest, du hättest die
Scheune abgebrannt?«
Erschrocken schaute sie ihm in die Augen. »Ich
hatte Angst«, erwiderte sie. »Ich wusste, dass du
schon enttäuscht von mir warst.«
»Enttäuscht?«, fragte Erik. »Was meinst du?«
»An dem Tag in Charlies Stall.«
189
Erik hatte es schon längst vergessen. »Klar, ich
war enttäuscht«, gab er zu. »Aber wir alle sagen mal
Dinge, die wir besser nicht gesagt hätten. Glaubst du
etwa, ich bin perfekt?«
Kate fürchtete sich davor, etwas zu sagen, und
sah ihn nur an.
»Glaubst du das?«, fragte Erik.
»Na ja, fast.«
Erik grinste. »Aber nicht ganz. Was wäre, wenn
ich die Scheune abgebrannt hätte?«
»So was würdest du nicht tun!«
»Aber was, wenn doch? Was wäre, wenn ich sie
zufällig in Brand gesetzt hätte? Würdest du mir
dann sagen, dass du mich nicht mehr als Freund
haben willst?«
Das war nicht schwer zu beantworten. Kate schüttelte
den Kopf.
»Warum versuchst du nur, so perfekt zu sein?«,
fragte Erik sanft. »Ich vertraue dir, Kate. Sei so, wie
du bist.«
Kate schnürte es die Kehle zu. Unfähig, etwas
zu sagen, blickte sie zu ihm auf. Sie wünschte, sie
könnte Erik sagen, wie viel ihr seine Freundschaft
bedeutete.
Als sich ihre Blicke trafen, nahm Erik ihre Hand
und drückte sie.
»Komm«, sagte er. »Wir gehen besser zum Büro.
Wenn Ben Hilfe braucht, können wir ihn aus dieser
Entfernung nicht hören.«
»Du gehst vor«, meinte Kate. »Ich komme gleich
nach.«
190
Als Erik schon einige Meter entfernt war, drehte
er sich noch einmal um und winkte. Kate winkte
zurück und blickte ihm hinterher, bis Erik außer
Sichtweite war.
Mama hat recht, dachte Kate, als sie auf den
Fluss blickte. Das ist das Jahr, in dem ich erwachsen
werde. Manchmal bekam sie Angst, aber in diesem
Augenblick sprudelte Kate vor Träumen nur
so über. Für den Rest ihres Lebens würde Erik der
Mensch sein, an dem sie alle anderen Jungen messen
würde.
Am Westufer des Flusses hoben sich die Bäume
schwarz vor den Klippen ab. Kate stand noch einen
Augenblick länger dort und genoss die Schönheit
des rot-golden leuchtenden Himmels. Normalerweise
mochte sie solche aufregenden Abenteuer.
Aber heute war das anders. Sie wollte nicht in einem
stickigen Raum sitzen und auf Dugan warten. Sie
wollte über Erik nachdenken.
Dann kam Lutfisk vom Wisconsin-Ufer über den
Erd-Damm gelaufen. Als er bei Kate ankam, kniete
sie sich auf der Brücke hin und kraulte ihn hinter seinen
Ohren. »Guter Junge!«, sagte sie zu ihm. »Guter
Hund!«
Lutfisk wedelte mit dem Schwanz und jaulte
vor Freude. Plötzlich riss er sich los. Mit gespitzten
Ohren und angespanntem Körper folgte sein Blick
der Straße, die über den Damm führte.
»Was ist, Junge?«, fragte Kate. »Was hörst du?«
Im nächsten Augenblick rannte er los zur Minnesota-
Seite des Flusses. Kurz darauf blieb er stehen
191
und schaute zurück. Dann bellte er Kate an, so als
wollte er, dass sie ihm folgte.
Als Kate einen ersten Schritt in seine Richtung
machte, lief Lutfisk weiter. Zweifellos beunruhigte
ihn etwas, anderenfalls wäre er nicht so aufgeregt
gewesen. Kate hatte kein gutes Gefühl. Sie wünschte
sich, dass Anders oder Erik hier wären – dass sie
dem Hund nicht allein hinterherlaufen müsste. Was
ist, wenn Dugan in der Nähe war und sie es nicht
wusste?
Kate war noch immer über der »Bärenfalle«, als
sie stehen blieb. Lutfisk raste zu ihr zurück. Er blieb
direkt vor Kate stehen und bellte.
»Was willst du, Lutfisk?«, fragte Kate. Was auch
immer den Hund beunruhigte – es musste etwas
Wichtiges sein.
Als Reaktion auf ihre Frage lief er wieder ein
Stück die Straße entlang und blieb dann stehen.
Anschließend schaute er zurück zu Kate und bellte
schnell und aufgeregt.
Mittlerweile war Kates Neugier stärker als ihr
Unbehagen. Rasch zog sie ihren Pullover aus und
band ihn um das Brückengeländer. Wenn Anders
oder Erik den Pullover sehen würden, würden sie
wissen, in welche Richtung sie gegangen war.
Dann eilte sie so schnell sie konnte Lutfisk hinterher.
192
Gefangen im Dunkeln
D
er Hund blieb auf der Straße, bis diese den Erd-
Damm auf der Minnesota-Seite erreichte. Dann
verließ Lutfisk die Straße und verschwand hinter
den Bäumen. Als Kate ihm hinterherrannte, bellte
der Hund erneut.
Ein Stück weiter standen die Bäume schon nicht
mehr so dicht. Kate erreichte eine grasbewachsene
Lichtung. Dort hob ein Pferd seinen Kopf und wieherte.
Windsong?
Kate hielt an. Konnte das sein?
Dann, als das Pferd sich bewegte, sah Kate das
rabenschwarze Fell, das nun wie Satin aussah. Windsong!
Kate rannte los. Ihr stiegen Tränen in die Augen.
Als sie Windsong erreicht hatte, warf sie ihre Arme
um den Hals der Stute. Schluchzend grub Kate ihr
Gesicht in die dicke wellige Mähne.
»Windsong! Ich kann es nicht glauben, dass du es
bist!«
Nur einen Augenblick lang stand Kate so da.
Mit tränenüberströmten Wangen band sie das Führungsseil
los und schwang sich in den Sattel. Kate
war sich bewusst, dass sie sich beeilen musste, und
trieb die Stute auf die Straße zum Wisconsin-Ufer
zurück.
Lutfisk lief neben ihnen, jaulte und rannte dann
vor. Plötzlich blieb der Hund stehen. Er begann aus
tiefster Kehle zu knurren.
193
Als Windsong den Hund eingeholt hatte, trat ein
Mann hinter einem großen Baum hervor. Schnell
griff er nach dem Zaumzeug. Vor Überraschung
zuckte Kate zurück und fiel beinahe aus dem
Sattel.
Kate schlug das Herz bis zum Hals, als sie den
Mann aus der Werkstatt des Hufschmieds wiedererkannte.
Es musste Dugan sein. Sein hübsches
Gesicht wirkte hart und böse vor Hass.
»Ich dachte, ich hätte dich kommen gehört!«, rief
er.
Wie wild trat Kate ihre Fersen gegen Windsongs
Seiten. »Weiter, Mädchen!«
Aber Dugan klammerte sich an das Zaumzeug.
»Diesmal entkommst du mir nicht!«
Panisch sah Kate sich um und suchte nach einem
Fluchtweg. Selbst wenn Anders oder Erik zur Brücke
kämen, würden sie sie nicht bemerken. Sie war
zu weit entfernt, um in dem abnehmenden Licht von
ihnen gesehen zu werden.
»Lass mich los!«, forderte Kate Dugan auf. »Frawley
wird dich packen, wenn er kommt!«
Dugans Augen blitzten auf. »Er kommt den Fluss
hoch?«
Kate stockte der Atem. Sie hatte Dugan verraten,
was er wissen wollte.
»Wann?«, wollte Dugan unbedingt wissen.
Kate zuckte mit den Schultern und tat so, als wäre
es nicht wichtig. Aber ihre Gedanken eilten voraus.
Was würde Dugans verworrener Verstand als
Nächstes aushecken?
194
Er starrte zu ihr hoch. »Wann kommt Frawley?«
Dugan bedrohte Kate in einem harten Ton. »Ich habe
dir eine Frage gestellt. Antworte mir!«
In diesem Augenblick wurde Lutfisk zu einem
knurrenden Ungetüm. Als er Dugan ansprang, er -
kannte Kate ihre Chance. Mit einer schnellen Be -
wegung rutschte sie auf der anderen Seite des Pferds
herunter.
Aber Dugan stand zwischen ihr und der Straße
über den Damm. Kate hatte keine Wahl. Sie musste
in die andere Richtung flüchten.
Verzweifelt vor Angst lief sie Richtung Ufer. Sie
rannte über den holprigen Boden, stolperte, fing sich
und lief weiter.
Während sie unter den Bäumen Schutz suchte,
nahm die Dunkelheit zu. Kate taumelte noch einige
Schritte weiter. Dann gewöhnten sich ihre Augen an
das abnehmende Licht.
Hinter sich hörte sie ein schmerzhaftes Gejaule.
Kate drehte sich um, da sie Lutfisk nicht zurücklassen
wollte. Gerade als sie kehrtmachte, hörte sie
ein Knurren. Der Hund hielt den Verfolger auf und
verschaffte Kate so die Zeit, die sie zum Entkommen
brauchte. Erneut floh Kate durch die Dunkelheit.
Der Hügel stieg jetzt an und wurde unter ihren
Füßen immer steiler. Nach kurzer Zeit spürte Kate
Seitenstiche vom Rennen. Schließlich hatte sie keine
andere Wahl mehr und musste in ein schnelles
Schritttempo wechseln. Als die Bäume nicht mehr so
dicht standen, konnte sie besser sehen.
Vor ihr lag ein lang gezogenes, karges Stück
195
Land – ein Einschnitt im Hang, von dem die Bauleute
Schotter abgetragen hatten. Büsche und kleine
Bäume bestimmten das Bild.
Als Kate eine kurze Pause machte und sich fragte,
wo sie hinsollte, hörte sie hinter sich Lärm. Jemand
preschte durchs Unterholz. Dugan!
Als würde sie einen Albtraum erleben, suchte
Kate nach einem Versteck. Die Büsche vor ihr boten
kaum Schutz. Selbst wenn sie sich hinkauerte, würde
Dugan sie finden.
Kate blieb keine Wahl: Sie musste weiterrennen.
Bald schon atmete sie nur noch stoßweise.
Einmal drehte sie sich um. Es war niemand in
Sicht. Wenn sie doch nur ein Versteck finden könnte!
Das Geräusch von knirschenden Steinen verriet
Kate, wann Dugan den Schotter erreicht hatte. Er
machte Boden gut! Mit allerletzter Kraft stolperte
Kate weiter.
Dann sah sie ihn. An einem Rand des freien
Geländes befand sich ein kleiner Schuppen, der teilweise
von struppigem Buschwerk verdeckt war. Es
schien zu gut, um wahr zu sein. Wenn sie sich darin
verstecken würde, würde Dugan vielleicht vorbeilaufen
und sie nicht sehen.
Als sie den Schuppen erreicht hatte, hob Kate den
großen Holzriegel, der die Tür hielt. Beim Öffnen
quietschte die Tür. Rasch schlüpfte Kate hinein und
zog die Tür hinter sich zu.
Dort im Dunkeln atmete sie erst einmal tief ein.
Sie wusste: Sie hätte nicht einen Augenblick weiterlaufen
können.
196
Sekunden später hörte Kate schwere Schritte auf
dem Schotter. Ohne sich zu rühren, wartete sie ab.
Als die Schritte den Schuppen passiert hatten, atmete
sie erleichtert auf.
Um sie herum war alles pechschwarz, aber das
machte ihr nichts aus. Dugan war weitergelaufen.
Sie war in Sicherheit!
Kates Schultern hoben und senkten sich, während
sie einen tiefen Atemzug machte. Doch dann hörte
sie irgendwo in der Nähe wieder Schritte. Schleichende
Schritte, die immer näher kamen.
Plötzlich donnerte eine Stimme: »Ich weiß, dass
du da drin bist!«
Erschrocken sprang Kate hoch. Sie zuckte zurück
und fiel gegen Metall. Kalt und hart klapperte es
gegen etwas anderes.
In ihrer Todesangst wartete Kate ab. Selbst wenn
Dugan anfangs nur so tat, als wüsste er, dass sie im
Schuppen war, gab es jetzt kein Verstecken mehr. Was
würde dieser schreckliche Mann mit ihr anstellen?
Kate tastete nach der Tür, bereit, sie zu öffnen
und um ihr Leben zu rennen. Könnte sie irgendwie
an Dugan vorbeikommen?
Dann hörte Kate eine Stimme.
»Du glaubst, ich kümmere mich nicht um meine
Pferde?«
Kate drehte es den Magen um. Das hatte er sich
gemerkt? Mit Furcht dachte sie an Mamas Worte.
Wenn dieser Mann auf Rache aus ist, muss er voller Hass
sein. Dugan war mit Hass erfüllt, daran gab es keinen
Zweifel.
197
»Ich werde dir schon zeigen, wie ich mich um
Dinge kümmere!«, rief er.
Im nächsten Augenblick hörte Kate, wie der Holzriegel
an der Tür zufiel. Sie war eingesperrt!
Trotz ihrer Angst vor Dugan hämmerte Kate
gegen die Tür. »Lass mich raus!«
Dugan lachte – es war ein Lachen, das tief aus
seiner Kehle emporstieg. »Du bleibst hier. Ich muss
noch was erledigen!«
»Was erledigen?« Kate zitterte. Wenn sie ihn nur in
ein Gespräch verwickeln könnte … Vielleicht würde
in der Zwischenzeit Hilfe kommen. »Was erledigen?«
»Am Damm. Ich werde mich an Frawley rächen,
weil er mich gefeuert hat! Und ich werde es deinem
Onkel heimzahlen!«
»Du wirst es niemandem heimzahlen!«, rief Kate.
Wieder schlug sie gegen die Tür. »Lass mich raus!«
Aber Dugan lachte nur. Kate hasste diesen bösen
Klang.
»Du wirst schon sehen«, sagte er. »Ich schnappe
mir die Lohnliste und Frawley. Ich packe ihn mir,
wenn er den Fluss hochkommt.«
Eine kalte Faust presste Kates Herz zusammen.
Sie hasste sich, weil sie es ihm verraten hatte. Was ist,
wenn Frawley wegen ihr sterben würde?
»Du wirst das Geld nicht kriegen!«, tobte Kate.
»Du wirst niemanden kriegen!«
»Das glaubst auch nur du!« Dugans Stimme war
kalt und hart. »Ich werde mit jedem abrechnen, der
versucht, mich aufzuhalten. Einschließlich dir und
deinem Bruder! Und deinem Freund!«
198
Kate schluckte. Wie viel wusste Dugan über sie?
Schon zu viel! Vor lauter Panik schnürte sich ihr
Magen zu, als sie daran dachte, was er alles tun
könnte.
Ich werde hier rauskommen, sagte Kate sich. Ich
werde sie warnen, und wenn es das Letzte ist, was ich
tue!
Aber irgendetwas stimmte nicht. Nicht einmal
Lutfisk konnte ihr folgen. Was war nur mit ihm passiert?
Kate schlug noch einmal gegen die Tür. Dugans
Stimme unterbrach sie.
»Mir ist es egal, ob du jemals hier rauskommst! Du
kannst so viel brüllen, wie du willst. Keiner wird dich
hören!«
Dann erfüllte Stille die Nacht. Eine Stille, die noch
schrecklicher war als Dugans grausame Stimme.
Wo ist er?, fragte sich Kate. Sie drehte sich um und
starrte in die Dunkelheit. Hatte die Hütte vielleicht
noch eine andere Tür?
Sogar ihre Knie zitterten. Was wäre, wenn er sich an
mich heranschleicht? Was, wenn er hier im Dunkeln ist,
und ich weiß es nicht?
Kate hatte so viel Angst, dass sie kaum atmen
konnte. Deshalb wartete und lauschte sie. Nach einiger
Zeit war sie sich sicher, dass Dugan verschwunden
war. In diesem Augenblick musste er gerade
die Brücke überqueren und sich an das Büro heranschleichen.
Oder vielleicht schaute er schon durchs
Fenster und plante das Schlimmste.
Was geschah gerade mit Anders und Erik? Mit
199
Ben? Was taten sie? Kate fürchtete sich davor und
musste schwer schlucken.
Wenn sie das Büro verlassen würden, um sie zu
suchen, würde Dugan sich hineinschleichen und
das Geld stehlen. Aber wie konnten sie nicht nach
ihr suchen? Natürlich würden sie sich fragen, wo sie
steckte.
Ich muss sie warnen, sagte Kate sich. Es muss eine
Möglichkeit geben, von diesem furchtbaren Ort wegzukommen!
Sie streckte ihre Hände vor sich aus und tastete
die Holzwand ab. Sie ging an ihr entlang, bis sie
den Türrahmen fand. Um nicht aus dem Blick zu
ver lieren, in welcher Richtung sich die Tür befand,
machte sie langsam eine Vierteldrehung.
Wo auch immer sie hinschaute – Kate konnte
nicht die geringste Spur von Licht erkennen. Weder
Mond noch Sterne schienen durch ein Fenster. Nicht
einmal ein Fünkchen Licht machte ihr Hoffnung,
eine Öffnung zu finden.
Kate suchte den Schuppen ab, indem sie immer
noch ihre Hände gebrauchte, um sich an der Wand
ent langzutasten. Kurz darauf fiel sie über etwas –
etwas Großes und Schweres. Der Schuppen wurde
an scheinend zur Aufbewahrung von Ausrüstungs -
gegenständen gebraucht, als der Damm gebaut
wurde.
Kate rappelte sich auf, atmete tief ein und versuchte
sich zu beruhigen. Dann fand sie die Wand
wieder. Sorgfältig tastete sie jeden Zentimeter ab, so
weit nach oben, wie sie sich strecken konnte.
200
In einer Ecke stieß sie an Gegenstände, die in jede
Richtung gelehnt waren. Einer von ihnen polterte
auf den schmutzigen Boden. Kate bückte sich und
tastete die Länge ab. Ein Holzgriff, da war sie sich
sicher. Eine gebogene Stange, die an beiden Enden
scharf war. Eine Spitzhacke, mit der Steine aus dem
Fels ge schla gen wurden! Vielleicht würde es ihr
gelingen, mithilfe dieser Spitzhacke aus der Hütte
aus zubrechen!
Voll neuer Hoffnung schleppte Kate die Spitzhacke
zur nächstgelegenen Wand. Dort stellte sie
aber fest, dass sie das schwere Werkzeug nicht hochheben
konnte, geschweige denn es gegen das Holz
schwingen.
Kate verdrängte ihre Enttäuschung und setzte
ihre Runde durch den Schuppen fort. Sie ertastete
jeden Spalt in der Wand. Als sie alle vier Seiten des
Schuppens abgetastet hatte, musste sie der Wahrheit
ins Auge sehen. Es gab nur eine Tür, und die war mit
einem kräftigen Stück Holz verriegelt.
Noch einmal hämmerte Kate gegen die Tür. Panik
überkam sie, und sie schlug mit den Fäusten so lange
gegen das Holz, bis ihre Hände aufgeschürft waren
und bluteten.
Niemand antwortete.
Immer wieder rammte Kate ihren Körper gegen
die Tür. Aber sie bewegte sich kein bisschen. Nicht
einmal einen Zentimeter.
Schließlich musste Kate aufgeben. Sie sank auf den
schmutzigen Boden und musste sich ein gestehen,
201
dass sie nicht herauskam. Niemand wusste, wo sie
war. Wie nur konnte jemand sie finden?
Als könnte sie sie sehen, stellte Kate sich Erik und
Anders vor, wie sie zum Fluss herunterkamen
und sie suchten. »Wo bist du, Kate?«, riefen sie vielleicht
und dachten, dass sie sie nur ärgern wollte.
Aber dann mussten sie vielleicht wieder an Dugan
denken und machten sich Sorgen. Kate konnte sie
beinahe reden hören. »Wo ist sie?«, fragten sie sich.
»Was ist mit ihr geschehen?« Sogar ihr lebenslustiger
Bruder wäre besorgt.
Eine Sache habe ich richtig gemacht, dachte Kate.
Wenigstens habe ich meinen Pullover auf der Brücke
zurückgelassen. Sie werden schon wissen, in welcher
Richtung sie suchen müssen.
Werden sie das wirklich wissen?, spukte es Kate
durch den Kopf. Werden sie wissen, dass ich über die
Brücke gegangen bin? Oder werden sie denken, dass ich
ins Wasser gefallen bin?
Tränen schossen Kate in die Augen, als ein furchtbarer
Gedanke sie durchzuckte. Wenn sie denken, dass
ich ertrunken bin, werden sie den Fluss absuchen, und
nicht hier suchen. Womöglich würden sie die ganze Nacht
am falschen Ort suchen!
Kate sprang auf. »Anders! Erik! Ben!« Kate schrie
so lange, bis sie heiser war, aber Hilfe kam nicht.
Wieder sank Kate zu Boden. So als würde sie es
wirklich sehen, stellte sie sich Herrn Frawley vor,
wie er den Fluss heraufkam. Dugan öffnete den
Damm. Die Baumstämme stürzten hindurch und
knallten gegen Frawleys Boot.
202
Kate fing an zu schluchzen. Ich muss ihn warnen!
Irgendwie muss ich rechtzeitig dort ankommen! Aber wie
komme ich hier raus? Vor lauter Verzweiflung weinte
Kate, bis sie nicht mehr weinen konnte.
Sie suchte nach ihrem Taschentuch, konnte es
aber nicht finden. Zuerst dachte sie, sie hätte es tiefer
in die Tasche gesteckt. Aber dann erkannte sie, dass
es weg war.
Ich schaffe es nicht mal, auf mein Taschentuch aufzupassen!,
dachte Kate und begann wieder zu schluchzen.
Schließlich atmete Kate tief ein. Ich brauche ein
Wunder, sagte sie sich. Nur ein Wunder kann mich hier
rausholen.
Seltsamerweise tröstete dieser Gedanke sie, und
sie dachte an Gott. »Warum eigentlich nicht?«
In diesem Augenblick merkte Kate, dass sie laut
gesprochen hatte. »Warum nicht?«, fragte sie noch
einmal. Aber dieses Mal sprach sie mit Gott. »Wenn
deine Liebe so groß ist, dass sie den ganzen Raum
zwischen der Erde und dem Himmel erfüllt, kannst
du dann bitte auch für mich noch ein Wunder
tun?«
Zum ersten Mal, seit sie eingesperrt war, fühlte
Kate sich besser. Sie lehnte sich zurück gegen die
Wand. Während sie ihre Füße ausstreckte, fragte sie
sich, wie viele Spinnen wohl gerade über ihre Beine
krabbelten. Aber dann wurde ihr bewusst, dass sie
nur noch eines tun konnte: Kate fing an zu beten.
»Ich habe den Bären bei den Bienenstöcken nicht
gesehen, Gott, aber ich habe die scheußlichen Dinge
203
gesehen, die er getan hat. Auch dich sehe ich nicht,
aber ich sehe die guten Dinge, die du tust! Ich weiß,
dass du mich liebst. Ich weiß: Du bist groß genug, um
mir auch jetzt zu helfen!«
Kate hatte keine Ahnung, wie lange sie ge betet
hatte, als sie einen winzigen grauen Licht schimmer
sah. Hoch oben an der Wand an einem Ende des
Schuppens war ein schmaler Spalt zwischen den
Brettern. Die anderen Wände sahen so undurchdringbar
aus, wie Kate angenommen hatte.
In dem schwachen Lichtschein konnte Kate kaum
die Werkzeuge und Maschinenteile erkennen. Sie
stellte sich wieder hin und suchte nach einem Ausweg.
Aber es gab nur eine Öffnung – die Tür, durch
die sie hereingekommen war.
Erneut spürte Kate die Hoffnungslosigkeit ihrer
Situation. Wo war Dugan jetzt? Hatte er das Geld
schon gestohlen? Was war mit Anders, Erik und
Ben? Was war mit Lutfisk passiert?
Tränen stiegen ihr in die Augen, aber diesmal
wischte Kate sie weg. Sie hatte keine Zeit zu weinen.
Beim ersten Tageslicht würde Frawley den Fluss
herauf kommen. Vielleicht könnte sie ihn noch rechtzeitig
warnen.
Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, versuchte
Kate einen Plan auszuarbeiten. Ihr kam nur ein
Gebet in den Sinn. »Herr, zeig mir, was ich tun soll.«
Genau in diesem Augenblick hörte sie draußen
Geräusche im Schotter. Kate saß da, ohne sich zu
bewegen. Ist das Dugan?, fragte sie sich. Ist er zurückgekommen?
204
Hilfe!
D
ann hörte Kate ein Bellen. Lutfisk war dort
draußen!
Kate sprang auf. »Hilfe!«, rief sie und hämmerte
gegen die Tür. »Hilfe!«
Kurz darauf hörte sie, wie der Holzriegel nach
oben geschoben wurde. Plötzlich öffnete sich die Tür.
»Kate!«, rief Erik aus. »Du bist es wirklich!« Als
würde er seinen Augen nicht trauen, zog Erik sie ins
Licht.
»Erik?«, fragte Kate. Natürlich war es Erik, und
Lutfisk und Breeza waren auch dabei. Kate es nicht
glauben, aber es war wirklich so: Erik stand direkt
vor ihr.
Schnell breitete er seine Arme aus, und Kate ließ
sich hineinfallen. Als sie seine starken Arme um sich
herum spürte, fing Kate wieder an zu weinen.
Erik trat einen Schritt zurück, und Kate sah die
Erleichterung in seinem Gesicht. Aber seine Augen
waren feucht vor Tränen.
»Ich freue mich, dich zu sehen! Alle dachten, du
wärst …« Erik unterbrach sich und konnte nicht
weiter reden.
»Sag es nicht!«, rief Kate. »Nimm das Wort nicht
mal in den Mund!« Sie kniete sich hin und umarmte
Lutfisk.
»Die ganze Nacht haben wir den Fluss durchkämmt«,
erzählte Erik ihr, als er wieder sprechen
konnte. »Alle, die am Nevers Damm arbeiten, sind
205
die Wisconsin-Seite auf und ab gegangen. Die ganze
Nacht habe ich gehofft …«
Erik musste schwer schlucken, so als hätte er einen
Kloß im Hals. »Sie haben die Lichter an gemacht – das
elektrische Licht, das sie für die Arbeiten am Damm
brauchen. Wir haben die Schleusen abgesucht und
nach irgendetwas Ausschau gehalten … Lutfisk kam
zum Büro. Das war wirklich un heimlich, Kate. Er hat
uns zurück zur Brücke geführt. Er raste von einem
Ende der Brücke zum anderen, und wir dachten, du
wärst heruntergefallen.«
Erik verzog das Gesicht, und Kate konnte darin ab -
lesen, wie schrecklich es für ihn gewesen sein musste.
»Beim ersten Licht fischte ein Mann deinen Pullover
aus dem Wasser«, sagte er. »Das war in der Nähe
der ›Bärenfalle‹. Er steckte zwischen zwei Baumstämmen.«
Tränen liefen Erik übers Gesicht. »Anders setzte
sich auf die Brücke, stützte den Kopf in die Hände
und weinte.«
»Anders weinte?«, fragte Kate.
»Er weinte so stark, dass seine Schultern bebten.«
»Und du?«, wollte Kate wissen. »Was war mit
dir?«
»Ich dachte …« Erik räusperte sich. »Ich dachte,
ich hätte es gespürt, wenn du tot gewesen wärst.«
»Also hast du weitergesucht?«
Erik nickte.
»Aber wie hast du mich gefunden?«, fragte Kate.
»Wie wusstest du, wo du in den Wäldern suchen
solltest?«
206
»Ich konnte es nicht ertragen, wie sie miteinander
redeten«, sagte Erik. »Ich habe Breeza genommen
und bin das restliche Stück über den Fluss gegangen.
Ich wollte nicht aufgeben. Noch nicht. Um nichts
in aller Welt. Aber ohne Breeza hätte ich dich nicht
gefunden.«
Erik griff in seine Hemdtasche, holte Kates
Taschentuch heraus und gab es ihr.
Kate sah zuerst das Taschentuch an, dann Erik.
»Wo hast du es gefunden?«
»In der Nähe des Erd-Damms auf dieser Seite. Es
war in den Boden gedrückt, beinahe versteckt. Ich
hätte es übersehen. Aber Breeza nahm es mit seinen
Zähnen auf. Da verstand ich, was Lutfisk die ganze
Zeit vorhatte – er wollte uns auf die Minnesota-Seite
führen.«
Zum ersten Mal, seit er Kate gefunden hatte,
grinste Erik.
»Als ich Breeza das Taschentuch abnahm, wieherte
er. Windsong wieherte zurück.«
»Du hast sie gefunden? Geht es ihr gut?«, er -
kundigte sich Kate.
»Ich habe sie weggebracht, falls Dugan noch in
der Nähe sein sollte. Ich habe ihr Führungsseil an
einem Baum festgebunden, weiter unten am Hügel.«
Erik klang so, als wären das die weltbesten Neuigkeiten,
aber Kate war anderer Meinung. »Das be -
deutet, dass Dugan noch hier ist.«
»Hat er dich eingesperrt?«
Kate nickte. »Hat Dugan die Lohnliste bekommen?«
207
»Ja.« Aber Erik machte den Anschein, als würde
ihn das nicht weiter kümmern. »Als wir nach dir
gesucht haben.«
»Dugan muss meinen Pullover ins Wasser ge -
worfen haben«, vermutete Kate. »Wir machen uns
besser auf den Weg. Wenn Jim Frawley den Fluss
hochkommt, wird Dugan die ›Bärenfalle‹ öffnen.«
Erik sprang auf Breezas Rücken. Dann streckte
er Kate seine Hand entgegen und zog sie hinauf. Sie
machte es sich hinter Erik bequem, und Breeza brach
auf in Richtung des Erd-Damms.
Als sie ein Stück über den Schotterhang geritten
waren, hörte Kate Geräusche. »Halt an!«, flüsterte sie
und zupfte an Eriks Hemd.
Erik zügelte das Pferd, und Kate lauschte. Einen
Augenblick später hörte sie Hufschläge. War das
Dugan?
Kates Finger schlossen sich zu einer Faust. Aber
dann wieherte Breeza. Aus dem Wald kam ein Wiehern
als Antwort zurück. Windsong!
Erik drängte Breeza weiter. Kurz darauf tauchte
Windsong auf. Um nicht auf ihr Führungsseil zu treten,
hielt sie ihren Kopf ein bisschen schräg, während
sie über das offene Gelände galoppierte.
»Oh!«, wollte Kate ausrufen. Stattdessen schaffte
sie es, nur zu flüstern. »Schau dir Windsong an! Sie
muss ihr Führungsseil genauso losgebunden haben,
wie damals, als ich sie gerade gekauft hatte.
Als Erik Breeza zum Stehen brachte, rutschte Kate
herunter. Sie warf ihre Arme um Windsong, und die
Stute drückte ihr Maul in Kates Nacken.
208
Beim Sattel hing ein zusammengerolltes Seil. Als
Kate es bemerkte, war sie gleichermaßen neugierig
und besorgt. Ich frage mich, wofür Dugan dieses Seil
mitgenommen hat?
Aber als Kate in den Sattel sprang, brach all ihre
Zuneigung für Windsong hervor. Jetzt konnte sie
wieder ihr eigenes Pferd reiten!
Erik führte sie den restlichen Weg den Hügel
hinunter. So als wäre er froh, dass alle wieder zu -
sammen waren, rannte Lutfisk zwischen den Pferden
hin und her.
Während sie auf den Erd-Damm auf der Minnesota-
Seite hochritt, spähte Kate voraus. Zu ihrer
Überraschung war die Brücke leer. Hatten die Männer
ihre Suche aufgegeben?
Warnend hob Erik seine Hand. »Es ist zu still.
Ich werde versuchen herauszufinden, was da los ist,
bevor wir hinüberreiten. Vielleicht haben sie Dugan
eine Falle gestellt.«
Als sie der Brücke näher kamen, führte Erik Kate
die steile Seite des Erd-Damms hinunter. Auf der
flussabwärts gewandten Seite des großen Damms
zog er sie in den Schutz von Bäumen. Lutfisk blieb in
der Nähe von Windsong.
»Bleib hier«, flüsterte Erik Kate zu. »Breezas Hufe
machen so viel Lärm, ich möchte ihn nicht mit auf
die Brücke nehmen.«
Erik rutschte aus dem Sattel. Während Kate
Breezas Zaumzeug festhielt, kletterte Erik wieder die
Seite des Erd-Damms hoch. Er bewegte sich schnell
und leise und beeilte sich, zur Straße hochzukommen.
209
Ein paar Augenblicke wartete Lutfisk zusammen
mit Kate und den Pferden. Dann lief der Hund Erik
nach.
Kate grinste. Ich wusste schon immer, dass Hunde ein
Gespür für einen guten Charakter haben!
Kurz darauf überquerten Erik und Lutfisk den
langen Brückenabschnitt über der »Bärenfalle«.
Sekunden später hörte Kate eine leise Bewegung
hinter sich. Sie hatte keinen Zweifel, was es war.
Im nächsten Augenblick bewegte sie ihre Füße
nach vorn hinter Windsongs Vorderbeine. Als
Dugan nach Breezas Zaumzeug griff, drückte Kate
ihren Zeh gegen Windsongs linke Seite. Die Stute
streckte ihr Vorderbein aus und trat gegen Dugans
Schienbein.
»Au! Au! Au!«, schrie er und taumelte zurück.
Kate drückte ihre Fersen in Windsongs Seite, und
die Stute bewegte sich. Während Windsong die Seite
des Erd-Damms hochkletterte, riss Dugan Breezas
Zügel aus Kates Hand. Trotz seiner Schmerzen zog
sich Dugan auf Breezas Sattel.
Als Kate auf dem Erd-Damm angekommen war,
drängte sie Windsong auf die Straße. Bald donnerten
die Hufe der Stute auf der Holzbrücke. Breeza war
dicht hinter ihnen.
Weiter vorne, nicht weit entfernt vom Wisconsin-
Ufer, drehte Erik sich um. Als er Kate sah, rannte er
zurück zu ihr und Dugan.
Als sie die große »Bärenfalle« hinter sich ge lassen
hatte, schöpfte Kate neue Hoffnung. Vielleicht würde
sie doch entkommen können!
210
Aber im nächsten Augenblick brachen plötzlich
die Hufschläge hinter ihr ab. Kate fragte sich, warum.
Sie drehte sich um und blickte zurück. In der
Nähe der großen Zahnräder, mit denen die »Bärenfalle«
bewegt wurde, war Dugan stehen geblieben.
Als er auf den Hebel zuging, der die riesige Schleuse
senkte, verwandelte sich Kates Panik in blankes Entsetzen.
»Sogar ein Junge oder ein Mädchen kann die
Schleuse öffnen«, hatte Ben gesagt. Kate war sich
sicher: Dugan wird es tun!
Als Kate die Zügel zog, sah sie Erik näher kommen.
Dann schaute sie flussabwärts. In nicht allzu
weiter Entfernung saß ein Mann in einem kleinen
Boot. Er hatte der Brücke den Rücken zugewandt
und ruderte den Fluss hoch.
War das Frawley? Kate war sich sicher, dass er es
war. Die Baumstämme werden ihn erschlagen!
Kate drehte mit Windsong um, trieb der Stute ihre
Fersen in die Seite und eilte zu Dugan zurück. »Lauf,
Mädchen!«, drängte sie die Stute. »Lauf!«
Als Kate ihm immer näher kam, sah Dugan auf.
Mit hasserfülltem Gesicht griff er nach dem Hebel.
»Halt!«, schrie Kate. »Tu es nicht!«
Mit einer schnellen Bewegung zog Dugan den
Hebel. Im nächsten Augenblick fiel die Schleuse herunter.
Mit einem kräftigen Zischen rauschte das Wasser
hindurch und trug die massiven Stämme mit.
Vor lauter Angst zog Kate an Windsongs Zügeln
und schwang sich auf die Brücke herunter. Aber Erik
war zuerst da. Als er auf Dugans Rücken sprang,
211
fiel der Mann nach vorn auf die Zahnräder. Dugan
wurde rot im Gesicht, und die dicken Kabel hörten
auf sich zu drehen.
Schnell stand Erik wieder auf. Er beugte sich nach
vorn und drehte das Rad, das die Schleuse wieder
anhob. Der Wasserschwall stoppte.
Kate atmete erleichtert auf. Die riesige Schleuse
verhinderte, dass sich der See mit Baumstämmen
füllte.
»Hilfe!«, schrie Dugan, der noch immer oben auf
den Zahnrädern lag.
Ein Grinsen breitete sich auf Eriks Gesicht aus.
»Mach dir keine Sorgen!«, sagte er zu Dugan. »Hilfe
ist unterwegs!«
Dann sah Kate es – Dugans Krawatte hatte sich
zwischen dem Kabel und dem Zahnrad verfangen.
Aber würde die Krawatte ihn halten?
In diesem Augenblick hörte Kate einen anderen
Schrei. Eine Stimme kam vom Fluss her!
Kate lief zum Geländer. Auf der flussabwärts
gewandten Seite des Dammes füllten Baumstämme
das Wasser. Das Boot, das Kate gesehen hatte, lag in
einem seltsamen Winkel. Der Mann klammerte sich
an den Seiten fest.
»Hilfe!«, rief er. »Mein Boot sinkt!«
»Lasst Frawley ertrinken!«, murmelte Dugan,
obwohl er selbst noch feststeckte.
»Ich werde ihm helfen!« Kate sprang auf Windsongs
Sattel. Um nichts in der Welt würde sie mit
Dugan allein bleiben. Die Stute galoppierte zum
Ende der Brücke auf der Minnesota-Seite. Als sie den
212
Erd-Damm erreichten, trieb Kate Windsong zum
Ufer hinunter, dann zum Fluss.
Kate war erleichtert, dass die Baumstämme schon
weitergeschwommen waren. Aber jetzt hatte sie
ganz andere Sorgen. Würde sie noch rechtzeitig zu
Frawley kommen?
Ich darf ihn nicht aus den Augen verlieren. Frawley
klammerte sich noch immer an der Seite seines Bootes
fest, das aber schnell sank. Nur der Holzrand lag
noch sichtbar über dem Wasser.
»Hilfe!«, schrie er wieder. »Hilfe!«
213
Das Jahr, in dem Kate
erwachsen wird
H
alten Sie durch!«, rief Kate ihm zu, als sie und
Windsong in den Fluss stürzten. Aber sie waren
noch zu weit flussaufwärts. Was, wenn sie Frawley
verpassen würden?
Zuerst war das Wasser noch recht flach. Doch kurz
darauf stieg es um Windsongs Beine herum an. Als
es den Bauch der Stute erreicht hatte, konnte Kate die
Strömung mit den Füßen spüren. Das Wasser floss
durch eine schmale Öffnung im Damm und schnellte
flussabwärts. In einer solchen Strömung hätte sogar
ein guter Schwimmer untergehen können.
Angst überkam Kate – ein Gefühl, das sie warnte.
Das ruhige Wasser des Rice Lake hatte sie von Windsongs
Rücken gespült. Aber könnte sie sich noch
an dem Pferd festhalten, wenn diese Strömung hier
sie erfassen würde? Und würde ein schwimmendes
Pferd sie beide aus dem Wasser ziehen können? Kate
wusste es nicht.
Als sie das Pferd zügelte, blickte sie nach unten.
Dugans zusammengerolltes Seil. Vielleicht … nur vielleicht.
Schnell band Kate das eine Ende des Seils um das
Ende des Sattels, und aus dem anderen machte sie
eine Schlinge. Mit aller Kraft warf sie Frawley die
Schlinge zu.
Das Seil erreichte Frawley nicht, aber die Strömung
erfasste es und brachte die Schlinge in seine
214
Nähe. Als es nur noch einen halben Meter entfernt
war, streckte Frawley seinen Arm aus und packte zu.
Windsong stieg rückwärts aus dem Wasser, und
Frawley hielt sich so lange am Seil fest, bis er Boden
unter seinen Füßen spürte. Als er und Kate das Ufer
erreichten, kamen ihnen Ben und Anders schon ent -
gegen. Drei oder vier Männer waren direkt hinter
ihnen.
Wie Erik warf auch Anders seine Arme um Kate.
Seine Stimme klang schroff, als er zu ihr sagte: »Da
bist du ja, dann kann ich dich endlich wieder aufziehen!«
Aber Kate sah die Tränen in seinen Augen.
Ben umarmte sie sogar noch fester. »Du bist ein
viel zu kleines Mädchen für einen so scheußlichen
Mann wie Dugan«, meinte er.
»Du bist eine Heldin!«, sagte Frawley zu Kate, als
er zu Atem kam. Die vielen treibenden Stämme hatten
gegen sein Boot geschlagen und es gegen einen
alten Baumstamm gedrängt, der im Flussbett feststeckte.
Mit dem Gewicht des Zahnrads im Boot
dauerte es nicht lange, bis es sank.
Als Kate mit Windsong zurück über die Brücke ritt,
nahm Erik das Seil, das sie verwendet hatte, um Frawley
zu retten, und fesselte damit Dugan an Händen
und Füßen. Nach wie vor steckte ein Teil von Dugans
Krawatte zwischen dem Kabel und dem Zahnrad.
Als Ben Dugan durchsuchte, fand er die Lohnliste
und nahm sie ihm weg. Anschließend schnitt Ben die
Krawatte ab, um Dugan vom Zahnrad zu befreien.
Die anderen Männer brachten Dugan die Straße
hoch zum Büro.
215
Dort klopfte Herr Frawley Ben auf die Schulter
und schüttelte Kate, Anders und Erik die Hand.
»Ich sollte euch etwas als Belohnung geben«,
sagte Frawley. »Wie kann ich euch danken?«
»Sir«, sagte Kate leise. Sie fürchtete sich, es ihm zu
sagen, aber wenn sie es nicht täte, würde sie Windsong
aufgeben müssen. »Da gibt es schon was.«
»Ja? Was denn?«
»Dugan hat unsere Scheune abgebrannt«, sagte
Kate. »Papa bekommt wildes Heu von den Wiesen.
Aber wir haben nicht viel Hafer. Genauso wie Eriks
Familie.«
»Ist das so?« Herr Frawley blickte von einem zum
anderen und lächelte. »Nun ja, ich habe genügend
Hafer. Bei uns hat es genau zur richtigen Zeit ge -
regnet. Das ist eine sehr passende Belohnung.«
Er führte sie nach draußen. »Ich leihe euch ein
paar Pferdegeschirre. Wenn ihr diesen Wagen an -
spannt, füllen wir ihn mit so viel Hafer, wie ihr
braucht. Und du und Erik könnt noch mehr holen.«
Auf dem Heimweg fuhren Kate, Erik und Lutfisk auf
dem Wagen, den Windsong und Breeza zogen.
»Ich habe dich gefunden! Ich habe dich ge -
funden!«, sagte Kate immer wieder zu Windsong.
»Und ich muss dich nicht verkaufen!«
Im Tageslicht schien das schwarze Fell der Stute
wie Satin. Ihre schwarze Mähne und ihr schwarzer
Schweif wehten frei im Wind. Jedes Mal, wenn Kate
etwas sagte, drehte Windsong ihre Ohren zum Klang
von Kates Stimme hin. Die Stute schien ebenso
216
glücklich darüber zu sein, dass sie sich wiedergefunden
hatten, wie Kate es war.
»In meinen kühnsten Träumen hätte ich mir das
nicht ausgemalt«, sagte Kate.
»Und du hast sogar Pferde, die Kunststücke können!«,
meinte Anders, der neben ihnen auf Wilfdfire
ritt.
»Wartet nur ab, was passiert, wenn ich es Lars
sage!«, rief Kate aus. »Er wird Breeza das Tanzen beibringen.
Im nächsten Sommer können wir beide sie
auf der Parade zum 4. Juli in Grantsburg reiten!«
Als Kate und die Jungen zu Hause ankamen,
waren Papa und Opa schon zurück von den Wiesen.
Dort trockneten jetzt große Heuhaufen und warteten
auf deren Rückkehr.
Papa war erleichtert, dass sie Windsong gefunden
hatten. »Und ihr fehlt nichts?«, fragte er Kate.
»Sie benimmt sich so wie immer«, erzählte Kate
ihm. »Aber auf dem Heimweg ist mir aufgefallen,
dass ihr Bauch dicker geworden zu sein scheint.
Meinst du, dass mit ihr alles in Ordnung ist?«
Papa ging um das Pferd herum und grinste
Anders an. Doch als Papa zu Kate zurückkam,
wusste sie, dass er ihre Frage ernst nahm.
»Windsong geht es gut«, sagte er. »Wirklich
gut.«
Dann erzählte Kate ihm von Herrn Frawleys
Belohnung. »Er sagte, wir können zurückkommen
und uns noch mehr Hafer holen – genug auch für
Eriks Familie.«
Wieder musste Papa grinsen. »Vielen Dank!«
217
Ein paar Tage später kehrte Ben nach Hause
zurück, und einige Nachbarn kamen zusammen, um
die Scheune auf der Windy Hill Farm wieder aufzubauen.
Eine Gruppe fällte Bäume und entrindete sie.
Andere hackten Stämme zurecht und bearbeiteten
sie dann weiter. Wieder andere fertigten Pfähle für
einen späteren Gebrauch an.
Als die Wände hoch genug waren, um den Boden
des Heuspeichers zu errichten, versammelten sich
einige Männer am westlichen Ende der Scheune.
Dann hob Big Gust das Ende eines sehr schweren, langen
Pfahls hoch. Mit einer Länge von etwa 12 Metern
deckte dieser Pfahl die ganze Länge des Ge bäudes ab.
Während Big Gust das Ende hochhielt, schoben die
anderen Männer einen Stützpfahl darunter.
Während sie den Pfahl in der Höhe hielte, ging
Gust zum östlichen Ende der Scheune. Dort hob er
das andere Ende des langen Pfahls hoch. Wieder schoben
Männer einen Stützpfahl unter den langen Pfahl.
Dann stellten sie weitere Pfähle der ganzen Länge der
Scheune nach auf, die den langen Pfahl stützten.
Am nächsten Tag machten Big Gust und die
an deren Männer dasselbe mit einem anderen langen
Pfahl, der parallel zum ersten langen Pfahl verlief.
Als diese beiden langen Pfähle und all ihre Stützpfähle
befestigt waren, legten die Männer Querbalken
von den Wänden zu den Pfählen. Als sie
damit fertig waren, konnten sie mit der Arbeit am
Zwischenboden beginnen, der den Stall unten vom
Heuboden oben trennte.
An jedem Abend rollten die Leute ihre Decken
218
zum Schlafen aus, bis die Arbeit getan war. Frauen
und Kinder schliefen im Haus, wo immer sich Platz
fand. Männer und ältere Jungen übernachteten im
Getreidesilo und in der Sommerküche.
Als die Arbeiter die Scheune fertig hatten, gingen
sie durch die Wälder zu Bens Haus. Kate und einige
Frauen füllten einen Wagen mit Essen und Kaffee
und folgten ihnen.
Wieder halfen alle Männer mit und arbeiteten
schwer. Big Gust platzierte einen kräftigen Pfahl
unter der verbrannten Ecke des Hauses. Während er
das Ende hochhielt, legten Männer Holzklötze an die
richtigen Stellen. Sobald dieses Ende abgestützt war,
zogen sie die verkohlten Teile heraus und ersetzten
sie durch gute Stämme. Anschließend ließ Gust die
Ecke des Hauses wieder herab, und Männer fuhren
mit der Arbeit an den Wänden fort.
An einem anderen Tag kamen Helfer zurück, um
für Bens Dach Schindeln zurechtzuschneiden. Dann
begannen sie mit dem Dachdecken. Als Ben das Er -
gebnis ihrer Arbeit betrachtete, war er innerlich
über wältigt.
»Kommt in zwei Wochen wieder«, sagte er allen
Helfern. »Kommt zu meiner Hochzeit zurück!«
Zwei Tage vor Bens Hochzeit nähte Mama den letzten
Knopf an Kates Kleid. Nach dem Mittagessen
gingen Mama, Oma und Kate in Kates Zimmer. Jetzt
sollte sie das fertige Kleid zu Gesicht bekommen.
»Schließ deine Augen«, sagte Mama, während sie
das weiche Kleid über Kates Kopf fallen ließ.
219
»Halte sie geschlossen«, fügte Mama hinzu, als
sie das Kleid zurechtzupfte. An der einen oder an -
deren Stelle glättete sie das Kleid, dann steckte sie
die handgefertigten Schleifen über die verdeckten
Knöpfe.
»O.K.«, sagte Mama schließlich. »Jetzt kannst du
es dir ansehen.«
Als Kate die Augen öffnete, bemerkte sie als Erstes
die Länge des Kleides. Es fiel über ihre Knöchel
– so, wie bei Mamas Kleidern.
»Das bedeutet, dass ich wirklich erwachsen bin!«,
rief Kate aus.
»Ja, du bist wirklich erwachsen«, bestätigte
Mama. Sie lächelte sanft, und Kate sah die Tränen in
ihren Augen.
Mama führte Kate zu einem Wandspiegel.
»Siehst du?«, fragte Mama. »Es hat genau die
Farbe deiner Augen.«
Noch nie hatte Kate ein so weiches oder hübsches
Kleid gehabt. Aber etwas anderes überraschte sie
noch mehr. Im Spiegelbild sah sie, wie Mama auf der
einen Seite von ihr stand und Oma auf der anderen
Seite. Wieder fragte Kate sich, ob sie jemals eine solche
Frau wie sie sein würde.
Dann wurde ihr etwas klar. Es war ihr Glaube an
Gott, der Mama und Oma stark machte. Alles, was
sie taten, kam aus der Liebe zu ihm.
Überrascht stellte Kate noch etwas anderes fest.
»Ich sehe wie ihr beiden aus.«
»Ja«, sagte Oma. Sie lächelte stolz.
»Aber wie kann das sein?« Kate starrte ihre
220
Spiegel bilder an. »Ich bin kleiner als ihr, und wir alle
haben eine unterschiedliche Haarfarbe.«
»Da ist noch was«, sagte Mama, so als wollte sie,
dass Kate es selbst herausfindet.
»Ja, stimmt!« Jetzt wusste Kate es. Zum ersten
Mal sah Kate sich als junge Frau. Eine junge Frau,
die gerne Spaß und Vergnügen hatte und Geheimnisse
lüftete. Eine junge Frau, die es liebte, Orgel zu
spielen und auf Windsong zu reiten. Aber auch eine
junge Frau, die neugierig auf die vor ihr liegenden
Jahre blickte.
»Ich bin wirklich erwachsen!«, sagte Kate und
konnte dabei ihre Überraschung nicht verbergen.
»Du bist schön, Kate«, sagte Mama. »Doch das
Beste ist: Du bist auch innerlich schön.«
»Ja.« Omas Augen glänzten ebenfalls vor Tränen.
»Du bist Gottes junge Frau.«
Kate schaute noch einmal in den Spiegel. Dann
machte sie ihren Zopf auf. Mama und Oma be -
obachteten, wie Kate ihr Haar kämmte und sich
darin übte, es hochzustecken. Anschließend verließen
sie wortlos das Zimmer.
Am Morgen von Bens Hochzeitstag stand Kate
schon früh auf, aber Papa war noch früher wach. Als
er ins Haus ging, sagte er Kate: »Da ist etwas, was
ich dir in der Scheune zeigen will.«
Kate wurde ganz flau im Magen. War noch
etwas passiert? Etwas Schlimmes?
Aber Papas Augen verrieten ihr, dass es etwas
Gutes sein musste.
221
Als Kate die Box betrat, hob Windsong als Be -
grüßung ihren Kopf. Kate streckte ihre Hand aus
und strich über das Maul der Stute. Dann schaute sie
nach unten.
In dem frischen Stroh unter Windsongs Hufen lag
ein neugeborenes Fohlen.
»Es ist ein Stutenfohlen!«, sagte Papa.
Das Fohlen war noch feucht und hatte wie Windsong
ein schwarzes Fell und auf der Stirn einen weißen
Stern.
»Ohhh.« Tränen trübten Kates Sicht. »Windsong
muss das Fohlen schon getragen haben, als ich sie
gekauft habe!«
Papa grinste. »Sie war so dünn, dass es nicht so
sehr auffiel, bis du mit ihr vom Nevers Damm nach
Hause kamst.«
»Du wusstest es?«, fragte Kate.
Papa nickte. »Ich wollte dir noch keine Hoffnung
machen für den Fall, dass etwas schiefgegangen
wäre.«
Langsam kniete sich Kate ins Stroh, um das Fohlen
nicht zu erschrecken. Dann streckte sie ihre Hand
behutsam aus und streichelte den Nacken des kleinen
Stutenfohlens.
Unbeholfen rappelte sich das Fohlen auf. Mit seinen
langen, dünnen gespreizten Beinen schien es nur
aus Kopf und Augen zu bestehen. Wacklig ging es
einen Schritt auf Kate zu.
In diesem Augenblick begriff Kate, dass das Fohlen
ihr gehörte – wirklich ihr!
222
Später am Morgen stellten Papa, Anders und Lars
Sägeböcke auf und legten Bretter darüber, damit sie
als Tische verwendet werden konnten. Kurz nachdem
Kate Tischdecken über die Bretter gelegt hatte,
kamen auch schon die ersten Leute. Kate eilte ins
Haus, um ihr neues Kleid anzuziehen. In letzter
Minute machte sie sich einen Zopf, statt ihr Haar
hoch zustecken.
Gegen Mittag, als sich alle zur Hochzeit ver -
sammelt hatten, war der Himmel so blau wie
Kates Kleid. Anders spielte Geige und Erik Gitarre.
Unter einem scharlachroten Ahornbaum stehend,
gaben sich Ben und Jenny das Versprechen: »Ja, ich
will.«
Kate kam die Hochzeit ganz unwirklich vor.
Dann hörte sie Pastor Nelsons Worte: »Was Gott zu -
sammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.«
Von ihrem Platz als Brautjungfer beobachtete
Kate, wie Ben den Ring auf Jennys Finger steckte.
Für immer, dachte Kate. Bis dass der Tod sie scheidet.
In diesem Augenblick wurde Kate ergriffen von
der Größe dessen, was geschah. Als die letzten Worte
gesprochen waren, fühlte sie sich von der Ernsthaftigkeit
des Geschehens überwältigt.
»Ich erkläre euch jetzt zu Mann und Frau«, sagte
der Pastor.
Als Ben und Jenny sich zu ihren Familien und
Freunden umdrehten, blickte Ben auf seine Braut
herunter.
Kate hielt den Atem an. Wird Erik mich jemals so
ansehen, wie Ben Jenny ansieht?
223
»Na, Kate«, sagte Anders beim anschließenden
Empfang. »Was glaubst du: Wann wirst du heiraten?«
»Ich?«, fragte Kate. »Ich habe nicht die leiseste
Idee. Wenn überhaupt, dann wird das sicher noch
lange dauern!«
»Komm schon«, meinte Anders. »Was glaubst du,
wen du vor dir hast? Ich bin dein Bruder, schon vergessen?«
»Und ich bin deine Schwester – anderthalb Jahre
jetzt. War das nicht eine schreckliche Zeit?«
»Na, ich weiß nicht so recht.« Anders zuckte
mit den Schultern, so als wollte er nicht zu viel ein -
gestehen. »Kannst du fassen, was wir schon alles
zusammen erlebt haben?«
Kate grinste. »Ja, klar doch. Erinnerst du dich
noch, als ich dachte, du wärst ein ›Bauerntrampel‹?«
»Ich habe mich gefragt, was für eine Art von
Schwester du wohl bist.«
»Und ich habe mich gefragt, was für eine Art
von Bruder du bist. Jetzt weiß ich es!«
»Wir haben schwere Zeiten miteinander gehabt«,
sagte Anders. »Aber auch ein paar gute. Ich schätze,
ich freue mich, dass du meine Schwester bist.«
»Echt? Das ist wirklich ein großes Lob. Ich glaube,
ich freue mich auch, dich als Bruder zu haben. Ich
habe sogar angefangen, dich zu mögen.«
»Ach, Kate!« Anders wurde ganz rot. Er sah sich
um in der Hoffnung, dass niemand es gehört hatte.
»Sag das nicht!«
Kate kicherte. »Ich meine es so!«
224
»Auch ich meine etwas«, sagte Anders. »Weißt du, was ich denke? Ich glaube, eines Tages werden Erik und du heiraten.«
Kates Herz hüpfte vor Freude, aber sie tat so, als hätten die Worte ihres Bruders keine Bedeutung für sie. »Was geht denn in deinem Kopf noch so alles vor?«
Anders grinste. »Das musst du schon selbst herausfinden.« »Wenn du mich mal entschuldigen würdest«, sagte Kate steif wie eine junge Erwachsene. »Zurzeit habe ich wichtigere Dinge zu tun als das.« »Was zum Beispiel?«, wollte Anders wissen. »Kaffee ausschenken zum Beispiel.« Kate eilte
in die Sommerküche, fand die Kaffeekanne und ging mit ihr wieder nach draußen. Während sie sich
durch die Menschenmenge bewegte, hielt sie Ausschau nach einer ganz bestimmten Person.
Schließlich sah sie ihn. Erik lehnte sich an einen Baum und redete mit Ben.
Erik ist wirklich ein besonderer Freund, dachte Kate. Und ja: Er hat all die Eigenschaften, die ich an einem Mann schätze, den ich mal heiraten möchte. Aber zuerst will ich lernen, ein guter Freund zu sein. In diesem Augenblick blickte Erik auf. Als er sich umschaute, schien auch er nach jemandem zu
suchen.
Über den Rasen hinweg trafen sich ihre Blicke. Erik lächelte, und Kate lächelte zurück.
Eines Tages, dachte sie, als sie ihren Zopf über die Schulter warf. Vielleicht eines Tages.

Inhalt
Feuer! 9
Eine überraschende Entscheidung 21
Überfall aus dem Hinterhalt! 31
Papas Warnung 37
Na, warte! 46
Die leere Scheune 55
Das verschwundene Pferd 62
Wo Rauch ist … 71
Eine schreckliche Nachricht 83
Eine große Entdeckung 92
Was wäre, wenn? 102
Der unerwünschte Besucher 109
Ganz egal was! 117
Bens Schwierigkeiten 124
Wo ist Papa? 136
Die vergessene Laterne 149
Was ist schlimmer? 156
Neue Hinweise 167
Nevers Damm 179
Gefangen im Dunkeln 192
Hilfe! 204

Ravensberger Bleiche 6 · 33649 Bielefeld
0521 947240 · [email protected] · clv.de
Christliche Literatur-Verbreitung
Bücher, die weiterhelfen
Abenteuerwälder 10: Die
unheimliche Drohung
Lois Walfrid Johnson
Band 10 von 10
Taschenbuch, 224 Seiten
Artikel-Nr.: 256150
ISBN / EAN: 978-3-86699-150-7

Patricia St. John, Überraschung im Morgengrauen,

08/19/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Überraschung im Morgengrauen

Patricia St.John
Taschenbuch, 112 Seiten
Artikel-Nr.: 255560
ISBN / EAN: 978-3-89397-560-0
Dieses Buch enthält drei Geschichten von Patricia St. John, deren Bücher auf der ganzen Welt bekannt geworden sind. Die Geschichten spielen in Marokko, dem Land, in dem die Autorin 27 Jahre als Missionarin und Krankenschwester lebte, und dessen Menschen sie kennen und lieben lernte. Überraschung im Morgengrauen: Yacoots, eine alte, einsame Frau, kann sich nur noch mühsam selbst versorgen.
Die ganze Woche freut sie sich auf Freitag,wenn ihre Enkelin sie besucht und ihr aus der Bibel
vorliest. Aber noch jemand überrascht sie früh am ... 

Patricia St. John Überraschung im Morgengrauen und andere Geschichten Christliche Literatur-Verbreitung Bielefeld Verlag Bibellesebund Marienheide / Winterthur 8. Aufl age 2008
Titel der englischen Originalausgabe: »The Four Candles«
erschienen bei: Scripture Union (Bibellesebund), London
© 1956 by Patricia St. John
Deutsch von lngeburg Bedke (»Überraschung im Morgengrauen« und »Der Umhang«) und Elisabeth I. Aebi (»Die vier Kerzen«) Illustrationen von Justo G. Pulido,
© der deutschsprachigen Ausgabe: 1978 by Verlag Bibellesebund, Marienheide
Umschlag: Georg Design, Münster Satz: CLV
Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-87982-023-8 (BLB)
ISBN 978-3-89397-560-0 (CLV)


Inhalt
Überraschung im Morgengrauen 7
Der Umhang 35
Die vier Kerzen 75

Überraschung im Morgengrauen

9
Der Besuch
R uckartig erwachte die alte Frau aus ihrem Schlaf. Schon schien die Frühlingssonne durch die Risse in der Wand. Die Hühner draußen machten einen fürchterlichen Spektakel. Es war bereits heller Tag und sie hatt e verschlafen. Dies war besonders schade, weil heute Freitag war, Yacoots’ allwöchentlicher großer Tag, und es gab noch viele Vorbereitungen zu treff en. Sie erhob sich so schnell, wie ihr Rheuma es erlaubte. In den nächsten paar Stunden wartete noch eine Menge Arbeit auf sie: Brot kneten, Wasser von der Quelle holen, Feuer machen und das Zimmer fegen. Aber bei dem Lärm der Hühner konnte man ja nicht einmal nachdenken. Irgendetwas musste mit ihnen los sein. Sie humpelte zur Tür. Als sie sie öff nete, schlug ihr ein kalter Luft zug entgegen, sodass sie einen Moment lang die Augen schloss, während ihr die Hühner gackernd entgegenrannten. Als sie die Augen wieder aufmachte, war es schon zu spät. Eine kleine, zerlumpte Gestalt eilte barfuß den Hügel hinauf, und ein Blick ins Hühnerhaus verriet ihr, dass die Nester leer waren.
Das war ihr nun schon zum zweiten Mal passiert. Ihre Hilfl osigkeit trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wusste nicht, wer der kleine Dieb war; aber es musste etwas geschehen, und zwar bald, denn vom Verkauf der Eier lebte sie. Sie schafft e es damit gerade noch bis zum Markt, obgleich ihr der Rückweg bergauf einige Mühe bereitete. 10
Manchmal fragte sie sich, wie lange das wohl noch so weiterging. Sie brauchte dringend Hilfe, aber niemand kümmerte sich um sie. Ihre einzige Tochter war mit einem wohlhabenden Geschäft sinhaber verheiratet, der sich seiner schäbigen alten Schwiegermutt er zutiefst schämte. Dennoch gab er ihr hin und wieder etwas Geld.
Verdrießlich vor sich hin schimpfend schwang sie ihren Wasserträger über die Schulter. Auf dem Weg zur Quelle wurde es jetzt langsam wärmer. Sie wandte ihr zerfurchtes altes Gesicht der Sonne zu und fühlte augenblicklich allen Ärger von sich abfallen.
BN0794-6.jpg?1724071405248
Die ersten Mandelblüten hoben sich wie rosa Wolken von dem silbernen Laub der Olivenbäume und den grauweißen Zweigen der Feigenbäume ab. Der Bach sprudelte und glänzte, und in einem Büschel Gras am Rand der Quelle öff neten sich die ersten Narzissen. Yacoots nahm ihren Duft schon wahr, bevor sie sie sah: Das war der Frühling. Sie hatt e sich immer an allem Schönen erfreuen können, und obgleich sie alt war, wurde ihr dadurch leicht ums Herz. Sie vergaß den Dieb und dachte nur noch daran, dass in zwei Stunden Nadia kommen würde, und dann würde sie die Worte des Buches hören, das Wort Gott es.
Die Eimer waren schwer und sie war müde, als sie zurückkam. Aber sie konnte sich jetzt nicht ausruhen, denn alles musste rechtzeitig fertig werden. Sie setzte den Kessel auf das Holzkohlebecken und trug es nach draußen, damit der leichte Frühlingswind die Glut anfachte.
Währenddessen knetete sie den Brott eig. Dann putzte sie den Fußboden, schütt elte die Binsenmatt e aus, fütt erte die Hühner und polierte ihr kostbares Bronzetablett . Sie wollte nicht eher essen oder trinken, bis Nadia kam, denn zweimal zu frühstücken konnte sie sich nicht leisten. Aber die Freude gab ihr Kraft und sie arbeitete schnell, denn die Arbeit am Freitag war keine gewöhnliche Arbeit. An anderen Tagen war sie eine einfache alte Frau, die sich mit ihrer Hausarbeit abmühte. Aber freitags war sie eine Gastgeberin, die ein Festmahl vorbereitete.
Das Wasser begann zu kochen und der Teig in der schweren Bratpfanne war sorgsam gewendet worden. Das Zimmer war erfüllt von dem Duft nach Mais und warmem Brot. Sie schob ihren niedrigen runden Tisch ins 12
Sonnenlicht am Eingang und stellte Kaff eetopf und Gläser darauf. Dann zog sie die Kiste unter ihrem Bett hervor und nahm das Buch heraus. Ihre Finger berührten es ehrfurchtsvoll und mit Zitt ern. Es war ein schäbiges, abgegriff enes kleines Buch mit einem ausgebleichten Pappdeckel; sie besaß es schon seit fünfzehn Jahren.
Sie stammte nicht aus den Bergen, sondern war am Mitt elmeer aufgewachsen. Dort hatt e sie auch als verheiratete Frau gelebt und eine Tochter mit Namen Anisa zur Welt gebracht. Aber ihr Mann hatt e sie verlassen, als das Kind noch klein war. Deshalb hatt e sie für eine Spanierin ge arbeitet, von der sie sehr gut behandelt wurde. Keine hatt e die Sprache der anderen verstanden, abgesehen von einigen Alltagsbegriff en, und sie konnten sich kaum unterhalten. Aber die Freundlichkeit und Güte der Señora waren beispiellos gewesen. Sie schienen ihren Ursprung in Gott zu haben und kamen aus dem schwarzen Buch, aus dem die Frau ihren Kindern jeden Abend vor dem Zubett gehen vorlas. Manchmal versuchte sie, Yacoots davon zu erzählen, aber diese verstand nie sehr viel. Sie wusste nur, dass es eine Quelle der Liebe war, und wenn sie im Zimmer Staub wischte und niemand zusah, wagte sie ihre Hand auf das schwarze Buch zu legen und es zu küssen.
Dank des Mannes der Señora konnte Anisa die Schule besuchen. Mit fünfzehn Jahren hatt e sie dann einen Kaufmann geheiratet, war in die Berge gezogen und hatte mehrere Söhne zur Welt gebracht. Yacoots war in der Stadt geblieben, bis ihre geliebte Señora ihr eines Tages mitgeteilt hatt e, dass sie nach Spanien zurückkehren würden und Yacoots sich nach einer anderen Arbeitsstelle umsehen müsse.
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Das war einer der traurigsten Augenblicke ihres nicht leichten Lebens gewesen. Sie liebte die Kinder der Señora wie ihre eigenen, und als sie Abschied nehmen musste, war sie vor Traurigkeit wie benommen, sodass sie die herrlichen Geschenke kaum wahrnahm, die sie bekam. Kurz vor ihrer Abreise nahm ihre Herrin sie beiseite und gab ihr ein kleines Buch, nicht in Spanisch, sondern in Yacoots’ eigener Sprache. »In diesem Teil des Buches lesen wir jeden Tag«, hatt e sie erklärt. »Er spricht von Jesus und dem Weg zu Gott . Bewahre es sorgfältig auf, und wenn deine Enkelkinder größer geworden sind, bitt e sie, dir daraus vorzulesen. Es ist Gott es Wort.«
Noch am gleichen Nachmitt ag war die Familie abgereist. Sie hatt e sie zum Hafen begleitet und ihnen zum Abschied gewinkt, während die Tränen über ihr Gesicht liefen. Dann war sie nach Hause gegangen, hatt e ihre Kiste gepackt, das Buch – in ein Taschentuch gewickelt – ganz nach unten gelegt und war zu ihrer Tochter in die Berge gezogen.
Aber das Haus war eng, die Jungen rau und laut, und ihr Schwiegersohn wollte sie nicht haben. Bald war es klar, dass für sie kein Platz war. Da ihr die Señora etwas Geld geschenkt hatt e, kauft e sie die kleine Hütt e und das Stück Land. Hier wohnte sie nun seit fünfzehn Jahren mit ihren Hühnern und pfl anzte Gemüse an. Das große Ereignis ihres Lebens war vor zwölf Jahren Nadias Geburt gewesen.
Bis vor Kurzem hatt e sie niemandem ihr Buch gezeigt. Sie selbst konnte natürlich kein Wort lesen. Ihr Schwiegersohn war ein strenggläubiger Moslem und hätt e sie der Gott eslästerung beschuldigt, und Anisa und die Jun-
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gen hätt en, obschon sie sie gernhatt en, über die Idee einer alten Frau, ihr etwas vorzulesen, gelacht. Aber seit jenem großen Tag, als ihr Schwiegersohn mit der Nachricht durch den Olivenhain gerannt kam: »Komm schnell, Anisa hat ein Mädchen geboren«, wusste sie, dass es anders werden würde. Und als sie sich über die Wiege beugte und tief in die klugen dunklen Augen des kleinen Mädchens sah, bekam sie in ihrem Herzen die Gewissheit, dass sie und ihre Enkelin eines Tages das Buch zusammen lesen würden; dann würde sie die Stimme Gott es hören können.
Sie hatt e geduldig gewartet, nie gedrängt, und das Kind hatt e sie von Anfang an gerngehabt. Wenn Nadia krank oder traurig war, hatt e sie nach ihrer Großmutter gerufen. Und ihre Mutt er, die im Haus und mit ihren Söhnen beschäft igt war, rief die Großmutt er und war froh, jemanden zu haben, der ihrer recht zarten kleinen Tochter seine ganze Aufmerksamkeit schenken konnte.
In den ersten sechs Jahren war Yacoots die Kinderfrau des kleinen Mädchens und hatt e deswegen sogar ihre Hühner verkauft . Dann kam Nadia in die Schule. Yacoots kehrte heim und nahm ihr altes Leben wieder auf, nur mit einem Unterschied: Am Sonntag ging sie jeweils zu ihrer Tochter, und freitags kam Nadia sie immer besuchen.
Nadia brachte jede Woche ihre Schulbücher mit zur Großmutt er, um ihr ihre Fortschritt e vorzuführen. Mit zwölf Jahren konnte sie zwei Sprachen fl ießend lesen. Und eines Tages, vor etwa fünf Monaten, hatt e Yacoots mit klopfendem Herzen und zitt ernden Händen das Buch hervorgeholt und dem Mädchen von der Señora und ihrem Geschenk erzählt.
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»Es handelt von Gott und von Liebe«, hatt e sie recht allgemein erklärt. »Fünfzehn Jahre habe ich es in meiner Kiste versteckt, weil ich nicht lesen kann.«
Und Nadia, die außer ihren Schulbüchern keine anderen besaß, war begeistert. Sie setzte sich augenblicklich auf den Boden, um es durchzublätt ern. Zuerst musste sie lachen, weil sie auf eine ganze Liste mit Namen stieß, aber dann wurde sie plötzlich von einer Geschichte gepackt. Und Yacoots, die ihre Enkelin aufmerksam beobachtete, konnte das Bild nie wieder vergessen. Nadia saß im Eingang, umspielt von der matt en Wintersonne, während die Pappeln an der Quelle den goldenen Hintergrund zu ihrem ernsten jungen Gesicht bildeten. Schließlich blickte sie auf, und ihre dunklen Augen leuchteten.
»Es ist ein gutes Buch, Großmutt er«, sagte sie. »Ich werde dir jede Woche ein Kapitel daraus vorlesen.« Geduldig hatt e sie sich durch die Namensliste gearbeitet und erleichtert mit den eindrücklichen Worten der Erzählung begonnen. Und nachdem sie ihre Großmutt er geküsst hatt e und fortgegangen war, hatt e Yacoots lange dagesessen und in die untergehende Sonne und in den Nebel geblickt. Sie wiederholte die Worte, die fest in ihrer Erinnerung haft en geblieben waren: »Er soll Jesus heißen, denn er wird sein Volk rett en von seinen Sünden.« Und von dem Tag an war Jesus eine Person geworden, ein Freund, der ihre einsame kleine Hütt e mit ihr teilte. Sie wusste nicht, wer er war, auch nicht, dass er gestorben und auferstanden war. Aber etwas sagte ihr, dass er eine lebendige, gegenwärtige Tatsache war, der Leitstern ihres Lebens. Und jeden Freitag sprach er wieder zu ihr

Joubert Irma, Das Mädchen aus dem Zug Neethling-Trilogie 2,

07/17/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

332086.jpg?1721205239864Südpolen, April 1944


„Du musst loslassen!“, sagt ihre Oma.
Aber sie klammert sich verbissen fest. Der eiserne Rand schneidet ihr in die Finger, ihre Füße suchen verzweifelt nach Halt. Doch der Drache schwankt gefährlich hin und her. Ihre Beine strampeln unter ihr in der Luft.
„Gretel, lass los!“ Die Stimme ihrer Oma übertönt schrill das Schnauben des Drachen.

„Wir sind gleich oben, du musst jetzt loslassen!“
Sie sieht hinunter. Der Boden ist weit weg. Überall liegen Schottersteine, der Abhang geht in eine tiefe Schlucht über.
Durch den Schmerz verkrampfen sich ihre Arme, ihre Hände haben kaum noch die Kraft, sich festzuhalten. In diesem Augenblick macht ihre Oma ihre Finger los.
Sie schlägt so hart auf den Boden, dass ihr der Schock durch den ausgemergelten Körper fährt.
Zuerst fällt sie, dann rutscht sie und schließlich rollt sie den Abhang hinunter. Der Schotter zerkratzt ihr das Gesicht und die Beine. Sie beißt die Zähne zusammen, um bloß nicht zu schreien.
Am Fuß des Grabens kommt sie jäh zum Stillstand. Einen Augenblick lang liegt sie totenstill da. Ihr Atem keucht, ihr Herzschlag dröhnt ihr so laut in den Ohren, dass sie Angst hat, die Wachen könnten ihn hören.

„Roll dich sofort zu einem Bündel zusammen. Zieh den Kopf ein und bleib totenstill liegen“, hat ihre Oma ihr eingeschärft. „Und bleib an Ort und Stelle, bis Elsa zu dir kommt.“

Also rollt sie sich zu einem Bündel zusammen. Der Boden unter ihr bebt, sie spürt, wie sich der Schotter und der Sand unter ihr und um sie herum bewegen. Sie zieht den Kopf noch weiter ein, denn über ihr stöhnt und schnaubt der lange Drache weiter den Hügel hinauf. Er spuckt Rauch und bläst Dampf, sie weiß es, weil sie seinen sauren Atem riechen kann. Aber sie wagt es nicht hinzuschauen.
Jetzt ist er anscheinend oben angekommen, denn sie hört, wie sein Keuchen hastiger und das Rattern der auf den Schienen rollenden Eisenräder wieder schneller wird.
Um sie herum wird es totenstill. Sie hat schrecklichen Durst.
Langsam wagt sie es, die Augen zu öffnen. Finsternis umgibt sie, die Nacht ist so dunkel, dass nicht einmal ein Stern zu sehen ist.
„Und wenn wir Angst haben?“, hat Elsa gefragt.
„Dann denkt ihr an etwas anderes“, hat Oma geantwortet.
Mutti hat nichts gesagt, sondern nur noch geweint, aber ohne Tränen, denn ihr Körper ist völlig ausgetrocknet gewesen.
Ich habe nie Angst, niemals, denkt Gretel, und ich bin dem Drachen entkommen. Erst Elsa, dann ich. Ich bin tapfer und Elsa auch.
Vorsichtig dreht sie sich auf den Rücken. Das tut weh. Sie streckt die Beine durch. Offensichtlich kann sie sie noch bewegen, nur ein Knie brennt.
Wenn wieder eine Steigung kommt, werden Mutti und Oma auch abhauen. Dann gehen wir alle zusammen zurück zu Omas Haus am Waldrand. Aber nie mehr zurück ins Getto, auf gar keinen Fall.
Sie merkt, dass ihr Mund voller Erde ist, aber sie hat keine Spucke mehr, nicht einmal einen Tropfen. Wenn sie jetzt nur einen Schluck Wasser trinken könnte!
Vorsichtig betastet sie ihr brennendes Knie. Es fühlt sich klebrig an und ein wenig feucht.
Schon lange vor Sonnenaufgang ist das Wasser ausgegangen. Die großen Leute haben dann ihre Arme durch die Gitterstäbe gestreckt und bei jedem Bahnhof um Wasser gebettelt. Aber die Wachen mit ihren Gewehren haben darauf geachtet, dass ihnen niemand etwas gibt. Neben ihnen haben die Hunde ihre Zähne gefletscht und die ganze Zeit gebellt. Aber die konnten wenigstens aus großen Becken modriges Wasser trinken.
Und die Lokomotive hat auch ihren Bauch mit klarem Wasser gefüllt.
„Schau lieber nicht hin, denk an etwas anderes“, hat ihr ihre Oma gestern schon geraten. Ihr Gesicht hat seltsam ausgesehen, denn die Sonne hatte Blasen hineingebrannt, weil sie ihren Hut verloren hatte.
Auch ihre Stimme war seltsam gewesen, so furchtbar trocken.
Und Mutti hatte schließlich aufgehört zu weinen und nur noch vor sich hin gestarrt.
Es ist schwer, an etwas anderes zu denken.
Eigentlich hat sie ja keine Angst vor der Dunkelheit. „Die Dunkelheit ist euer größter Freund“, hat Oma schließlich gesagt. „Ihr müsst so weit wie möglich von der Bahnlinie wegkommen, solange es noch Nacht ist. Tagsüber müsst ihr euch verstecken.“
Aber jetzt ist kein Stern zu sehen und der Mond gibt auch nur ab und zu ein bisschen Licht, weil der Himmel bewölkt ist. Hier und da zuckt ein Blitz.
Sie hat keine Angst vor Blitzen, denn sie bringen Regen. Und wenn es endlich regnet, dann kann sie sich einfach auf den Rücken legen und muss nur den Mund aufmachen. Und dann kann sie sich voll Wasser laufen lassen, bis sie überfließt.
Sie muss unbedingt an etwas anderes denken.
Oma hat ein Haus am Waldrand. Es sieht aus wie das Haus von Hänsel und Gretel, aber ohne die Hexe. Gemeinsam pflücken sie Beeren im Wald. Der Wald ist friedlich, sie weiß, dass es dort keinen Wolf gibt, aber zur Sicherheit bleibt sie doch lieber bei Mama oder Elsa, denn man kann ja nie wissen.
Vielleicht sollte sie sich besser aufsetzen und leise nach Elsa rufen. Denn jetzt hört sie das Tschuck-tschuck und das Geratter des Zuges schon eine ganze Weile nicht mehr. Und in dieser Finsternis findet Elsa sie nie.
Sie setzt sich also auf. Ihr Kopf tut ein bisschen weh. Sie schaut sich um, sieht aber überall nur eine dunkle Nebelgardine. Egal wie sehr sich ihre Augen anstrengen, sie sehen nur Finsternis.
„Elsa?“ In der dicken Schwärze um sie herum klingt ihre Stimme dünn.
Sie holt tief Luft. „Elsa!“ Das hört sich besser an. „Elsa! El-saa-a!“
Sie bekommt keine Antwort.

Jakób Kowalski schiebt seinen bleischweren Sack auf die andere Schulter und blickt in die Finsternis vor sich, in der er kaum etwas erkennen kann. Gelegentlich zucken Blitze durch die dicken Wolken, mehr Licht gibt es nicht. Zum Glück ist die Gegend hier einigermaßen eben, doch ihm ist klar, dass sie mehr Licht brauchen werden, sobald sie zum Fluss hinuntersteigen, denn sonst können sie nicht sehen, wohin sie gehen. Mit den Fingern fährt er sich durch sein schwarzes Haar und kneift die schwarzen Augen zu Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können.
„Warum muss es denn ausgerechnet heute Nacht sein?“, mault Zygmund dicht hinter ihm. Seine Stimme überschlägt sich gelegentlich, schließlich ist er gerade einmal fünfzehn Jahre alt. „Man kann ja kaum die Hand vor Augen sehen!“
„Und wenn’s gleich regnet, werden wir klatschnass“, brummt Andrzej. „Die Wolken da sehen ziemlich bedrohlich aus.“
„In der verschlüsselten Nachricht hat es geheißen, dass der Zug mit den deutschen Truppen hier kurz vor Tagesanbruch durchkommen wird, auf dem Weg zurück nach Deutschland“, antwortet Jakób so ruhig wie möglich, obwohl er merkt, dass sein Geduldsfaden langsam zu reißen beginnt. „Bis dahin müssen wir die Bombe unter der Brücke in Stellung gebracht haben.“
„Mir geht das alles viel zu schnell“, erwidert Andrzej nervös. „Wieso sprengt nicht die Gruppe weiter hinten an der Bahnlinie den Zug in die Luft?“
„Weil es dafür dann schon zu hell sein wird.“ Jakób kann seine Ungeduld kaum noch beherrschen. Die Heimatarmee hat ihm zwei unerfahrene Kinder mitgegeben, die ihm bei dieser gefährlichen Aktion helfen sollen. Andere Leute gab es nicht.
„Und du bist dir sicher, dass da keine Wache auf der Brücke steht?“, will Andrzej wissen.
„Ich weiß gar nichts sicher“, erwidert Jakób kurz angebunden, „außer, dass wir die Bombe noch heute Nacht unter dieser Brücke befestigen müssen. Nehmt also einfach an, es gäbe da einen Wachtposten, und bewegt euch so leise wie möglich.“
„Und wie sollen wir dann sehen, was wir tun?“, fragt Zygmund und stellt den schweren, wasserdichten Sack für einen Augenblick neben sich auf dem Boden ab.
„Unter der Brücke müssen wir vielleicht Licht machen“, gibt Jakób zu. Er selbst ist auch besorgt darüber, dass ihr Auftrag praktisch undurchführbar sein könnte. Denn wenn dort an der Brücke tatsächlich ein deutscher Wachtposten sein sollte, dann wird die Aktion unmöglich. Aber Deutschland kann schließlich nicht jede einzelne Brücke in ganz Polen bewachen oder patrouillieren lassen.
„Wenn es regnet, wird sich die Wache sicher unter der Brücke unterstellen“, wirft Andrzej schwermütig ein. Er keucht beim Sprechen, sein runder Körper krümmt sich unter der Last.
„Das ist eine Stahlbrücke, da kann man sich nicht wirklich unterstellen“, entgegnet Jakób. „Außerdem ist der Abhang dort viel zu steil, die Wache kommt da gar nicht hinunter, ohne sich den Hals zu brechen.“
Ohne ein Wort zu sagen, stolpern sie unaufhaltsam weiter durch das hohe Gras und die Sträucher. Als der Mond für einen Augenblick sein schwaches Licht durch die Wolkenmassen wirft, sagt Jakób: „Wir müssen hier den Hang hinunter. Bei der Brücke ist die Böschung beinahe senkrecht.“
„Müssen wir etwa den Fluss hinunterschwimmen?“, fragt Andrzej entsetzt. „Oder bis zur Brücke über irgendwelche Felsen klettern?“
„Das wird mit den Säcken sicher ein Heidenspaß“, schmollt Zygmund.
Jetzt kann sich Jakób nicht länger im Zaum halten und seine Ungeduld muss sich Luft machen: „Seid ihr nun dabei oder nicht?“, herrscht er sie böse an. „Wenn ja, dann haltet endlich die Klappe und führt mit mir den Auftrag aus.“
Sie stolpern den steilen Abhang hinunter, schlittern und rutschen ein Stück, suchen blindlings nach Halt und klammern verbissen ihre gefährliche Fracht fest. Die Wolkendecke scheint mittlerweile etwas aufzureißen, jedenfalls ist der Mond ab und zu ein bisschen zu sehen. Beim Gehen treten sie Steine los, die den Hang hinunterrollen und klatschend ins Wasser fallen. „Gut, dass wir nicht in der Nähe der Brücke hinuntergestiegen sind“, keucht Andrzej. „Wenn es dort eine deutsche Wache gibt, dann kann sie uns kilometerweit hören.“
„In diesem Fall kann sie uns auch jetzt hören“, entgegnet Jakób. „Bis zur Brücke sind es keine hundertundfünfzig Schritte mehr.“
Schließlich stehen sie am Flussufer. Das Wasser rauscht leise an ihnen vorbei, hier und da scheint das schwache Licht des Mondes. „Kommt, lasst uns unseren Plan noch einmal durchgehen“, fordert Jakób sie auf. „Wir nehmen den zweiten Pfeiler von links. Der Zug wird von rechts kommen. Das bedeutet, dass die Lokomotive und mindestens drei Waggons schon auf der Brücke sind, wenn sie in die Luft fliegt. Das wiederum bedeutet, dass damit auch der Rest des Zuges in den Abgrund gerissen wird. Ist so weit alles klar?“
„Alles klar“, antworten seine beiden Helfer.
„Der Fuß des Pfeilers steht genau am Flussufer, aber noch auf trockenem Boden. Zygmund, du kletterst als Erster den Pfeiler hinauf. Ganz oben machst du die beiden Seile fest und wirfst die Enden hinunter. Ist so weit alles klar?“
„Kein Problem.“
„Und mach das Seil, an dem ich hinaufklettern muss, ja ordentlich fest!“, schärft ihm Jakób ein. „Ich habe keine Lust, mir meinen Hintern hier auf den Steinen aufzuschlagen.“
Zygmund nickt ernst.
„Andrzej, wir beide hieven zuerst die Artilleriegeschosse und dann die Landmine in dem Sack nach oben zu Zyg. Du, Zyg, klemmst dann die Geschosse zwischen den Streben und den Schienen ein. Aber achte darauf, dass sie schön festsitzen. Und lass sie im Sack. Verstanden?“
„Verstanden, Jakób!“ Zygmunds junge Stimme überschlägt sich vor Anspannung, obwohl er nur flüstert.
„Dann hieven wir die Bombe zu dir hinauf. Wenn sie bei dir ist, wartest du einen Moment. In dieser Zeit klettere ich hoch und helfe dir.“
„Ja, das Ding ist furchtbar schwer“, brummt Andrzej und schiebt den Sack auf sein anderes Schulterblatt.
„Wir machen die Bombe fest und platzieren die Landmine dann so, dass sie die Bombe und die Geschosse zur Explosion bringt, wenn der Zug auf sie fährt. Ist so weit alles klar?“
„Alles klar!“
„Und passt ja auf, dass ihr die ganze Zeit über sehr vorsichtig ans Werk geht. Diese Bombe ist ein altes Teil und völlig unberechenbar. Eine falsche Bewegung und wir jagen uns selbst in die Luft“, warnt Jakób. „Männer, lasst uns nun an die Arbeit gehen!“
„Die Nazis werden auf direktem Weg zur Hölle fahren!“, verkündet Zygmund tapfer.
„Für Polen!“, keucht Andrzej.
„Für ein unabhängiges Polen!“, rufen alle drei gleichzeitig mit gedämpfter Stimme und schwingen dabei ihre Fäuste in die Luft.
Danach sprechen sie kein Wort mehr.
Für die letzten hundert Meter bis zur Brücke brauchen sie mehr als eine halbe Stunde. Sie versuchen, am Ufer entlangzulaufen, aber die Steine sind rund und glatt und der Abhang ist steil. Der schwere Sack mit seiner explosiven Ladung schlägt gefährlich gegen ihre Schultern. Die Dunkelheit bietet zwar einen guten Schutz, macht aber auch ihre Schritte schwieriger. Es ist, als ob sie auf Eiern liefen. Alle paar Meter bleibt Jakób stehen. Er horcht sich um und versucht herauszufinden, wo sie sich genau befinden. Von oben ist das Donnern des Gewitters zu hören, aber weiter hinten werden die Wolken etwas heller. Plötzlich sieht er die Brücke keine zehn Meter vor sich.
Er gestikuliert, um den anderen klarzumachen, dass sie da sind.
Wir sehen es auch, zeigen die anderen beiden mit ihren erhobenen Daumen an.
Jakób nimmt Zygmund den Sack ab und stellt ihn vorsichtig an den zweiten Pfeiler auf den Boden. Zygmund zieht zuerst seine Stiefel aus, dann seine Jacke. Jakób bindet ihm die beiden Seile um den Bauch. Ich steige hinauf, deutet Zygmund schweigend an, und dann klettert er los.
Es dauert elend lange. Alle paar Meter finden seine Füße Halt auf den Querstreben des Stahlpfeilers, aber dazwischen muss er über weite Strecken mit seinem sehnigen Körper an dem glatten Eisen hinaufklettern. Zum Glück scheint die Wolkendecke immer weiter aufzureißen. Jakób starrt nach oben, vor Anspannung ist sein Rücken bis in die Schulterblätter hinauf stocksteif. Doch sosehr er sich auch anstrengt, abgesehen von gelegentlichen Bewegungen erkennt er nichts. Es bleibt totenstill. Wenn es also einen deutschen Wachposten geben sollte, ist er vermutlich eingeschlafen.
Schließlich spürt Jakób ein Rucken im Seil. Sofort fängt er an es abzurollen, während Andrzej bereitsteht, um das Ende aufzufangen. Nach einer halben Ewigkeit sehen sie endlich ein Seilende vor sich baumeln, dann fällt auch das andere Ende von oben herunter und schwingt in der Nähe des Pfeilers hin und her. Sie binden den ersten Sack gut daran fest. Jakób ruckt an dem anderen Seil, damit Zygmund weiß, dass sie die Geschosse jetzt nach oben hieven werden, und damit er dafür sorgt, dass sich das Seil nicht vom Pfeiler löst.
Sie arbeiten langsam, Stückchen für Stückchen, ganz vorsichtig, damit der Sack ja nicht ins Schwingen kommt. Dann spürt Jakób einen festen Ruck in dem losen Seil, das er sich um die Schulter gewickelt hat – der Sack mit dem explosiven Inhalt ist also sicher oben angekommen. Auf dieselbe Weise hieven sie auch ihre zweite Ladung nach oben. Es ist eine Landmine, die ihnen jemand vor zwei Monaten in der Umgebung der Karpaten beschafft hat, indem er ein russisches Bataillon mit selbst gebranntem Wodka gut versorgt und auf diese Weise eine ganze Ladung leichter Waffen in seinen Besitz gebracht hat. Das war der größte Fang, den die Heimatarmee in der letzten Zeit gemacht hatte.
Die dritte Fracht wird etwas schwieriger zu transportieren sein. Es ist eine Hundert-Kilo-Bombe, die nicht explodiert ist, als die Nazis sie 1940 in der Gegend abgeworfen haben – schon die kleinste Erschütterung könnte sie zur Explosion bringen. Es kostet Jakób und Andrzej ihre ganze Kraft, diesen Sack hinaufzuhieven.
Dann ruckt Zygmund am Seil. „Halt fest, ich binde das Seil an den Brückenpfeiler“, sagt Jakób leise.
„Ja, aber mach schnell“, antwortet Andrzej keuchend.
Als das Seil festgebunden ist, zieht Jakób seine Stiefel aus und ruckt kurz an dem Kletterseil, bevor er sich auf den Weg nach oben macht. Mit Leichtigkeit zieht er seinen geschmeidigen Körper an dem rauen Seil hinauf. Er ist auf einem Bauernhof aufgewachsen. Durch die Arbeit dort hat er Muskeln wie Stahl, während seine Hände in den vergangenen drei Jahren durch die harte Arbeit in der Stahlfabrik Schwielen bekommen haben. So ist er innerhalb von nur einer Minute auf der Querstrebe neben Zygmund.
Dieser hält den Sack mit der Bombe mit aller Kraft fest. Zusammen befestigen die beiden den Sprengkörper mitsamt dem Segeltuchsack und allem anderen an einem Platz unter der Eisenbahnschiene. Es ist ein Jammer, dass sie den guten Sack opfern müssen, aber es wäre zu gefährlich, die schwere Bombe herauszuholen. Sie legen die Landmine an ihren Platz, prüfen noch einmal, ob alles in Ordnung ist, und klettern dann vorsichtig wieder hinunter.
Als sie ihre Schuhe wieder angezogen haben, bedeutet ihnen Jakób mit Handzeichen, dass sie sich beeilen müssen. Je mehr Abstand sie zwischen sich und die Eisenbahnbrücke bringen können, desto sicherer ist es.
Der Rückweg ist sehr viel einfacher – sie sind ihre schwere Last los und gleichzeitig werden die Wolken vor dem Mond dünner. Die beiden Jungen haben es furchtbar eilig, so als ahnten sie langsam, dass das kein Abenteuer, sondern die Wirklichkeit ist.
Jakób sieht zum Himmel hinauf. Er schätzt, dass sie nicht einmal mehr eine Stunde haben, bis der Mond untergegangen sein wird. Ab diesem Zeitpunkt sind es nur noch drei Stunden bis zum Tagesanbruch. Diese drei Stunden brauchen sie zum Schlafen, überlegt er, während er die Uferböschung inspiziert, um einen guten Weg nach oben zu finden. Sie haben die Ruhe nötig, bis nach Hause ist es schließlich noch eine ganze Tagesreise oder sogar noch länger.
„Ich höre einen Zug“, bemerkt Zygmund auf einmal.
„Das ist unmöglich“, erwidert Jakób. „Der Zug kommt erst bei Tagesanbruch hier vorbei. Und bis dahin sind es vermutlich noch drei, vier Stunden.“
„Das ist mit Sicherheit ein Zug“, entgegnet Zygmund.
Alle drei drehen sich um und schauen flussabwärts in Richtung Brücke, die keine zweihundert Meter hinter ihnen ist.
In diesem Augenblick hört Jakób es auch. Unglaube, eine plötzlich aufsteigende Wut, die Erkenntnis, für die Sicherheit der Jungen verantwortlich zu sein, all das bricht gleichzeitig über ihn herein. „In Deckung!“, schreit er. „Hinter die Felsen dort! Schnell!“
Sie kriechen über die losen Steine und rutschen und schlittern hinter einen niedrigen, abgeflachten Felsen. „Ist das genug Deckung?“, fragt Zygmund mit zaghafter Stimme.
„Wir haben nichts anderes“, antwortet Jakób. „Zieht die Köpfe ein!“
Dann sieht er das Licht, das einen Tunnel in die Finsternis bohrt, spürt, wie ihm der Schrecken in die Glieder fährt. „Der Zug kommt aus der falschen Richtung!“, ruft er entsetzt. „Das kann nicht der ...“
In diesem Augenblick erhellt ein greller Blitz die Dunkelheit. Der Horizont explodiert mit einem unglaublichen Knall und ein gleißendes Licht schießt nach oben, so als ob sich alle Unwetter Polens mit einem Schlag auf die Brücke gestürzt hätten.
„Heilige Mutter Gottes!“, ruft Zygmund aus und bekreuzigt sich.
„Gnade!“, schreit Andrzej und schlägt beide Hände vors Gesicht. Und wieder: „Gnade!“
Sie hören, wie Stahl zerreißt.
Wie Menschen furchtbar schreien.
Jetzt stürzt die Lokomotive in die Tiefe, ahnt Jakób. Und zieht die Waggons mit in den Abgrund. Oder sie reißen sich los und …
Eine zweite Explosion folgt, noch schlimmer als die erste. Zygmund zieht den Kopf noch weiter ein, den Körper fest zusammengekrümmt. „Mutter Maria!“, weint er beinahe.
Andrzej entfährt ein heftiges Schimpfwort und er schlägt zwei Kreuze vor seiner breiten Brust.
„Das war der Dampfkessel. Er ist explodiert“, erklärt Jakób.
Aber woher war jetzt dieser Zug gekommen? Aus der falschen Richtung? Auf dem Weg nach …
Mit einem Mal fällt es ihm ein. Er spürt, wie eine gallenbittere Abscheu in ihm aufsteigt. „Kommt“, zischt er gehetzt. „Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen.“
Sie stolpern die Böschung hinauf, versuchen die plötzliche Stille hinter sich zu lassen. Sie laufen so schnell es ihnen im Halbdunkeln möglich ist von dem Schauplatz des Gemetzels weg. Kein Wort sprechen sie miteinander.

Gretel zuckt vor Schreck zusammen. Sie weiß, dass das Bomben gewesen sein müssen. Ein Flugzeug hat sie zwar nicht bemerkt, aber sie weiß, wie sich Bomben anhören. Und sie weiß auch, dass sie in Deckung gehen muss. Sie sieht, wie die Wolken weit hinten am Horizont, auf der anderen Seite des Hügels, rot glühen.
Das ist zwar weit weg, aber sie können schnell auch hierherkommen.
Im Halbdunkel kriecht sie den Abhang hinauf und richtet sich auf. Als sie sich umschaut, kann sie gerade einmal die Bäume und Büsche entlang der Bahnlinie erkennen.
Am Waldrand bleibt sie zögernd stehen. Angst hat sie zwar keine, aber in so einem Wald gibt es immer einen Wolf oder eine Hexe. Oder eine böse Stiefmutter, so viel weiß sie. Deshalb kriecht sie lieber nur tief ins Unterholz am Waldrand und bleibt dort totenstill liegen. Hier riecht es nach nassen Blättern und die Kälte kriecht zusammen mit ihr ins Gebüsch.
Kein Flugzeug.
Keine weiteren Bomben.
Nur Totenstille. Und der Durst.
Schließlich schläft sie ein.
Als sie wach wird, steht die Sonne schon eine Weile am Himmel. Sie weiß nicht, was sie geweckt hat, aber plötzlich ist sie hellwach.
Und ihr ganzer Körper ist nur noch Durst.
Sie muss nach Elsa rufen, sie müssen im Dunkeln von den Eisenbahnschienen wegkommen. Das hat Oma jedenfalls so gesagt.
Sie kriecht aus ihrem Versteck und schaut sich vorsichtig um. Dann hört sie es, dieses Pfeifen. Mit diesem Pfiff hat ihre Mutter sie immer im Wald bei Omas Haus gerufen. Mutti ist also hier!
Sie versucht zurückzupfeifen – doch ihr Mund ist zu trocken. Deshalb läuft sie einfach in die Richtung, aus der sie das Pfeifen gehört hat.
„Gretel!“, ruft Elsa von links. „Gott sei Dank, dir ist nichts passiert!“
„Elsa? Habe ich nicht Mutti pfeifen gehört?“
„Ich habe gepfiffen.“ Elsas Stimme klingt seltsam. Das kommt sicher daher, dass sie zu wenig getrunken hat.
„Hast du Wasser?“, fragt sie Elsa.
„Nein, das müssen wir jetzt suchen.“
„Sollten wir nicht lieber auf Mutti und Oma warten?“
„Nein.“ Elsa marschiert los, geradewegs in den Wald hinein. Gretel läuft direkt neben ihr.
„Elsa? Hast du die Bomben gehört?“
Elsa wirft ihr einen kurzen Blick zu. Ihre Augen sehen seltsam aus. „Das waren keine Bomben“, entgegnet sie. „Das war nur ein Gewitter.“ Dann starrt sie wieder stur vor sich hin und beschleunigt ihren Schritt.
Gretel weiß genau, dass das Bomben gewesen sind. Bestimmt hat Elsa Angst vor den Bomben, deshalb denkt sie sich das mit dem Gewitter nur aus, vermutet sie. Elsa hat immer Angst, obwohl sie schon vierzehn Jahre alt ist. Aber sie, Gretel, hat nie Angst, obwohl sie erst sechseinhalb ist.
Im Wald gibt es hohe Bäume, die über ihren Köpfen ein Dach bilden. Sie stapfen durch dichten Farn, schieben schlaffe Zweige zur Seite, klettern über umgefallene Baumstämme. „Wann sind wir beim Wasser?“, fragt Gretel.
„Ich weiß es nicht.“
„Elsa, weinst du?“
„Nein.“
Elsa weint aus Angst, vermutet sie. „Du musst keine Angst haben, wir sind bald wieder aus dem Wald heraus.“
Elsa sagt nichts, sie geht einfach weiter.
„Und dann finden wir bald Mutti und Oma“, versucht sie sie erneut zu trösten.
Doch Elsa läuft weiter.
Irgendwann ist Gretel sehr müde, die Beine tun ihr weh. Und so furchtbar durstig, dass sich ihr Magen schon zusammenkrampft. Ihre Kehle ist so trocken, dass sie nicht einmal mehr schlucken kann. „Ich muss jetzt unbedingt etwas trinken“, stöhnt sie.
„Da unten muss irgendwo Wasser sein“, erwidert Elsa. Ihr Gesicht ist knallrot, die dunklen Haare kleben ihr am Kopf. „Dort muss irgendwo ein Fluss sein.“
Gretel hört das Wasser, bevor sie es sieht. Sie vergisst den Wolf und die Hexe und rennt einfach los. Am Bach angekommen, lässt sie sich auf den Bauch fallen und trinkt mit langen Schlucken.
Elsa wäscht ihr rotes Gesicht im Wasser. „Trink nicht zu viel, sonst wird dir schlecht“, ermahnt sie ihre Schwester.
Gretel rollt sich im feuchten Gras auf den Rücken und betrachtet die Blätter über sich. Die Sonne hinterlässt dort golden glänzende Flecken. Jetzt, wo ihr Durst gestillt ist, meldet sich der Hunger. „Elsa, hast du etwas zu essen?“
„Nein.“
Sie setzt sich auf. „Wo treffen wir uns denn nun mit Mutti und Oma?“
„Ich weiß es nicht. Komm, wir müssen weiter.“
Träge steht sie auf. „Ich bin noch müde“, jammert sie. „Wo gehen wir jetzt hin?“
„Wir gehen in die Schweiz, zu Onkel Hans“, sagt Elsa.
„Und wer ist Onkel Hans?“
„Omas Bruder.“
„Ist das weit?“
„Ja, ziemlich.“
„Elsa, wie sollen wir denn da hinkommen?“
Plötzlich beginnt Elsa zu weinen. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!“, klagt sie laut. „Und jetzt höre endlich mit deinem Gejammer und Gefrage auf, mein Kopf dröhnt furchtbar.“
Gretel schweigt. Doch nach einer ziemlich langen Pause sagt sie: „Ist schon gut, Elsa, Oma wird das alles wissen. Wir müssen sie nur finden.“
Aber da weint Elsa nur noch mehr. „Hör auf von Mutti und Oma zu reden“, sagt sie zwischen zwei Schluchzern.
„Gut.“ Sie muss nur an etwas anderes denken, dann geht der Hunger weg.
Die Schweiz ist das Land, in dem Heidi und Peter wohnen, dort in den Bergen, mit einer Menge Ziegen. „Glaubst du, dass Onkel Hans auch so ein Grießgram wie der Alm-Öhi ist?“, will Gretel wissen und vergisst dabei, dass sie eigentlich keine Fragen mehr stellen soll.
Elsa sieht sie mit großen Augen an. „Gretel, wovon sprichst du überhaupt?“
„Na, von der Schweiz.“
„Ach so.“ Die Frage beantwortet Elsa ihr allerdings nicht.
Am Waldrand steht ein Bauernhof. Um ihn herum ist ein Zaun und hinter dem Zaun sehen sie Obstbäume. „Warte hier“, fordert Elsa sie auf.
Gretel wartet elend lange. Sie betrachtet ihre Schuhe, die jetzt ziemlich schmutzig sind. Und ihre Socken auch.
Schließlich kommt Elsa zurück, in ihren Pullover hat sie Äpfel eingewickelt. „Iss nicht zu viele davon, sonst bekommst du Bauchschmerzen“, warnt sie ihre Schwester.
Der Apfel knackt, als Gretel hineinbeißt. Es ist ein großer, saurer Apfel. „Wie kommt es, dass du keinen Apfel isst?“, fragt sie Elsa.
„Ich esse später welche. Gib mir deinen Pullover, dann wickele ich für uns beide noch zwei Äpfel hinein, das wird dann unser Abendessen.“
„Und wenn mir kalt wird?“, fragt Gretel.
„Dann essen wir die Äpfel. Komm, hier in der Nähe muss ein Weg sein. Und da können wir schauen, ob irgendwo ein Ortsname angeschrieben ist, damit wir wissen, wo wir sind.“
Gretel will gerade wieder nach Mutti und Oma fragen, doch sie hat Angst, dass Elsa dann wieder weint.
Als sie in die Nähe des Weges kommen, verkündet Elsa: „Hör mir gut zu, Gretel, wir sind jetzt in Polen und da mögen sie die Deutschen nicht.“
„Sind wir denn nicht mehr in Deutschland?“, fragt Gretel. Denn sie weiß, dass Omas Waldhaus in Deutschland ist. Und das Getto auch, erinnert sie sich.
„Nein, in Polen. Hier darfst du auf keinen Fall Deutsch sprechen.“
„Was soll ich denn sonst sprechen?“
„Wir müssen Polnisch reden. Erinnerst du dich, die Sprache von Oma, das, was sie manchmal mit uns gesprochen hat. Und mit Mutti.“
Gretel nickt. „Das ist schwierig“, wirft sie ein.
„Ja, aber zum Glück bist du nicht dumm.“
Gretel nickt wieder. Sie ist schlau, das weiß sie. „Mögen die Leute hier die Juden auch nicht?“, fragt sie.
„Ich weiß es nicht“, antwortet Elsa. „Ich glaube, sie mögen die Deutschen noch weniger als die Juden, aber niemand mag die Juden. Ich glaube, du solltest auch nichts von den Juden erzählen.“
„Oma ist Jüdin, das weiß ich“, sagt Gretel.
„Vergiss es einfach.“ Es sieht so aus, als würde Elsa gleich wieder zu weinen anfangen. „Vergiss die Juden und die Deutschen und alles. Du und ich, wir sind zwei polnische Kinder aus dem Norden von Polen, verstehst du?“
Gretel versteht es nicht, aber sie wird ernst. „Papa war ein deutscher Soldat“, sagt sie.
„Gretel, hör auf!“, zischt Elsa ziemlich böse.
Dann hört Gretel auf.
Sie marschieren den ganzen Tag. Gretels Füße sind bald ganz schön heiß, weil ihre Schuhe drücken, und ihre Beine werden ganz lahm. Doch Elsa sagt, dass sie so weit wie möglich laufen müssen. Nicht auf dem Weg, sondern im Wald neben dem Weg, damit sie sich verstecken können, wenn sie jemanden sehen sollten. Manchmal machen sie Rast. Elsas Kopf tut sehr weh. Das kommt vom vielen Weinen, denkt Gretel.
Irgendwann wird es schließlich dunkel. „Wo sollen wir schlafen?“, fragt Gretel.
„Unter freiem Himmel. Gretel, bis wir bei Onkel Hans sind, werden wir unter freiem Himmel schlafen und nur hin und wieder etwas zu essen bekommen. Verstehst du das?“
Sie nickt.
„Aber wenn wir erst einmal in der Schweiz sind, wird es uns besser gehen.“
Sie muss es einfach fragen. „Elsa, wo treffen wir nun Mutti und Oma?“
„Sie kommen nicht mit uns“, entgegnet Elsa kurz angebunden.

In der Nacht wird es Elsa furchtbar kalt. Sie rollt sich zu einem Bündel zusammen und zittert wie Espenlaub. Gretel legt sich auf sie, in der Hoffnung, dass es ihr dadurch vielleicht wärmer wird. Doch Elsas Körper ist ziemlich heiß und nass geschwitzt, aber sie zittert trotzdem weiter. Und dabei bettelt sie die ganze Zeit um Wasser. Als es beinahe Morgen ist, fängt sie an mit Mutti zu reden.
Gretel ist auch kalt. Aber sie spürt die Kälte mehr von innen. Das kommt davon, dass der Boden so feucht riecht, denkt sie. Jedenfalls zittert sie nicht so wie Elsa.
Als die Sonne aufgeht, steht Elsa auf. „Wir müssen weiter“, kommandiert sie.
„Ich glaube, du bist krank“, erwidert Gretel.
„Ja“, gibt Elsa zu. „Wir müssen Wasser finden.“
In Polen gibt es ziemlich viel Wasser. Sie trinken aus Bächen und essen beide noch einen Apfel.
Doch schließlich kann Elsa nicht mehr laufen. Sie legt sich in den Schatten eines Baumes, rollt sich zu einem Bündel zusammen und schläft ein.
Gretel liegt da und betrachtet die Blätter. Sie hat Sehnsucht nach Mutti. Und nach Oma, vor allem nach Oma. Warum kommen sie nicht mit?
Um sie herum sind Zweige und Blätter, so wie rund um Dornröschens Schloss. Sie ist ziemlich müde, vielleicht könnte sie auch hundert Jahre lang schlafen. Aber das will sie lieber nicht – sie möchte lieber weiterlaufen, um zu Mutti und Oma zu kommen. Mutti und Oma werden auch bei Onkel Hans sein, so viel weiß sie. Dann werden sie Brotstückchen in Käsesoße tauchen und essen. Genau wie Heidi.
Jetzt darf sie nicht an Brotstückchen und Käsesoße denken.
Sie setzt sich aufrecht hin und sieht sich um. Schließlich steht sie auf und geht vorsichtig ein Stückchen weg.
Wenn sie hier sitzt, kann sie den Weg sehen. Es ist ein ruhiger Weg, nur ab und zu kommt ein Pferdegespann vorbei. Meistens sind es sogar nur einsame Wanderer. Ein Lastwagen ist allerdings auch vorbeigerumpelt, auf seiner Ladefläche waren aber nur Schweine, keine Soldaten.
Da entdeckt sie einen komischen Kerl, der aus der Ferne den Weg entlangkommt. Bei jedem seiner Schritte scheppert es. Auf dem Rücken hat er einen großen Rucksack und um seinen Bauch einen Strick, an dem Becher und ein Kessel hängen und scheppern. In der einen Hand hat er einen weiteren Sack, in der anderen einen Stock.
Er läuft weiter, bis er ein paar Schritte vor ihr stehen bleibt und sich am Wegesrand ins Gras setzt. Dort nimmt er den Rucksack vom Rücken. Der ist offensichtlich ziemlich voll, aber Gretel kann nicht sehen, was drinnen ist. In diesem Moment macht der Mann den anderen Sack auf.
Und holt ein Stück Brot heraus.
Gretel läuft das Wasser im Mund zusammen.
Mit seinem Klappmesser schneidet sich der Mann eine dicke Scheibe von dem Brot ab. Dann zerteilt er den Käse.
Gretel beugt sich nach vorn, um besser sehen zu können.
Mit einem Mal schaut der Mann auf. Gretel ahnt, dass er sie gesehen haben muss. Sie ist totenstill.
Der Mann kneift die Augen zu Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. „Dziewczynko, czy nie chcialabyś troche chleba?“, fragt er.
Wenn sie richtig verstanden hat, fragt er sie, ob sie etwas Brot haben möchte.
Mutti hat ihr beigebracht, niemals mit fremden Menschen zu sprechen. Aber sie hat noch nie so einen Hunger gehabt wie jetzt. Deshalb nickt sie trotzdem langsam.
Dann komm her, bedeutet er ihr. Doch Gretel bleibt lieber in ihrem Versteck. Also drückt er seinen Stock fest auf den Boden und steht langsam auf. Einer seiner Schuhe ist vorn aufgerissen, eine Zehe in einer Socke lugt heraus. Er geht zu ihr hin, bückt sich herunter und gibt ihr ein Stück Brot mit Käse. Seine Hände sind schmutzig, seine Nägel eingerissen.
Gretel beißt fest zu. Das Brot ist hart und so zäh, dass sie sich anstrengen muss, um überhaupt ein Stück abzureißen. Auch der Käse ist hart und trocken. Dennoch ist es das leckerste Brot und der leckerste Käse, den sie jemals gegessen hat.
„Gdzie jest twoja mama?“, fragt sie der Mann. Gretel meint zu verstehen, was er sagt – er will wissen, wo ihre Mama ist. Sie sollte nicht sagen, dass ihre Mama nicht hier ist, deshalb zeigt sie mit ihrem Arm hinter sich, dorthin, wo Elsa ist.
„Will sie nicht auch ein Stück Brot?“, fragt er. Sie versteht ihn gut, aber sie spricht kein Wort. Deshalb nickt sie nur.
Der Mann richtet sich auf und späht zwischen den Bäumen hindurch. Gretel bleibt sitzen, sie weiß nicht, ob sie ihm von Elsa erzählen soll oder besser nicht. Doch er geht von selbst in die Richtung, wo Elsa liegt. Sie steht langsam auf und läuft ihm hinterher. Er sieht auf Elsa hinunter. Dann bückt er sich und befühlt ihren Kopf.
„Sie ist ziemlich krank“, stellt der Mann fest.
Gretel nickt.
„Sie kann hier nicht bleiben. Ich werde sie zu einem Haus mitnehmen, wo sie jemand versorgen kann“, sagt er. Dann sieht er auf und runzelt die Stirn. „Wohin seid ihr unterwegs?“
„In die Schweiz.“ Gretel hat ganz vergessen, dass sie kein Deutsch sprechen darf.
„Die Schweiz? Das Land mit den Bergen?“, fragt er erstaunt. Dann schüttelt er den Kopf. „Die Schweiz?“
„Ja, die Schweiz.“
Der Mann geht seine beiden Säcke holen und versteckt sie im Unterholz, dort, wo Elsa liegt. Dann bückt er sich und hebt Elsa auf. Sie stöhnt, als er sie aufnimmt, und ihre Augen flackern für einen Moment auf, aber wach wird sie nicht. Der Mann scheint nicht besonders stark zu sein, denn er ist ziemlich mager. Elsa allerdings auch, deshalb ist sie sicher nicht allzu schwer.
„Komm“, fordert der Mann Gretel auf und beginnt, den Weg entlangzugehen.
Gretel weiß nicht genau, was sie jetzt tun soll. Also geht sie mit ihm mit.

„Habe ich das richtig gehört, ihr habt den falschen Zug in die Luft gejagt?“, fragt sein Bruder Stanislaw, als Jakób zwei Tage später wieder zu Hause ankommt.
Jakób sieht sich hastig um.
„Hier ist niemand im Haus, Brüderchen“, beruhigt ihn Stanislaw ein wenig spöttisch. „Entspann dich also.“
„Wir haben keinen Zug in die Luft gejagt, Stan“, entgegnet Jakób in gemessenem Ton. Er fährt sich mit den Fingern durch seine dunklen Haare. Das Letzte, wozu er sich im Augenblick imstande fühlt, ist ein Streit mit seinem Bruder. „Wir haben eine Brücke in die Luft gejagt – und zwar die richtige Brücke zum richtigen Zeitpunkt. Aber die Aufklärung hat offensichtlich nicht so funktioniert, wie sie sollte.“
Er stapft in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Die Kaffeekanne ist allerdings schon ausgewaschen, der Kaffeefilter hängt am Haken und der Herd ist kalt. „Wo ist Mutter?“
Stan zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, vermutlich zur Mittagsmesse in der Kathedrale. Ich bin gerade erst aufgestanden, ich arbeite doch in der Nachtschicht.“ Er geht zum Schrank und nimmt das große, selbst gebackene Brot heraus. „Hungrig?“, fragt er.
Jakób nickt. Jetzt, wo er daran denkt, ist er schrecklich hungrig.
„Hol du den Käse aus dem Kühlschrank“, fordert Stan ihn auf, während er dicke Scheiben Brot abschneidet.
Jakób geht zu dem kühlen Verschlag vor dem Haus, um den Ziegenkäse zu holen. Er nimmt auch etwas von dem Schinken mit, der mit einem feuchten Tuch abgedeckt ist. Dann geht er wieder hinein, schöpft sich einen großen Becher kühles Wasser aus dem Krug in der Küche und setzt sich schließlich auf den Holzstuhl an den rauen Küchentisch.
Sie essen schweigend. Nach dem Essen wäscht Stan seinen Teller im Becken ab und geht zur Hintertür. Kurz bevor er hinausgeht, dreht er sich noch einmal um und sagt über die Schulter hinweg: „Besprechung morgen Abend, am selben Ort.“ Dann schließt er die Tür hinter sich.
Jakób lehnt sich zurück. Er ist froh, wieder zu Hause zu sein, er ist vor allem froh darüber, allein zu Hause zu sein. In diesem Haus wohnen zu viele Menschen, denkt er sich. Vor allem seit Turek, sein ältester Bruder, geheiratet hat und mit Monicka ins zweite Schlafzimmer gezogen ist. Denn das bedeutete, dass er und Stan einen Teil der Veranda mit Brettern abtrennen mussten, um dort zu schlafen.
Er sieht sich in der Küche um. Sie ist der Mittelpunkt des Hauses, vor allem in den kalten Wintermonaten. An der einen Seite befindet sich die Tür zum Elternschlafzimmer, an der anderen die zum Schlafzimmer von Turek und Monicka. Davor ist die Veranda, auf der sie im Sommer sitzen, wenn es in der Küche zu warm ist – und wo er und Stan jetzt schlafen.
Die Küche selbst ist nur spärlich möbliert. Der Ofen ist blitzend schwarz poliert, auf dem Regalbrett über dem Ofen glänzen die Töpfe, neben dem Ofen steht eine flache Kiste für das Feuerholz. In der Mitte von der Küche stehen ein grober Holztisch und sechs Holzstühle. An einer Wand befindet sich der bemalte Küchenschrank für das Geschirr und die Gewürze, daneben die Vorratsdosen für Mehl und Zucker – jetzt, während des Krieges, sind sie meistens leer –, an der anderen Wand eine gerade Holzbank. Von der Hintertür sind es nur noch ein paar Meter bis zum Stall.
Als durch die Hintertür die schweren Schritte seines Vaters zu hören sind, geht Jakób hastig zur Vordertür hinaus auf die Veranda – er ist zu müde, um noch alle möglichen lästigen Fragen zu beantworten.
Vor ihm erstreckt sich die grüne Wiese den Hügel hinab, sie reicht bis an die Grenze des Ortes. Tschenstochau ist ein schöner Ort, einer der geschichtsträchtigsten Orte Polens. Von der Veranda aus kann Jakób die Najświętszej Marii Panny sehen, die breite Straße, die durch Tschenstochau bis an den Fuß des Jasna Góra führt. Hoch auf diesem Berg befindet sich das Kloster von Jasna Góra. Von hier unten aus kann Jakób gerade einmal die dicken Klostermauern erkennen und den oberen Teil der Türme, die aus der Mauer herausragen. Weiter links liegt das Industriegebiet mit der Stahlfabrik, wo er und Stan arbeiten.
Jakób fährt sich müde durchs Gesicht. Er spürt die kratzigen Bartstoppeln unter seinen Fingern. Vielleicht fühlt er sich besser, wenn er sich erst einmal gewaschen und rasiert hat. Heute Abend muss er wieder zum Unterricht zu Professor Sobieski gehen und darauf hat er sich überhaupt noch nicht vorbereitet.
Als die Nazis vor zwei Jahren die Universität von Krakau geschlossen und einen Großteil der Professoren interniert haben, waren Professor Sobieski und seine Frau nur um Haaresbreite entkommen. Ein ehemaliger Student, der jetzt als Metallingenieur in der Stahlfabrik arbeitet, hatte ihnen Unterschlupf gewährt. 

Dorthin gehen Jakób und zwei andere Studenten, um ihre Studien im Verborgenen fortzusetzen. Wenn der Krieg vorbei ist, so hofft Jakób, wird er sein letztes Jahr in Krakau studieren und dort sein Examen ablegen. Doch bis dahin muss er sich als Hilfsarbeiter in der Stahlfabrik ein paar Zloty verdienen, während er zu studieren versucht und sich am Freiheitskampf der polnischen Widerstandsbewegung, der Heimatarmee, beteiligt.


Es ist nur ein kleiner Haufen, der sich am darauffolgenden Abend in einer verlassenen Bauernscheune versammelt. Die Laterne flackert, Pfeifenrauch hängt unter der Decke, sie sitzen auf Strohballen. Einer nach dem anderen berichten sie über die Angelegenheiten, mit denen sie beschäftigt waren.
„Wir haben einen Nazi-Konvoi in einen Hinterhalt gelockt, konnten allerdings nichts gegen sie ausrichten“, erzählt Jerzy Tatar, ein Bauer um die dreißig. „Sie waren auf der Hut, wir kamen nicht nahe genug heran.“
„Das nächste Mal habt ihr sicher mehr Erfolg“, ermutigt ihn Francikzek Rzepecki. Er hat einen lockigen, grauen Bart und kneift die Augen zusammen – seine Brille ist letztes Jahr zerbrochen.
Francik bleibt optimistisch, denkt Jakób, er versucht immer, die jüngeren Männer aufzumuntern und zu motivieren. Und das ist alles andere als einfach, denn Polen bekommt schon seit mehr als vier Jahren das deutsche Joch zu spüren, sodass es längst in die Knie gegangen ist.
„Wir versuchen, auf der Basis des Steinschlossgewehrs ein leichtes Maschinengewehr zusammenzubauen, denn dafür kann man leicht Munition bekommen“, erläutert Stan.
„Das ist gut“, sagt Francik. „Wir brauchen aber auch größere Kaliber und Artillerie, vor allem dann, wenn die Operation Sturm richtig angelaufen ist.“
„Ich weiß“, verteidigt sich Stan. „Aber es wird immer schwerer, nachts Waffen zusammenzubauen – es ist, als ob der Vorarbeiter Wind von der Sache bekommen hätte. Er behält uns jedenfalls gut im Auge.“
„Wir müssen uns dringend Waffen besorgen“, sagt Francik nachdenklich.
„Und unsere Kommunikation verbessern“, wirft Jakób ein. Er spürt wieder diese ohnmächtige Wut tief in sich aufsteigen. „Eine lückenhafte Aufklärung ist nämlich keine Hilfe.“
„Wir geben unser Bestes“, entgegnet Francik und streicht sich durch seine grauen Haare.
„Nein, Francik, dann ist unser Bestes nicht gut genug“, braust Jakób auf. „Wie viele jüdische Flüchtlinge haben wir denn schon vor den Nazis gerettet? Und jetzt ziehen wir los und jagen einen ganzen Zug voller …“
„Ich weiß“, fällt ihm Francik ins Wort. „Das war ein unglücklicher Zufall. Aber dieser Zug ist in den Fahrplänen einfach nicht aufgetaucht. Und der Auftrag aus London lautete, aktiv an den Gefechten gegen die sich zurückziehenden deutschen Truppen teilzunehmen – das habt ihr getan, indem ihr die Brücke gesprengt habt. Wir müssen ihre Kommunikation unterbrechen und strategische Punkte einnehmen.“ Er betrachtet die Gesichter in der Runde, bevor er fortfährt: „London hat uns gebeten, so viel wie möglich mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten. Wir müssen der Roten Armee demnächst helfen, die Städte in den Ölfeldern zurückzuerobern, zum Beispiel Wilno, Lublin und Lwow.“
„Mit der Roten Armee werde ich niemals zusammenarbeiten“, sagt Jakób bestimmt. „Ich traue den Kommunisten nicht, sie versuchen hier nur einen Fuß in die Tür zu bekommen.“
„Moskau hat versprochen, sich nie in die inneren Angelegenheiten Polens einzumischen“, beruhigt ihn Francik.
„Und das glaubst du?“, fragt Jakób frustriert. „Selbst nachdem sie gefordert haben – wohlgemerkt, gefordert haben –, dass die Untersuchung des Massenmordes von Katyn sofort gestoppt wird?“
„Ach, Jakób“, fällt ihm Stan ins Wort, „jetzt hör doch endlich auf mit dem Gejammer über die verschwundenen polnischen Offiziere. Sie sind tot und begraben, lass sie nun in Frieden ruhen. Wir sollten uns auf die Nazis konzentrieren.“
„Fünftausend polnische Offiziere in einem Massengrab, verscharrt von der Roten Armee, und du sagst, ich solle sie in Frieden ruhen lassen?“, explodiert Jakób. Er springt auf, eine ohnmächtige Wut und Frustration bahnen sich einen Weg an die Oberfläche. „Ja“, ruft er, „lass uns die Nazis bekämpfen, aber nicht zusammen mit der Roten Armee.“
„Setz dich wieder hin, Jakób“, sagt Francik bestimmt.
Doch er setzt sich nicht wieder hin. „Ich kann nicht glauben, dass die Exilregierung in London jetzt mit Moskau zusammenarbeiten will“, fährt er fort. „Die Rote Armee braucht uns als Kundschafter, ja, aber nur, weil wir unser eigenes Land kennen. Doch sobald wir unsere Rolle gespielt haben, wird sie uns entwaffnen und gefangen nehmen. Oder uns zwingen, uns der polnischen Armee in der Sowjetunion anzuschließen. Ihr wisst es doch!“, sagt er herausfordernd.
Im schummrigen Laternenlicht sieht er die Zweifel auf den Gesichtern der Männer, die sich nun Francik zuwenden.
Der denkt einen Augenblick nach. „Mir fällt es auch nicht leicht, mit der Roten Armee zusammenzuarbeiten“, gibt er schließlich zu.
„Wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten, kommen wir wenigstens an Waffen“, erklärt Stan und steht ebenfalls auf.
„Wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten, werden wir sie nie wieder aus unserem Land herausbekommen“, warnt Jakób mit tiefer, eindrücklicher Stimme.
Als sie später durch das stille, dunkle Feld nach Hause gehen, sagt Stan: „Ich denke, wir machen einen Fehler, Jakób. Ohne die Hilfe der Roten Armee haben wir gegen die Nazis nicht die geringste Chance. Darauf kannst du Gift nehmen.“

Gretel entdeckt zuerst die beiden Jungen, die im Gras spielen. Dann sieht sie die drei kauenden Ziegen, wie die Ziegen von Peter. „Mamo! Mamo!“, schreit einer der Jungen und rennt schnell in Richtung Haus. „Idzie Mejcio! Hier kommt Mejcio!“
Als sie um die Ecke biegen, bemerken sie ein flaches Gebäude, das aussieht wie ein Stall. Es hat keine richtige Tür und das Dach ist schief. Eine Frau kommt heraus, sie trägt ein Baby auf dem Arm. Hinter ihr lugt ein kleines Mädchen hervor.
Der Mann und die Frau reden zu schnell, Gretel kann nicht verstehen, was sie sagen. Dann gehen sie ins Haus. Sie geht hinterher. Das Haus riecht nicht gut, viel zu sauer.
Drinnen ist es dunkel. Der Mann legt Elsa auf das einzige Bett. Die Frau befühlt Elsas Stirn. „Sie ist ziemlich krank“, stellt sie fest.
„Ja“, bestätigt der Mann. Er sagt noch mehr, aber Gretel versteht nicht alles.
Die Frau nickt, schüttelt den Kopf, redet dann hastig und nickt wieder. „Ja, sie scheint Jüdin zu sein“, sagt die Frau. „Aber die Kleine“, dabei zeigt sie abfällig auf Gretel, „ist mit Sicherheit eine Deutsche.“
Gretel legt sich die Worte zunächst in ihrem Kopf zurecht. „To jest moja siostra. Das ist meine Schwester“, sagt sie.
Schließlich dreht sich die Frau zu ihr um und redet so schnell auf sie ein, dass sie nichts versteht. Dann geht die Frau weg und kommt mit einem feuchten Tuch wieder, das sie Gretel in die Hand drückt. Gretel versteht, dass sie Elsa damit über das Gesicht wischen soll.
„Ich gehe jetzt“, sagt der Mann später. „Du bleibst hier, bis deine Schwester gesund ist.“
„Gut“, antwortet sie.
Die Frau – wenn Gretel richtig gehört hat, heißt sie Regina – erzählt irgendetwas über Sträucher und bedeutet Gretel, dass sie auf die beiden Kleinen aufpassen soll. Sie drückt Gretel das Baby in den Arm und geht hinaus. Hinter sich schiebt sie die Tür zu.
Gretel betrachtet das Baby. Es ist ein ziemlich hässliches, rosa Baby. Und es riecht auch nicht gut, ebenfalls zu sauer. Weil sie kein Bett entdecken kann, in das man das Baby legen könnte, legt sie es einfach auf den Boden. Doch da macht das Baby den Mund auf und schreit ganz furchtbar. Schnell hebt Gretel es wieder auf. Unter dem Tisch sitzt ein kleines Mädchen und beobachtet sie mit seinen großen, braunen Augen.
„Mutti?“, murmelt Elsa vom Bett aus.
Gretel wiegt das Baby hin und her, während sie redet. „Nein, ich bin es, Gretel“, erwidert sie. „Geht es dir schon besser?“
Langsam öffnet Elsa die Augen. Sie sind ziemlich rot. „Warum schaukelst du denn das Baby so herum?“, fragt sie mit rauer Stimme.
„Sonst bleibt das Ding nicht ruhig“, antwortet Gretel.
„Ach so.“ Elsa schließt wieder die Augen. „Hast du etwas Wasser?“, fragt sie schwach.
Gretel sieht sich um. In einer Ecke entdeckt sie einen Krug mit Wasser, auf dem Tisch steht eine Blechtasse. Sie hat allerdings ein Problem – sie kann nicht gleichzeitig das Baby schaukeln und Wasser schöpfen. Deshalb legt sie das Kind wieder auf den Boden.
Sofort beginnt es zu schreien. Gretel nimmt dennoch die Tasse und schöpft Wasser. Nun fängt auch das Mädchen unter dem Tisch an zu schreien. Gretel lässt sich nicht beirren, sondern hebt Elsas Kopf ein bisschen an und flößt ihr das Wasser ein. Dabei verschüttet sie etwas, aber Elsa bekommt zu trinken. „Mein Kopf tut furchtbar weh“, wimmert Elsa. „Sorg dafür, dass die Kinder nicht so schreien.“
Gretel hebt also das Baby wieder auf und fängt erneut an, es zu schaukeln. Das hilft. Aber das Mädchen schreit immer noch. Da sieht Gretel ein Schälchen Honig auf dem Schrank stehen. Sie taucht den Finger in den Honig und steckt ihn dem Mädchen in den Mund. Da ist das Mädchen augenblicklich still.
„Wo sind wir?“, fragt Elsa. Sie flüstert, ihre Augen sind immer noch geschlossen.
„In einem Haus“, antwortet Gretel. „Aber wo Mutti und Oma sind, das weiß ich nicht.“
Es bleibt eine Weile still. Das Mädchen kriecht unter dem Tisch hervor und bedeutet mit seinem Finger, dass es noch etwas Honig haben möchte. Gretel fällt es schwer, ihr gleichzeitig den Honig zu geben und das Baby zu schaukeln.
Als Elsa wieder spricht, ist es so leise, dass Gretel sie kaum verstehen kann. „Mutti und Oma konnten nicht aus dem Zug entkommen“, stellt sie fest. „Die Öffnung war zu klein.“
„Aber sie haben doch gesagt, dass sie es tun würden!“, ruft Gretel entsetzt.
Elsas Augen sind geschlossen. „Nur um uns zu trösten“, flüstert sie.
„Und wo sind sie hingefahren?“, fragt Gretel ängstlich.
Doch Elsa antwortet ihr nicht, sie ist zu müde, um zu reden. Ihr Atem geht flach und stoßweise, ihre Wangen sind blutrot, ihre schwarzen Haare sind klatschnass und kleben an ihr. Ich muss ihr das Gesicht mit dem Tuch abwischen, denkt Gretel. Aber das geht nicht, sie kann nicht gleichzeitig das Baby schaukeln, dem Mädchen Honig geben und Elsa das Gesicht abwischen. Also lässt sie es.
Später kommt Regina zusammen mit ihren beiden kleinen Söhnen zurück, die einen furchtbaren Radau machen. Das Baby fängt an zu schreien und das Mädchen auch. Regina schaukelt das Baby und befiehlt den beiden Jungen und dem Mädchen, draußen zu spielen. Dann schiebt sie ein Stück Holz in die Ofenkammer, stellt einen Kessel mit ein wenig Wasser darauf, wirft eine Handvoll Blätter hinein und bedeutet Gretel, dass sie Elsas Gesicht abwischen soll. Hoffentlich ist Regina keine Hexe, denkt Gretel.
Sie wischt Elsa mehrmals über das Gesicht. Regina lässt die Blätter abkühlen und versucht Elsa das Blätterwasser einzuflößen. Doch Elsa will einfach nicht wach werden und verschluckt sich.
Als es dunkel wird, geht Gretel nach draußen. Sie setzt sich an die Seitenwand des Hauses. Vor ihr sind die drei Ziegen, die auf etwas herumkauen, und ein paar Enten, die zum Haus watscheln.
Elsa ist ziemlich krank, das ist Gretel klar. Mutti und Oma sind weg, sie weiß nicht, wohin. Aber sie weiß, dass das auch nicht gut ist.
Sie versucht an etwas anderes zu denken. An Oma und ihr Hänsel-und-Gretel-Häuschen im Wald, doch dadurch bekommt sie noch mehr Sehnsucht nach Oma und Mutti. Sie denkt an die Schweiz und an Peter und Heidi, aber jetzt, wo Elsa krank ist, weiß sie nicht, wie sie in die Schweiz kommen sollen. Sie versucht an das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein zu denken und an das vom hässlichen Entlein, das ein Schwan geworden ist, aber es funktioniert nicht.
Eigentlich hat sie nie Angst, jetzt aber doch. Nicht vor der Dunkelheit oder den Bomben, die jeden Moment fallen könnten, oder vor Regina, die vielleicht eine Hexe ist.
Sie hat Angst, weil sie noch nie so allein gewesen ist.
Dann muss sie zum ersten Mal weinen.

Irma Joubert lebt in Südafrika. Sie studierte Geschichte an der Universität von Pretoria und war fünfunddreißig Jahre lang Lehrerin an einem Gymnasium. Nach ihrer Pensionierung begann sie mit dem Schreiben. Die Historikerin liebt es, gründlich zu recherchieren und ihre Romane mit detailreichen Fakten zu untermauern. In ihrer Heimat und den Niederlanden haben sich ihre historischen Romane zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

Francke Verlag
Originaltitel: Tussen Stasies
480 Seiten, Buch, Paperback
Format: 13,5 x 20,5 cm
Bestellnummer: 332086
ISBN: 978-3-96362-086-7

Patricia St. John Autobiographie

04/21/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Vorwort zur deutschen AusgabeBN2722.jpg?1682055129604

Es sind bald fünfzig Jahre her, daß mir Patricia St. John zum ersten Mal als Autorin begegnete. Das heißt, ich las ihr Erstlingswerk, und das nicht nur zum Vergnügen, sondern im Blick auf eine mögliche Übersetzung ins Deutsche. Denn mein Mann, damals Leiter des Bibellesebundes in der deutschen Schweiz, war an dieser Neuerscheinung des englischen Bibellesebundes sehr interessiert. Gute Kinderbücher mit einer überzeugenden christlichen Botschaft waren bei uns Mangelware.
Patricia St. Johns Buch faszinierte mich. Endlich einmal ein Kinderbuch, bei dem das christliche Gedankengut nicht bloß als «wertvermehrende Beigabe» diente, eine Art Anhängsel an eine Geschichte, die ganz gut «ohne» ausgekommen wäre! Nein, hier stand oder fiel die ganze Erzählung mit dem biblisch-christlichen Inhalt.
Und doch war nichts unangenehm Aufdringliches dabei. Das Buch war aufs natürlichste vom Evangelium durchdrungen, alles daran war echt - auch die Sprache. Sie hatte nichts erzwungen Kindliches; sie war gepflegt und schön und doch für Kinder gut verständlich. Und auf jeder Seite wurde spürbar: Hier schreibt jemand, für den die eigene Kindheit noch lebendig ist und der sich genau in die Empfindungen und Gedankengänge seiner jungen Leser hineinversetzen kann.
So wurde aus The Tanglewoods' Secret schließlich Das Geheimnis von Wildenwald. Und das sollte nur der Anfang einer ganzen Reihe von Büchern aus der Feder von Patricia St. John sein, die zum Teil zahlreiche Auflagen in deutsch

Familiengeschichten
erlebten. Denn Kinder wie auch Eltern waren begeistert und für jedes neue Buch der Autorin zu haben.
Was freilich hinter diesen Geschichten, ihren Personen und deren Erlebnissen steckte, das wußten die wenigsten. Mit dem vorliegenden autobiographischen Buch wird der Schleier gelüftet. Obwohl ich selbst schon einiges wußte, gab mir dieses Buch - in seiner englisches Fassung - wertvolle neue und tiefere Einsichten in die Zusammenhänge zwischen den Erfahrungen der Autorin und den Gestalten ihrer Bücher. Und mehr noch: Patricia St. John ließ mich - und jetzt zu meiner großen Freude auch alle deutschsprachigen Leser - teilhaben an ihrem Leben und Erleben mit Gott. Das wird, so hoffe ich, auch Ihnen Anregung und Hilfe auf Ihrem Weg mit ihm sein.
Elisabeth Aebi, Zürich
Jede Liebesgeschichte ist einzigartig; aber ich kann mir keine ungewöhnlichere vorstellen als die meiner Eltern. Als Harry, mein Vater, fünfzehn war, besuchte er einen Gottesdienst, an dem auch Mr. Swain mit seiner Tochter, einem dreijährigen Lockenkopf, teilnahm. Mr. Swain stand auf und predigte. Im Laufe der Predigt fiel Ella vom Stuhl und verlieh ihrem Schrecken und; Schmerz unüberhörbar Ausdruck. Das war der Aufmerksamkeit, die man den Worten ihres Vaters entgegenbrachte, gelinde gesagt nicht gerade zuträglich, und Harry, der die Familie kannte, bot an, die Kleine nach Hause zu tragen. Unterwegs geschah etwas mit ihn; er lieferte Ella getreulich bei ihrer Mutter ab, aber er vergaß sie nicht mehr. Er beschloß dort und damals, daß die kleine Ella Swain das Mädchen sei, das für ihn bestimmt war, und daß er auf sie warten würde.
Er wartete lange. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters mußte er von der Schule abgehen, den Traum von einer akademischen Karriere begraben und sich eine Arbeitsstelle suchen. Er wurde Angestellter in der Westminster Bank und hatte schon bald gute Beförderungsaussichten. Zwanzigjahre lang blieb er dort und konnte auf diese Weise seine verwitwete Mutter finanziell unterstützen
Im Alter von 19 Jahren hatte er ein weiteres ganz besonderes Erlebnis. Die Einzelheiten sind nicht bekannt, denn das einzige, was er je über diese Nacht erzählt hat, ist, daß er Gott begegnet sei. Diese Begegnung verwandelte den vom Leben enttäuschten, rebellischen jungen Burschen in einen Mann, der leidenschaftlich ein Ziel verfolgte: Christus immer besser kennenzulernen, die Bibel zu studieren und anderen weiterzusagen, was er entdeckt hatte. Von da an verbrachte er seine
ganze Freizeit mit Bibellesen, Studieren und Predigen, und allmählich reifte in ihm der große Wunsch seines Lebens
heran: hinauszuziehen und das Evangelium da zu verkündigen, wo es noch nie gehört worden war. Dabei lag ihm besonders Südamerika am Herzen.
Inzwischen wuchs auch Ella Swain heran, und da Harrys ältere Schwester eine Zeitlang als Erzieherin hei den Swains arbeitete, sah Harry sie häufig. Ihre gesunde, einfache Erscheinung, ihre rasche Auffassungsgabe und ihre überschäumende Lebensfreude gaben ihm Ruhe und erfrischten ihn. Im Gegensatz zu ihm war sie kein asketischer Typ. Sie konnte sich an allem Schönen freuen, sei es an dem Farbigen, der am Strand Liebeslieder sang, oder an den Gedichten, die sie in der Schule lernte. Ihr Vater war Schulinspektor und glaubte an eine umfassende, solide Bildung für Mädchen. Als Naturwissenschaftler hatte er Freude daran, seine kleine Tochter in die Wunder und Schönheiten des Universums einzuführen, und sie reagierte mit staunender Begeisterung darauf. Nicht nur die Naturwissenschaften nahmen sie gefangen; sie interessierte sich auch brennend für Geschichte und Literatur, und während ihr zukünftiger Ehemann beim Abendmahl geistliche Höhenflüge erlebte, beugte sie sich gebannt über Tennysons Gedichte und las sie sich selbst laut vor.
Da Mr. Swain wegen seines Berufes häufig umziehen mußte, bat er Mrs. St. John, Ella für einige Monate während der Woche als Pensionsgast aufzunehmen, damit sie das Schuljahr in London beenden könne.
Ella war damals zwölf Jahre alt, und es war ihre größte Freude, auf dem Platz vor dem Haus mit den St.-John-Jun-gen und ihren Freunden Fußball zu spielen. Der vierundzwanzigjährige Harry machte sich einen Spaß daraus, sie zu necken. Er zog sie an den Zöpfen und verpaßte ihr den Spitznamen Piglet, «Schweinchen,,. Vier Jahre später kehrte sie aus schulischen Gründen noch einmal für einige Zeit zu den St. Johns zurück, und in dieser Zeit nahm die Schzehn-jährige zufällig an einigen Bibelabenden teil, die in erster
Linie für junge Männer veranstaltet wurden und an denen Harry das Buch Amos auslegte.
Diese Abende öffneten ihr die Augen. Bis dahin hatte sie die Bibel in Ehren gehalten und die Lehren ihrer Eltern geachtet und übernommen; aber im Vergleich zu Botanik und Poesie war ihr die Bibel langweilig erschienen. Die Missionsreisen des Apostels Paulus und die Könige Tsraels hatten ihr nichts als ein Gähnen entlocken können. Nun aber wurde das Buch durch Harrys Auslegung der Kleinen Propheten plötzlich lebendig. Sie entdeckte seine unauslotbare Tiefe und seinen Bezug zum Alltag. Hier fand sie das Brot, nach dem ihr aufnahmebereiter, sich entfaltender Geist gehungert hatte. Hier entdeckte sie literarische Schönheit und Kraft, philosophische Wahrheit, lohnende Herausforderungen und ein Ziel, das ganze Hingabe erforderte. Sie antwortete aus tiefstem Herzen darauf, saß Abend für Abend mit den jungen Männern in der Gemeinde und lauschte gebannt Harrys Ausführungen, und sooft sich die Gelegenheit ergab, begleitete sie Harry zu seinen Vorträgen an verschiedenen Orten.
Sie war begeistert und fasziniert und begann, selbst die Bibel zu studieren. Dabei stieß sie auf die Antworten auf ihre Jugendprobleme und merkte, daß die Bibel ein Buch zum Leben ist. Während der nächsten zwei Jahre predigte Harry an vielen Wochenenden in Godalming und übernachtete dann stets in ihrem Elternhaus. Er und Ella waren gute Freunde, doch war ihre Beziehung alles andere als eine romantische Liebesgeschichte. Er, der zwölf Jahre ältere, war für sie der verehrte Lehrer, und offenbar hielten sie sich in all ihren Gesprächen strikt ans Thema. Er vergaß nie, ihre Begegnungen in seinem Tagebuch festzuhalten:
«Fuhr mit Piglet mit dem Zug. Freuten uns unterwegs gemeinsam sehr über Josua 4 und 5.» —«Schrieb Piglet einen langen Brief zu Matthäus 13. Ein liebes Kind, Gott segne sie und bewahre sie inmitten der Eitelkeiten des Lebens.» Aber in seinem Herzen wuchs neben dem väterlichen Interesse an ihrem geistlichen Wachstum eine stille, beständige Liebe. Im September 1906 führte er zusammen mit einem anderen Mann ein Gespräch mit ihr, weil sie sich zur Teilnahme am Abendmahl gemeldet hatte. Wieder sind seine Gedanken in dem alten Tagebuch festgehalten:

«Habe P. wegen des Tisches des Herrn aufgesucht. Eine zarte Blume. Wer wird sie im Leben beschützen? Bin noch nie jemandem wie ihr begegnet. Gott wird ihr eine großartige Zukunft schenken.» Und etwas später: «Lange über die Zukunft nachgedacht. Ich fühle mich zu Piglet hingezogen, wenn es Gottes Wille ist. Ich denke, wir würden wirklich glücklich sein.»
Aber er behielt diese Gedanken für sich, hatte Ella doch zu dieser Zeit noch ganz andere Pläne. Sie hatte ein Stipendium erhalten, um am Westfield College Geschichte zu studieren, und sie stürzte sich, wie es ihre Art war, mit Feuereifer in ihre Pläne und Studien.
Er wußte, daß sie das mindestens drei Jahre kosten würde, doch war er so auf ihr Wohl bedacht, daß er sie nicht davon abzubringen versuchte. Dabei war er inzwischen einunddreißig und sehnte sich nach einer eigenen Familie.
«Große Welle des Heimwehs und der Sehnsucht nach einer eigenen Familie», schrieb er. «Einsamkeit wächst, da ich mich geistlich von den Menschen in meiner Umgebung entferne. Sie verstehen mich nicht und ich sie auch nicht. Gott sei Dank werden Kinder hier sein, solange ich hier bin; mit ihnen fühle ich mich verbunden— ein einsamer Mann: welch eine traurige Aussicht. Ich sehne mich nach einem Jochgenossen, mit dem ich für Christus hinausziehen kann.»
So wartete er geduldig, während sie voll und ganz im Leben am College aufging. Sie begann ihr letztes Studienjahr, wurde Präsidentin des Debattierclubs, und die Leiterin des Colleges, Miss Maynard, öffnete ihrer Studentin die Tür zu einer glanzvollen akademischen Karriere, indem sie ihr in diesem dritten Studienjahr eine Stelle als Assistentin am Holioway College anbot. Glänzende Zukunftsaussichten taten sich vor ihr auf... Und dann machte Harold St. John ihr plötzlich einen Heiratsantrag, während sie im dichtesten Verkehr in Brighton die
aße überquerten. Sie war völlig überrascht; aber weil er seit thren «der beste und heiligste Mann war, den ich kannte», nahm sie seinen Antrag auf der Stelle an, und noch am selben ?Abend gaben sie während des Essens ihre Verlobung be-tannt.
Sie hatte erwartet, als Hausfrau in Bayswater zu leben und einen Mann zu haben, der es im Laufe der Zeit zu bescheidenem Wohlstand bringen würde. Aber auch daraus wurde nichts. 

Ein paar Monate später überraschte Harry all seine ekannten mit der Ankündigung, er werde seine Stellung bei der Bank aufgeben und als Missionar ins Ausland gehen. Dies war kein impulsiver Entschluß. Schon vor Jahren hatte er sich n die Mission gerufen gefühlt; aber damals hatte er seinen Plan aus familiären Gründen nicht in die Tat umsetzen können, und so hatte er sich traurig mit einem Leben in London abgefunden. Doch nie hatte er das Land vergessen, in dem sein Vater gestorben war: Mexiko. «Immer wieder kommt mir Mexiko in den Sinn», hatte er fünf Jahre zuvor geschrieben. «<Geht hinaus!> hat Christus gesagt, und in seinem Namen kann ich es vollbringen.., doch was soll dann aus Mutter werden?»

«Es ist leicht, Mexiko wegzuschieben und mich bequem und ruhig niederzulassen; aber ich sehne mich danach, daß nichts, aber auch gar nichts zwischen mir und Christus steht... Ich wage es nicht, den nächsten Schritt zu tun, ehe ich mir nicht über meine Motive im klaren bin.» Etwas später heißt es: «Ich muß Mexiko aufgeben; ich muß mich in London niederlassen. Eine bittere, sehr bitteie Aussicht.»
Doch das Verlangen, Gott «draußen» zu dienen, hatte die ganzen Jahre über weiter unter der Oberfläche geschlummert, und nun, mit sechsunddreißig Jahren, war er frei zu
gehen; allerdings nicht nach Mexiko, sondern nach Südamerika. Eines Nachts war er sich dessen plötzlich ganz gewiß
geworden, und als er am Morgen zum Frühstück erschien, war er felsenfest überzeugt, daß dies seine Berufung war. Was ihn zu dieser Erkenntnis geführt hatte, konnte er nur in den Worten des Liedes ausdrücken:

Christus, Gottes Sohn, hat mich geführt In der Mitternacht Länder;
Ich empfing die machtvolle Berufung Durch die durchbohrten Hände.
Zum Bedauern und Ärger seiner Vorgesetzten gab er seine Karriere auf und bereitete sich auf das Missionsfeld vor. Ein Jahr lang studierte er Homöopathie und Erste Hilfe, während Ella eine Krankenschwesternausbildung für Missionarinne am Mildmay Hospital absolvierte. Sie und Harry waren nun gemeinsam in London, und obwohl eine Krankenschweste damals nur wenig freie Zeit hatte, gelang es Harry doch, sie alle vierzehn Tage auszuführen. Miss Cattell, die fromme alte Hausmutter des Schwesternwohnheims, war damit gar nicht einverstanden. So etwas grenzte für sie schon fast an Unmoral, und sie verlangte, daß eine andere Schwester die beiden als Anstandsdame begleiten sollte. Ella versicherte, sie werde mit ihrem Verlobten darüber sprechen, und das tat sie auch. Doch er hörte sie kaum an. 

«Sag der alten Dattel, daß das überhaupt nicht in Frage kommt!» schnaubte er, und sie machten sich ohne Begleitung auf ihren Spaziergang durch den Park.
Das waren glückliche Tage, und in alten, vergilbten Briefen Ellas an ihre Eltern werden einzelne Szenen aus dieser Verlobungszeit geschildert. «Ich arbeite jetzt in der Ambulanz. Für ein paar Wochen wohne ich bei den St. Johns, und Harold freut sich wie verrückt, daß ich gekommen bin. Ich versteckte mich am Mittwoch abend hinter dem Sessel, als er nach Hause kam, und belauschte ihn. Als er mich entdeckte, meinte er, ich sei nur für diesen Abend gekommen, und so erzählte ich ihm: <Ich bleibe hier!> Da rief er: <PIGLET, heiratest du mich heute abend?> Er ist ein so verrückter Kerl! Kann nicht mal vernünftig essen und so, sondern tanzt ständig um mich herum und küßt mich. Es ist ganz wunderbar, daß er mich so liebt! <Himmelchen> ist augenblicklich sein Lieblingsname für mich, und ich hoffe nur, daß ich das immer für ihn sein kann; aber er ist so viel besser als ich. Er scheint weder Kälte noch Hunger zu verspüren noch Schlaf zu brauchen.»
Sie war immer sein «Himmelchen'>. 1914 heirateten sie in
- ondon, und anschließend mußten sie einen speziellen Empang geben für Elias Patienten sowie die Mutter mit den Babys, 1 deren Geburt sie während ihres Hebammenkurses assi-ert hatte. So wurde nach zwölf Jahren geduldigen Wartens arrys Herzenswunsch erfüllt, und er bekam die Frau, die ihm In jeder Beziehung ein vollkommenes Gegenüber war.
Gemeinsam trafen sie die Entscheidung, daß für Harry die rbeit für den Herrn stets an erster Stelle stehen sollte; und ila vergaß nie dieses Versprechen oder beklagte sich über ;.jje langen Abwesenheiten. Ihr Sinn für das Praktische und ihre Begabung, ein gemütliches Zuhause zu schaffen, glichen seinen Mystizismus aus. Ob in der Wildnis Brasiliens oder. in ihrer von Ungeziefer verseuchten Wohnung in Buenos Aires oder später in ihrem von lebhaften Kindern erfüllten roten
Ziegelhaus in England immer hatte Harry einen Ort des Friedens, an den er zurückkehren und wo er sich von den Strapazen des Dienstes erholen oder ungestört studieren konnte. 

Sie verlangte sehr wenig von ihm; es genügte ihr, daß er sie liebte, denn sie war die geborene Geberin. Jedenfalls beeindruckte ihre von ruhiger, tiefer, selbstloser Liebe geprägte Beziehung vierzig Jahre lang jeden, der auch nur gelegentlich bei ihnen hereinschaute. Keines ihrer Kinder kann sich daran erinnern, daß zwischen ihnen je ein hartes oder zorniges Wort gefallen wäre, und die Atmosphäre im Hause St. John beeinflußte viele junge Leute, die darin ein und aus gingen.
Aber das lag noch in weiter Ferne. Zunächst einmal reisten sie nach Buenos Aires, und als sie dort ankamen, war der Mann, der sie abholen und ihnen eine Wohnung besorgen wollte, zum Militärdienst eingezogen worden. So mußten sie als ihr erstes «Heim» in Buenos Aires ein einziges Zimmer beziehen, in dem es von Kakerlaken wimmelte, die nachts die Wände hochkrabbelten. Um vor ihnen Ruhe zu haben, stellten sie die Pfosten ihrer Feldbetten in mit Petroleum gefüllte Schälchen. Bis sie umzogen, lernte Ella hier, in einer Küche zu kochen, die sie mit vier spanischen Familien teilen mußten. 

1. Familiengeschichten  9
2. Frühe Jahre in Malvern  20
3. Zwischenspiel in der Schweiz  30
4. Schultage  39
5. Kriegszeit  50
6. Ankunft in Tanger  68
7. Familienfreuden und -leiden  78
8. Hinauf in die Berge  87
9. Erste Kontakte  96
10. Fatima und ihre Freundinnen  103
11. Die Kinder kommen 114
12. Hinaus in die Dörfer  126
13. Ende und Neubeginn 135
14. Das Krankenhaus in Tanger 144
15. Mein Leben im Krankenhaus 161
16. Neffen und Nichten 169
17. Was die Leute so fragen  177
18. Tribut an meinen Vater  185
19. Ruanda  197
20. Auf den Spurendes Apostels Paulus 211
21. Die Grdßmütter 228
22. Libanon 237
23. In England 247
24. Das Flüchtlingslager  257
25. Global Care 268
26. Daheim in unserer Siedlung 277
Nachwort 289

Englischer Originaltitel: «Patricia St. John teils her own story» © 1993 by Patricia St. John
Aus dem Englischen von Wolfgang Steinseifer
5. Auflage (und damit 2. Taschenbuchauflage) 2010
© der deutschen Ausgabe 1997 by Brunnen Verlag Basel
ISBN 978-3-7655-3780-6 

So groß ist Gott - Geschichten zum Glaubensbekenntnis, Patricia St. John

04/18/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

»So groß ist Gott.— Geschichten zum Glaubensbekenntnis« hat Patricia St. John für junge LeserBN1552.jpg?1681804989812 geschrieben, um ihnen zu helfen, Gott besser kennen zu lernen, über sein Handeln zu staunen und ihm auf sein Reden und Tun zu antworten.

Die hier zusammengestellten Geschichten aus verschiedenen Jahrhunderten und vielen Ländern der Erde sind so etwas wie Gleichnisse. Sie wollen bestimmte biblische Aussagen illustrieren. Dabei kommt es meistens nur auf einen einzigen Hauptgedanken an, und man darf nicht jeden einzelnen Gedanken der Erzählungen auf Gott und sein Handeln, zu übertragen versuchen. Sonst werden die Geschichten (wie alle Gleichnisse) überstrapaziert.
Bei alldem geht es nicht um das Vermitteln trockener Dogmatik. Indem wir miteinander wichtige biblische Aussagen über Gott, Jesus Christus, den Heiligen Geist und das Leben als Christen anschauen, kommt es hoffentlich zum Staunen und zur Freude über den großen Gott, der uns liebt und uns als seine Kinder angenommen hat.
Der Verlag der mich wie ein Vater liebt
Bibeltext: Lukas 15,11-32

1. Das weiße Taschentuch
Der Mann saß auf dem Gehsteig neben der Bushaltestelle und starrte zu Boden. Ein paar Leute musterten ihn im Vorübergehen neugierig und fragten sich, was das wohl für einer sein mochte, der Landstreicher mit den hängenden Schultern und den durchgelaufenen Schuhen. Er aber bemerkte ihre Blicke gar nicht. Er war ganz in Gedanken versunken. Hier, in dieser Stadt, hatte er seine Kindheit verbracht. Vor mehr als zwanzig Jahren war er in einem kleinen roten Ziegelhaus am Ende der nächsten Straße aufgewachsen. Ob es überhaupt noch stand? Vielleicht war es ja inzwischen abgerissen worden! Hoffentlich haften sie wenigstens die Stiefmütterchen nicht zertrampelt! Komisch, wie gut er sich noch an die Stiefmütterchen erinnerte und an die Schaukel, die ihm sein Vater gebaut hatte, und an den Gartenweg, auf dem er das Fahrradfahren gelernt hatte. Monatelang hatten die
Eltern gespart, um ihm das Fahrrad kaufen zu können.
Zehn Jahre später war aus dem Fahrrad ein Motorrad geworden. Er selbst ließ sich zu Hause immer seltener blicken. Er verdiente gut und hatte eine Menge Freunde. Vater und Mutter erschienen schrecklich altmodisch und langweilig. Da war es in den Kneipen und Discos doch lustiger!
Heute erinnerte er sich nicht mehr gern an diese Zeit, vor allem nicht daran, wie ihm die Schulden über den Kopf gewachsen waren und er an einem Sonntagnachmittag bei den Eltern aufgetaucht war, um sie um Geld zu bitten. Sie hatten sich so über seinen unerwarteten Besuch gefreut, dass er es nicht übers Herz gebracht hatte, sie um Geld zu bitten. Doch er wusste genau, wo sein Vater das Portmonee aufbewahrte, und als die Eltern dann für einen Augenblick in den Garten gingen, hatte er sich einfach »bedient«.
Seither hatte er sie nicht mehr gesehen. Er traute sich nach dem, was er getan hatte, nicht mehr nach Hause; und die Eltern hatten jede Spur von ihm verloren. Er war ins Ausland gegangen und sie erfuhren nichts von seinem rastlosen Umherziehen und auch nichts von seinem Gefängnisaufenthalt. Doch dort, in seiner Zelle, hatte er viel an sie gedacht. Manchmal, wenn er sich schlaflos auf seiner Pritsche herumwälzte und der Mond unheimliche Figuren auf die Zellenwand malte, wünschte er sich: »Wenn ich erst wieder aus diesem Loch heraus bin, möchte ich sie noch einmal sehen - wenn sie überhaupt noch leben ... und wenn sie mich sehen wollen.«
Als er seine Strafe abgesessen hatte, fand er in der Großstadt eine Arbeitsstelle; aber Ruhe fand er nicht. Irgendetwas zog ihn heim, eine Sehnsucht, die sich nicht zum Schweigen bringen ließ. Auf Schrift und Tritt wurde er an das kleine rote Backsteinhaus erinnert, an das Beet mit Stiefmütterchen, an ein Kind auf einer Schaukel, an einen Jungen, der von der Schule nach Hause rannte
Er wollte nicht völlig mittellos daheim ankommen, und so legte er einen großen Teil der Reise zu Fuß oder per Anhalter zurück.
Er hätte schon längst da sein können, aber dreißig Kilometer vor dem Ziel waren ihm plötzlich Zweifel gekommen. Was hatte er überhaupt für ein Recht, einfach so bei seinen Eltern hereinzuspazieren? Würden sie in dem heruntergekommenen Kerl, der er geworden war, überhaupt den Jungen erkennen, den sie geliebt haften und der sie so schrecklich enttäuscht hatte?
Er kaufte sich etwas zu essen und setzte sich unter einen Baum, wo er für den Rest des Tages sitzen blieb. Der Brief, den er am Abend in einen Briefkasten einwarf, war sehr kurz, aber er hatte sich stundenlang damit abgemüht. Er endete mit den Worten:
»Ich weiß, es ist verrückt anzunehmen, dass ihr mich überhaupt noch einmal sehen wollt. Aber entscheidet selbst. Ich werde früh am Donnerstagmorgen ans Ende unserer Straße kommen. Wenn ihr mich zu Hause haben wollt, hängt ein weißes Taschentuch ins Fenster meines alten Zimmers. Wenn ich es dort sehe, werde ich zu euch kommen; wenn nicht, werde ich
dem alten Haus noch einmal zuwinken und mich wieder davonmachen.«
Und nun war der Donnerstagmorgen da. Der Anfang der Straße war gleich um die Ecke. Diese Straße gab es jedenfalls noch! Auf einmal hatte der Mann es nicht mehr eilig. Er setzte sich einfach auf den Gehsteig und starrte die Steine an.
Ewig konnte er den Augenblick der Wahrheit natürlich nicht hinauszögern. Vielleicht waren die Eltern inzwischen ausgezogen? Wenn kein Taschentuch da war, wollte er wenigstens ein paar Erkundigungen in der Stadt einziehen, ehe er sich wieder auf den Weg mach-
12 te. Er wagte gar nicht daran zu denken, was er tun soll-
te, wenn seine Eltern zwar noch dort wohnten, ihn aber nicht mehr sehen wollten.
Mühsam und mit schmerzenden Gliedern erhob er sich. Er war steif vom Übernachten im Freien. Die Straße lag noch im Schatten. Mit unsicheren Schritten wankte er zu der alten Platane hinüber, von der aus, das wusste er, das Backsteinhaus deutlich zu sehen sein würde. Bis dahin hielt er den Blick zu Boden gesenkt.
Mit fest zusammengekniffenen Augen stand er ein paar Augenblicke unter den Ästen des Baumes. Dann holte er tief Luft und wagte den Blick zum anderen Ende der Straße hinüber. Und dann stand er da und starrte und starrte
Das kleine Backsteinhaus wurde bereits von der Sonne beschienen - aber es war kein kleines rotes Backsteinhaus mehr. Es schien ganz in weiße Tücher eingehüllt zu sein.
Aus allen Fenstern hingen Betttücher und Kissenbezüge, Handtücher und Tischdecken, Taschentücher und Servietten; und aus dem Dachfenster flatterte eine große weiße Gardine quer über das ganze Dach. Rotes Backsteinhaus? Das schien ein Schneehaus zu sein, das da in der Sonne glänzte!
Die Eltern hatten kein Missverständnis riskieren wollen! Der Mann warf den Kopf zurück und stieß einen Freudenschrei aus. Dann rannte er über die Straße und durch die weit geöffnete Haustür direkt in sein Elternhaus hinein.

der mich gemacht und zurückgekauft hat Bibeltexte: i.Mose 1,26-31; 1.Mose3
2. Das verlorene Boot
Viele Samstagnachmittage hatte Jonas in der Garage verbracht und an seinem Boot gearbeitet. Deni Rumpf haue er aus einem massiven Holzblock geschnitzt, den er ausgehöhlt und mit Sandpapier geglättet hatte. Bei den Segeln hatte ihm seine Mutter geholfen, und die Bespannung für die Takelage hatte er naturgetreu einem richtigen Schoner nachgebildet, dessen Foto er in einer Zeitschrift gefunden hatte. Es war ein tolles Segelschiff, und das Beste war, dass er es selbst gemacht hatte.
Nun war es fertig, stand im Wohnzimmer und wurde von allen bewundert. Jonas' Vater war besonders beeindruckt.
»Das hast du aber wirklich prima gemacht, Jonas. Ich bin stolz auf dich. Du bist sehr geschickt«, sagte er. »Was wirst du denn als nächstes basteln?«
Daran hatte Jonas noch gar nicht gedacht. Jetzt war erst einmal das Boot fertig. Das war das Wichtigste.
An einem schönen Frühlingstag nahm er sein Boot mit zum Kanal, um es dort schwimmen zu lassen. Er suchte sich dafür den schönsten Platz aus: einen sandigen Uferstreifen zwischen Binsen versteckt, wo er früher einmal das Nest einer Moorhenne gefunden hatte. Es war ideales Segelwetter: Die Sonne schien, der Wind füllte die Segel und trieb das Schiff in die Mitte der trägen Strömung. Jo-nas kniete am Ufer und ließ den Bindfaden, den er am Heck befestigt hafte, durch seine Finger gleiten. Gleich würde er die Uferböschung hinaufklettern und den Pfad entlanglaufen, der neben dem Kanal herführte; aber zuerst wollte er einfach nur sein herrliches Schiff bewundern. Er war so in den Anblick vertieft, dass er die Stimmen hinter sich gar nicht hörte, und er fuhr zusammen, • als drei Jungen die viel älter waren als er, plötzlich neben ihm auftauchten. Jonas umklammerte seinen Bindfaden fester, denn diese Jungen kannte er nicht. Vielleicht stammten sie von einem der Lastkähne, die den Kanal hinauf- und hinunterfuhren.
»He, lass uns auch mal!«, sagte der Älteste.
»A-aber nur einen Augenblick«, stotterte Jonas. »Dann will ich mein Boot wieder einholen.«
Er schluckte und das Herz schlug ihm bis zum Hals, denn diese Jungen sahen nicht gerade friedlich aus. Der Große hatte ihm schon die Fadenrolle aus der Hand gerissen und holte das Boot ein Dabei zerrte er so ruckartig an der Schnur, dass das Boot kenterte und die Segel sich voll Wasser sogen. Als es fast am Ufer war, spürte Jonas plötzlich einen Stoß im Rücken, und im nächsten Augenblick landete er unsanft zwischen Binsen und Nesseln. Seine Finger krallten sich in den Morast und der nasse Lehm spritzte ihm in die Augen, sodass er einen Moment nichts sehen konnte. Als er sich endlich wieder hustend und spuckend aufgerafft hatte, waren die Jungen verschwunden - und mit ihnen das Boot. Alles, was er sah, waren niedergetrampelte Binsen und die Trauerweiden.
Jonas kletterte die Uferböschung hinauf. Nichts. Die Jungen waren hinter einer der vielen Hecken verschwunden.
die sich neben dem Kanal hinzogen, und er konnte nicht einmal erkennen, in welche Richtung sie sich davongemacht haften. Und überhaupt - selbst wenn er sie verfolgen und einholen könnte, was vermochte er gegen die drei auszurichten? Tränen der Wut und Verzweiflung stiegen in ihm auf. Doch Jonas beherrschte sich mühsam, wischte sich die Hände ab und machte sich auf den Heimweg. Er wusste, dass seine Eltern einen Besuch machten, und er bezweifelte, dass die Polizei etwas unternehmen würde, wenn er dort anriefe und seine Geschichte erzählte.
Als seine Eltern heimkehrten, berichtete Jonas, was
16 geschehen war. Sein Vater zog sogleich wieder los, um
in der Nachbarschaft Erkundigungen einzuziehen; doch niemand hatte die drei fremden Jungen gesehen. Beim Abendessen war Jonas sehr still, und als er dann im Bett lag, konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten. Sein Vater hatte ihm angeboten, ihm beim Bau eines neuen Bootes zu helfen - aber das würde nicht dasselbe sein. Dieses Boot war sein allererstes gewesen. Er hatte es ganz allein gemacht, und ihm allein hatte es gehört. Nie würde er dieses Boot vergessen.
Wochen vergingen. Jonas baute mit seinem Vater ein neues Boot und ließ es auf dem Kanal schwimmen, aber immer und immer wieder dachte er an sein altes. Manchmal lag er wach im Bett, erinnerte sich an den glänzenden Rumpf und die geblähten Segel und fragte sich, wo es wohl jetzt stecken mochte.
Eines Nachmittags fuhr er mit dem Fahrrad in die Stadt, um ein Geburtstagsgeschenk für seine Mutter zu
kaufen. Nachdem er etwas Schönes gefunden hatte, wählte er für den Heimweg eine Abkürzung, die ihn durch schmale Seitensträßchen führte. Dort gab es viele Trödelläden und Jonas bestaunte die verstaubten Auslagen in den blinden Fenstern. Was es da nicht alles gab! Plötzlich machte er eine Vollbremsung. Da, mitten in einem Schaufenster zwischen einer alten Gitarre und einem Messing-Kohleneimer, da stand sein Boot!
Jonas lehnte sein Fahrrad an eine Mauer und stürzte in den Laden.
»Das Boot im Fenster!«, rief er atemlos. »Das ist meines. Ich hab's gemacht.«
Der alte Ladeninhaber blickte ihn über den Rand seiner Brille an.
»Irrtum, junger Mann«, wies er ihn zurecht. »Es gehört mir. Ich hab's vor Wochen ein paar Jungen abgekauft. Eben erst habe ich es ins Fenster gestellt.«
»Aber ich hab's doch gemacht. Es gehört mir, wirklich! Bitte, geben Sie es mir!«
»Nur, wenn du mir den Preis bezahlst, Er steht auf dem Anhängen«
»Aber ich hab all mein Geld ausgegeben!«
»Dann musst du dir eben noch was besorgen.«
Jonas merkte, dass all sein Reden nutzlos war. Aber noch war es nicht zu spät. Er raste nach Hause. Sein Vater war gerade im Garten beschäftigt.
»Papa!«, rief er ihm schon von weitem atemlos zu. »Du musst mir unbedingt etwas Geld leihen!«
»Geld leihen? Wofür denn? Und wie viel denn? Und wie willst du's mir zurückzahlen?«

Titel der englischen Originalausgabe:
»Would You Believe lt?«
erschienen bei Harper Collins,
London, Großbritannien
© 1983 Patricia St. John
Deutsch von Renate Mauerhofer und Wolfgang Steinseifer
Textiltdstrationen: Cornelia Gerhardt
gAufIage 2007
ISBN 978-3-87982-623-0 (Bibellesebund)
ISBN 978-3-89397-673-7 (Christliche Literatur-Verbreitung)
Deutschspr. Ausgabe © 1986 Bibellesebund Winterthur
Umschlaggestaltung: Georg Design
Umschlagfoto: Getty Images, FotoDisc
Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
Inhalt
Vorwort 8
1. Ich glaube an Gott,...
der mich wie ein Vater liebt i. Das weiße Taschentuch der mich gemacht und zurückgekauft hat
2. Das verlorene Boot der die Mauer zwischen uns und ihm abgerissen hat
3. Das geschlossene Fenster '9
II. Ich glaube an Jesus Christus,
Gottes Sohn
Warum er zu uns kam
4. Warum Scheich Ali rannte 25
In ihm kam Gott selbst auf die Erde
5. Dei unerkannte Gast 28
Warum er als Mensch
auf der Erde lebte
6. Fußspuren im Schnee 3'
Sein Leben und Vorbild
7. Der Mann, der anders war 37
Er hat sein Leben geopfert
8. Der Ring und die Rosen 42
III. Ich glaube an Jesus Christus, der am Kreuz für uns starb
Er starb, um uns vor dem
ewigen Tod zu reifen
9. Der sicherste Ort
Er litt an unserer Stelle
ja. Der verbotene Pfad
Sein Tod macht uns vor Gott gerecht
ii. Ein Leben für ein Leben
IV. Ich glaube an Jesus Christus, der vom Tod auferstand
Sein Sieg über den Tod
12. Der Weg durch die Flut Seine Auferstehung
13. Die Stimme in der Dunkelheit Buße macht Sünde sichtbar
14. Weißer als Schnee Buße ist Bekenntnis der Sünde
i. Das Hindernis Buße ist Umkehr
16. Das Fünf-Finger-Gebet Bekehrung
17. Der Kapitän und der Kabinenjunge
V. Ich glaube an den Heiligen Geist,
der in uns lebt
Er bewirkt einen Neuanfang t8. Der Freund, der sich erinnerte Er hat Kraft, die verändert
19. Ein Zuhause für Virginia
VI. Ich glaube an den Heiligen Geist,
der Frucht wachsen lässt
»Der Geist aber bringt hervor Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Nachsicht und Selbstbeherrschung«
Er lässt Liebe wachsen
20. Eine Überraschung für den Räuberhauptmann Er gibt Freude
21. Ein Siegeslied Er schafft Frieden
22. Die beste Arbeit
VII. Geistlich wachsen in der
Beziehung zu Gott
Gott redet durch die Bibel
23. Das Buch im Nachttisch Wie man beten soll
24. Die weißen Vögel Beten im Namen Jesu
25. Aischas Brief Für andere beten
26. Die Rettung Ausdauernd beten
27. Warum stürzte die Mauer ein? Gott erhört Gebet
28. Der leere Korb Gott lässt uns warten
29. Der Bus, der nicht anhielt Gott sagt nein
30. Warum musste gerade er sterben? Gott loben
31. Gesang um Mitternacht
VIII. Geistlich wachsen in der Beziehung
zu anderen Menschen
Die Bedeutung des Dienens
32. Der Weihnachtsgast
Gottes Botschaft weitersagen
33. Das Seil
In Notlagen helfen
4. Das Mädchen, das nicht
vergessen konnte
Die Bedeutung des Gebens
35. Das weiße Huhn des Herrn Ein reines Gewissen
36. Der Junge, der das Licht mied
Gemeinschaft mit anderen Christen
129 37. Aus dem Feuer 192
'34 IX. Gott vertrauen in guten und in schlechten Tagen Gott gibt Geborgenheit
142 38. Die Streichholzschachtel und die Münze
147 Gott schützt in Gefahr
39. Der Wächter, den sie nicht '99
53 zu töten wagten
Gott hilft in Schwierigkeiten
158 40. Der unbezwingbare Hügel 205
Alles wirkt zum Guten mit
41. Das hellere Licht 210
X. Gottvertrauen über den Tod hinaus
'63 Das Beste kommt noch
42. Geboren, um zu fliegen 214
170 Jesus kommt wieder
43. Schritte in der Nacht 219

Jensen Margaret

12/27/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger