K Schriftsteller

Daniel Staatsmann und Prophet, Jakob Kroeker

10/27/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Einführung

Gelobt sei der Name Gottes von Zeitalter zu Zeitalterl Denn sein ist sowohl Weisheit als Macht. Er ist's, der Zeiten und Verhältnisse ändert, Könige absetzt und Könige einsetzt. Er gibt Weisheit den Weisen und den Verständigen ihr Verstehen. Er ist's, der Verborgenes enthüllt. Er weiß, was im Finstern (und in der Zukunft) liegt, und das Licht wohnt bei ihm."
Dan. 2,20 ff.
Das ist der Psalm eines in Gottes Weltregierung zur Ruhe gekommenen Lebens. Seine Botschaft klingt wie ein Evangelium aus einer ganz andern Welt in die Hast und Unruhe, in die Zerrissenheit und Verzweiflung menschlicher Geschichte. Uns Menschen des Abendlandes beherrscht Untergangsstimniung. Mutlosigkeit, Verzagtheit, Hoffnungslosigkeit ist vielfach das Angesicht unseres Wirkens. Wir regen uns, aber ohne Glauben an eine Zukunft; wir, dienen, aber ohne • Vertrauen auf Gewinn; wir opfern, aber ohne Hoffnung auf eine Auferstehung unserer Tränensaat. Unsere Göt: zen sind zerbrochen und unsere Götter entflogen - wir sind ohne Gott und haben nur noch uns selbst.


Unser wahres Angesicht erschreckt uns. Wir sehen überall in unserm Leben zwar das Tier, nicht aber den Menschen. Uns frißt eine verzehrende Leidenschaft, und doch verleugnen wir die schöp= ferische Kraft. In unseren Entscheidungen und Handlungen sehen wir uns durch unsere egoistischen Stimmungen gejagt, und unserm Ringen und Schaffen fehlt die göttliche Vollmacht, aus dem Sterben« den Leben höherer Ordnung zu rufen. Wir haben uns selbst gefun« den, dabei aber Gott und den Bruder verloren. Wir gewannen die Macht, schufen uns durch sie aber Katastrophe um Katastrophe. Die Wissenschaft erhoben wir zu unserer Religion, sie aber raubte uns die Seele. Die Offenbarung leugneten wir und huldigten unserem beschränkten Wissen und bewunderten den Mythos und Aberglau= ben untergegangener Geschlechter. Den Geist Jesu Christi und die Botschaft der Apostel und Propheten vertrieben wir, und wir such= ten unser Evangelium im Recht der Römer, in der Bildung der Grie=
10 11
dien, in der Vergötterung der Cäsaren und in der Weltherrschaft gerichteter Völker. Bewußt verschlossen wir uns der Orientierung im göttlichen Lichte, und wir orientierten uns an dem Geiste unserer Großstadtblätter, unserer Parteipolitiker, unserer Romanschriftstel. 'er, unserer Sozialreformer und unserer Kulturschwärmer. Das Ge= setz Gottes ersetzten wir durch die Moral der Vernunft und durch die Kausalität unseres naturhaften Trieblebens, und eine Kriegs= ethik wurde unser Gewissen, die sinnliche Ungebundenheit unsre Moral, die brutale Selbstbehauptung zum alleinigen Gebot der Stunde.
Mit welch „unerschütterten Einbildungen über uns selbst" über= schritten wir die Schwelle des letzten Jahrhunderts! Wir glaubten zwar nicht an Gott und Dämonen, um so fester aber an uns selbst und unsere Schöpfungen. Wir waren trunken von der Weisheit und dem Wissen, die Kanzel und Katheder, Presse und Parlament, Kapi= tal und Technik uns boten. Sie wurden unsere Altäre, auf denen wir opferten. Hier lauschten wir nach den Orakeln für die prak= tische Gestaltung unseres gesamten Lebens. Uns blendete der Fort schritt, uns schmeichelte der Erfolg, uns sättigte der Gewinn, uns berauschte die Macht, uns machte selbstbewußt unser Können. In diesem Geiste schufen wir unsere Kultur und Geschichte und säten unsere Hoffnungen für die fernere Zukunft. In diesem Geiste er zogen wir Kinder und Volk und machten sie zu Erben unseres ego= zentrischen Evangeliums. In diesem Geiste gestalteten wir auch Staat und Wirtschaft und erblickten in ihnen den alleinigen Zweck unseres Daseins. Göttliche Lebensnormen, geistliche Richtlinien, biblische Ideale waren uns viel zu jenseitig, viel zu fraglich, um sie im Blick auf Volk und Staat, auf Kirche und Gesellschaft, auf Erziehung und Beruf in praktische Erwägung zu ziehen. Wir rühm= ten uns, Menschen der Wirklichkeit zu sein.
So im Materiellen und im Disseitigen mit der Seele wurzelnd, wurde alles Leben und jedes Unternehmen nur nach materiellen und vergänglichen Gesichtspunkten bewertet. Um die eigene Macht= position zu heben, den eigenen Sädcel zu füllen und das begehrliche Genußleben zu pflegen, erniedrigte man alle Kulturwerte zu einem Propagandamittel, zu einem Exportartikel, zu einem Konkurrenz
12 objekt. Heilig war nur noch, was nützte, geredn nur noch, was zu neuem Gewinn führte.
Wie hat uns aber diese Kulturschöpfung unseres Geistes arm gemacht, geknechtet, vereinsamt, entseelt! Gewiß, wir beherrschten durch unsere Technik und Industrie die Sdtatze der Erde Sie errnez drigten uns aber unerbittlich zu Knechten der Erde und der Maschine. Gewiß, wir erhoben Theater und. Kino zum Genuß unseres Geistes, zur Speise unserer Seele. Sie sollten, unserem gepeitschten Leben eine Erholung, unserem gefesselten Geiste eine Entspannung geben. In ihnen holten wir uns aber den Ekel über uns selbst, die Zerrüttung unseres Familienlebens, die gegenseitige Verhetzung im Völkerleben. Gewiß, wir haben uns Verkehrswege und -mittel ver= schaffen können, die alle Entfernungen überwinden und uns mit den Enden der Erde verbinden und deren Schönheiten erschließen. Sie fordern von uns aber blutige Opfer; stürzen uns in eine nie dagewesene Hast und Unruhe, machen uns vertraut mit allen Schlechtigkeiten der Welt. Gewiß, wir führen unsern Staat zur Blüte und Macht, um durch ihn unsere Existenz und. unsere Zukunft zu sichern. Vielfach war es aber gerade der Staat, der durch eine kurz sichtige Diplomatie und durch eine falsche. Politik mit den Nachbarstaaten das Volk in jene. Katastrophen führte, die ihm Existenz und Zukunft raubten. Gewiß, wir haben Religionen, christliche und unchristliche, die unsere Seele erlösen und unserem Leben Kraft und Inhalt geben sollen. Was für innere Qual muß aber unsere Religion sein, daß wir schmachtend auf jene wenigen Tage und Wochen einer ungebundenen Karnevalszeit warten können, in denen sich einmal das Leben bis ins Heiligste, bis ins Familienleben hinein, austoben kann!
Mit Schrecken sehen wir dieses Antlitz unseres abendländischen - Kulturlebens. Wir können es aber nicht ändern. Es fehlt uns die erlösende Kraft, völlig neugestaltet in das Weltgeschehen einzu= greifen. Und irgendwie sehen wir uns alle durch unsere Angehörig= keit zu unserm Volk und wiederum durch dieses zu den andern Völkern mit diesem „Todesleib" unserer abendländischen Kultur gemeinschaft verbunden. Es gibt heute kein Volk, das sich nur noch auf sich selbst einstellen könnte. Auch gibt es kein Einzelleben
13
innerhalb eines Volksganzen, das nicht durch Blut, Beruf, Wirta schaft und Gesellschaft mit dem Volksleben verkettet wäre.
Wie unendlich viele gehen aber an dieser Verkettung mit dem Ganzen zugrunde! Sie hören auf, eine mitaufbauende Kraft ihres Volkes zu sein. Sie vegetieren nur noch als ein von den Verhält= nissen zertretenes Glied ihres Volkes. Das Leben mit seiner Exi= stenzfrage, mit seinen Wechselbeziehungen, mit seiner politischen und sozialen Belastung ist so schwer, so rätselvoll, so voller Härte und Lüge geworden, daß sich selbst die Starken in ihrem Kampf verhetzt und in ihrem Schaffen entnervt sehen, falls sie nicht in einer höheren Lebensordnung die Lösung ihres Daseins gefunden haben.
Daher begegnen wir heute in der Welt auch so unendlich vielen zerrissenen Seelen. Sie konnten keine Ruhe im Strom der gewal= tigen Geschehnisse und im Fluß der Geschichte finden. Glaubten sie auch, in dieser oder jener Weltanschauung, in diesem oder jenem politischen Evangelium, in diesen oder jenen sozialen Wirtschafts= reformen die Lösung der Geschichte und deren Zukunft finden zu können - wie schnell sahen sie sich durch die unwiderstehliche Wucht der Ereignisse aufs neue aus ihrer Ruhe gerissen und mitten in das aufreibende Treiben und das Ringen der Zeit hineingewor-fen!
ineingewor=fen! Anstatt daß man die Zeit und die Verhältnisse meisterte und
gestaltete, wurde man beherrscht und geknechtet, gejagt 'und zer= rissen, bis man sich eines Tages - in seinen Energien und Hoff= nungen gebrochen - ruhe= und friedlos dem Geschehen der Zeit preisgegeben sah.
Zwar arbeiten wir um unser täglich Brot, als Menschen der Gegenwart sehen wir uns aber rettungslos „der Konjunktur des Arbeitsmarktes" innerhalb der Weltwirtschaft ausgeliefert. Wir suchen zwar die Wahrheit'und ringen nach Freiheit, man nimmt uns jedoch das Recht der eigenen, Meinung und liefert uns irgend= einer Propaganda aus. Wir haben zwar die Überzeugung, daß der Geist allein absolute Bedeutung hat; und daß alle Organisationen und Institutionen nur einen relativen Wert in unserem gesamten Leben haben können. Unsere Verkettung mit Verbänden und Trusts mit Vereinen und Gesellschaften läßt uns aber den neuen Geist
nicht finden, der stärker ist als der Stoff, um sich aus ihm eine neue Welt= und Wirtschaftsordnung zu schaffen.
Es gibt aber dennoch einen Geist, der zu völlig Neuem erlösen kann, es gibt eine Ruhe, die niemals einen, Abend sah. Wie sehr unser Leben auch mit der Zeit verkettet ist, wie gewaltig auch die Katastrophen der Gesduchte immer waren, wie sehr wir uns mit unseren Verhältnissen auch m dunkelste Nacht gehüllt sahen, diese Ruhe wankte nicht, und ihr Licht beherrschte auch das Dünkel der Zeiten. Sie liegt im Walten Gottes auch im Weltgeschehen. Wer sich in dieses Walten und Wirken Gottes hineingestellt sieht, der hört auf, ein Spielball der Zeit und ein Knecht der Verhältnisse zu sein. Was würde es für uns persönlich und auch für unser Volk und mit ihm für die Völker Europas bedeuten, wenn wir diese Ruhe in Gott und mit ihr jenen neuen Geist finden würden, unter dessen Leitung und in dessen Aktivität es uns 'zur weltüberwindenden Gewißheit würde, 'daß „denen, die Gott liebhaben, alle Dinge zum Guten mitwirken"! Wir würden jene Gotteswarte entdecken, von der aus wir das ganze Geschehen in göttlicher Beleuchtung sehen könnten. Es würden sich uns alsdann jene großen Gottesziele eröffnen, denen alles letzthin entgegengeführt werden soll.
Solch eine Gotteswarte ist uns auch das Buch des Propheten Daniel. Mit seinem inneren Offenbarungsgehalt stellt es das große Weltgeschehen auch unserer Tage in eine göttliche Beleuchtung. Es wirft ein so helles Licht auf die vielfach so verworrenen und rätselhaften Zeitströmungen und Gesdiichtsentwiddungen unseres Zeit= alters wie kaum ein zweites Buch unseres biblischen Kanons. Denn sowohl in den ersten sechs Kapiteln, die den geschichtlichen Teil des Buches bilden, als auch in, den Traumgesichten der letzten sechs Kapitel tritt in großen, allgemeinen Geschichtslinien und Lebens= prinzipien ein Weltbild in Sicht, wie es sich dem Wesen nach in den großen Geschichtsperioden aller Zeiten je und je wiederholt hat. Hinter diesem Weltbilde steht aber Gott. Er waltet souverän und in göttlicher Majestät auch mitten in allen Geschichtskatastrophen und in jedem wilden Spiel der Weltgeschehnisse. Ob es sich handelt um das Leben Daniels und seiner Freunde, ob um die Exi stenz Judas und dessen Geschichte, ob um ganze Weltreiche und
14
deren Nationen - wie Assyrien, Babylon, Persien, Griechenland - alle bilden im großen Weltgeschehen nicht etwa nur einen gelegenta lichen Zufall. Sie müssen kommen und gehen, richten und segnen, wie es das Walten des Höchsten zum Heile des Ganzen und der Zukunft bestimmt.
Besonders auch die sechs Geschichtskapitel des Propheten Daniel führen eine Sprache über Gottes zielbewußte und heilsgeschichp. lidie Weltregierung, wie eine rein theoretische und profane Ge sdiichtsdarstellung sie uns niemals zu zeichnen vermöchte. Wohl ist auch in dem Gesdiichtsbilde der ersten sechs Kapitel das Leben voller Konflikte. Wohl erlebt die Welt auch hier ihr Gericht, und auch hier scheinen die Gerechten gelegentlich dem Untergange ge= weiht zu sein. Wohl unterliegt auch hier wiederum der brutalen Gewalt, was nur durch brutale Macht aufgebaut wurde. - Hinter allem aber steht ein Wille, der nicht will, daß der Mensch verloren gehe, und hinter allem steht eine Hand, die „das Unmöglichste von allem Unmöglichen" dennoch auf Erden verwirklicht und das Königreich des Gesalbten zum Siege führt.
Zwar wird auch in diesen ersten Geschichtskapiteln bereits sicht= bar, wie die Weltgeschichte zum Weltgericht führt. Diese Grund= wahrheit kommt in ihrem erschütternden Ernst aber erst in den Traumgesichten der letzten sechs Kapitel des Prophetenbuches zu einer symbolischen Darstellung. Wie gewaltig, wirklichkeitsnah, zeitumspannend ist hier der Vergleich aller kommenden, trium= phierenden und gehenden Weltmonarchien mit dem Wesen und Charakter der Raubtiere, die die schwächere Kreatur nur zu ihrer Selbsterhaltung auszunutzen suchen! Es war durch die Jahrtausende hindurch aber die gewaltige Tragik auch der Weltmonarchien, daß bisher noch jedes Raubtier durch ein anderes seine Todeswunde erhielt. Die Weltmonarchien schufen sich durch ihre Geschichte bis= her noch immer ihr gegenseitiges Gericht. Auf den Trümmern der gewalttätigen Weltstaaten tritt iu@zt aber ein Reich des Men.. schensohnes in Sicht, dessen Grundfeste Gerechtigkeit, dessen Evan= gelium Friede sein wird. Mithin wird dessen Herrschaft währen von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Wir wissen zwar, welch einer schweren Kritik gerade das Buch des Propheten Daniel im Laufe der Geschichte unterworfen worden ist. Seit den Tagen des gelehrten Porphyrius, der Im Jahre 304 in Rom als Mitglied einer platonischen Schule starb und als bitterer Gegner fünfzehn Bücher gegen das Christentum geschrieben hat, sind die Summen nicht mehr verstummt, daß das Buch nicht von Daniel, sondern erst in der Makkabäerzeit von einem unbekannten Verfasser geschrieben worden sei Heute ist dies In der theologischen Wissenschaft fast die allgemeine Annahme. Im hebräischen Kanon, für dessen Text der palästinensische maßgebend ist, steht es nicht unter den andernPropheten, es wurde nur zur Sammlung der heiligen Schriften gezählt. Es war dies die dritte Sammlung Innerhalb des hebräischen Kanons, in dem die erste das Gesetz und die zweite die prophetischen Bücher umfaßte. In der dritten stand Daniel vor den Büchern Esther, Esra, Nehemia und Chronika. Es darf wohl angenommen werden, daß zur Zeit der allgemeinen Anerkennung des Danielbuches als kanonisch der jüdische Kanon in seinen beiden ersten Teilen bereits abgeschlossen war.
Auf Grund des visionären Inhalts, besonders der letzten sechs Kapitel des Prophetenbuches, wurde von der Synagoge an dem besonderen Charakter dieses Buches im Unterschied zu den anderen Propheten festgehalten. Man zählte Daniel mehr zu den Apokalyptikern als zu den eigentlichen Propheten. Erst die junge Apostelkirche ließ jeden Unterschied zwischen Daniel und den anderen anerkannten Propheten fallen.
Zu den verschiedensten Ansichten innerhalb der Wissenschaft hat nun die Frage nach der Entstehungszeit des Danielbudies gea führt. Die alte und mehr konservative Exegese rückte die Entstehung möglichst nahe an die Zeit Daniels heran. Sie verfolgte dabei das Ziel, „dem theologisch ungemein wichtigen Propheten-buch die größtmögliche Autorität" zu sichern. Je sicherer man die Schrift in seinem Hauptinhalt als von Daniel selbst verfaßt ansehen dürfe, desto größer sei seine Autorität. Man übersah aber in diesem Bestreben, daß man auch von manchen andern Büchern des Alten Testaments nicht genau die Zeit von deren Abfassung und auch nicht deren Verfasser anzugeben vermag. Da das ganze Buch ge= naue Kenntnisse von Babel und von dein Leben der damaligen

2 Kroeker, Daniel

Zeit verrät, so darf wohl angenommen werden, daß die wesent= lidien Tatsachen richtig überliefert worden sind. Das zwingt jedoch nicht auch zu der Annahme, daß die Niederschrift des ganzen Buches bereits zu Lebzeiten des Daniel erfolgt sei.
Die kritisch arbeitende Exegese glaubt, „ohne eine andere Möga lidilceit auch nur für erwägenswert zu erachten, daß Daniel erst in der Zeit der Makkabäer (z. Jahrh. v. Chr.) entstanden sei; ja hie und da setzt sogar der Versuch ein, mit diesem und jenem Kapitel bis in die römische und somit für das endgültig abgeschlossene Buch in nadichristliche Zeit herabzugehen (vgl. E. Hertlein, Der Daniel der Römerzeit. Ein kritischer Versuch zur Datierung einer wichtigen Urkunde des Spätjudentums. Leipzig 1908). Beiderseits scheinen überwiegend grundsätzliche Erwägungen den Ausschlag zu geben, ohne daß die vorhandenen Anzeichen der Entstehungsge= schichte des Buches entsprechend zur Geltung kämen.
So erkennt die kritische Exegese nicht an, daß es wirkliche Weis-sagungen
eisasagungen der Zukunft gibt, die sich tatsächlich erfüllt haben. Deshalb betrachtet sie die erfüllten Weissagungen des Buches Daniel, welche die Zukunft von Daniel bis zu den Makkabäern zu enthül= len scheinen, als fiktive Prophetien, die ein Verfasser der Makka= bäerzeit einem Daniel, der schon für Ezechiel einem hohen Alter= «im angehörte, in den Mund gelegt habe'."
Auch Behrmann entscheidet sich für eine späte Entstehung des Danielbuches und faßt seine Forschung in folgende Sätze zusam= men: „Aus der späten Entstehung unseres Buches erklärt sich auch die Erscheinung, daß es zwar großen Einfluß auf die makkabäische Zeit ausgeübt hat, aber daß keine Spur eines solchen bemerkbar ist in dem kanonischen Schrifttum des Alten Testaments.
Aber ebenso sicher, wie die Betrachtung des historischen Chaiak= ters des Danielbuches auf so späte Abfassung hinführt, ebenso be stimmt widerspricht sie der Behauptung, der Inhalt dieses Buches sei erst damals erfunden oder umgslichtet zu dem Zweck, die jüdischen Frommen gegen die Versuchung zum Abfall zu schützen. Nicht Erfindung, sondern Überlieferung liegt überall vor, welche, auch wo sie von dem sonst beglaubigten 9eØiichtsverlauf ab=
Dr. Job. Goettsbergcr: Das Buch Daniel, S. 3. weicht, durch anderswo gegebene Nachrichten als wirkliche, wenngleich ins Sagenhafte gewachsene Überlieferung bezeugt wird, eine absichtliche Umwandlung derselben aber, welche eine Parallele zwischen Nebukadnezar bzw. Belsazar und Annodius Epiphanes ziehen wollte, laßt sich nirgendwo nachweisen Der Verfasser unseres Buches hatte die Absicht, den passiven Widerstand der Gesetzes treuen seines Volkes zu trösten mit Erzählungen aus der Vorzeit, welche ihm bekannt geworden waren, und mit den Weissagungen, welche die Vorzeit über die leiderfüllte Gegenwart hinweg mit einer herrlichen Zukunft verbanden. Indem er in den letzteren Daniel selbst redend einführte und sie zum Teil bis Ins einzelne spezia= lisierte, folgte er einer allgemeinen Sitte jener Zeit. Dies gehörte für ihn, wie fur viele folgende Geschlechter und für die Gemeinde noch heute, der Form an, der Inhalt entstammte denselben Quellen wie die alttestamentl,dze Offenbarung überhaupt Das bezeugte sich an der Frucht, welche das Buch trug, nicht nur für das damalige Judentum, sondern auch bei Entstehung. und Erhaltung des Christentums'.,
Wir glauben uns im wesentlichen den Ausführungen Goetts= bergers anschließen zu sollen, wenn er in seinem Einleitungskapitel schreibt: „Läßt sich so die Entstehungszeit des gegenwärtigen Buches - und um dieses kann es sich zunächst ja nur handeln - bloß innerhalb gewisser dehnbarer Grenzen bestimmen, so dürfen wir nicht hoffen, als Verfasser einen bestimmten Namen, nennen zu können. Anders verhält sich die Sache, wenn wir fragen, ob nicht in einem früheren Stadium Daniel Hand. an das Buch gelegt hat. Kommt es nicht genau auf die gegenwärtige Form des Buches und die vorliegende Einordnung seiner Bestandteile an, dann sind die Einwände gegen unmittelbare Herkunft aus Daniels Hand nicht mehr so wirksam, und die Eigenart des Inhalts der Propheten=
schriften läßt nicht leicht daran glauben, daß sie von Epigonen in tiefer greifender Umgestaltung der ursprünglichen Fassung entklei=
det worden wären. Die wechselvolle Geschichte, die unser Buch durchlaufen mußte, ehe es in die gegenwärtige Form gegossen

wurde, legt es nahe, weitgehend den Grundstock des Buches in die Zeit des Daniel zurückzuverlegen.'
Es liegt weder in der Absicht des Verfassers noch im Charakter des Werkes, die textkritischen und hterarhistorischen Fragen hier möglichst einer letzten Lösung entgegenzuführen oder auch nur zu beantworten. Wen diese Fragen bewegen, den müssen wir auf die wissenschaftlichen Kommentarwerke und auf sonstige Fachliteratur verweisen. Uns handelt es sich um die entscheidende Frage: Hat sich der Offenbarungsgehalt des Propheten Daniel als Gottesoffenbarung im Laufe der Jahrtausende gerechtfertigt oder nicht? Finden wir hier eine Weltanschauung und ein Weltbild, das von der ganz zen späteren Zukunft Lügen gestraft werden konnte, oder straft die Wahrheit dieser Offenbarung unsere moderne Weltanschauung und Geschichtsdarstellung Lügen? Behält Gott im lichte eines Pro. pheten Daniel recht, oder behält der Mensch im Lichte seiner moder= neu Kulturentwicklung recht? Soll letzthin der Mensch ohne Gott, oder Gott mit und durch den Menschen in der Geschichte siegen?
Das sind für uns entscheidende Fragen. Wir zweifeln nicht an der Geschichtlichkeit der Erlebnisse des Königs Nebukadnezar und der Persönlichkeit Daniels. Der Inhalt des Buches ist mit seiner Gern schichte gerechtfertigt worden. Es bestand bis heute jener Kampf zwischen Weltstaat und Gottesreich, der den leitenden Grundgern danken des ganzen Prophetenbuches bildet. Mit einer Schärfe und Lichtfülle, wie nur die Offenbarung zu reden vermag, ist uns der innere Charakter und der zeitliche Verlauf der Weltmonarchien bis zu ihrer letzten Katastrophe und der Sieg des Gottesreiches gezeich= riet, wie wir es sonst vergeblich in der Geschichtsliteratur der Völker suchen werden.
Daher hat die gläubige. Gemeinde in ihren dunkelsten Zeiten auch immer so stark eine höhere Orientierung im Lichte des Propheten Daniel und der Offenbarung des Johannes gesucht Leider hat sie im Laufe der Jahrhunderte je und je auch manches zu ihrem Unheil aus den Büchern herausgelesen. Es würde zu weit führen, um an so manche Irrtümer zu erinnern, die bis S in die jüngste Zeit hinein
1 Dr. Job. Goettsberger: Das Buch Daniel, S. 6.
ihre Kraft aus falschen oder einseitigen Deutungen der es&atolo= gischen Bücher des biblischen Kanons schöpften.
Wir wollen daher in heiliger Nüchternheit in das Licht der Offenbarung treten, das uns auch dieses. Buch mit seinen großen, scharf umrissenen Persönlichkeiten in den ersten sechs und mit seinen Traumgesichten in seinen letzten sechs Kapiteln für unsere Zeit und die Entwicklung der Zukunft geben will. Wir tun es mit dem bewußten Vorbehalt, daß auch wir uns in dieser oder jener Deutung irren können. All unser Erkennen ist Stückwerk. Wir hof= fen aber, daß uns im Lichte des Propheten Daniel die Fußspuren des lebendigen Gottes in unserem persönlichen Leben und auch im großen Verlauf der Geschichte unseres Zeitalters weit sichtbarer und verständlicher werden. Unsere Seele will Gott sehen, sie will ihn sehen auch in den großen und kleinen Ereignissen der Gegenwart. Findet sie ihn in seinem Walten nicht, dann sieht sie sich halt= und rettungslos fortgerissen vom Strom der Zeit und ist preis= gegeben jenen zersetzenden Gewalten, die sie nicht zu meistern vermag.
In diesem Geiste wollen wir an den Inhalt des Buches Daniel treten, damit Gott dadurch zu uns rede. Die Kirche muß in unserer Zeit ihren Platz als Prophetin Gottes und als Botin einer Neusdiöp= fang wiederfinden, falls sie die Not der Zeit richtig deuten und der Welt in ihrem Gerichte mit einer höheren Zukunft dienen will. Wird sie sich nicht wieder im Geiste der Propheten und Apostel ihrer göttlichen Berufung, Sendung und Botschaft bewußt, dann wird sie von denen als dumm gewordenes Salz zertreten werden, denen zu dienen sie berufen war. Lauter denn je ruft der Herr mit= hin heute seiner Kirche durch die göttliche Offenbarung zu: „Wer ein Ohr hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!"

Hauptpastor G. Behrmann: Das Buch Daniel, S. XXVII.

Daniel, der Prophet als Staatsmann
A. Der Geisteskampf zwischen Weltstaat und Gottesreich L Babel vor Jerusalem
1m Jahre drei unter dem Königtum Jojakims, des Königs von Juda, kam Nebukadnezar, der König von Babel, vor Jerusalem und belagerte sie.« Dat 1, 1
Das. ist Gottes Art, Weltgeschichte zu schreiben. Er nimmt ein bestimmtes Ereignis der Geschichte und läßt uns im Lichte einer Einzelerscheinung das Wesen und den Verlauf des Ganzen sehen. Babel vor Jerusalem - das war in jedem Zeitalter das bezeichnende Bild in dem großen Kampf zwischen Weltstaat und Gottesreich.
Nicht Jerusalem vor Babel. Diese Stellung hat Jerusalem als be= rufene Hütte Gottes auf Erden nie in der Geschichte eingenommen. Wenn Jerusalem sich gelegentlich auf der Linie zu solch einer agresa siven Machtentfaltung entwickelte, wie z. B. in den Tagen Salomos oder in den Glanzzeiten Roms, dann schuf sie die geistigen Grundlagen ihres eigenen Untergangs. Denn das Licht ringt nicht mit der Finsternis. Es hat eine viel positivere Weltmission. Mit seinem Kommen will es die Herrschaft der Nacht in einen Tag verwandeln. Seine schöpferische Mission will alles Leben jenem ersehnten Göt= tessabbat entgegenführen, der einmal ohne einen Abend sein wird.
Ob es sich um das Jerusalem der israelitischen Geschichte oder um die gegenwärtige Kirche Christi handelt - ihr Kampf ist ein rein geistlicher, der nur mit geistlichen Waffen geführt werden kann. Denn es ist unmöglich, mit fleischlichen Waffen geistliche Werte zu gewinnen. Sooft Jerusalem in der Geschichte wirklich Jerusalem, die Kirche wirklich eine Ekklesia militans Christi war, war Babel niemals der Gegenstand ihrer Bekämpfung. Es war immer nur das Missionsgebiet ihres prophetischen Dienstes. Ihre Ziele sind nicht gewaltsame Unterwerfung. Durch Erlösung erstrebt sie eine innerliche Gewinnung: aus Feinden sollen Freunde Gottes werden. Jerusalem konnte sich in ihrem Kampfe daher immer nur als Prophetin mit der Thorarolle, niemals jedoch als Ritter mit dem

Inhaltsverzeichnis
Aus dem Vorwort zur 2. Auflage 9
Vorwort zur 3. Auflage 10
Einführung 11
Daniel, der Prophet als Staatsmann 23
A. Der Geisteskampf zwischen Weltstaat und Gottesreich 23
1. Babel vor Jerusalem 23
1. Babel, die Vertreterin der Weltmacht . . 25
a) Babel: Machtentfaltung - daher Kneditung der
Brüder 25
b) Babel Selbsterlösung - daher Verneinung des
Kreuzes 28
c). Babel: Kulturanbetung - daher Vergötterung des
Menschen und dessen Schöpfungen . . 30
2. Jerusalem, die Vertreterin des Gottesreiches . 31
a.) Jerusalem entsteht durch Offenbarung - daher
ihre dauernde Abhängigkeit von Gott . . 32
b) Jerusalem lebt von der Offenbarung - daher ihre
wachsende Gemeinschaft mit Gott . . . 35
c) Jerusalem wird zur Offenbarung - daher ihre
prophetische Weltmission 36
II. Die Übergabe Jerusalems ........38
1. Eine erschütternde Tragik ......38
2. Der geschichtliche Vorgang ......42
3. Die unübersehbaren Auswirkungen ..; 46
a) Die Entweihung der heiligen Gefäße . 47
b) Die Erziehung jüdischer Jünglinge 48
III. Der heilige Überrest .......50
a) Der heilige Überrest und seine unschuldigen Leiden 51
b) Der heilige Überrest und seine heiligen Grundsätze 52
c) ter heilige Überrest und seine ersten Glaubensschritte 54

d) Die Sonderstellung Daniels während der Prüfungs-
zeit ......................106
D. Durch Offenbarung oder Gericht zum Leben . . 108
I. Gottes schwere Gerichtsoffenbarung . 108
a) Nebukadnezars freimütiges Glaubenszeugnis . 109
b) Nebukadnezars offenes Sdiuldbekepntnia
c) Nebukadnezars neue Gerichtsvision . . 116
11. Nebukadnezars erschütternde Gerichtserlebnisse 118
a) Daniels schwerer Prophetendienst 118
b) Nebukadnezars plötzliche Erkrankung 122
c) Des Königs wunderbare Genesung und seine Anbetung Gottes .........128
E. Der fernere Gesdzidztsverlauf und NebukadnezarsNadtfolger 130
1. Nebukadnezars Nachfolger 130
a) Nebukadnezars Thronerbe . 130
b) Belsazers frivoles Sündenleben 133
c) Gottes Gerichtsurteil an der Wand 137
II. Belsazers Untergang ..........139
a) Der vergessene Gottesprophet  139
b) Die erschütternde Bußpredigt 142
c) Der plötzliche Untergang . . . 147
F. Daniels letzte Bewährung im Dienst und die Frucht seiner Leiden 148
I. Die reichen Dienstjahre Daniels 148
a) Der schnelle Niedergang Babels 148
b) Die Regierungsreform des Darius 152
c) Die Ränke der Feinde Daniels . . 153
d) Das verhängnisvolle Edikt des Königs 155
TI. Daniels neuer Leidensweg . . . . 157
a) Die offenen Fenster gen Jerusalem . 157
b) Die Verlegenheit des Königs . . 163
III. Daniels Dienst durch Leiden . . . . 165
a) Darius'. ungewollter Befehl 165
b) Des Königs wunderbarer Lobpreis Gottes. - . 169
7
d) Der heilige Überrest und seine wunderbare Legitimation 56
B. Weltliches Prophetentum und der Dienst der göttlichen Offenbarung

I Nebukadnezars Offenbarungstraum 59
a) Die Welt und ihre Fragen .....59
b) Die Welt und ihre Unruhe 61
c) Die Welt und ihre Ohnmacht 62
d) Die Welt und ihre Härte 65

II. Daniels zweiter Glaubensschritt 67
a) Daniel stellte sich Gott zur Verfügung . . . 67
b) Daniel tat den Schritt im Glauben . . . . 70
c) Daniel handelte in bewußter Abhängigkeit vom Herrn 71
d) Daniel pries das Walten Gottes  75

III. Die Gottesantwort an Nebulcadnezar  77
a) Daniels freimütiges Glaubenszeugnis 77
b) Die Deutung des Monarchienbildes 79
c) Der tiefe Eindruck Nebukadnezars 86
C. Weltliche Universalreligion und wahre Gottesanbetung . 88 

1. Das Mönardiienbild in der Dura-Ebene . . . . 88
a) Die Veräußerlichung der empfangenen Offenbarung 88
b) Nebukadnezar suchte durch das Monardiienbild
eine Universalreligion zu schaffen . . . . 89
c) Der Protest des Glaubens gegen eine Veräußer-
lichung der Gottesoffenbarung 92
d) Die schwere Anschuldigung gegen die Träger des Glaubens 94
e) Das schwere Gericht, das den Trägern des Glaubens droht 96
II. Die Feuerprobe. der Freunde Daniels 98
a) Das mutige Bekenntnis des Glaubens . . 98
b) Die Antwort der Welt auf den Protest des Glaubens 100
c) Die beschränkten Vollmachten der Welt . . 101
d) Das unerwartete Erwachen des Gewissens der Welt 104

Daniel, der Staatsmann als Prophet 172
A. Die Weltstaaten im Lichte Prophetischer Offenbarung 172
1. Die Weltstaaten in Daniels erstem Traumgesicht 172
a) Daniels erstes Traumgesicht 172
b) Die Weltmächte und ihr geheimnisvolles Entstehen 176
II. Die Weitreidte und ihr geheimnisvolles Wesen . . 179
a) Das Bild des babylonischen Weltreiches - . 180
b) Das Bild des medopersischen Weltreiches . 183
c) Der Typus des mazedonischen Weltreiches 183
d) Das vierte Tier 185

III. Die Weltmacht vor dem Weltgericht 188
a) Die Weltmacht vor dem Weltgericht . . 188
b) Die Königsherrschaft des Menschensohnes 192
B. Der alttestamentljdze Antidiristus 195
1. Daniels zweites Offenbarungsgesicht 195
a) Griechenland im Kampf wider Persien - . 196
b) Daniel und die höhere Deutung 198
II. Antiochus IV. Epiphanes als Typus des Antidiristus 202
a) Antiodius IV. Epiphanes in seinem Frevel 202
b) Antiochus IV. Epiphanes als Typus des Antidiristus 204
C. Das Geheimnis der siebzig Jahr-wochen 206
I. Die erbetene Offnbarung 206
II. Die höhere Deutung 211
D. Des Propheten letztes Gesicht 220
I. Fernblicke in die nähere Zukunft 220
a) Des Propheten innerliches Ringen . . 220
b) Der geheimnisvolle Offenbarungsbote 221
c) Der Kampf der unsichtbaren Mächte . 222
Il. Das Ringen zwischen dem Süd- und Nordreich 224
a) Die wediselvollen Leiden Israels 225
b) Der Antichristus des jüdischen Volkes 229
III. Fernblick in die letzte Zukunft 232
a) Die Leiden der Endzeit 232
b) Die Auferstehung der Toten 234
c) Der Abschluß der letzten Offenbarung 235

Die Darstellung des Löwen auf dem Schutzumschlag ist Teil eines Schmelzziegel-Wandgemäldes aus dem Palast flebukadnezars TI. in Babylon und wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlages Gustav Kilpper, Stuttgart, dem Monumentalwerk
„Ur, Assur und Babylon. Drei Jahrtausende im Zweistromland' von Professor Dr. Dr. Hartmut Schmökel entnommen.
Einband und Schutzumschlag: Erich Augsteln
© 1987 by Brunnen-Verlag, Gießen
Prlrted in Germany
Gesamtherstellung: Buchdruckerei H. Ratbmann, Marburg a. d. Leim

Epheser 4, 1‑3 Christliche Einheit und Gemeinschaft, Kelly William

08/02/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

W.Kelly - Die Einheit des Geistes

Fleiß anwenden
Welche Bedeutung Gott dem Bewahren der Einheit des Geistes beimißt, ist jedem christlichen Leser, der mit Epheser 4, 1‑3 vertraut ist, hinreichend klar. „Befleißigen“ gibt jedoch nicht die volle Aussagekraft des Wortes wieder, das der Geist Gottes hier im Grundtext verwendet. In gewöhnlicher Alltagssprache pflegt man von „befleißigen“ oder „fleißig sein“ zu reden, wenn jemand etwas zu erlangen versucht, nach etwas strebt, selbst wenn er keine Hoffnung hat, das Erstrebte zu erreichen. Er mag fühlen, daß es ihm mißlingen könnte, versucht oder „befleißigt sich“ aber auf jeden Fall, dieses oder jenes zu tun. Eine solche Bedeutung hat das in Epheser 4, 3 gebrauchte Wort nicht. Es meint vielmehr: Eifer bei der aufmerksamen Beachtung und Ausführung von solchem, das bereits wahr ist,‑ Fleiß anwenden, um „die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens“. Das zeigt, welche Ermahnung hier beabsichtigt ist: Wir sollen nicht Bemühungen anstellen, um etwas zu erreichen, sondern Eifer zur Bewahrung von Bestehendem aufbringen.

Die Einheit des Geistes ist nämlich für den Glauben eine bestehende Tatsache. Sie zu bewahren, ist deshalb aber nicht weniger unsere gegenwärtige Verpflichtung. Nicht, daß wir von uns aus eine Einheit zu bewerkstelligen hätten, oder daß Gott sie erst im Himmel für uns schaffen würde. Hier und jetzt hat der Heilige Geist diese Einheit gebildet, die zu bewahren ganz klar unsere Verantwortung auf der Erde ist. Zweifellos können wir viel aus der Tatsache lernen, daß es sich um „die Einheit des Geistes“ handelt, wie sie genannt wird. Es geht also keineswegs um eine bloße Einheit unsererseits, noch um die Einheit des Leibes (obwohl diese ein Ergebnis der Einheit des Geistes ist), sondern um diejenige Einheit, die der Heilige Geist stiftete, als Er alle Glaubenden, Juden oder Heiden, Sklaven oder Freie, zu einem Leibe taufte. Das stellt die handelnde göttliche Person, die wirksame Quelle und Kraft der Einheit, den Heiligen Geist, in den Vordergrund, setzt aber den einen Leib voraus und schließt ihn ein. Dieser eine Leib ist selbst eine so unzweifelhafte und beständige Wirklichkeit, daß manche Ausdrücke, die diesbezüglich oft gebraucht werden, sich als falsch erweisen. Von einem Zertrennen des Leibes hören wir in den Worten und Schriften der Menschen, niemals in Gottes Wort. Geradeso wie kein Bein Christi gebrochen werden durfte, so kann auch der Leib Christi, die Kirche, nicht zertrennt werden. „Da ist ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen worden seid in einer Hoffnung eurer Berufung.“ Das sind die lebenswichtigen, bleibenden und unveränderlichen Wahrheiten dieser neuen Beziehung, in der die Gläubigen nun zu Christus und untereinander stehen. So gewiß wie ein Geist vom Himmel herniedergesandt worden ist, so gewiß gibt es auch nur einen Leib auf der Erde; doch was die Glieder dieses Leibes zu bewahren berufen sind, ist die Einheit des Geistes.
Seit Pfingsten besteht eine göttliche Einheit auf der Erde ‑ nicht eine bloße Ansammlung von durch Gnade berufenen Einzelnen, sondern eine durch den Geist Gottes geschaffene Einheit. Diese göttliche Gemeinschaft hier auf Erden wird nicht durch den Willen der Personen gebildet, die zu ihr gehören. Zwar sollte man annehmen, daß ihre Herzen, falls sie richtig stehen und einsichtig sind, völlig mit der Gnade in Einklang sind, die sie so vereint hat. Aber die Kirche oder Versammlung Gottes ist durch den Willen Gottes gebildet worden. Wie Er sie in Seiner Gnade geplant hatte, so hat Er sie durch Seine Macht ins Leben gerufen, wobei es der Heilige Geist war, der diese gesegnete Einheit zustande gebracht hat. Aus diesem Grund hat der Geist Gottes das tiefste und innigste Interesse daran, diese Einheit zur Verherrlichung Christi und nach den Ratschlüssen des Vaters praktisch zu verwirklichen. Sie wird die Einheit des Geistes genannt; doch möge sich niemand einbilden, er könne die Einheit des Geistes einsichtsvoll bewahren, wenn er den einen Leib Christi auch nur für einen Moment dem Grundsatz nach oder in der Praxis aus dem Blick verliert.

Eine zu weite Einheit ‑ Gleichgültigkeit
Es gibt natürlich verschiedene Weisen, wie die Gläubigen darin versagen können, die Einheit des Geistes zu bewahren. Aber solches Versagen kann sich letztlich nur in zwei entgegengesetzten Richtungen auswirken, die ebenso weit verbreitet wie offenkundig sind. Der erste Fehler besteht darin, eine Einheit herzustellen, die weiter ist als diejenige des Geistes; den zweiten Fehler begeht man, wenn man die Einheit enger macht als die Einheit des Geistes. Auf der einen Seite kann es weltliche Laxheit, auf der anderen bloße Parteilichkeit geben. Die Gefahr, in diese Extreme zu verfallen, ist so groß, daß nur der Geist Gottes durch das Wort unsere Blicke auf Christus gerichtet halten kann. Was immer man bezwecken oder womit man sich auch entschuldigen mag ‑ der treibende Beweggrund kann im Grunde nur der dem Willen Gottes entgegengesetzte Eigenwille des Menschen sein.
Im ersten Fall ist man also geneigt, die Einheit zu erweitern. Man besteht darauf, außer den Gliedern des Leibes Christi noch weitere große Mengen aufzunehmen. Seelen werden als solche, die Christus angehören, anerkannt, ohne daß man einen angemessenen Grund dafür hätte. Welch eine Verunehrung Seines großen Namens! Ich rede jetzt nicht von Schwachheit bei der Anerkennung solcher, deren Bekenntnis man für wahr hält, sondern von der willentlichen Absicht, Personen aufzunehmen und als zum Leib Christi gehörend zu behandeln, die nicht einmal selbst bekennen, Glieder Seines Leibes zu sein, und die offensichtlich nie aus dem Tode in das Leben übergegangen sind. Gerade das aber hat Rom während seiner Herrschaft über den Westen im Mittelalter getan; und die östlichen Kirchen (wie die Griechisch‑Orthodoxen, Nestorianer usw.) waren um keinen Deut besser als die Katholische Kirche, bevor die große Spaltung sie entzweite. Ohne auf den Glauben und das Empfangen des Geistes zu achten, haben sie alle mittels fleischlicher Anordnungen die Welt gesucht und aufgenommen. Die Reformation, soviel sie auch zustande gebracht hat, hat diesen grundlegenden Irrtum keineswegs berichtigt. Der Protestantismus lehnte das Weib ab, das über die Nationen ‑wenn möglich, alle Nationen herrschte. Da er aber von der Einheit des Geistes nichts verstand, errichtete er überall dort, wohin sich sein Einfluß erstreckte, kraft Gesetz seine eigene unabhängige Religion.
Das ist der wohlbekannte Grundsatz der Landeskirchen, wo immer sich diese befinden, sei es in England oder in Schottland, in Deutschland oder in Holland. Sie bekennen, alle anständigen Leute in den jeweiligen Bezirken oder Gemeinden aufzunehmen. Das ist zugestandenermaßen eine Religion für jedermann und entspricht in gar keiner Weise der Absicht oder dem Wunsch, sich mit niemanden zu verbinden, der kein lebendiges Glied Christi ist. Man läßt Herkunft oder örtliche Beziehungen gelten, es sei denn, ein öffentlicher Skandal liege vor. Neues Leben oder Glaube werden nicht verlangt, noch weniger die Gabe des Heiligen Geistes, wie es früher doch der Fall war (Apg. 11, 16‑17). Dergleichen entspricht eher dem Muster Israels als dem der Kirche, in der es weder Juden noch Griechen gibt, sondern alle in Christus eins sind. Es geht bei den Landeskirchen um familiäre Bande und geographische Grenzen. Die Leute sind keine Israeliten oder Heiden, sondern bekennen sich, da sie sich in einer allgemein so genannten Landeskirche befinden, zur christlichen Religion. Aber ist es denn nicht klar, daß in einer Landeskirche die Einheit des Geistes in keiner Weise bewahrt werden kann? Jemand mag ein wirklicher Christ, ein Kind Gottes sein ‑ aber für ein Mitglied einer Landeskirche bestehen weder der Gedanke noch die Möglichkeit, innerhalb dieser Kirche die Einheit des Geistes zu bewahren“. Folglich spricht man z. B. von der Kirche Englands und nicht von der Kirche Gottes in England; noch weniger hat man alle im Blick, die auf der ganzen Erde Christus angehören.
Tatsache ist, daß solche evangelische Christen zwar aus Babylon entronnen, jedoch statt dessen dazu gelangt sind, eine von der Einheit des Geistes völlig verschiedene, ja dieser sogar entgegengesetzte Einheit anzuerkennen. Sie haben eine Einheit aufgerichtet, die, wenn mit vollständigem Erfolg durchgeführt, die ganze Nation umfassen würde, vielleicht mit Ausnahme derer, die allen religiösen Schein meiden. Im Blick auf letzteres möchte ich nämlich nicht vergessen, daß die liturgischen Vorschriften gegen Verbrechen oder öffentliches Ärgernis Vorsorge treffen. Es ist jedoch allgemein bekannt, daß es in jeder Stadt, nahezu in jeder Familie mehr oder weniger angesehene Personen, moralische und liebenswürdige Menschen gibt, die genau wissen, daß sie nicht aus Gott geboren sind, und die sich scheuen würden, sich Glieder Christi zu nennen, es sei denn, sie sind dazu verleitet worden, diese Stellung aus rituellen Gründen zu beanspruchen. Die meisten von ihnen würden davor zurückschrecken, „Heilige“ genannt zu werden, und umgekehrt nicht zögern, diesen Ausdruck als Schimpfwort den Kindern Gottes beizulegen, die sich nicht schämen, sich als diejenigen zu bezeichnen, die sie sind.
Wer den Namen „Heiliger“ ablehnt, ist auch offensichtlich keiner ‑es sei denn, man könnte sich ehrlicherweise einen so tief gesunkenen oder verfinsterten Gläubigen vorstellen, daß er aus der Bezeichnung, die Gott Seinen Kindern gegeben hat, einen Spottnamen macht. Und wir können ohne Zweifel sicher sein, daß jemand, der so denkt und redet, nicht wandelt, wie es einem Heiligen geziemt.
Wenn nun jemand nicht im schriftgemäßen Sinne ein Heiliger ist, dann ist er mit Sicherheit kein Christ, außer im Blick auf sein leeres Bekenntnis, für das ihn Gott richten wird. Ist es denn nicht klar, daß ein Christ ein Heiliger und noch wesentlich mehr als das ist? Es gab Heilige auch zur Zeit des Alten Testamentes, es gab Heilige vor dem Kreuz Christi; aber waren all diese wirklich Christen? Ein Christ ist ein Heiliger in der Zeit nach dem Erlösungswerk, jemand, der durch den Glauben an das Evangelium, in der Kraft des Heiligen Geistes und auf der Grundlage des Werkes Christi für Gott abgesondert ist. Was immer er auch vorher als natürlicher Mensch gewesen sein mag ‑ Gott hat ihn mit Christus lebendig gemacht und ihm all seine Vergehungen vergeben. Nun, da er durch das Blut Christi nahe gebracht worden ist, darf er als ein Kind vor Gott treten. Damit ist er auch ein Glied des Leibes Christi.
Nun, diese Personen sind es, die die Berufung haben, die Einheit des Geistes in dem Bande des Friedens zu bewahren und sich allem zu widersetzen, was diese Einheit verfälschen könnte. Das bedeutet nicht lediglich, daß die Gesinnung im Inneren und der persönliche Wandel nach außen hin zu der Einheit des Geistes passen müssen, obwohl das natürlich wahr ist. Doch Zuneigungen und Wandel mögen noch so hervorragend sein, es wäre etwas Ernstes für einen Christen, den Ausdruck dieser Einheit zunichtezumachen oder einfach darüber hinwegzusehen. Aber wird die Einheit des Geistes nicht durch jeden Gläubigen verunehrt, der irgendeine Einheit anerkennt, die nicht vom Heiligen Geist ist? Wenn er die Gemeinschaft einer Landeskirche in diesem oder jenem Land anerkennt, ist es dann nicht klar, daß er den Boden verlassen hat, auf den die Schrift alle Heiligen stellt? Wie kann man als Mitglied einer solchen Kirche die Einheit des Geistes bewahren? Der Betreffende mag sich übrigens in anderer Hinsicht durchaus als ein wahres Kind Gottes verhalten, sein Wandel mag Achtung und Liebe verdienen, und sicher sollte er für jeden, der sich beeifert, die Einheit des Geistes zu bewahren, ein Gegenstand zartfühlender Anteilnahme sein; denn wenn letztere ihrer Berufung treu sein wollen, müssen sie für die Befreiung aller Kinder Gottes beten, die in diesem Punkt nicht dem Willen und dem Wort des Herrn Jesus folgen.
Dennoch steht es außer Frage, daß diejenigen, die sich zu einer Einheit bekennen, die auf der Grundlage von aller Welt offenstehenden Riten das Fleisch zuläßt, sich auf einem Boden befinden, der weiter ist als die Einheit des Geistes. Folglich können sie auch nicht in Übereinstimmung mit dieser wandeln. Wahre Einheit schließt jede andere aus. Wie man nicht zwei Herren dienen kann, so kann man auch nicht an einer zweifachen Gemeinschaft teilhaben. Die Einheit des Geistes läßt keine rivalisierende Einheit zu.

Eine zu enge Einheit ‑ Sektiererei
Doch es gibt noch eine andere Art des Abweichens von der Wahrheit, die die Kinder Gottes daran hindern kann, die Einheit des Geistes zu bewahren. Durch den Mißbrauch von Lehre oder Zucht können sie eine Einheit bilden, die nicht nur tatsächlich, sondern grundsätzlich und mit Absicht enger ist als die Einheit des Leibes Christi. Befinden sich solche auf göttlichem Boden? Ich denke nicht. Sie mögen ihre eigene Regierungsform offen aufrichten oder auch insgeheim ein ausgemachtes, wenngleich ungeschriebenes System von Vorschriften haben, wodurch Gläubige, die zwar ebenso gottesfürchtig sind wie sie, aber diese Vorschriften nicht akzeptieren können, ausgeschlossen werden. Dann haben wir es mit einer Sekte zu tun. Ihre Satzungen sind nicht die Gebote des Herrn, erhalten in der Praxis aber dennoch ebensoviel Autorität wie Sein Wort, oder (wie es üblich ist) sogar noch mehr. Was soll noch die Behauptung, keine menschlichen Vorschriften zu haben, wenn man für solche, mit denen man in Berührung kommt, unter der Hand bestimmte Bedingungen für die Gemeinschaft einführt ‑ hier schärfer, dort lockerer, je nach der unterschiedlichen Politik und Laune der Führer? Jede derartige Haltung nimmt die Gestalt, nicht von Landeskirchentum, sondern von Sektiererei an, die (anstelle zu weiter oder offener Grenzen) eher diejenigen aufzuspalten sucht, die zusammen sein sollten. Wenn Christen so zusammenkommen, dann geben sie durch ihre Gemeinschaft lediglich ihrer Verschiedenheit von ihren Brüdern Ausdruck; sie stehen in keiner Weise auf dem Boden der Einheit zusammen, die von Gott ist. Das ist dem Grundsatz nach Sektiererei und wenn die Betreffenden es besser wissen, dann sind sie schuldiger als gewöhnliche freikirchliche Christen.
Unter dieser Rubrik einer zu engen Einheit finden wir die Kinder Gottes oft zerstreut vor, und zwar durch den Druck fragwürdiger oder sogar falscher Zuchtausübung, oder infolge übermäßig betonter, wenn nicht falscher Lehre. Einige ziehen eine entschieden arminianische, andere eine streng calvinistische Gemeinschaft vor.( ‚ Während Jean Calvin (1509‑1564) eine schroffe Prädestinationslehre vertrat (Gott habe von Ewigkeit her die einen zur Seligkeit, die anderen zum Gericht bestimmt), betonte der Leidener Theologieprofessor Jacobus Arminius (1560‑1609) die Willensfreiheit des Menschen (es liege beim einzelnen Menschen, sich für oder gegen das Heil zu entscheiden). Der arminianische Streit (1604‑1619) war weit über seine Zeit und die Grenzen Hollands hinaus von großer theologischer Bedeutung. Der Obersetzer.)
Die einen mögen bestimmte Ansichten über das Kommen und das Reich Christi aufdrängen; andere über den Dienst, Bischöfe, Älteste usw.; wieder andere über die Taufe, deren Durchführungsweise oder die zu taufenden Personen. Diese kirchlichen Gesetzgeber scheinen sich überhaupt nicht bewußt zu sein, daß ihr Mißbrauch dieser Lehren oder Praktiken mit dem Bewahren der Einheit des Geistes in dem Bande des Friedens unvereinbar ist; sie selbst irren sich, wenn nicht in ihren Ansichten, so doch zumindest in der Art und Weise, wie sie diese anderen aufdrängen.
Hinter diesen nach außen hin sichtbaren Abweichungen vom Willen Gottes über Seine Kinder wird man tieferliegende Ursachen finden, die den Heiligen Geist betrüben und die wahre und geistliche Erkenntnis des Gläubigen hindern. Die persönlichsten und vielleicht am weitesten verbreiteten Hindernisse entspringen dem Zustand der Seele, und zwar durch Unkenntnis eines voll und ganz befreienden Evangeliums. Die Sünde ist in solchen Fällen nie völlig vor Gott gerichtet worden, und folglich kennt man selbst den Grundsatz der Befreiung (Rö 7, 2) nur zum Teil, wenn man ihn überhaupt kennt. Noch weniger ist die Kraft des Geistes vorhanden, in welcher der Tod Christi schonungslos auf das eigene Ich praktisch angewandt wird. Vielleicht hat man selbst die Vergebung der Sünden als eine vollendete Tatsache nur schwach erfaßt. Daß es oft so ist, zeigt die Auffassung, man müsse immer aufs neue seine Zuflucht zu dem Blute Christi nehmen, oder (wie einige es ausdrücken würden) ein ständiger  Reinigungsprozeß müsse vor sich gehen. Diese Lehre gründet man auf ein falsches Verständnis der Gegenwartsform in 1. Johannes 1, 7, deren moralische Tragweite man unwissenderweise auf die bloß tatsächliche Zeit einschränkt. Wieder andere haben eine völlig oberflächliche und falsche Ansicht über die Welt, so als ob die ganze Welt durch das Kreuz Christi nun dem Christen gehöre, während doch im Gegenteil der Christ der Welt und die Welt ihm gekreuzigt ist.
Wenn das Fleisch und die Welt auf diese Weise nur unzulänglich und nicht nach dem Worte Gottes im Lichte des auferstandenen Christus gerichtet worden sind, dann ist das Herz nicht in jeder Hinsicht in Gemeinschaft mit Gott. Obwohl man den größten Eifer für Seelen an den Tag legen mag, soweit ihre Gefahr und die vergehende Gnade Gottes verstanden werden, und obwohl man mit aufrichtiger und brennender Liebe wünschen mag, daß Christus durch die Segnung dieser Seelen geehrt werde, so nimmt doch die Natur immer noch einen breiten Raum ein. Das Wort und der Geist Gottes regieren das zu dem Gestorbenen, Auferstandenen und Verherrlichten hin abgesonderte Herz nicht vollständig. Wie kann man bei einem solchen Zustand erwarten, daß jemand sich ein gesundes geistliches Urteil über die Kirche zu bilden vermöchte, kompliziert wie diese Frage nun durch den Ruin der Kirche ist? Viele Gläubige messen der Wissenschaft, Literatur und Philosophie Wert bei, die allesamt das Fleisch erhöhen, oder sie schätzen Beziehungen, die Behaglichkeit und Ehre in der Welt einräumen, hoch ein. Aufgrund mangelnden Verständnisses des Wortes und eines schwachen Empfindens für die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn versäumen sie es, den gegenwärtigen bösen Zeitlauf zu richten, und sind statt dessen ganz von ihren eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen, wenn sie nicht sogar nach größeren Dingen streben. Folglich stehen sie in Gefahr, Vorurteilen und Voreingenommenheiten zum Opfer zu fallen. Weder geben sie Christus in der Praxis den Ihm gebührenden obersten Platz, noch können sie sich über brüderliche Freundlichkeit in die reinere Atmosphäre gottgemäßer Liebe erheben und so selbstlos für die Kirche als den Leib Christi Sorge tragen. Sie sind nicht darauf vorbereitet, völlig mit dem eitlen gesellschaftlichen Verkehr zu brechen, den die Überlieferung im Christentum wie schon vor alters im Judentum hervorgebracht hat. Sie schrecken vor den schmerzlichen Folgen zurück, die vollständiger und ohne Zögern praktizierter Gehorsam für jeden, der dem Herrn unterworfen ist, mit sich bringen muß. Das Auge ist nicht einfältig, und daher der Leib nicht licht; der Weg sieht ungewiß aus, das Wort scheint schwierig zu sein; und in einem Glauben, der dem Herrn um jeden Preis nachfolgt, scheinen Gefahren zu liegen.

Einsicht kein Prüfstein für die Zulassung
Sollen wir angesichts dessen aus Vorsicht ein bestimmtes Maß an Einsicht verlangen, bevor wir jemand aufnehmen? Gerade das ist ein Hauptunheil, das es stets aufmerksam zu verhüten gilt; es muß als ein grundsätzlicher Fehler, ja als eine Sünde gegen Christus und die Kirche behandelt werden. Nichts könnte unmittelbarer darauf hinauslaufen, die sektiererischste aller Sekten zu bilden, als von den Seelen, die hereinzukommen wünschen, ein richtiges Urteil über die von den Gläubigen am wenigsten verstandene Wahrheit zu verlangen. Diese Wahrheit des Geheimnisses des Christus oder insbesondere des einen Leibes wird für sie, wie es in der Praxis zu sein pflegt, dadurch noch viel schwerer verständlich, daß ständig neue Gruppen aus dem gegenwärtigen gefallenen Zustand der Christenheit hervorgehen.
Nie hat man von einer solchen Forderung gehört, auch dann nicht, als die Zeit der Kirche begann und die Gegenwart des Heiligen Geistes etwas ganz Neues war. Die Heiligen wurden auf das Bekenntnis des Namens Christi hin zugelassen, da ja Gott allen die gleiche Gabe geschenkt hatte, Sein Siegel und damit sozusagen Seinen Paß. Einsichtig waren gerade diejenigen, die den Wert des Namens Christi und der Gabe des Geistes anerkannten, wie sie es ja selbst zu Beginn an sich erfahren hatten. Hätten sie Verständnis dessen, was die Kirche ist, als eine Bedingung der Gemeinschaft verlangt, hätten sie damit in Wirklichkeit ihren eigenen Mangel an Einsicht bewiesen und dem Ziel zuwidergehande14 wofür Christus gestorben war ‑ die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu versammeln.
Hat der gegenwärtige Ruin der Kirche diesen ursprünglichen Grundsatz verändert? Der feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die Sein sind; und: Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit! Was heute Seinen Namen trägt, ist einem großen Hause gleich geworden, in dem sich Gefäße zur Ehre und Gefäße zur Unehre befinden. Von den letzteren hat sich wegzureinigen, wer selbst ein Gefäß zur Ehre sein möchte, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werke bereit. Wenn der öffentliche Zustand böse ist, ist persönliche Treue zu Christus oberstes Gebot. Der Wunsch nach Einheit darf sich darüber weder hinwegsetzen noch den Christen dazu verpflichten, den Namen des Herrn mit Ungerechtigkeit zu verbinden. Auch nach persönlicher Reinheit gilt es zu streben; und das nicht in Isolation, sondern mit allen, die den Herrn aus einem reinen Herzen anrufen. Kein Wort von einer Forderung kirchlicher oder lehrmäßiger Einsicht; es heißt vielmehr „mit denen, die . . .“, d. h. mit den wahren Gläubigen zu einer Zeit lauen und hohlen Bekenntnisses.
Zu einem späteren Zeitpunkt, der letzten Stunde“ des Johannes, sehen wir, wie energisch der Geist Gottes auf ersten Grundsätzen besteht. Jeder, der da glaubt, daß Jesus der Christus ist, ist aus Gott geboren; und jeder, der den liebt, welcher geboren hat, liebt auch den, der aus ihm geboren ist. Hieran wissen wir, daß wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe Gottes, daß wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles was aus Gott geboren ist, überwindet die Welt; und dies ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: unser Glaube. Wer ist es, der die Welt überwindet, wenn nicht der, welcher glaubt, daß Jesus der Sohn Gottes ist?“ Angesichts vieler Antichristen bleibt Christus der Prüfstein. Der Geist hält vorbehaltlos an Seiner Person fest. Ihm irgend etwas hinzuzufügen, bedeutet, etwas von Ihm wegzunehmen, Seinen Namen zu verunehren.
Aber ich will weitergehen. Nehmen wir die Hoffnung der Wiederkunft des Herrn Jesus. Ihr wißt, wie überaus wichtig es für Christen ist, in Wahrheit und mit dem Herzen Christus aus dem Himmel zu erwarten. Aber würdet ihr verlangen, daß diejenigen, die im Namen des Herrn Gemeinschaft suchen, diese Hoffnung verstehen und bekennen müssen, bevor ihr sie im Herrn aufnehmt? Wäre das nicht eine Sekte? Eure Auffassung der christlichen Hoffnung mag noch so richtig sein und die Person, die um Gemeinschaft bittet, noch so unwissend über dieses Thema sein ‑ doch wer autorisiert euch oder andere, an der Tür zu stehen und dem Betreffenden den Eingang zu verwehren? Vielleicht hegt er den falschen Gedanken, daß die Christen, wie die Juden oder die Nationen in Offenbarung 7, durch die große letzte Drangsal gehen müssen. Angenommen, er versteht die Stellung des Christen nur wenig, weil er nicht seine Vereinigung mit Christus im Himmel sieht, die der Heilige Geist in der jetzigen Zeit bekanntmacht.. Folglich ist er in Verwirrung und weiß nicht, daß der Herr kommen und die Seinen vor jener schrecklichen Vergeltung, die über die Welt kommt, zu sich nehmen wird. Er mag sogar die Gedanken von Männern teilen, die ebenso unweise sind wie einige in Thessalonich, und dem Wahn verfallen, der großen Drangsal zu entfliehen zu versuchen. Da die Thessalonicher zuviel mit der Prophetie beschäftigt waren, hatten sie die wahre Hoffnung auf das Kommen Christi verloren oder nie gekannt. Wenn wir außer Christus von irgend etwas ganz in Anspruch genommen werden, sei es durch die Prophetie, die Kirche oder das Evangelium ‑ was, wenn nicht Gnade allein, kann uns dann noch vor weiterem Abirren bewahren?
Sollen denn Erkenntnis der Wahrheit oder Wachstum in geistlicher Einsicht gering eingeschätzt werden? Keineswegs; aber es ist falsch und eitel, von Gläubigen, die gottgemäße Gemeinschaft suchen, das eine oder das andere als eine Vorbedingung zu verlangen. Helft ihnen, unterweist sie, führt sie in beidem weiter! Das ist wahrer, freilich Überaus mühsamer Dienst. Das andere aber ist Sektiererei und falsch.

Christus der alleinige Mittelpunkt

(und entgegengesetzte Ansprüche)
Wenn es solche gibt, die für ein so großes Abweichen von der Schrift und insbesondere von der charakteristischen Wahrheit der Versammlung Gottes eintreten, dann mögen sie ihre neue, dem Herrn entgegengesetze Erfindung offen an den Tag legen, damit auch die übrigen Furcht haben. Christus bleibt immer der einzige Prüfstein, der einzige Mittelpunkt, zu dem hin der Heilige Geist versammelt. Was der Herr kurz vor Beginn der Zeit der Kirche verkündete, bleibt auch nun, da Er in dem Haus Seiner neuen Freunde nicht weniger verworfen wird als in dem Seiner alten, wahr, und zwar sogar noch offenkundiger: „Wer nicht mit mir ist, ist wider mich, und wer nicht mit mir sammelt, zerstreut“ (Mt. 12, 30). Es ist unbedingt erforderlich, persönlich auf der Seite Christi zu stehen, um so Gott zu gefallen und Seinen Sohn nicht zu verunehren. Aber neben dieser persönlichen Treue bestehen nun auch das Vorrecht und die Pflicht des Sammelns; und wer nicht sammelt, zerstreut nur, mag es auch nach außen hin ganz anders scheinen. Der einst verworfene und gestorbene, nun aber auferstandene und verherrlichte Christus bildet den anziehenden Mittelpunkt. Folglich ist im Brechen des Brotes das Zeichen Seines Todes zugleich auch das Zeichen des einen Leibes. Tatsächlich wird aber gerade das von denen verleugnet und verurteilt, die diese Gemeinschaft auf ihre wenigen Anhänger beschränken möchten, indem sie „die Vielen“, d. h. alle, auf die Christus als die Seinen herabschaut und die Er willkommen heißt, zurückweisen. Das hat Er weder von ihnen verlangt, noch heißt Er eine solche Handlungsweise in Seinem Worte gut. Und wenn Er sie nicht dazu bevollmächtigt hat, womit anders haben wir es dann zu tun als mit einer parteilichen und willkürlichen Einschränkung, wodurch sie nicht nur „das Gemeine“, sondern auch „das Köstliche“ abweisen, wenn diese sich ihrem unautorisierten Kurs nicht anpassen, ob sie ihn nun für richtig halten oder nicht?
Das läuft unmittelbar auf Zwang und Demoralisierung hinaus; denn man trachtet nicht nach Überzeugung aufgrund der Schrift, sondern, wo eine solche Überzeugung nicht vorhanden ist, nach blinder Unterwerfung, oftmals widerwilligem und unglücklichem bloßem Nachgeben, nach einem Schein von Gemeinschaft, die aber nicht mehr lebendig ist, sondern tot. Denn der Geist, den wir empfangen haben, ist mit Sicherheit kein Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit; und in keiner Weise heißt Er etwas gut, das einen solch formellen Charakter trägt und durch menschlichen Druck oder Einfluß zustande gekommen ist. Die Folgen sind furchtbar: eine Vorrangstellung der unbesonnenen und ungestümen Geister, die nun mehr denn je die Zügel in der Hand halten; diejenigen, denen es nicht darum geht vorzustehen, es sei denn in der Furcht des Herrn und durch Sein Wort, werden vergleichsweise aus ihrer rechten und durch die Gnade verliehenen Stellung zurückgedrängt; Zerstörung moralischer Grundsätze bei denen (und es sind sehr viele), die ihre Mißbilligung der Bewegung im ganzen wie im einzelnen dadurch zu beschwichtigen suchen, daß sie sich entweder an Führer hängen oder zu der größeren Anzahl halten, was sie dann törichterweise als Einheit bezeichnen. Protestiere, sagen einige, aber bleibe in diesem Kreis; d. h., protestiere, aber nur mit Worten! Wir waren bisher gewohnt, diese Haltung als die schmerzliche Kompromißbereitschaft evangelischer Christen zu betrachten, die ihre kirchliche Stellung lieben. Doch sehen wir dieselbe Einstellung nun nicht auch dort, wo sie nicht gefunden werden sollte? Das ist alles andere als Wahrheit und Recht ‑ und das soll Einheit sein!
Es handelt sich um nichts Geringeres als um den Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum ‑ einerseits Übereinstimmung mit der Einheit des Geistes zur Verherrlichung Christi, wie sie in Heiligkeit und Gnade gemäß Seinem Wort verwirklicht wird; andererseits ein selbstbetrügerischer und irreführender Mißbrauch des Wortes „Einheit“ zur Errichtung einer auf gewaltsame Trennung ausgerichteten Partei, die sich weigert, das Böse durch Demütigung und Gebet aufzuhalten und es für überflüssig erklärt, ihre Forderungen oder deren Rechtfertigung aus der Schrift zu begründen.
Kein einsichtsvoller Gläubiger wird um ein ausdrückliches Gebot bitten, wie es ein Jude tun würde. Niemand erwartet, daß die Schrift einen modernen Ort oder eine aktuelle Begebenheit mit Namen nennt. Wer so redet, als ob wir irgend etwas dergleichen suchten, macht Ausflüchte und verurteilt sich selbst noch mehr. Wo aber ist der schriftgemäße Grundsatz dafür, eine örtliche Meinungsverschiedenheit zum Keil für eine universale Trennung zu machen? Wenn eine Frage aufkommt, die als Strafe eine weltweite Zerstreuung der Gläubigen zur Folge hat, müssen alle, die die Kirche lieben, sicher sein, daß die Prüfung von Gott und gemäß Seinem Wort kommt. Das ist unbestreitbar.
Einige von uns erinnern sich an eine mehr als dreißig Jahre zurückliegende Prüfung. Aber damals ging es darum, ob wir aus einem wahren oder falschen Christus eine neutrale Frage machen wollten. Das wiesen wir mit Abscheu zurück. Damals hing eine große Gruppe von Gläubigen ihren Führern an, die das Urteil der Versammlung, in der das Böse auftrat, ignorierten und die bekannten Parteigänger eines erwiesenermaßen antichristlichen Lehrers hineinließen; die betreffenden Gläubigen leugneten ausdrücklich ihre Verantwortlichkeit, das Böse mit allem Ernst auch ihrerseits zu richten.
Diese Prüfung kam nicht von Menschen. Es handelte sich um ein ganz bestimmtes Gebot des Herrn. Gott selbst gebietet uns, jeden abzuweisen, der nicht die Lehre des Christus bringt (2. Joh.). Das geht weit über die Handlungsweise mit solchen hinaus, die in Unabhängigkeit handeln oder eine Sekte bilden. Kein kirchlicher Irrtum, wie schwerwiegend er auch sein mag, könnte eine solche Härte rechtfertigen. Doch die grundlegende Wahrheit über Christus verlangt sie. Das sind wir Ihm schuldig, der unser Herr ist, der für uns starb und dessen Herrlichkeit das Wort bewacht wie sonst keine Wahrheit. Niemals wären wir bevollmächtigt gewesen, so zu handeln, wie wir es 1848/49 taten, wenn nicht Christus gelästert worden wäre.( Kelly spielt hier auf die durch die Lehren Newtons hervorgerufene Bethesda Frage an, die letztlich zur Trennung von den „Offenen Brüdern“ führte Der Obersetzer.)

Menschliche Hindernisse für das Bewahren der Einheit des Geistes
Nun komme ich zu dem Hauptpunkt, den ich betonen möchte. Die Einheit des Geistes umfaßt nicht nur die einsichtigen, sondern auch die einfachsten Kinder Gottes. Sie hat den Leib Christi im Blick, und alle Glieder insbesondere; denn diejenigen, die dem Evangelium des Heils geglaubt haben, besitzen den Heiligen Geist in sich wohnend und sind Glieder Christi. Deshalb sind sie auch verantwortlich, in Übereinstimmung mit dieser Beziehung, in welche die Gnade sie alle versetzt hat, zu wandeln. Als Glieder des Leibes Christi sind sie gehalten, die Einheit des Geistes mit Fleiß zu bewahren. Es gibt Landeskirchen und Freikirchen, in denen sich viele, wenn nicht die meisten Kinder Gottes befinden; und weil diese Systeme beanspruchen, Kirchen zu sein, bringen sie den Gläubigen in große Verwirrung. Das Übel des Parteigeistes, das sich schon in den Anfangstagen des Christentums zeigte, wiederholt sich nicht lediglich, sondern hat sich nun noch erheblich verschlimmert. Dennoch würde die Gnade alle stärken, die wirklich den Willen Christi gemäß ihren wahren Beziehungen zu tun suchen. Der Mensch, und zwar der durch den Feind in den Vordergrund gedrängte Mensch, ist es, der Anstöße und Schwierigkeiten groß, ja scheinbar unüberwindlich macht, so daß die Kinder Gottes in Versuchung kommen können, die wahre Einheit preiszugeben. Jeder treue Knecht des Herrn hat danach zu trachten, wenn nicht diese Hindernisse zu beseitigen, so doch zumindest den Kindern Gottes bei ihrer Überwindung zu helfen. In einer Zeit zunehmender Verwirrung ist es das beständige Bemühen des Feindes, in die Irre zu leiten, zu täuschen und es als hoffnungslos erscheinen zu lassen, die Einheit des Geistes zu bewahren.
Wir haben uns daher zu prüfen, ob wir uns wirklich befleißigen, diese Einheit in Frieden zu bewahren. Zweifellos ist ein bestimmter innerer Zustand erforderlich, um das in rechter Weise tun zu können. Was Einsicht anbetrifft, so zweifle ich nicht daran, daß sie an ihrem Ort und zu ihrer Zeit sehr wichtig ist; aber das deutet der Apostel hier mit keinem Wort an. Was sagt er vielmehr?“ Mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe.“ Das sind die ausdrücklichen und angemessenen Eigenschaften, die der Apostel bei denen sucht, die die Einheit des Geistes bewahren wollen.
Und ist es nicht gut für uns, unseren Herzen die Frage zu stellen, ob unser Vertrauen auf das Wort des Apostels oder auf menschliche Theorien gerichtet ist? 0, möchten wir doch solche Wege der Gnade, wie Paulus sie beschreibt, bei uns selbst pflegen und auch anderen eindringlich vorstellen, damit wir alle würdig unserer Berufung wandeln! Können wir daran zweifeln, daß wir die Einheit nur in diesem Zustand bewahren können ‑ nicht in Hast oder Strenge, nicht in Ungeduld gegenüber anderen und Selbstvertrauen im Blick auf uns, sondern mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe? All dies war damals erforderlich; ist es heute, in unseren ungleich größeren Schwierigkeiten, weniger unerläßlich?
Damals gab es keine Verwirrung durch offene Rivalen, keine konkurrierenden Ansprüche, die Versammlung Gottes auf der Erde darzustellen. Das hauptsächliche Hindernis kam von innen. Heute gibt es sowohl diese als noch weitere Hindernisse. Stehe ich in Verbindung mit irgendeiner Gemeinschaft, die den einen Leib und den einen Geist mißachtet? Hänge ich irgendeiner Einrichtung an, die sich dieser Einheit systematisch widersetzt? Es handelt sich nicht lediglich darum, ob falsche Personen unversehens hereingekommen sind; das Verhängnisvolle besteht nicht darin, daß Böses eindringt, sondern darin, daß es bekannt ist und geduldet wird. Wieviel Böses fand nicht selbst in apostolischer Zeit Eingang in die Versammlung! Aber Gott erkennt eine Einheit solange als diejenige des Geistes an, wie der aufrichtige Wunsch vorhanden ist, das Böse in Abhängigkeit von dem Herrn und gemäß Seinem Wort draußen zu halten oder hinauszutun. Nicht das Eindringen, das Ausmaß oder selbst der Charakter des Bösen sind es, die die Versammlung zerstören, sondern seine beständige Duldung im Namen des Herrn, selbst wenn es bekannt ist.
Aber Gott wird in Seiner Versammlung niemals die Duldung von etwas wirklich Bösem gutheißen. Das Böse, welcher Art oder weichen Ausmaßes es auch sein mag, muß als etwas gerichtet werden, das mit der Gegenwart Dessen, der in der Versammlung wohnt, unvereinbar ist. Die Versammlung ist der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit ‑ wie könnte dann die Unwahrheit im Hause des lebendigen Gottes eine belanglose Sache sein? Christus ist die Wahrheit, und anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit. Deshalb kann die Kirche nichts dulden, was die Wahrheit von Christus untergräbt. Wo das Fest Christi als des Passahlamms gefeiert wird, muß aller Sauerteig abgewiesen werden. Ein wenig Sauerteig durchsäuert die ganze Masse; deshalb kann nichts dergleichen geduldet werden, sei es ein moralischer Sauerteig (wie in 1. Kor. 5) oder ein lehrmäßiger (wie in Gal. 5). Wenn jemand, der Bruder genannt wird, durch Verderben oder Gewalttätigkeit gekennzeichnet ist, durch einen Wandel also, der der Wahrheit, dem Charakter Christi und der Natur Gottes völlig entgegengesetzt ist, dann muß er aus Seiner Versammlung ausgeschlossen werden.

Geduld und Treue
Was ist nun zu tun, wenn wir Ansichten, Urteile und Grundsätze am Werk finden, die die Einheit des Geistes antasten, einengen und ihr so tatsächlich zuwiderhandeln? Was, wenn einige auf unschriftgemäße Tests drängen und auf diese Weise willentlich Seelen ausschließen, die mindestens ebenso gottesfürchtig sind wie sie selbst? Was, wenn das Gewissen vor Gott nicht respektiert wird, wenn es keinen Raum mehr gibt für Freiheit im Geist und Verantwortlichkeit gegenüber dem Herrn Jesus? Handelte es sich lediglich um die Meinung eines einzelnen oder auch mehrerer, an der man festhält, ohne sie anderen aufzuzwingen, bestände kein hinreichender Grund zum Widerstand. Es wäre zwar traurig, wenn man sehen müßte, daß Gläubige in der Gegenwart Christi und des Wortes, das lebendig ist und in Ewigkeit bleibt, ganz von ihren kleinlichen Theorien in Anspruch genommen sind. Doch normalerweise dürfte es genügen, diesbezüglich sein Bedauern auszudrücken und gegen das zu protestieren, was man unter Christen für ungeziemend hält; denn wir sind ebenso zu Frieden und Geduld wie zu Treue berufen. Wenn du in anderen etwas findest, das du nicht gutheißen kannst warnt die Schrift dich nicht im voraus genügend davor, und ermahnt sie dich nicht zu geduldigem Aufblick zum Herrn?
Obwohl die Kinder Gottes dazu berufen sind, sich an Christus zu erfreuen und Ihn darzustellen, erfordern sie gewöhnlich die Ausübung von Langmut und Gnade, so wie auch du selbst zweifellos in großem Maß die Geduld deiner Brüder übst. Es kann nicht ernsthaft erwartet werden, daß diejenigen, die die Kirche Gottes bilden, den Charakter einer Familie mit Vätern, Jünglingen und Kindlein ablegen sollten, um eine Armee unter Kriegsrecht nachzuahmen. Eine militärische Ordnung ist so weit wie nur irgend möglich von dem entfernt, was das geschriebene Wort der Kirche Gottes vorschreibt. Anstelle einer vorschriftsmäßigen Einheitsnorm herrscht in der Versammlung die größtmögliche Vielfalt vor ‑ es gibt Hohe und Geringe, Starke und Schwache und sogar Unehrbare (l. Kor. 12).
Die Schrift gibt uns den Maßstab, anhand dessen fremde Elemente, wenn sie hereinkommen, zu prüfen sind. Wie es vielerlei Böses gibt, das Fuß zu fassen versuchen mag, so gibt es deutliche Schriftstellen für jeden einzelnen Fall von persönlicher Zurechtweisung bis zu öffentlicher Bezeichnung oder letzten Endes dem Ausschluß. Von denen, die Zwietracht und Ärgernis anrichten, sollen wir uns abwenden; ein sektiererischer Mensch ist nach einer ein‑ und zweimaligen Zurechtweisung abzuweisen; von denen, die unordentlich wandeln, soll man sich zurückziehen; die da sündigen, sind vor allen zu überführen; die Bösen sollen hinausgetan werden. Bezeichnung und Zurechtweisung sollten nicht weniger ihre Anwendung finden als das extreme Urteil des Ausschlusses.
Ebenso ist es ohne Frage richtig, solche als draußenstehend zu erklären, die entweder weggegangen sind, indem sie willentlich jede Ermahnung abwiesen, oder die kühn die Versammlung verachten und verleugnen, indem sie ein anderes Zusammenkommen aufrichten und so aus Ermahnungen wenig mehr als eine bloße Formsache machen.
Mit Sicherheit sollte alles, was getan wird, in Übereinstimmung mit der klaren, positiven Belehrung des Wortes Gottes sein. Es ist die Sache des Herrn, zu befehlen ‑ die Kirche hat nur zu gehorchen. Ich gehe davon aus, daß ich zu Christen rede, die ebenso an die Genugsamkeit des geschriebenen Wortes glauben wie an die oberste Autorität Dessen, der es, um uns zu leiten, durch den Geist Gottes niederschreiben ließ. Entwicklung hat ihren Ursprung im Willen des Menschen und im Unglauben. Gott hat nichts übriggelassen, das hinzuzufügen wäre. Die Kirche befindet sich unter der Befehlsgewalt des Herrn. Wenn die Kirche jemand anerkennt, dann deshalb, weil der Herr ihn bereits aufgenommen hat; und wenn die Kirche jemand hinaustut, dann geschieht das ganz einfach deshalb, weil sie den Willen des Herrn tun möchte. Die Kirche hat keine unabhängige gesetzgeberische Gewalt, sondern ist dazu berufen, Seinem Wort zu glauben, es zu verkündigen und auszuführen. Folglich hat sie bei all diesen Dingen eingedenk zu sein, daß sie die Untergebene und Er der Herr ist. Er hat zu befehlen, sie zu gehorchen. Das ist ihre einzig richtige Stellung, ihr Vorrecht und ihre Pflicht. Sobald die Kirche einen über die Schrift hinausgehenden Test festlegt, nimmt sie die Stelle des Herrn ein und maßt sich Seine Autorität an, ja, im Grunde verleugnet sie diese. Das Ergebnis ist: Man ist von der Einheit des Geistes abgewichen und bildet so eine Sekte.
Obwohl die Apostel die erste Stelle innerhalb der Kirche einnahmen, waren gerade sie Vorbilder an Demut. Wer fiel mehr durch seine Geduld auf als derjenige, der in nichts den ausgezeichnetsten Aposteln nachstand, dem durch den Willen Gottes und kraft der Autorität des Herrn Jesus ein einzigartiger Platz gegeben worden war? Wie sehr sollte dann in unseren Tagen jeder wahre Knecht Christi Demut üben! Wenn jemand sich dünkt, ein Prophet zu sein oder geistlich, so erkenne er, daß das, was geschrieben steht, die Gebote des Herrn sind. Möge seine Unterwürfigkeit unter das Wort des Herrn beweisen, daß er wirklich von Ihm gesandt ist! Das ist heute von größter Bedeutung für unsere Seelen; denn ständig entstehen Gefahren und Verwirrungen, die die Gläubigen, wo immer sie sich befinden mögen, in Mitleidenschaft ziehen, und nicht zuletzt diejenigen, die zum Namen Christi hin versammelt sind.
Möge niemand denken, daß ich damit jene bewundernswerten Männer herabsetzen möchte, die der Herr in vergangenen Tagen benutzt hat! Laßt uns ungetrübte Hochachtung für solche Männer wie Luther, Calvin, Farel und Zwingli hegen, ohne die Schwachheiten eines jeden von ihnen zu übersehen. Es ist kindisch, Tyndale und Cranmer zu kritisieren, während man Melanchthon oder John Knox vergöttert. (Einige Namen könnten dem deutschen Leser weniger vertraut sein. Der Genfer Reformator Wilhelm Farel (1489‑1565) war ein enger Mitarbeiter Calvins. Erzbischof Thomas Cranmer von Canterbury (geb. 1489), ein theologischer Führer der evangelischen Partei in England, wurde 1556 verbrannt. William Tyndale (ca. 1492‑1536) veröffentlichte 1526 eine englische Übersetzung des Neuen Testamentes; auch er starb als Märtyrer. John Knox (1505‑1572) war der Führer der schottischen Calvinisten. Der Übersetzer.) Sie alle waren von gleichen Gemütsbewegungen wie wir; und wer ihr Leben und Werk studieren will, der braucht nicht lange nach hinreichendem Material zur Kritik zu suchen. Dasselbe gilt für Männer Gottes unserer Tage. Aber ist es von Christus, wenn man auf etwas lauert, das nicht von Christus sein könnte? Fehler kann man leicht entdecken; doch wir brauchen heute die Kraft des Geistes, um zwar nicht in den Überlieferungen unserer Vorgänger, aber in ihrem Glauben zu wandeln. Es hat wohl kaum eine Zeit gegeben, in welcher der Glaube unter denen, die ‑ wie man meinen sollte ‑ schon lange an ihn gewöhnt sein müßten, tiefer gesunken ist als in der gegenwärtigen Zeit. Sehr häufig findet man Gläubige, die über einen als völlig falsch erkannten Weg seufzen und dennoch um der Gemeinschaft und anderer Gründe willen auf ihm verharren. Wie oft haben solche gegenüber anderen auf dem alten Ausspruch bestanden: „Lasset ab vom Übeltun! Lernet Gutes tun!“ Zweifellos glauben sie, daß man so handeln sollte; doch warum befleißigen sie sich nicht, ihrem Glauben die Tugend hinzuzufügen? Haben sie alles Vertrauen auf Christus und allen Mut für Ihn verloren? Ich rede von dem, was augenblicklich zu unserer gemeinsamen Beschämung überall in der Welt vor sich geht. Männer, die den Herrn schon lange gekannt haben und die zeitweise nicht wenig um der Wahrheit willen gelitten haben, sind bisweilen von einer Kompromißbereitschaft gekennzeichnet, die man selbst bei soeben wiedergeborenen Kindern Gottes kaum erwarten würde.( ‚ Kelly spricht hier von den Folgen der Ereignisse, die sich 1878‑81 in den Versammlungen in England zutrugen. Der Übersetzer.)

Unsere dringende Pflicht die Einheit des Geistes zu bewahren
Liebe Freunde, es ist von größter Bedeutung, daß wir unsere Wege daraufhin prüfen, ob wir uns selbst betrügen oder in Tat und in Wahrheit die Einheit des Geistes bewahren. Setzt dieser Verpflichtung nicht die Tatsache entgegen, daß die Kirche nun ein Trümmerhaufen ist! Die Frage ist doch: Müssen wir nicht allezeit gehorsam sein? Es geht nicht darum, wie viele oder wie wenige Glieder Christi gemäß dem Wort des Herrn zusammen handeln. Erkennen wir für uns selbst die Verpflichtung an, treu sein zu müssen? Die Einheit des Geistes mit Fleiß zu bewahren, ist eine beständige Verantwortlichkeit der Kinder Gottes, solange sie sich auf der Erde befinden. Der Heilige Geist bleibt bei uns in Ewigkeit. Es ist daher immer unsere oberste Verpflichtung, die durch Ihn geschaffene Einheit zu bewahren.
Verdeutlichen wir das Gesagte an einem praktischen Beispiel. In diesem Raum ist eine Gruppe von Gliedern des Leibes Christi versammelt, die weder den breiten Weg des Landeskirchentums noch den schmalen Pfad der Sektiererei dulden können. Sie möchten vor allen Dingen so zusammengehen, daß sie dem Herrn Jesus gefallen. Was muß nun ihr Standpunkt sein? Welche kirchliche Stellung sollten sie einnehmen, wenn sie mit geistlichem Verständnis und in Treue handeln wollen? Falls es in dieser Stadt bereits solche gibt, die auf dem Boden des einen Leibes zusammenkommen, dann darf man sie nicht übergehen. Es wäre Unabhängigkeit, nicht die Einheit des Geistes, auf eine solche Versammlung keine Rücksicht zu nehmen.
Ferner: Ein Glied des Leibes Christi, das nach Gemeinschaft sucht, würde und sollte fragen, ob und wo Gläubige zu Seinem Namen hin versammelt sind. Nehmen wir an, er findet heraus, daß einige in diesem Raum zusammenkommen, und er möchte gerne mit ihnen auf demselben gesegneten Boden Christi sein. Wenn diese nun das Bekenntnis seines Glaubens prüfen, dann geschieht das nicht aus Mangel an Liebe zu ihm, sondern aus Sorge um die Herrlichkeit Christi. Sie nehmen ihn nicht lediglich deshalb auf, weil er sagt, er sei ein Glied des Leibes Christi. Wenn sie ihn nicht persönlich kennen, verlangen sie vielmehr ein angemessenes Zeugnis. Niemand sollte aufgrund seiner eigenen bloßen Worte als Gläubiger
anerkannt werden; das war anfangs selbst bei dem Apostel Paulus nicht der Fall. Gott trug Sorge, ihm ein außerordentliches Zeugnis durch einen gewissen Jünger mit Namen Ananias auszustellen, der ein frommer Mann nach dem Gesetz war und ein gutes Zeugnis von allen in Damaskus wohnenden Juden hatte. Auf ähnliche Weise wurde er später durch Barnabas in Jerusalem eingeführt. Das Wort ist also einerseits so deutlich und die Gefahr andererseits so groß, daß kein Gläubiger, der mit aufrichtigem Herzen und Gewissen vor Gott hierüber nachdenkt, wünschen wird, lediglich aufgrund seiner eigenen Worte zugelassen zu werden. Auch aufrichtige Seelen können sich selbst täuschen; wenn du oder ich nun auf solche Weise zugelassen werden sollten, wo würde das enden?
Nehmen wir wiederum an, ein Christ würde vor die betreffende Gruppe von Gläubigen gebracht und möchte mit ihnen zum Gedächtnis des Herrn das Brot brechen. Vielleicht gehört er einer sog. Landeskirche oder einer freikirchlichen Gemeinschaft an. Aber er ist als ein Kind Gottes bekannt, das in Übereinstimmung mit dem Maß an Licht, das es besitzt, wandelt. Was ist nun zu tun? Dieses Glied Christi außer aufgrund ausdrücklich bekannter Sünde abzuweisen, würde nicht nur eine Schmähung des betreffenden Gläubigen sondern auch des Herrn Selbst bedeuten. Wir würden damit unseren Anspruch und den wahren Mittelpunkt des Zusammenkommens verleugnen. Wenn es durch ein gottesfürchtiges Leben bezeugt ist, daß jemand ein Glied Christi ist, dann ist das der ausreichende und allein richtige Boden, auf dem ein Christ um Zulassung bitten sollte. Selbst wenn jemand alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntnis besäße, und hätte er auch allen Glauben, so daß er Berge versetzte ‑ er sollte sich dennoch allein auf den Namen des Herrn berufen.
Schriftgemäße Gründe für einen Ausschluß
Gibt es denn keine Ausnahmen? Kann es nicht stichhaltige Gründe dafür geben, selbst einem anerkannten Glied des Leibes Christi die Aufnahme zu verweigern? Gewiß gibt es, wie die Schrift zeigt, solche Gründe. Der Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit darf nicht geduldet werden (l. Kor. 5); der Sauerteig grundlegender Irrlehre ist noch schlimmer (Gal 5). In solchen Fällen heißt es: „Feget den alten Sauerteig aus, auf daß ihr eine neue Masse sein möget.“ Hier errichtet das Wort Gottes unzweideutige Grenzen, wie es dem Herrn Jesus gebührt. Wenn jemand, der Bruder genannt wird, in seinen Taten oder Worten, in seinem Wandel oder in seiner offen zutage tretenden Gesinnung unrein ist, dann wird uns geboten, mit einem solchen selbst nicht zu essen. Und es wäre eine noch weit schwerwiegendere Sünde, wenn jemand nicht die Lehre des Christus brächte oder sogar das ewige Gericht der Verlorenen leugnete. Mit Sicherheit wird Gott niemals dulden, daß das Bekenntnis des Namens Christi gleichsam zur Eintrittskarte für den wird, der Christus verunehrt. Hier, und hier am meisten, ist der Heilige Geist eifersüchtig, wenn in der Tat das Wort Gottes unsere Richtschnur sein soll.
Zweifellos ist jede Wahrheit an ihrer Stelle und zu ihrer Zeit wichtig; aber es ist schlimmer als bloße Unkenntnis, wenn man den Leib auf dieselbe Ebene stellt wie das Haupt. Ein kirchlicher Irrtum, selbst wenn er ein wirklicher und schwerwiegender Irrtum ist, kommt niemals der Leugnung der Lehre des Christus gleich. Bedenken wir nur, wie ernst uns der Apostel der Liebe, der Älteste, ermahnt, in einem solchen Fall auf der Hut zu sein! Selbst nicht im privaten Bereich ‑ und noch viel weniger öffentlich ‑ sind wir frei, die aufzunehmen, die nicht die Lehre des Christus bringen. Wir sind unzweideutig verpflichtet, nicht nur Irrlehre im allgemeinen nicht zu dulden, sondern im besonderen alles abzuweisen, was eine Lüge gegen Christus ist, und auch diejenigen, die solche Irrlehrer aufnehmen, als Teilhaber an deren bösen Werken zu behandeln. Aber wir sind nicht berechtigt, die Kirche und Christus gleichzusetzen, wie es die Katholiken tun, oder einen kirchlichen Irrtum der Sünde gegen die Person Christi zur Seite zu stellen. Das wäre nicht Glaube, sondern Fanatismus. Was sollen wir von solchen denken, die diesen Unsinn als Wahrheit betrachten und verbreiten?
Indem wir die Einheit des Geistes bewahren, müssen wir gleichwohl die schriftgemäße Verantwortung akzeptieren, Sauerteig hinauszufegen. Weil diese Verpflichtung, wenn die Person Christi zur Frage steht, unmittelbar und zwingend ist, schreibt der Geist Gottes, wie wir gesehen haben, direkt an eine auserwählte Frau und deren Kinder. Als wir vor Jahren mit solch einem Fall zu tun hatten, kam uns dieser Brief des Johannes sehr zustatten. Eine Gläubige entschuldigte sich damit, daß sie doch bloß eine Schwester und nicht verantwortlich sei, dieses oder jenes zu tun. Aber sofort wurde sie daran erinnert, daß der Heilige Geist nicht an eine Versammlung, selbst nicht an Timotheus oder Titus schrieb, sondern an eine Frau und ihre Kinder, indem Er so auf ihrer persönlichen und unausweichlichen Verantwortung bestand. Wir können sicher sein, daß der Geist Gottes nicht ohne dringendste Notwendigkeit auf diese Weise einen Brief an eine Frau und ihre Kinder inspiriert hätte. Es ging darum, gerade solchen Ausflüchten zu begegnen, mit denen man sich zu jeder Zeit um seine Verpflichtungen gegenüber Christus herumdrücken möchte.
Alle wissen, daß Frauen in Gefahr stehen, sich hinsichtlich ihrer Zuneigung zu irren, da sie naturgemäß dazu veranlagt sind, mehr gefühlsmäßig als nach ruhiger Beurteilung zu handeln. Das Wort Gottes trägt dem Rechnung, indem es sie zur Unterwürfigkeit ermahnt (l. Tim. 2.) und ihnen die spezielle Warnung des 2. Johannesbriefes gibt. Es mag sein, daß die Wahrheit nicht immer erfreulich ist, aber sie ist immer heilsam und gut. Was man daher den Seelen eindringlich vorstellen sollte, ist nur die Wahrheit, und das sollten wir willkommen heißen. Wir sind verpflichtet, darauf zu achten, daß die Kirche Gottes nicht zum Deckmantel irgendeines bekannten Bösen wird; und vor allem dürfen wir nichts wissentlich dulden oder bemänteln, was die Herrlichkeit Christi befleckt.
Laßt uns verschiedene Dinge auch unterscheiden. Trotz vieler und schwerwiegender Schattenseiten hatte die Anglikanische Kirche zu Beginn doch ein heiliges Ziel, da sie einem abscheulichen und immer stärker werdenden Betrug den Rücken zukehrte. Obwohl sie besonders durch den König bei ihrer Reinigung von manchem fest eingewurzelten Aberglauben stark behindert wurde, wandte sie sich aufrichtig gegen alles, was als böse bekannt war. Aber nachher kam es zu Rückschritten, bis schließlich ihre zu Prüfsteinen gemachten rituellen Vorschriften viele fromme Freikirchler hinaustrieben. Letztere hatten also einen moralisch anerkennenswerten und gottesfürchtigen Ursprung; denn es bedeutete in jenen Tagen keinen geringen Kampf, ein gutes Gewissen zu bewahren und sich denen zu widersetzen, die sie in einen bloßen Formalismus herabziehen wollten. Von der Bewegung um Wesley und Whitfield brauche ich hier nicht eigens zu reden, da diese hauptsächlich einen missionarischen und nicht kirchlichen
Charakter trug. Wir wissen ferner, wie mächtig Gott später wirkte, als Er vor fünfzig Jahren bei Seinen Kindern ein Empfinden dafür weckte, wie sehr sie von dem ursprünglichen Boden, nämlich die Einheit des Geistes zu bewahren, abgewichen waren. In jenen Tagen war es keine geringe Sache zu erkennen, daß die Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde und folglich der Leib Christi Realitäten sind. Wenn wir Glieder dieses Leibes sind, ist es daher unsere unausweichliche Pflicht, jene Einheit in ihrem wahren Charakter zu bewahren, wobei wir uns den Bedingungen zu unterwerfen haben, die der Herr in Seinem Wort niedergelegt hat ‑ und keinen anderen. Der Geist hat diese Einheit geschaffen, eine Einheit, die alle Glieder des Leibes Christi umfaßt; in der Praxis sollten nur diejenigen davon ausgenommen sein, die aufgrund einer schriftgemäßen Zucht abgewiesen werden müssen.
Es mag von allgemeinem Interesse sein zu erfahren, daß das keineswegs unwichtigste Zeugnis, das je zu diesem bedeutenden Thema gegeben worden ist, im Jahre 1828 geschrieben wurde („Considerations on the Nature and Unity of the Church of Christ“).‘ Der springende Punkt in dieser Schrift war zu zeigen, wie unmöglich es für Gläubige ist, die den Herrn ehren möchten, mit der Welt zusammenzugehen, anstatt in jener Einheit zu wandeln (und seien es nur zwei oder drei), die von Gott ist. Es wurde ferner gezeigt, daß das Band, das die Benennungen zusammenhält, nicht in ihrer Einheit, sondern tatsächlich in ihren Unterschieden besteht, daß dies also auf keinen Fall die Gemeinschaft der Kirche Gottes ist, die ‑ wie es jede wahre Versammlung tut und tun muß ‑ alle Kinder Gottes im Blick hat. Diejenigen, die das Laxheit nennen, kennen nichts vom göttlichen Boden des Zusammenkommens und sind unversehens zu einer Sekte abgeglitten.
Gnade und Freiheit
Tatsache ist, daß wir geneigt sind, unsere eigenen Anfänge und die gnädige Handlungsweise des Herrn mit uns zu vergessen, als wir unsererseits zuerst das Brot brachen und dabei vielleicht so wenig wie nur irgend jemand verstanden. Wieviele Brüder, die jetzt unter denen, die in Gemeinschaft sind, zu den gefestigsten und einsichtsvollsten zählen, sahen damals, als sie im Namen des Herrn sofortigen Zugang zu Seinem Mahl fanden, nur sehr unklar ‑ und zwar nicht lediglich im Blick auf die Kirche, sondern sogar hinsichtlich des Evangeliums des Heils und der geoffenbarten Wahrheit im allgemeinen! Sie hatten noch überhaupt keine Klarheit über ihren zukünftigen Weg. Trotzdem fühlten sie sich von der Gnade, die sie als Brüder begrüßte, angezogen und hatten Freude an dem einfachen Glauben, der sich vor dem Wort des Herrn in einer Weise und einem Maße beugte, die ihre bisherigen Erfahrungen übertrafen. Wie unweise und ungeziemend ist es dann, wenn diese Männer nun von ihren Brüdern eine Erkenntnis verlangen, die weit über das Maß ihrer eigenen Anfangszeit hinausgeht! Sie verhindern so, daß Seelen in der Versammlung an einen Bergungsort gebracht und auf den Weg des Gehorsams gestellt werden, auf dem der Geist in die ganze Wahrheit leitet. Wenn jemand auf diese Weise heranwächst und weitergeführt wird, dann wird er den Katholizismus oder die Benennungen anhand des Wortes richten und sie als unbefriedigend und abstoßend empfinden, da sie offensichtlich von Menschen und nicht von Gott sind. Was verleiht diese neuen und festen Überzeugungen? Weder Einfluß noch Vorurteil, weder Argumente noch Phantasie, sondern die Wahrheit, wenn sie in der Kraft des Geistes Gottes recht gewürdigt wird.
Sollen wir denn mit der Wahrheit Gottes leichtfertig umgehen? Nein, aber es handelt sich um den Weg des Herrn mit denen, die Sein sind und noch zu lernen haben. Soll das in Freiheit oder in Knechtschaft geschehen? Zweifellos sollte jeder Christ die Einheit des Geistes bewahren, sich zum Namen des Herrn hin und zu keinem anderen Namen versammeln. Ein Gläubiger kann nicht rechtmäßig zwei Gemeinschaften angehören. Ist nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi grundsätzlich exklusiv? Folge mit deinem ganzen Herzen dem Herrn Jesus nach, erkenne den einen Leib und den einen Geist an und nimm jedes gottesfürchtige Glied Christi in Seinem Namen auf. Das ist weder Laxheit noch Sektiererei. Wie das Wort Gottes klar bezeugt, ist die Gegenwart des Geistes etwas Bleibendes. Und wie Er bleibt, so bleibt auch die durch Ihn geschaffene Einheit. Diejenigen, die den Heiligen Geist empfangen haben, sind verpflichtet, in dieser Einheit und in keiner anderen ‑ zu wandeln. Sie, sind durch den Herrn zusammengefügt, Glieder der Versammlung, die Gott für sich Selbst in dieser Welt gebildet hat; und ich bestreite, daß irgend jemand das Recht hat, eine damit rivalisierende Einheit aufzurichten oder sie durch eine andere zu ersetzen. Wenn ihr den Geist Christi habt, gehört ihr bereits zu Seinem Leib und seid damit berufen, diese Einheit unter Ausschließung jeder anderen zu verwirklichen.
Wir haben es also nicht mit einer willkürlichen Vereinigung zu tun. Es geht weder darum, etwas Besseres als eine Landeskirche oder Freikirche aufzubauen, noch um die Bildung einer Allianz, die die bestehenden Einrichtungen des orthodoxen Protestantismus nur scheinbar rechtfertigt, in Wirklichkeit aber verurteilt. Die Wahrheit ist vielmehr, daß Gott all solchen Versuchen zuvor Selbst Seine Kirche auf der Erde gebildet hat. Solche, die Seinen Geist haben, sind dadurch zu Gliedern dieser Kirche geworden und deshalb verantwortlich, demgemäß zu handeln. In der Kirche Gottes können böse Lehre oder Praxis nicht geduldet werden, falls wir uns unter die Schrift beugen. Jeder Christ ist verpflichtet, Unwahrheit und Unheiligkeit zurückzuweisen, und das sowohl gemeinschaftlich als auch persönlich. Der Verfall der Kirche schränkt uns nämlich nicht auf einen rein persönlichen Bereich ein. Wenn wir auch nach Gerechtigk

Hiob 1 und 2 Alpha und Omega, Anfang und Ende, W. Kelly

07/31/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Alpha und Omega, Anfang und Ende (Hiob 1 und 2)

W. Kelly

Beim Lesen dieses Abschnitts aus Gottes Wort be­wegte mich vornehmlich der schlichte und zugleich tröstliche Gedanke, daß da, wo Satan Gotteskindern hart zusetzt, es dennoch Gott Selbst ist, von dem die Prüfung ausgeht. Gott tut den ersten Schritt, indem Er ein Lob über Seinen Knecht ausspricht. Seine Worte sind an Satan gerichtet. Gott macht ihn auf Hiob auf­merksam. Mit anderen Worten, Gott Selbst ist die er­ste Person, die hier handelt und somit die Heim­suchung Seines Knechtes veranlaßt.

Nun hat zu allen Zeiten, ob vor oder nach Christus, die große Wahrheit gegolten, die allem Wirken Gottes und Seinen Offenbarungen zugrunde liegt, daß näm­lich Gott der Höchste ist ‑"Gott über allem, gepriesen in Ewigkeit". Er ist "Gott, der Höchste, der Himmel und Erde besitzt". Er kann es zulassen, daß in gewis­sem Sinn selbst der Himmel verunreinigt wird durch die Gegenwart eines Rebellen (Hebr 9, 23; Eph 6, 12), der, nachdem seine Ehre ihm bereits entzogen ist, dort bald endgültig gerichtet werden wird. Denn das Wort macht klar, daß der Herr mit den Königen der Erde auf der Erde handeln, daß Er aber "die Heerschar der Höhe in der Höhe heimsuchen" wird (Jes 24, 21). In dem Bereich, wo ihre große Sünde gegen Gott ge­schehen ist, wird auch deren Vergeltung gesehen werden.

Aber obschon die Erde der Schauplatz von Unge­rechtigkeit jeder Art ist, sind auf ihr doch noch solche, die dem Herzen Gottes sehr nahe stehen, die Er liebt, zu denen Er sich vom Himmel herabneigt, um auf sie zu blicken. Wohl sieht Er noch manches in ihnen, was der Korrektur bedarf. Und zu eben dieser Zeit war Gott im Begriff, Seinen Knecht Hiob zu läutern. Aber das hinderte Ihn nicht, Seiner Wertschätzung und Freude Ausdruck zu geben. Genauso, wie auch Eltern ihr Kind betrachten und mit Liebe und Wohlgefallen von ihm sprechen. Anderen mag es so erscheinen, als ob sie für die Fehler des Kindes blind seien. Aber sie sind doch die Eltern, und sie haben ihr Kind lieb; alle, die das verstehen, wissen es auch zu würdigen. Von der Art, doch noch in weit höherem Sinn, ist jene Liebe, die Gott zu Seinen geliebten Kindern auf der Erde hat.

Indem Gott so über allem Bösen steht, spricht Er zum Satan über Seinen Knecht Hiob. Er weiß, worauf dieser Feind sinnt und was er im besonderen gegen­über den Menschen im Schilde führt. Und wenn einige unter den Menschen dem Satan mehr ein Dorn im Auge sind als andere, dann solche, die Gott aus Gnaden berufen hat, Seine Heiligen zu sein. Aber weil Gottes Liebe und Macht über allem steht, was Satan an Bösem auszurichten vermag, bedient Er sich seiner zum Nutzen Seiner Kinder. Und eben das ist der Inhalt der wunderbaren Geschichte, die im Buch Hiob so umfassend vor uns ausgebreitet wird. Wir wissen schon, daß an ihrem Ende, wenn die Schlacht ge­schlagen und der Sieg errungen ist, dem Hiob reicher Segen zufällt und sogar seine Freunde durch ihn noch gesegnet werden.

Wie schon gesagt, ist es Gott Selbst, der die Prü­fung einleitet. Satan mag als ein Werkzeug benutzt werden, aber immer ist Gott ihm voraus und immer über ihm. Menschen werden erst von einem Unheil überrascht, und dann muß ein Heilmittel her. Aber das ist nicht Gottes Weise. Die Erlösung ist nicht nur ein Heilmittel gegen das Böse, das Satan und Mensch auf der Erde angerichtet haben; vielmehr war sie immer schon in den Gedanken und im Herzen Gottes. Sie ist nicht nur ein Heilmittel, bereitet, um dem Übel zu be­gegnen. Sie ist zugleich der Triumph Gottes, die volle Offenbarung der Tatsache, daß Er über alles Böse hoch erhaben ist. 

Denn Gott Selbst würde nicht er­kannt worden sein, wie Er ist, als nur durch Erlösung. Deswegen blickt Er nicht nur auf den Menschen oder den Teufel, sondern Er schaut aus nach einer Gele­genheit, Seine Liebe zu zeigen. Er möchte Seine Macht, Weisheit und Liebe kundtun, indem Er dem Bösen entgegentritt, ja sogar den Urheber aller Bos­heit einsetzt als ein Mittel, um Seinen Kindern ein grö­ßeres Gut zuzuwenden, als wenn es ihn überhaupt nicht gäbe. Der Mensch' leugnet das Böse, bagatellisiert es und verachtet dadurch Gott. Oder er versucht, Gott in der einen oder anderen Form als Verursacher des Bösen hinzustellen und haßt Ihn. Welche Freude ist es dann für uns, wenn wir sehen dürfen, wer Er wirklich ist und daß Er immer über allem steht.

Diese beiden Gedanken finden wir durch die ganze Heilige Schrift hindurch. Sie sind die beiden bedeut­samen Wege, in denen Gott Selbst sich offenbart. Zu­erst ist da Seine Gnade, die befreit und vergibt und zu Ihm bringt. Daneben aber gibt es die Regierung Got­tes ‑ Seine Regierung einst über die Welt und Seine Regierung jetzt über Seelen. Ihrer Natur nach sind beide ‑ die Gnade und die gerechte Regierung Gottes ‑ deutlich zu unterscheiden. Es mag gut sein, sich zu erinnern, daß, welche Form auch immer die Regierung annehmen mag, es doch allezeit ‑ soweit es Seine Kinder betrifft ‑ nur die Gnade ist, die Seine Regie­rung in Gang setzt. Wohl bleibt wahr, daß der Vater "ohne Ansehen der Person richtet", aber es ist eben doch der Vater". 

So auch hier; Gott Selbst gibt zu Beginn deutlich zu erkennen, wie nahe Hiob Seinem Herzen steht. Er fordert Satan gleichsam auf, Seinen Knecht Hiob zu beachten und zu sehen, ob es seines­gleichen auf Erden gibt. Der Feind geht darauf ein und entgegnet, es sei ja auch nicht umsonst, daß Hiob Gott diene. Deshalb erlaubt Gott dem Satan, ihn in seinen Umständen zu prüfen. Und das Ergebnis? Kein anderes, als daß Hiob niederfällt und Gott anbetet! Seine Frömmigkeit hat eine noch höhere Stufe er­reicht, und das Ende ist, wenn wir so sagen dürfen, daß er die Krone des Lebens davonträgt. Er liegt auf seinem Angesicht, um den Namen des Herrn zu preisen. Hatte er vordem die Segnungen kennengelernt, die darin liegen, daß der Herr gibt, so lernt er jetzt Segnungen verstehen, die damit verbunden sind, daß der Herr nimmt.

Dann kommt eine neue Prüfung. Diesmal ist er selbst, seine eigene Person, davon betroffen. Das ist härter, als wenn es nur um die äußeren Umstände ‑ Viehher­den, Kinder ‑ geht. Und Satan weiß das. Er sagt: "Haut um Haut, ja, alles, was der Mensch hat, gibt er um sein Leben." Der Herr erlaubt Satan, Hiob Schlim­mes zuzufügen, nur sein Leben soll er schonen. Den­noch kommt Hiob nicht nur nicht zu Fall, obschon seine Frau seine Prüfung noch vermehrt, vielmehr be­währt er sich durch alles hindurch in einem Licht, das noch heller leuchtet. Und erst nachdem Satan mit Hiob fertig ist, greift der Herr ein und legt Seinen Fin­ger auf den wunden Punkt, der behandelt werden muß, und das soll durch Hiobs Freunde geschehen.

Bedenken wir, wo wir jetzt stehen! Nicht nur können wir über Gott nachdenken, daß Er über Satan hoch er­haben ist, sondern Satan ist ein Feind, der durch das Kreuz, die Auferstehung und die Himmelfahrt Christi überwunden worden ist. Nicht nur wissen wir, daß Gott dem Satan überlegen ist, wir sehen, wie Gott für uns ist. Satan war bei dem Kreuz, und auch Gott war da, und der Herr Jesus Christus wurde zerschlagen. Und Er, der Eine ‑ gepriesen sei Sein Name! ‑ war der ganzen Macht des Feindes ausgeliefert, aber Er über­wand ihn und erhob sich zu einem immerwährenden Auferstehungsleben, die Schlüssel des Todes und des Hades in Seiner Hand haltend. Aus dem Fresser kam Fraß, und aus dem Starken Süßigkeit." Der Herr hat den Sieg errungen, und wir haben diese himmlische und neue Frucht, um unsere Seelen davon zu nähren.

Wann auch immer wir "Satan" in einer Sache erken­nen, wann immer wir die Macht des Bösen verspüren und als böse verurteilen, es ist kraftlos, soweit es uns betrifft. Wohl sollten wir uns fürchten vor seinen Täu­schungen und listigen Anschlägen! Doch unser Trost besteht darin, daß wir bei aller Macht, die Satan noch auszuüben vermag, sei es in unseren Umständen oder mehr noch gegen uns persönlich, ja, bei aller bestür­zenden Verwirrung, in die wir geraten könnten, wir in Einfalt des Herzens dem Herrn vertrauen und in Sei­nem Frieden ruhen dürfen, in der Zuversicht, daß Er hervortreten wird, daß Er wirkt, daß der Satan weichen muß und daß die Prüfung selbst dazu dient, denen einen noch größeren Segen zu sichern, die zu Ihm aufblicken.

(Aus Bible Treasury, 111/113)

Kelly W. Das Gesetz des Friedensopfers (3. Mose 7,11-21)

07/01/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Bei der Einsetzung des Friedensopfers in Kapitel 3 wurden die Opfertiere genannt, seien es Rinder, Schafe oder Ziegen. Hier erfahren wir weitere lehrreiche und bedeutsame Einzelheiten, besonders hinsichtlich des Essens, des Zeichens der Gemeinschaft.

„Und dies ist das Gesetz des Friedensopfers, das man Jehova darbringt: Wenn man es zum Dank darbringt, so bringe man nebst dem Dankopfer ungesäuerte Kuchen dar, gemengt mit Öl, und ungesäuerte Fladen, gesalbt mit Öl, und Feinmehl, eingerührt mit Öl: Kuchen, gemengt mit Öl. Nebst den Kuchen soll man gesäuertes Brot als Opfergabe darbringen, nebst seinem Dank-Friedensopfer. Und man soll je eines davon, von der ganzen Opfergabe, dem Jehova als Hebopfer darbringen; dem Priester, der das Blut des Friedensopfers sprengt, ihm soll es gehören. Und das Fleisch seines Dank-Friedensopfers soll am Tag seiner Darbringung gegessen werden; er soll nichts davon liegen lassen bis an den Morgen. 

Und wenn das Schlachtopfer seiner Opfergabe ein Gelübde oder eine freiwillige Gabe ist, so soll es an dem Tage, da er sein Schlachtopfer darbringt, gegessen werden; und am anderen Tag soll dann was davon übrigbleibt gegessen werden; und was vom Fleisch des Schlachtopfers am dritten Tag übrigbleibt, soll mit Feuer verbrannt

werden. Und wenn irgendwie vom Fleisch seines Friedensopfers am dritten Tag gegessen wird, so wird es nicht wohlgefällig sein; wer es dargebracht hat, dem wird es nicht zugerechnet werden: ein Greuel wird es sein; und die Seele, die davon isset, wird ihre Ungerechtigkeit tragen. Und das Fleisch, das irgend etwas Unreines berührt, soll nicht gegessen werden; mit Feuer soll es verbrannt werden. Und was das Fleisch betrifft, jeder Reine darf das Fleisch essen; aber die Seele, die Fleisch von dem Friedensopfer isset, das Jehova gehört, und ihre Unreinigkeit ist an ihr, selbige Seele soll ausgerottet werden aus ihren Völkern. Und wenn eine Seele irgend etwas Unreines anrührt, die Unreinigkeit eines Menschen oder ein unreines Vieh oder irgendein unreines Scheusal, und sie isset von dem Fleisch des Friedensopfers, das Jehova gehört: selbige Seele soll ausgerottet werden aus ihren Völkern." (V. 11-21).

Als erstes finden wir eine besondere Unterscheidung bei diesen Friedensopfern. Einige waren einfach zur Danksagung bestimmt, andere konnten der Ausdruck eines Gelübdes und damit besonderer Hingabe sein, oder sie mochten eine freiwillige Gabe bedeuten, in der sich Liebe und Freude kundtat, ohne daß ein besonderer Anlaß dazu gegeben war. Die beiden letzten Gruppen hatten daher einen tieferen Charakter als die Dankopfer. Doch dies wird uns weiter unten noch beschäftigen.

Als nächstes sehen wir, daß man mit dem Opfer auch ungesäuerte Kuchen, gemengt mit Öl, darzubringen hatte, ferner ungesäuerte Fladen, gesalbt mit Öl, Kuchen gemengt mit Öl, und Feinmehl, eingerührt mit Öl. Es ist im wesentlichen ein Speisopfer. Christus steht vor dem Herzen, nicht nur als für uns geopfert (ohne ein solches Opfer wäre Gemeinschaft unmöglich), sondern auch in all Seiner Vollkommenheit, die Ihn in Seinem Erdenleben auszeichnete. Er stand in absoluter Annehmlichkeit vor dem Vater, indem Er allezeit das Ihm Wohlgefällige tat. Sein Tod hatte einen unvergleichlichen Charakter und daher Folgen, die sonst nichts hätte herbeiführen können. Aber Er selbst war der Gegenstand beständiger und höchster Befriedigung Gottes, wie Er sie nie vorher im Menschen auf der Erde gefunden hatte. Nur Er allein stellte sich so Gott dar, indem der Heilige Geist bei Ihm innerlich und äußerlich zu einer vollendeten Auswirkung kam. Doch wir können uns weitere Ergänzungen zu diesem Thema jetzt ersparen, da das Abbild selbst in 3. Mose 2 so klar vor uns stand.

Hier jedoch folgt ein bemerkenswerter Unterschied. „Nebst den Kuchen soll man gesäuertes Brot als Opfergabe darbringen, nebst seinem Dank-Friedensopfer" (V. 13). Das ist um so auffälliger, weil jeder Israelit das heilige Jahr mit dem Passah begann, bei dem Sauerteig in jeder Form ganz und gar verboten war; und dieses Verbot erstreckte sich ganz eindeutig auch auf das Speisopfer, wie das entsprechende Kapitel klarmacht. Aber bei dem Friedensopfer zur Danksagung und auch in den beiden Webe-Broten beim Fest der Wochen war Sauerteig nicht nur erlaubt, sondern vorgeschrieben. Der Grund war in beiden Fällen derselbe. Göttliche Weisheit sorgte vor für den Menschen und seine Gemeinschaft. Um den gläubigen und geheiligten Menschen ging es. 

Doch sie trug seiner Natur Rechnung. In ihr gab es das, was in Christus nicht war. In dem, was Ihn darstellte, gab es keinen Sauerteig und konnte es keinen geben. Aber in dem, was die Gläubigen und ihre Gemeinschaft darstellte, mußte das vorhanden sein, was das Verderben der Natur andeutete, wenn die Darstellung den Stempel der Wahrheit tragen sollte. Nicht, daß es sich um aktiven Sauerteig gehandelt hätte, sondern um gebackenen: in beiden Fällen lesen wir von „gesäuertem Brot". Der Sauerteig war noch darin und nur darin. Je eines davon, von der ganzen Opfergabe, war als ein Hebopfer Jehova darzubringen, und es fiel als Teil dem Priester zu, der das Blut sprengte. Christus hat Sein Teil bei unserer Danksagung, und Er liebt diesen Seinen Anteil, Er, ohne den wir kein Teil haben könnten.

Dann lernen wir die überlegene Kraft eines Gelübdes oder einer freiwilligen Opfergabe kennen, die beide die Hingabe im Herzen des Opfernden widerspiegeln und über den einfachen Dank für empfangenen Segen hinausgehen, wie gut und angemessen der immer sein mag. Im letzteren Fall mußte das Fleisch an demselben Tag gegessen werden, an dem das Opfer dargebracht wurde. Nur dann war die Gemeinschaft annehmlich und gesund. Doch wenn das Opfer ein Zeichen von Hingabe und Freiwilligkeit war, so barg es die Kraft zu einer längeren Erhaltung. Das Fleisch war auch am selben Tag zu essen, „und am anderen Tag soll dann was davon übrigbleibt gegessen werden". Danach durfte es nicht mehr gegessen werden. „Was vom Fleisch des Schlachtopfers am dritten Tag übrigbleibt, soll mit Feuer verbrannt werden." 

Die zeitliche Abtrennung von dem Opfer über den zweiten Tag hinaus war nicht zulässig. Gemeinschaft in Freude und Frieden wird belebt, besonders wo Christus das Herz in der Kraft Seines Opfers anzieht und erfüllt; aber das Festessen darf nicht zu weit von seiner Quelle losgelöst sein. Um solchem Greuel vorzubeugen, war das nach dem zweiten Tag Übriggebliebene mit Feuer zu verbrennen; die Vorschrift duldete kein Essen am dritten Tag.

Weil die Gefahr tatsächlich groß war, heilige Gemeinschaft zu mißbrauchen, finden wir in den Versen 18-21 ernste Warnungen. Schon der Versuch, den Anschein von Gemeinschaft auszudehnen, ist gefährlich. Eine solche Verlängerung würde dem Opfernden nicht nur „nicht zugerechnet", sondern „ein Greuel wird es sein, und die Seele, die davon isset, wird ihre Ungerechtigkeit tragen". In 1. Korinther 11 lesen wir davon, wie der Herr ähnlich verfährt, wo Sein Mahl genommen würde, ohne Seinen Leib zu unterscheiden und ohne sich selbst zu prüfen. Seine Hand lag schwer auf den Betreffenden, indem Er solche Unehrerbietigkeit gegenüber Seinem Leib und Seinem Blut durch Züchtigungen ahndete. Doch geschah das nicht zu ihrer „Verdammung", wie einige abergläubisch und in Unkenntnis Seiner Gnade angenommen haben, sondern diese Züchtigungen waren zeitlicher Natur und führten in einigen Fällen auch zum Tod, doch alles das, damit die Betroffenen „nicht mit der Welt verurteilt" würden.

Die Freude der Gemeinschaft muß also durch Heiligkeit gemäßigt, behütet und gesteuert werden. „Und das Fleisch, das irgend etwas Unreines berührt, soll nicht gegessen werden; mit Feuer soll es verbrannt werden.

" Ungebührliche Vertraulichkeit ist nicht gut, wenn Lob und Preis und Danksagung zum Ausdruck kommen. Dürfen wir Gott Lieder singen, von denen wir wissen, daß ihre Worte weder wahr noch geziemend sind? 

Wie ernst verpflichtet uns die Schrift, solche ungeistlichen Beimischungen zu meiden!  An sich konnte jeder Israelit eingeladen werden und

an dem Fest teilnehmen, doch es gab eine nicht zu umgehende Bedingung: er mußte rein sein!

„Und was das Fleisch betrifft, jeder Reine darf das Fleisch essen; aber die Seele, die Fleisch von dem Friedensopfer ißt,

das Jehova gehört, und ihre Unreinigkeit ist an ihr, selbige Seele soll ausgerottet werden aus ihren Völkern.

Und wenn eine Seele irgend etwas Unreines anrührt, die Unreinigkeit eines Menschen oder ein unreines Vieh oder irgendein unreines Scheusal,

und sie ißt von dem Fleisch des Friedensopfers, das Jehova gehört: selbige Seele soll ausgerottet werden aus ihren Völkern."

Wenn  wir durch die Gnade frei sind, die Gemeinschaft mit Gott zu genießen, mit Christus als dem Priester, mit Seinen Priestern in ihrer Gesamtheit und mit dem allereinfachsten Glied Seines Volkes, so sind wir doch ver pflichtet, jede Unehrerbietigkeit und jede Ungerechtig keit zurückzuweisen. 

Wenn wir uns mit einer Gemeinschaft verbinden, die Gottes Natur und Willen zuwider ist, dann tun wir das auf eigene Gefahr vor Ihm, der

Seine Heiligkeit und Sein Wort sicher aufrechterhalten wird. Ein Christ zu sein, und sei es in aller Wahrhaftig

keit, genügt nicht, auch wenn es unerläßlich ist. Der Apostel spricht in 1. Korinther 11,27 nicht von unwürdi

gen und unbekehrten Teilnehmern am Mahl des Herrn, sondern davon, daß man bei diesem Mahl „unwürdiglich" essen und trinken kann.

Koch Ursula, Rosen im Schnee, Katharina Luther, Eine Frau wagt ihr Leben

06/19/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

WARNUNG

Alle Leser, die davon überzeugt sind, daß Martin Luther ein vorbildlicher, immer sanftmütiger und gut gelaunter Familienvater war, die seine Frau Käthe für das Idealbild einer gehorsamen Ehefrau halten und meinen, daß Luthers Haus eine Oase des Friedens in sturmbewegter Zeit gewesen sein müßte, die warne ich vor diesem Buch!
Freunde und Feinde der Familie Luther haben uns viel Material hinterlassen. Jahrhundertelang sichteten und werteten die Forscher. Kaum ein anderes Leben aus der deutschen Vergangenheit ist so gründlich dokumentiert wie das Martin Luthers - und damit in weiten Teilen auch das seiner Frau. Und wenn wir weder auf die lobredenden Schwärmer noch auf die giftigen Zungen der Verleumder hören, sondern Briefe und Zeugnisse für sich sprechen lassen, dann erfahren wir von ganz normalen Konflikten, von Krankheiten, Ängsten, von Zweifel, Anfechtung und Tod. Wir hören grobe Schimpfwörter und bittere Ironie, aber auch zärtliche Worte, Scherz und Gesang. Nicht das „Ideal" eines protestantischen Pfarrhauses, vor dessen Anspruch wir alle scheitern müßten, ersteht vor unseren Augen, sondern das Bild von Menschen, die in ihrem Alltag um Kraft und Geduld kämpften.
En Trostwort des Apostels für die ersten Gemeinden könnte über dem Leben der Katharina Lutherin, geborene von Bora, stehen - wie über jedem Christenleben:
„Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überschwengliche Kraft von Gott sei und nicht von uns."


Wittenberg, 20. Februar 1546
rst der Hahn - und dann ich: So war es immer. Während er draußen krähte, tappte ich durch den dunklen Flur in die Küche hinunter. Die anderen schliefen noch, alle: die Kinder, die Mägde, die Studenten, der Knecht - und er, der Mann, der neben mir lag. Ich hörte ihn schnarchen, nicht laut. Es war fast ein Schnurren, wie die Katze am Ofen. Er hörte den Hahn nicht. Er hörte auch nicht, wenn die Tür leise knarrte. Meist schlief er, bis der Tag durch die Scheiben dämmerte und das Lärmen der Kinder im Flur in seine Träume drang. Ja, er träumte oft, schlug um sich und brüllte manchmal wie ein Stier. Seine Träume rissen mich aus tiefem Schlaf. Ich scbliefwie eine Tote und war lebendig, wenn ich erwachte. Ich beruhigte ihn und redete leise, während meine Hand über seine Brust strich, die sich hob und senkte unter der Last
Aber gegen Morgen schlief er. Ich ließ kaltes Wasser über meine Arme laufen und wusch mir das Gesicht. Dann heizte ich den Herd und weckte die Mägde. Oft stand schon einer vor der Tür, wenn ich gerade die Milch auf das Feuer setzte; einer in Lumpen, das Gesicht voller Narben, und wir holten ihn herein, gaben ihm Suppe und ein Stück Brot. Und der Mann in der Kammer schlief noch, während die Kinder aufstanden und auf den Hof stürmten. Er schlief seinen unruhigen Schlaf.
Der Hahn kräht. Auch beute. Aber er ruft mich nicht aus dem Schlaf Ich lag mit zerschlagenen Gliedern, als hätte ich Fieber. Schon lange vor dem Hahnenschrei bin ich aufgestanden, habe das Licht angezündet und sitze auf meinem Bett imftackernden Schein.
Wenn ich die Hand ausstrecke,fahn sie über kaltes, sauberes Tuch. Nie-mandstöhnt im Schlaf Kein Laut, keine Wärme. So beginnt mein neuer Tag.
Was soll ich mit diesem Tag?
Scbneewindpfefi durch die Ritzen. Nichts rührt sich im Kloster Alles ist wie tot. Das Kloster. Die Stadt. Nur der Wind jagt durch die Straßen. So wie gestern, als der Bote kam.
Er kam früh. Kaum einer wird ihn gesehen haben. Er ging durchs Tor die Straße entlang im Wind und schlug an die Tür des Nachbarn. Dann kamen sie zu mir - drei gebeugte Männer.
Warum erschrak ich so sehr, als sie anklopften? Wie oft hatten wir frühe oder späte Gäste, Freunde oder Fremde, Adlige oder Bettler. Was flur eine Ahnung erfaßte mich?
„Ich sorge, wenn du nicht aufhörst zu sorgen, es möchte uns zuletzt die Erde verschlingen. . . ' schrieb er doch noch gerade aus Eisleben. Wie bat er mich geschmäht mit meiner Sorge! ich hätte kein Gottvertrauen... Wohl dem, der es hat, in einer Zeit, wo an allen Enden die Waffen geschmiedet werden und die Scheiterhaufen brennen. Magja sein, daß Gott es wohlmachen wird mit ihm, mit mir wie er es wohlgemacht hat mit unserer Magdalene, unserem Kind, das er uns nahm. Aber ich bin nur eine arme Frau, die den Ratschluß des Herrn so schwer verstehen kann. Ich sorgte mich. „Was ändert ? " sagte er. Nichts. Nichts.
Ich weiß. Und doch hätte ich gern unserm himmlischen Vater noch ein Jährchen abgerungen mit meiner Sorge und meinem Gebet.
Mußte es denn jetzt schon sein? Er hatte doch noch so viel zu tun, der Herr Doktor. Alle Welt hat nach ihm geschrien. Hierher und dorthin mußte er reisen, um Streit zu schlichten und das Wort zu verkündigen. Mitten im Winter - und war doch schon ein alter Mann. Aber es ist dennoch zu früh, daß er gehen mußte. Für mich ist es zu früh. Der Wind pfeift ums Haus, pfeift durch alle Ritzen.
Die Freunde kamen und klopften. Das Haus ballte wider von den Schlägen. Wolf humpelte zur Tür
Als ich sie sah und Philippus den schwarzen Kragen zurückschlug, da brauchte ich nicht mehr zu fragen. Ich starrte in seine flackernden
Augen, aufseinen zuckenden Mund, aufseine Hände, die unruhig an seinem Mantel arbeiteten.
Keiner meiner Söhne war bei mir. Ich zog Margarete an mich, die einzige, die mir blieb in dem dunklen Haus. Ich tat so, als wollte ich sie beschützen, dabei brauchte ich Schutz. Ich wagte nicht, den Mund zu öffnen.  Endlich fragte Woif
„Habt Ihr Nachricht aus Eisleben?"
„Ja."
Vom Doktor Martinus?"
Schweigen.
Da sprach ich es aus. Wieder einmal mußte ich es sein. Keiner hatte die Kraft, es zusagen.
„Ist unserem Herrn etwas zugestoßen?"
Philippus nickte.
„Befindet er sich nicht wohl?"
Wieder Schweigen.
„Ist er tot?"
Seine Arme fallen herab. Der Unterkiefer klappt nach unten. ich sehe ihn nicht mehr, höre nur das Schreien der Mägde. Wolfwill mich stützen, Margarete schlingt ihre Arme um mich. Nur die Wände stehen fest wie immer. Und doch: Er ist tot. Der Herr Doktor Martin Luther ist tot.
Die Freunde bleiben bei mir, sitzen schweigend um den Tisch. Im Haus wird es still. Mittags bat ich sie dann zu gehen. Ich wollte allein sein und versuchte zu beten. Aber ich saß nur am Fenster und wartete, daß es Nacht wurde. Und auch in der Nacht fand ich keine Ruhe.
Ich war mit dem Boten unterwegs, brachte die Nachricht in Dörfer und Städte, trug sie von Herd zu Herd, in Hütten und Schlösser: Er ist tot. Die Feinde jubilieren. Die Freunde klagen. Und ich? ich - seine Frau? Was soll ich nun tun? Wer bin ich? Was bleibt mir noch?
Steh auf Käthe, würde er sagen. Steh auf und danke Gott, daß er mich erlöst hat. Geh an deine Arbeit, Käthe! Gott ist mit dir bei allem, was du tun wirst. Rühr dich, Doktorin! Spring herum,
-10-
Saumärkterin! Es gibt noch Menschen, denen du befehlen kannst, Herr Käthe!
Seine Stimme - nie wieder? Das Bett neben mir kalt, leer? Mir ist so bange, so .. als sollte ich noch einmal.., ins Kloster gehen

Nimbschen, 1509-1523
Was große dunkle, mit schwarzem Eisen beschlagene Tor öffnete sich langsam und nur einen Spalt. Das Mädchen, im bunten Rock und in einen langen Umhang gehüllt, stand und rührte sich nicht. Die Hand des Vaters drückte und schob, bis es, fast stürzend, dann doch den ersten Schritt tat, durch den Spalt huschte, während der Vater sich zwängen mußte. Aus dem Grau des vor ihnen liegenden Hofes kam eine weiße Gestalt auf sie zu.
Das Mädchen drehte sich um und stolperte gegen den Körper des Vaters. Es fühlte rauhen Stoff und das kalte Metall seines Gürtels.
„Herr von Bora?"
Mit einem Laut des Unwillens schob der Mann das Kind von sich, griff die kleine Hand und preßte sie zusammen. Er zog die Tochter hinter sich her über das vom Regen glänzende Pflaster. Die Schwester, die sie eingelassen hatte, verschwand in dem Haus, das zur Linken neben einem langgestreckten Bau nahe dem Eingang stand. Herr von Bora trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Die schwere Luft lastete auf seinem Kopf, der vom Zechgelage der letzten Nacht brummte. Er hielt sich in der Nähe des Tores, das ihn wieder ins Freie führen würde. Nur
ihn. Aber das Mädchen an seiner Hand zog - kaum merklich in dieselbe Richtung.
Im leichten Frühlingsregen, wenige Tage nach Ostern, lag der äußere Hof des Klosters Marienthron wie blankgewaschen vor den Besuchern. Aus den Ställen hörte man das unruhige Scharren der Pferde. Die jungen Tiere strebten nach draußen. Aber ihre Wächter hielten die Türen verschlossen. Auch die Kühe waren noch im Stall Man erwartete die Eisheiligen
Im ehemals herrschaftlichen, durch die Jahrhunderte aber etwas heruntergekommenen Wohnhaus der Äbtissin waren die Türen fest verschlossen. Aus dem Chor der Kirche auf der anderen Seite des Hofes hörte man das Singen der Ordensfrauen.
„Tretet ein!"
Die Pförtnerin wies auf die Tür des Hauses.
„Unsere Ehrwürdige Mutter wird Euch empfangen, wenn sie die Vesper zu Ende gebetet hat."
Wieder Dunkelheit. Das Mädchen wurde eine Treppe hochgeschoben, der Vater ächzte hinter ihr. Eine neue Tür tat sich auf. Das Kind fühlte die Nässe der Kleider und drängte sich an einen Kamin, in dem es noch glühte von einem erloschenen Feuer. Die Nonne ließ die Besucher allein. Der Vater stampfte mit schweren Schritten auf und ab. Dielen knarrten. Seine Lippen bewegten sich. Das Mädchen sah es, aber es wartete vergeblich, daß er etwas sagen würde. Sie zog den dünnen Umhang noch fester um den Oberkörper und lauschte angstvoll hinaus. Endlich hörte man Stimmen. Ein unterdrücktes Gemurmel, das sich entfernte, Schritte, Schlagen von Türen, das Knarren der Treppe.
„Steh auf."
Das Mädchen erhob sich langsam. Der Vater blieb stehen. Durch die Tür, die sich öffnete, wehte feuchtkalte Luft herein.
Als sie eingetreten war, schob die Ehrwürdige Mutter den Schleier zur Seite und wandte sich mit zusammengezogenen Brauen Herrn von Bora zu:

@1995Brunnen Verlag

Karssen Gien, Frau, Mensch und Mutter in der Bibel (1. Mose 2, 23)

06/19/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Rahab - die Hure
in der Reihe der Glaubensheldinnen
Durch den Glauben ward die Hure Rahab nicht, umgebracht mit den Ungehorsamen, als sie die Kundschafter freundlich aufnahm (Hebr. 11, 31).
Josua aber, der Sohn Nuns, sandte von Sittim zwei Männer heimlich als Kundschafter aus und sagte ihnen: Geht hin, seht das Land an, auch Jericho. Die gingen hin und kamen in das Haus einer Hure, die hieß Rahab, und kehrten dort ein. Da wurde dem König von Jericho angesagt: Siehe, es sind in dieser Nacht Männer von Israel hereingekommen, um das Land zu erkunden. Da sandte der König von Jericho zu Rahab und ließ ihr sagen: Gib die Männer heraus, die zu dir in dein Haus gekbmmen sind; denn sie sind gekommen, um das ganze Land zu erkunden.

Aber die Frau verbarg die beiden Männer und sprach: Ja, es sind Männer zu mir hereingekommen, aber ich wußte nicht, woher sie waren. Und als man die Stadttore zuschließen wollte, als es finster wurde, gingen sie hinaus, und ich weiß nicht, wo sie hingegangen sind. Jagt ihnen eilends nach, dann werdet ihr sie ergreifen. Sie aber hatte sie auf das Dach steigen lassen und unter den Flachsstengeln versteckt, die sie auf dem Dach ausgebreitet hatte. Die aber jagten den Männern nach auf dem Weg zum Jordan bis im die Furten, und man schloß das Tor zu, als die draußen waren, die ihnen nachjagten.

Und ehe die Männer sich schlafen legten, stieg sie zu ihnen hinauf auf das Dach und sprach zu ihnen: Ich weiß, daß der Herr euch das Land gegeben hat; denn ein Schrecken vor euch ist über uns gefallen, und alle Bewohner des Laftdes sind vor euch feige geworden. Denn wir haben gehört, wie der Herr das Wasser im Schilfmeer ausgetrocknet hat vor euch her, als ihr aus Ägypten zoget, und was ihr den beiden Königen der Amoriter, Sihon und Og, jenseits des Jordan getan habt, wie ihr an ihnen den Bann vollstreckt habt. Und seitdem wir das gehört haben, ist unser Herz verzagt, und es wagt keiner mehr, vor euch zu atmen; denn der Herr, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden. So schwört mir nun bei dem Herrn, weil ich an euch Barmherzigkeit getan habe, daß auch ihr an meines Vaters Hause Barmherzigkeit tut, und gebt mir ein sicheres Zeichen, daß ihr leben laßt meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern und alles, was sie haben, und uns vom Tode errettet. 

Die Männer sprachen zu ihr: Tun wir nicht Barmherzigkeit und Treue an dir, wenn uns der Herr das Land gibt, so wollen wir selbst des Todes sein, sofern du unsere Sache nicht verrätst; Da ließ Rahab sie an einem Seil durchs Fenster hernieder; denn ihr Haus war an der Stadtmauer, und sie wohnte an der Mauer. Und sie sprach zu ihnen: Geht auf das Gebirge, daß euch nicht begegnen, die euch nachjagen, und verbergt euch dort drei Tage, bis die zurückkommen, die euch nachjagen; danach geht eure Straße. Die Mnner aber sprachen zu ihr: Wir wollen den Eid so einlösen, den du uns hast schwören lassen: Wenn wir ins Land kommen, so sollst du dies rote Seil in das Fenster knüpfen, durch das du uns her- - niedergelassen hast, und zu dir ins Haus versammeln deinen Vater, deine Mutter, deine Brüder und deines Vaters ganzes Haus. Und wer zur Tür deines Hauses herausgeht, dessen Blut komme über ihn, aber wir seien unschuldig; doch das Blut aller, die in deinem Hause sind, soll über uns kommen, wenn Hand an sie gelegt wird. Und wenn du etwas von dieser unserer Sache verrätst, so sind wir des Eides los, den du uns hast schwören lassen. Sie sprach: Es sei, wie ihr sagt! und ließ sie gehen. Und sie gingen weg. Und sie knüpfte das rote Seil ins Fenster (Jos. 2,1-21).

Aber Josua sprach zu den beiden Männern, die das Land erkundet hatten: Geht in das Haus der Hure und führt die Frau von da heraus mit allem, was sie hat, wie ihr es ihr geschworen habt. Da gingen dic Männer, die Kundschafter, hinein und führten Rahab heraus sann ihrem Vater und ihrer Mutter und ihren Brüdern und alles, was sic hatte, und ihr ganzes Geschlecht undbrachten sie außerhalb des Lagers Israel unter. Aber die Stadt verbrannten sie mit Feuer und alles, was darin war. Nur das Silber und Gold und die kupfernen und eisernen Geräte taten sie zum Schatz in das Haus des Herrn. RahaL aber, die Hure, samt dem Hause ihres Vaters und alles, was sie hatte, ließ Josua leben. Und sie blieb in Israel wohnen bis auf dieser, Tag, weil sie die Boten verborgen hatte, die Josua gesanat hatte, un Jericho auszukundschaften (Jos. 6, 22-25).
Die Bibel ist ein ehrliches Buch, das sich nicht um Tatsachen herumdrückt. Die Dinge werden unumwunden ausgesprochen. Dic Bibel sagt, daß Rahab eine Hure ist, eine Frau, die ihren Körper füs Geld verkauft.

Man hat diese betrübliche Aussage oft dadurch verschleiern wollen. daß man sagte: Sie war eine Herbergsbesitzerin. Wahrscheinlid stimmt das sogar. Doch bleibt die Tatsache, daß sie ein Mädcher mit leichtfertigen Sitten war. Besitzer von Gasthöfen waren in jene: Zeit immer Frauen. Und der »Extraservice«, den sie körperlich anboten, war wohl im Preis inbegriffen. Interessant, daß Rechnunger mit ausführlichen Angaben der Einzelheiten damals zwar einen Betrag für die eingenommenen Mahlzeiten und das Mädchen anfüh ren, aber keinen speziellen Posten für das Bett... Das war offenba: im Preis für das Mädchen enthalten.
Jericho ist eine kleine Stadt. Vielleicht war die Schlafgelegenheit be Rahab die einzige, die auf Gäste eingestellt war. So kamen di Kundschafter, die Spione Josuas, dorthin.
Vermutete Rahab, daß die Fremdlinge anständige Israeliten ohn' Nebenabsichten sind? Wir wissen es nicht. Wohl aber, daß die Ge genspionage rasch in Gang kommt. Der König hört, daß jüdisch' Kundschafter in der Stadt sind, und verlangt sofortige Ausliefe rung.
Inzwischen ist sich Rahab bestimmt über die wahren Absichten ih' rer Gäste klargeworden. Darum versteckt sie die Männer auf den
Dach unter den Flachsstengeln, die dort zur Erntezeit ausgebreitet sind Die mit Mauern umgebene Stadt ist nicht groß, und die Bewohner der kleinen Häuser in den engen Straßen nützen jeden Raum aus. Das offene, flache Dach ist im allgemeinen kein geeigneter Platz, um Menschen zu verbergen. Jeder kann schon von weitem sehen, was dort vor sich geht.,
Bei Rahab ist es anders. Ihr Haus steht auf der doppelten Stadtmauer und ist also höher als diese. Was auf ihrem Dach geschieht, entzieht sich neugierigen Blicken. Niemand kann sehen, was dort vorgeht. Die Kundschafter sind vorläufig sicher, wenn auch nicht lange.
Rahab schickt die Botschafter des Königs mit List fort. Während diese das umliegende Land nach den Spionen absuchen, spricht sie mit den Israeliten.

»Ich weiß, daß der Herr euch das Land gegeben hat«, sagt sie, »denn ein Schrecken vor euch ist über uns gefallen, und alle Bewohner des Landes sind vor euch feige geworden. Denn wir haben gehört, was vor vierzig Jahren geschah, als die Israeliten- aus Ägypten zogen.
Wie der Herr das Wasser im Schilfmeer ausgetrocknet hat vor euch her, so daß das Volk eine Furt zum jenseitigen Ufer bekam.' Wir wissen auch, was kurz zuvor hierin der Nähe— am anderen Ufer des Jordan— geschah. Wie die beiden Könige der Amoriter euch nicht in Frieden durchziehen ließen und wie teuer sie das zu stehen gekommen ist...« -

Die Hure Rahab weiß sehr gut, was der Gott Israels für sein Volk getan hat. «Unser Herz ist verzagt«, sagt sie, »und keiner wagt mehr vor euch zu atmen, denn der Herr, euer Gott, ist oben im Himmel und unten auf Erden.« In dieser Hinsicht erscheint sie als weise Frau, die aus ihrem Wissen heraus handelt. Sie geht mit Überlegung zu Werk und entwickelt mutig ihre Pläne.
Ein Dienst ist des anderen wert! Wenn ich euer Leben rette, wollt ihr dann als Gegengabe das meine und das meiner Familie verschonen?
Natürlich ist Rahab auf die eigene Sicherheit bedacht, aber gleichzeitig glaubt sie an den Gott Israels, daß ei für sein Volk kämpft und 12 Mose 14.16-30
ihm dieses Land geben wird. Rahab glaubt, daß dieser Gott ihrem Volk nicht die geringste Aussicht einräumt, die Juden außerhalb der Stadtmauern aufzuhalten. Und so handelt sie nach dem Glauben, den sie hat.
»Gebt mir ein sicheres Zeichen«, bittet sie, »daß ihr auch meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder, meine Schwestern und die Ihrigen leben laßt.« Ein scharlachrotes Seil an der Innenseite. ihres Fensters soll das Zeichen werden. --
Manche Bibelausleger meinen, dies rote Seil 'am Fenster sei das Zeichen von Rahabs unehrbarem Beruf, sozusagen ihr »ro't'es Lämp ehen«. Es konnte deshalb, ohne Verdacht zu erregen, angebracht werden. Niemand würde Spionage dahinter vermuten. Das ist nicht ausgeschlossen. Doch steht fest, daß es auf jeden Fall eine klare Absprache zwischen den Parteien bedeutete.
Rahab zögert nicht lange. Kaum sind die Männer fort, bindet sie die rote Schnur an ihr Fenster. Sie will sicher sein, daß ihr Haus unter allen anderen zu erkennen ist.

In Gottes Augen ist esgut, wenn Menschen - selbst Ungläubige - ihre Angelegenheiten so ernst nehmen. Man erkennt das später aus dem Ausspruch Jesu gegenüber seinen Jüngern: »Die Kinder dieser• Welt sind untereinander klüger als die Kinder des Lichtes.«2
Eine Woche später wiederholt Gott das Wunder vom Schilfmeer. Wieder teilt sich das Wasser. Trockenen Fußes gehen die Israeliten durch den Jordan, der zu dieser Zeit stark über seine Ufer getreten ist. Falls Rahabs Haus an der östlichen Mauer stand, konnte sie sehen, wie das Wunder geschah. Es vollzog sich ja direkt gegenüber der Stadt Jericho, die über der Ebene liegt und von wo aus man eine gute Sicht auf den Jordan hat.
Einige Tage später sieht sie Scharen von Israeliten in schweigender Prozession um die Stadt ziehen. Die Tore sind fest verschlossen. Kein Jude kann herein, kein Kanaaniter hinaus.
Von Zeit zu Zeit vergewissert sie sich, ob das rote Seil am Fenster auch wirklich deutlich sichtbar ist. Davon wird ja bald ihr Leben abhängen. So geht es sechs Tage lang.
'Lukas 16, 8
Dann bricht der siebente an... Schweigend, mit ernsten Gesichtern ziehen die Israeliten aufs neue um die Stadt. Und noch einmal... und noch einmal.., und noch einmal...
Die Spannung steigt innerhalb und außerhalb der Mauern. Drinnen sieht man der Zukunft mit Angst und Zittern entgegen. Nur in einem Hause nicht. Da herrschen Hoffnung undNertrauen. Da ist ein Bund mit dem Volk Gottes geschlossen. Als die sieben Priester mit den sieben Posaunen das siebente Mal die Stadt umkreisen, bricht das Volk - auf Josuas Befehl - in Jubel aus...
Das Unglaubliche geschieht. Die Erde bebt. Mauern, die jahrelang standen, zerbröckeln, stürzen zusammen. Und plötzlich liegt die Stadt offen da.
»Durch den Glauben fielen die Mauern Jerichos«, sagt der Schreiber des Hebräerbriefes. Aber durch denselben Glauben bleibt ein Teil stehen. Die Fundamentevon Rahabs Haus halten stand.3 Beide Parteien haben die Absprache gehalten. Rahab hat getan, was von ihr erwartet wurde, und Gott hat ihren Glauben belohnt.
Rahabs Glaube an den Sieg Gottes für Israel ist so stark, daß sie ihre ganze Familie überreden konnte, bei ihr einzuziehen. Niemand von ihnen kommt um. Was der König versäumte, geschah durch Rahab, nämlich das rechtzeitige Erkennen der Gefahr und die wirksamen Maßnahmen dagegen.
Rahabs Bild war entstellt, weil es durch Sünde entehrt und beschmutzt war. Und doch liegt ein Glanz des Glaubens darüber. Ihr Glaube war groß genug, um danach zu handeln. Das ist Jakobus, der auch über sie schreibt, wichtig.
Wenn der Glaube die praktische Prüfung nicht besteht, ist er wertlos und tot. Glaube wird letztlich nur an Taten erkennbar, die nach außen sichtbar sind.

»Glaube ist ein festes und inniges Vertrauen auf Gott und Gottes Wort«, definiert ein niederländisches Lexikon; Dieser Glaube zeigt sich auch bei Rahab. Darum reinigt Gott ihr beflecktes Bild und hängt es in die Galerie zu den Glaubenshelden - neben das von
3Hebräer 11,30.31

Sara. Damit werden die zwei Frauen zwischen einer ganzen Reihe von Männern als einzige mit Namen genannt. -
Rahab wie Sara eine Glaubensheldin? Ja, weil bei Gott nichts unmöglich ist und »keinAnsehen der Person« gilt. Er rechtfertigt die Gottlosen...
Hiermit ist Rahabs Geschichte nicht zu Ende. Sie beginnt erst richtig nach der Befreiung Jerichos. Nachdem ihr Leben seine Bestimmung, nämlich Gott, gefunden hat, kann es sich jetzt entfalten. Man hört nichts mehr von ihrem alten Gewrbe. Sie wird eine ehrbare Hausfrau. Nachdem sie als Heidin in das jüdische Volk aufgenommen worden ist, heiratet sieden Israeliten Salma und wird Mutter. Wenn wir die Art, in der sie ihre Mutterschaft erlebte, an ihrem liebenswürdigen und klugen Sohn Boas, dem Mann von Ruth, messen, dahn ist ihr Leben wirklich erfüllt.
Ruth wird Urgroßmutter von König David, und Rahab wird damit eine Mutter im Geschlechtsregister von Jesus Christus. Das ist ein Vorrecht, um das sie jede Jüdin beneiden wird.
Durch den Glauben...
Offnen sich hier nicht überwältigende Perspektiven?
'Matthäus 1. 5 und das Buch Ruth

@1976 Hänssler

Kunz Eugen, Der Weg nach Luv Band 13

05/23/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Ein Königskind
Die Sonne versank wie eine feurige Kugel hinter den zackigen Gipfeln der Berge, und ihre letzten Strahlen hüllten den schneegekrönten Montblanc in purpurne Glut. Nördlich vom Wüstensee lag hoch oben auf Bergeshöhe die Burg Taubenhorst. Es war ein einfacher Bau, aus großen Quadern gefügt, mit dicken Mauern und kleinen Fenstern, wie man in der ersten Hälfte des Mittelalters die Schlösser gemeiniglich baute. Am Abhang des Berges, näher dem See zu, standen die einfachen Hütten der Landleute, auf welche die Burg gleich einer Warte herabschaute.

Drinnen in dem großen Raum des Herrenhauses stand an einem offenen Fenster ein liebliches Mägdlein von kaum sechs Jahren und blickte unverwandt in die herrliche Pracht jenseits des Sees, wie das Glühen und Funkeln da drüben auf dem Weißen Berg immer leuchtender wurde und dann allmählich in lichtes Rosa überging. In den dunklen Augen des Kindes schien sich all die Herrlichkeit widerzuspiegeln. Auf dem feinen, von braunen Locken umrahmten Gesichtchen lag ein rosiger Hauch. 

Das kleine Mädchen trug ein einfaches Linnenkleid, nach der Sitte der damaligen Zeit, nur die Einfassung mit Goldborte deutete den höheren Rang an. Eine hochgewachsene Frau trat zu dem Kind. Auf den ersten Blick erkannte man Mutter und Tochter. Dieselben lieblichen Züge, der sinnende Ausdruck, dieselbe einfache Kleidung. Nur waren Augen und Haar der Mutter heller. «Schau, Mutterli, wie schön! Jetzt hat er eine Krone auf von rotem Gold, wie ein König, - noch viel schöner als Vaters Krone! Jetzt wird sie blasser - ach, nun ist alles weg!« bedauerte das Kind.
«Ja, die Sonne ist jetzt untergegangen da drüben hinter dem Gebirge«, erklärte die Mutter. »Ihre Strahlen sind es, die unsere Schneeberge erglühen machen, und jetzt sind sie fort.«
Dann wandte sich die Mutter an einen kleinen Jungen, der auf dem Boden hockte und in großen Pergamentblättern zu lesen versuchte. «Komm, Burkhard, es ist zu dunkel zum Lesen.«
Gehorsam erhob sich der Knabe vom Boden. «Mutterli, wenn ich groß bin, werde ich Bischof!« sagte er mit funkelnden Augen.
«Warum willst du Bischof werden?« fragte die Mutter und strich dem etwa achtjährigen Knaben liebevoll über das lockige Haar.
«Ei, Mutter, um in Büchern zu lesen und alles, alles zu lernen, was die Mönche in den Büchern geschrieben haben. Und die Sprache der Römer will ich gründlich lernen - ein weniges weiß ich ja schon davon - und die Sprache der Griechen, - der Bischof Bruno von Lausanne versteht sie, - und ich will ein gelehrter Mann werden und ein berühmter, wie der Abt Rabanus von Fulda und Otfried von Weißenburg!« Und seine Augen glänzten vor Begeisterung.
»Wisse, mein Sohn«, entgegnete die Mutter, «nicht das ist der Beruf eines Bischofs, berühmt zu werden, son dem ein Diener des Heilandes zu sein. An des Herrn Statt soll er die ihm anvertraute Herde weiden und die verirrten Schafe zum Heiland zurückführen. So steht's im Buch aller Bücher.«
«Ja, Mutter, aber gelehrt und berühmt sein ist doch herrlich!«
«Gebrauchst du deine Gelehrsamkeit - sollte sie einmal geschenkt sein - im Dienste Gottes und zum Heil deines Nächsten, dann ja. Eine Gelehrsamkeit aber, die niemanden Segen bringt, die hat keinen Wert, und wenn sie noch so berühmt macht. Denke daran, mein Sohn. Ich tadle dein Streben nicht. Aber trachte vor allem danach, ein Diener Jesu Christi zu werden.«
Das kleine Mädchen hatte den Worten der Mutter aufmerksam zugehört.
«Mutterli, erzähle noch einmal vom Bischof Boso von Lausanne«, bat sie.

- «Es sind jetzt sechs Jahre her. Konrad war vier Jahre alt, Burkhard zwei, und du, Adelheid, noch nicht geboren. Da brach eine schwere Zeit über unser Land herein. Die Hunnugaren kamen in großen Schwärmen von allen Seiten, verbrannten und verwüsteten die Dörfer und metzelten die Wehrlosen nieder. Der Jammer war unbeschreiblich. Ich flüchtete mit euch zwei Knaben und sämtlichen Hausgenossen in den Turm von Neuenburg auf einem steilen Felsen am Neuenburger See. Da waren wir sicher. - Inzwischen kamen die Hunnugaren bis nach Lausanne am Wüstensee und drohten selbst den Bewohnern der Städte Tod und Verderben. In Lausanne wirkte damals Bischof Boso, ein ehrwürdiger Greis, allgemein geliebt und geachtet von seinen Untergebenen.«
«War er gelehrt?« warf Burkhard dazwischen.
«Nein, nicht in dem Sinne, wie die Welt es versteht. Aber in ihm war etwas von der göttlichen Weisheit. Als
die Feinde herannahten, drängten sich die Bewohner der Stadt und der naheliegenden Dörfer um ihn wie um ihren Vater, Rettung und Hilfe von ihm hoffend. Ihn jammerte des Volkes, und sein Herz floß über von Erbarmen. >Bleibt hier<, sprach er, >ich will dem Feind entgegengehen, ob ich ihn vielleicht besänftige und zum Rückzug bewege.< - 'Du willst dich in des Löwen Rachen stürzen?< rief das Volk entsetzt. - 'Der Herr im Himmel kann mich auch aus der Löwen Rachen erretten, wenn es Ihm gefällt<, sprach er. 'Gefällt es Ihm aber nicht, mich zu erretten, so nehme Er mein Leben zum Opfer an für das eure!< - Alle Tränen und Bitten der Seinen vermochten ihn nicht zu halten, im Gegenteil, er wurde immer mutiger, und freudige Entschlossenheit strahlte aus seinen Augen. >Wisset<, rief er, 'jene Heiden haben nie die frohe Botschaft vom Heiland gehört, die ich euch kundgetan habe. 

Sie wissen nicht was sie tun, indem sie euch ängstigen. Ich will hingehen und mit ihnen reden!< - Sie ließen ihn nicht allein ziehen, etliche Väter der Stadt gingen mit ihrem Bischof. Die andern hatten in Höhlen, Klüften und Wäldern Bergung gesucht. - Im Waadtland trafen sie mit den Heiden zusammen. Der Bischof ging ihnen entgegen. Seine ehrwürdige Gestalt, die Milde und Freundlichkeit seines Angesichts schienen zunächst nicht ohne Eindruck auf die rohen Heiden zu sein. >Bringt mich zu eurem Anführer!< bat er. - 'Hier bin ich<, rief der Rohesten einer, >was willst du, Christenhund?< - 'Barmherzigkeit für meine arme Stadt! Habt Erbarmen mit den wehrlosen Alten, den schwachen Frauen und Kindern, die darinnen sind! Der kalte Winter ist vor der Tür, laßt ihnen ihr Obdach! Der Gott der Christen, Jesus Christus, wird dir's segnen, wenn du Barmherzigkeit an ihnen tust!< - 'Was geht mich der Gott der Christen an?< fuhr er auf. >Allzu lange habe ich deine Rede angehört, du Christenhund!

Hebe dich hinweg, sonst schone ich deines Alters nicht!< - 'Herr<, war die Antwort, >wenig liegt an mir und meinem Leben. Nicht für mich flehe ich, nur für die hilflosen Schafe meiner Herde. Nimm mein Leben, aber dann schone ihrer!< - 'Ein Narr wäre ich, wollte ich solch Lösegeld annehmen<, höhnte der Heide. 'Dergleichen ist wohl Brauch bei den Christen? Mir ist ein Gerücht zu Ohren gekommen, euer Gott selbst habe sich zum Lösegeld gegeben. Laß sehen, Alter, was es dir nutzt!< 

Da strahlte des Bischofs Angesicht, und er rief aus: 'Der Gott, den du höhnst, ist mein Heiland, Er hat für mich das Lösegeld bezahlt, Er hat aber auch dich geliebt. 0 widerstrebe Ihm nicht! Laß ab, wider Ihn und die Seinen zu streiten! Laß ab von deinen Missetaten und kehre dich zu Ihm!< - >Wie, du wagst solche Sprache? - mir? - mir?< rief der Anführer wutentbrannt. 'Stoßt ihn nieder!< - Da trafen ihn die tödlichen Speere, und er sank hin mit seligem Lächeln und mit den Worten: 'Jesus Christus, mein Herr!«
So weit hatte die Mutter erzählt. Mit Tränen in den Augen schaute Adelheid zu ihr auf.
»Und er ging gleich ins Paradies, Mutter?«
>'Ja, mein Kind, wie Stephanus, von dem im Buche steht.«
»Der war ein Diener Gottes!« bemerkte Burkhard nachdenklich. Auch ihn hatte die schlichte Erzählung sichtlich ergriffen. «Er ist gestorben für die andern Leute - aber auch für seinen Heiland, gelt, Mutter?«
>'Ja, das ist er. Er hat aber auch gelebt für seinen Heiland und Ihm gedient an den Brüdern. Und so, mein Burkhard, mögest auch du werden - ein demütiger Diener des hohen Himmelsherrn.«
»Und ich?« fragte Adelheid. '>Was kann ich werden?«

@ 1990 CSV-Verlag

Krumme Paul, Barnabas - Sohn des Trostes,

05/16/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Barnabas

"Joseph aber, der von den Aposteln Barnabas zubenannt wurde, (was verdobnetsch,t heißt Sohn des Trostes), ein Levit, ein Cyprier von Geburt, der einen Acker besaß, verkaufte ihn, brachte das Geld und legte es nieder zu den Fußen der Apostel" (Apg.4,36-37).
Barnabas gehörte zu denen, die zwar nicht von Anfang an dem Herrn Jesus gefolgt waren, aber doch wohl recht früh der Versammlung hinzugetan wurden. Wahrscheinlich hatte er die Pfingstpredigt des Petrus gehört und war dadurch von der Gnade Gottes überzeugt worden. Die Gemeinschaft der gläubig Gewordenen war ein starkes Zeugnis für den Herrn, sie waren "ein Herz und eine Seele" (Apg.4,32). Die Apostel bezeugten kraftvoll die Auferstehung des Herrn Jesus und bekundeten damit, daß sie einen "lebendigen" Herrn hatten. Es war ihnen bewußt, daß sie nun eine ganz besondere Stellung einnahmen und daß diese Stellung auch nach außen erkennbar sein sollte und mußte, nämlich durch die Gemeinschaft, das Zusammenhalten. "Nicht einer sagte, daß etwas von seiner Habe sein eigen wäre, sondern es war ihnen alles gemein" (Apg.4,32). Sie stellten damit ihre ganze. Habe dem Herrn zur Verfügung.

Gemeinschaft der Gläubigen
Wir können uns heute kaum vorstellen, wie harmonisch und gesegnet das Zusammen leben der ersten Gläubigen gewesen sein muß. Warum hat es aber nur eine so kurze Zeit bestanden? Wie bei so vielen anderen Gelegenheiten, so hat auch hier das arglistige menschliche Herz schon bald wieder die Oberhand über die geistliche Gesinnung bekommen. Wie sich das auswirkt, zeigt sich in dem Bericht über Ananias und Saphira, der uns in Apg.5,1-1I gegeben wird.
Sie verkauften einen Acker, stellten einen Teil des Gegenwertes den Aposteln zur Verfügung, behielten aber den ande ren Teil für sich zurück, ohne die Apostel. darüber zu informieren. Sie gaben sogar vor, ihren ganzen Besitz dem Herrn gegeben zu haben. 

Damit belogen sie, und zwar ganz bewußt, den Heiligen Geist. Gott strafte sie sofort und brachte so zum Ausdruck, wie ernst Er diese Sünde - wie auch Sünde ganz allgemein - beurteilt. Selbst wenn Gott heute kaum noch so direkt und so schnell eingreift, wenn Gläubige sündigen, sollten wir doch daran denken, daß Er jede Mißachtung Seiner Heiligkeit und Größe bestrafen wird, wenn auch vielleicht erst am "Richterstuhl des Christus", wo dann der Betreffende, der natürlich als Gotteskind nicht das ewige Leben verliert, Schaden bei der Bewertung seines Glaubenslebens erleiden muß. Zum mindesten führt die Sünde dazu, daß der Gläubige, der sie begangen hat, so lange Zeit die "Freude des Heils" verliert, bis er durch Bekenntnis und Buße in die enge Gemeinschaft mit seinem Herrn zurückgefunden hat.
Barnabas hatte anders gehandelt als Ananias und Saphira. Er hatte seinen Grundbesitz verkauft und den gesamten Erlös zu den Füßen der Apostel niedergelegt, ohne Hintergedanken, in reiner Gesinnung des Herzens.

Herkunft des Barnabas
Nur an dieser Stelle lesen wir kurz etwas über die Herkunft des Barnabas. Sein eigentlicher Name war "Joseph" (ER, Gott, möge hinzufügen). Die Apostel hatten ihm einen Zunamen gegeben, unter dem er fortan genannt wird: Barna-bas = Sohn des Trostes.
In mancherlei Hinsicht ist dieser Name sehr bezeichnend. Einmal soll damit sicher gesagt werden, daß dieser Mann wirklich Trost empfangen hatte, dann aber auch, daß er Trost weitergeben konnte. Beides ist sehr wichtig, denn Trost ist zu allen Zeiten für die Menschen bedeutsam gewesen. So sprachen gerade diejenigen Propheten vom Trost, die andererseits dem Volk Israel Drangsal ankündigen mußten; so wird auch verschiedene Male im Buch Hiob der Tröst als Ermunterung für den Leidenden erwähnt. Von dem alt gewordenen
Simeon sagt Lk.2,25, daß er auf den "Trost Israels" wartete. Diesen "Trost" durfte er sehen m dem "Heil", das von Gott in der Person Seines Sohnes auf diese Erde gesandt wurde Aber dieser "Trost kam nicht nur für Israel, sondern für alle Menschen, alle Nationen, und zwar von dem, der allein wirklich Trost geben kann, dem "Gott alles Trostes' (2 Kor. 1,3)
Wie Simeon warteten damals viele Juden auf den "Trost Israels', aber nur wenige erkannten, daß Jesus von Nazareth dieser Trost war. Und doch empfingen viele Trost durch Ihn, als Er Kranke heilte, Blinden das Augenlicht gab, Gelähmte aufrichtete Aber es geht hier um tiefer gegründeten Trost, um das Seelenheil Zwar ist für die Menschen, die der Herr Jesus von Krankheiten des Leibes heilte, dieses Erlebnis ein starker Trost gewesen, doch wieviel wichtiger ist der Trost, der der Seele gespendet wird, der Trost, der dem Herzen Ruhe und Frieden garantiert! Mit dem Auftrag, solchen Trost zu bringen, war der Herr Jesus auf diese Erde gekommen. Barnabas hatte das wohltuende Erlebnis des Getröstet-Werdens gehabt, und er hatte -nun die besondere Gabe bekommen, anderen Menschen Trost zu spenden. Doch be-
achten wir wohl, wirklicher Trost geht nur vom Herrn aus! Das -macht uns auch Apg.9,31 klar, wo es heißt, daß nach
der ersten großen Verfolgung die Versammlung Frieden hatte und vermehrt wurde "durch den Trost des Heiligen Geistes 't.
Auch heute brauchen viele, ja alle Menschen Trost. Trösten bedeutet, anderen Mut zu machen. Es gibt viel Leid, viele Krankheiten, viele Note auch unter Gläubigen. Wir sollen und können nicht leichthin über die Probleme des Bruders, der Schwester hinweggehen. Als "Glieder am Leib des Christus" haben wir die Aufgabe, einander zu stützen, zu helfen. Hilfestellung kann auf mancherlei Weise geleistet werden, so wie es jeweils in den einzelnen Fallen angebracht ist Wohltuend ist immer ein Wort des Trostes - doch finden wir es auch immer? Es gibt zweifellos auch Situationen, in denen Menschen nur "leidig Tröster" (siehe hob 16,2) sein können. Aber in irgendeiner Form dürfen wir stets auf- den hinweisen, der wirklich trösten und ermuntern kann - auf unseren Herrn. 

Wir möchten aber auch dafür dankbar sein, daß dieser Herr dem einen oder anderen die besondere Gabe geschenkt hat, Menschen in notvollen Lagen Mut zuzusprechen, - so wie Er damals den Barnabas dazu befähigt hatte.

Barnabas - ein Levit
Mit wenigen Worten sagt uns der angeführte Bibeltext etwas über die Abstammung des Barnabas. Er war ein Levit. Levi war der dritte Sohn Jakobs. Wegen der Greueltat, die
er zusammen mit seinem Bruder Simeon beging, indem er die Bewohner der Stadt Sichern erschlug (siehe 1.Mo.34), sprach Jakob vor seinem Tod das Urteil: "Ich werde sie verteilen in Jakob und sie zerstreuen in Israel" (1.Mo.49,7).
Jahrhunderte später standen die Nachkommen Levis treu zu Mose, als das Volk Israel durch Anbetung des goldenen
Kalbs in schwere Sünde gefallen war (2.Mo.32,26). Dem Stamm Levi wurde das Priestertum (Aaron und seinem Geschlecht) und die Hut der Geräte des Hauses Gottes anvertraut.
Das Wort aus 1.Mo.49 wurde damit jedoch nicht ungültig.
Gott zeigte, wie beides in Übereinstimmung gebracht werden kann: Als Priester und Diener am Haus Gottes hatten sie die bevorzugte Stellung, aber ihre Wohnsitze waren über ganz
Israel verteilt.
So sind Gottes Wege! Das Wort kann nicht aufgelöst, nicht ungültig gemacht werden, und der Herr selbst zeigt, wie bei scheinbarem Widerspruch alles in harmonischen Einklang gebracht wird.

Als Levit gehörte Barnabas zu den für den Dienst am Heiligtum Auserwählten. Das Bewußtsein der Zugehörigkeit n diesem Stamm geriet nicht in Vergessenheit, obwohl er vielleicht schon seine Vorfahren seit einer gewissen Zeit - in Cypern ansässig geworden war. -Nun aber hatte er etwas weit Besseres gefunden inden Er war Glied einr Gernemschaft geworden, in der es, wie es später Paulus zum Ausdruck brachte, nicht mehr darum ging, Jude oder Grieche zu sein, sondern m der der Herr Jesus alleiniger Mittelpunkt ist (Gal 3,28) Dadurch war er auch Angehöriger des "königlichen Priestertums" geworden (1. Petr. 2,9), dieser Gemeinschaft, in der jeder Wiedergeborene die Aufgabe hat, Seinem Herrn priesterlich zu dienen.
Das Herkunftsland des Barnabas
'Von Geburt" war Barnabas ein Cyprier, d.h., er war auf der Insel Cypern geboren, wo er "in der Zerstreuung" ansässig geworden war. Das heißt jedoch keineswegs, daß er nun kein Israelit mehr gewesen wäre. Es ist das Besondere bei diesem Volk, für uns heute vorrangig erkennbar bei dem Stamm der Juden, daß sie zwar aufgrund göttlichen Urteils, göttlicher Strafe, über die ganze Welt zerstreut sind, aber dennoch niemals die Zugehörigkeit zu ihrem Volk vergessen haben. Der Prozentsatz der Juden, die ganz in anderen Völkern aufgegangen sind, ist verschwindend gering. Grundsätzlich haben sie sich über die Jahrhunderte hindurch abgesondert gehalten, sind für sich geblieben, gleich ob in für sie guten Zeiten oder unter Verfolgungen.
Bei keinem anderen Volk ist das so deutlich erkennbar oder überhaupt der Fall gewesen. Zwar haben sich verschiedentlich im Laufe der Geschichte kleine Gruppen von Menschen aus einigen wenigen Völkern in der Diaspora für lange Zeit, 2 oder 3 Jahrhunderte, für sich halten können, aber in aller Regel tritt sehr bald die Vermischung mit den (alten oder neuen) Nachbarvölkern ein.
Den Sonderfall der Juden bzw. des ganzen Volkes Israel können wir nur dadurch erklären, daß Gott darüber gewacht und acht gehabt hat auf alle gemeinsam und auf jeden Einzelnen. Er hat dieses Volk auserwählt und ihm Verheißungen gegeben, die Er auch erfüllen wird. Zu den Verheißungen gehört das 1000-jährige Friedensreich unter der Herrschaft 3emes Sohnes, m dem das Volk Israel die absolut dominierende Nation auf der Erde ist. Zur Aufrichtung dieses Reiches muß das ganze Volk Israel gesammelt und in sein Land zurückgeführt werden.. Gott weiß auch, wo jeder Einzelne von ihnen zu finden ist und von wo er hergeholt werden muß. Wir wissen nicht, wo z.B. die 10 Stämme des Nordreichs geblieben sind, Gott aber wird es sammeln, so daß Sein Plan mit ihnen zur Vollendung kommen wird.
"Neuheit des Lebens"
Mit Barnabas war nun etwas Besonderes geschehen. Er war von der Abstammung her Levit - Israelit - und gehörte somit zu dem auserwählten Volk, das Gott mit irdischen Segnungen bedacht hatte. Sein irdisches "Heimatland" war Cypern, wo er auch ein" Heimatrecht" besaß. Doch dann war der Herr Jesus in sein Leben getreten. Barnabas hatte in Ihm das ewige Heil gefunden und war ein "Glied am Leib des Christus" geworden. Damit gehörte er von dem betreffenden Zeitpunkt an zu einer ganz anderen Gruppe von Menschen, nicht mehr zu den Israeliten, auch nicht zu den Nationen, in deren Mitte er gewohnt hatte, sondern zu denen, die das himmlische Volk des Herrn bilden, zu denen, die Segnungen "in den himmlischen Örtern" haben. Das "Alte" lag hinter ihm, "Neues" war geworden; er hatte nun ein "Bürgertum in den Himmeln", wie Paulus es den lhilippern
schrieb (Phil .3 ‚20J.
Damit war er noch nicht "in den Himmel entrückt", sondern bei aller Gewißheit der himmlischen Berufung noch ein Mensch, der hier auf-der Erde seinen Mann stehen mußte. Mit der "Wiedergeburt" wird ein Mensch Kind Gottes und der Gemeinde/Versammlung hinzugefügt. Doch für die Zeit, die der Herr ihn noch auf der Erde läßt, lebt er - auch noch - in diesem irdischen Zeitlauf. Der Herr Jesus bringt die Bedeutung dieser Stellung in Seinem "Hohenpriesterlichen Gebet" oh. 17) dadurch zum Ausdruck, daß Er sagt: "SiS - die Gläubigen - sind noch in der Welt, aber nicht von der Welt".
@ 1992 CV Dillenburg

Der Wolkenschieber, Heinrich Kemner

05/02/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Nur ein Kuß?

Nun ist sicherlich die liebe kein Experimentierfeld, das man in eigener Verantwortung bewältigen könnte. Sie stellt uns immer in die Verantwortung vor Gott. Wie leicht kann man da Grenzen überschreiten, die vielleicht nicht uns, aber den anderen in Gefahr bringen!
Ich denke da an eine Begebenheit, die mir einmal zur Schuld wurde und die ich dem Leser, ohne mich zu schonen, berichten möchte.
Während meines Studiums in Münster hatten wir an einem Abend in derDCSY eine gemütliche Zusammenkunft, nach der mich eine Studentin, die in einem Vorort von Münster wohnte, um meine Begleitung bat. Selbstverständlich erfüllte ich diese Bitte.
Während wir uns zwanglos unterhielten und sie sich für meine Begleitung bedankte, sagte ich übermütig:
»Nichts ist umsonst! Auch diese Begleitung kostet Sie etwas.«
Sie meinte, die Kosten würden wohl zu ertragen sein, aber in mir steckte der Lausejunge und vielleicht auch ein leichter Zug zum Abenteuer. Jedenfalls holte ich mir, als wir uns die Hand zum Abschied gaben, unversehens einen Kuß. Wir gingen lachend auseinander, und ich haue beileibe keinen bösen Gedanken dabei.
Viele Jahre später stand ich als Evangelist im Zelt der Deutschen Zeltmission auf dem Hohenzollemplatz in Köln. Das Zelt war, übervoll, und die Seelsorge nahm mich voll in Anspruch. Als ich wieder daheim war, fand ich unter der Post einen Brief, der mich erschrecken ließ. Ich las:
»In der letzten Woche saß ich jeden Abend unter Ihrem Wort. Die Botschaft traf mich, weil ich nicht daran zweifle, daß Sie ein ehrlicher Zeuge sind. In den letzten Tagen dachte ich daran, zu Ihnen in die Seelsorge zu gehen, aber ich hatte nicht den Mut, denn ich bin das Mädchen, das Sie damals vor der Haustür in Münster geküßt haben. Die Sache war natürlich harmlos. Und doch haue sie Folgen. Ich lebe in einer Ehe, die unglücklich ist. Vier Kinder machen mir große Sorgen. Gern hätte ich Ihren Rat gehabt, aber
ich bin nicht gekommen, weil ich den Kuß damals nicht vergessen kann.«
Was uns damals als harmloses Abenteuer vorgekommen war, war der Frau nun zur Gefahr geworden. Wie schwer mußte es ihr gefallen sein, auf die Seelsbrge zu verzichten. Ich habe ihr einen bußfertigen Brief geschrieben, und die Sache ist vor dem Herrn beglichen worden. Wie gut, daß dies möglich ist.

Bindung in der Freiheit
Wir Christen sind gewiß keine Gesetzesleute. Wenn das Gesetz erkaltend wirkt, hat es oft seinen Sinn verloren. Sicherlich ist ein
gewisser Teil des Pietismus dieser Gefahr oft erlegen. Es gehört für alle Glaubensväter und -mütter zu der großen Weisheit der rechten Ausrichtung und Erziehung, die Maßstäbe von Freiheit und Gesetz richtig zu setzen.

Es ist nicht richtig, wenn Kinder gläubiger Eltern nur Verbotsschilder sehen oder in Verklemmungen und unterschwelligen Ängsten leben. Wir dürfen nicht bedrückend wirken, sondern befreiend. Aber diese Freiheit ist gebunden an den, der in seiner Wahrheit allein frei macht.
Es kommt in unseren Jugendfreizeiten hier und davor, daß ein Junge mich plötzlich fragt, was er denn machen solle, er habe sich verliebt In solchen Augenblicken rede ich väterlich mit dem Jungen, gebe Freiheit in der Begrenzung und rate zu einem Spaziergang. Wird die Bindung stärker, dann ist selbstverständlich auch Gefahr im Verzug, es kommt vor, daß mir so ein junger Freund sagt: »Wenn ich das Mädchen in der Bibelstunde sehe, kann ich nicht mehr an Gottes Wort denken. « Wenn so der eigene Traum den Heiligen Geist ausklammert, ist es Pflicht, in der Seelsorge zu ermahnen: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen (Matt. 6, 33) - auch der von Gott zur Freude und Hilfe geschenkte Partner.

Diener Jesu Christi - Prof. D. Dr. Adolf Köberle Bekannte Persönlichkeiten berichten aus ihrem Leben, Kurt Heimbucher; Traugott Thoma

05/01/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Gottes Führungen in meinem Leben

Geboren bin ich am 3. Juli 1898 in Bad Berneck bei Bayreuth. Meine Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits kamen über drei Generationen hin aus evangelischen Pfarrfamilien im bayrischen und württembergischen Schwaben. Es war ein reiches Erbe, das die Aufgabe in sich schloß, das Überkommene in persönlicher Aneignung zu erwerben.
Eine fröhliche Jugendzeit
Der Vater, der sich Wilhelm Löhe und Hermann Bezzel nahe verbunden wußte, war ein Freund der Weltmission und hat den Sinn dafür schon früh in mir geweckt. Die Mutter war von immer gleichbleibender Herzensgüte und Zuverlässigkeit. Als ein überaus liebebedürftiges Kind hing ich sehr an ihr. Wenn das prophetische Wort von Gott sagt: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet", so besaß diese Zusage für mich unmittelbare Anschaulichkeit.
Wir waren fünf Geschwister, was ich immer als ein großes Glück empfunden habe. Spielend und wie selbstverständlich werden in der Kinderstube gelernt und eingeübt das Mitein-anderteilen, das Aufeinanderachthaben und Rücksiehtneh-men.
Wir wurden nicht streng, aber sorgfältig erzogen. Es gab damals noch das Abendgebetläuten um 18 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir die Spiele im Pfarrgarten alsbald abzubrechen und uns daheim einzufinden. Der Vater kam aus seinem Studierzimmer; wir standen in der Wohnstube um den runden Tisch, und dann wurde gemeinsam gesprochen: „Lieber Mensch, was soll's bedeuten, daß man tut die Glocke läuten? Es bedeutet abermal deines Lebens Ziel und Zahl Dieser Tag hat abgenommen, so wird auch der Tod herkommen. Lieber Mensch, so schicke dich, daß du sterbest seliglich. Ach, bleib bei uns, Herr Jesu Christ, weil es nun Abend worden ist.

Dein göttlich Wort, das helle Licht, laß ja bei uns auslöschen nicht. In dieser schwer betrübten Zeit verleih uns, Herr, Beständigkeit, daß wir dein Wort und Sakrament erhalten rein bis an das End." Unter der schwer betrübten Zeit konnte ich mir als Kind nichts so Rechtes vorstellen. Doch das Leben hat später reichlich dafür gesorgt, daß sich diese Worte für mich mit Inhalt füllten.
Meine Kindheit war reich an Spielfreude und geistiger Anregung. Neben dem abendlichen Vorlesen unter der Petroleumlampe wurde vor allem das Singen von Chorälen und Volksliedern eifrig gepflegt. Das Kirchenjahr mit der Fülle seiner herrlichen Lieder war uns völlig vertraut. Ohne Mühe lernten wir Vers um Vers kennen und behalten. Mir tun alle Kinder leid, die heutzutage davon nichts mehr mitbekommen. Ich frage mich oft, wie sie mit dem Leben fertig werden wollen ohne eine solche eiserne Ration. Im Blick auf die frühe Jugendzeit kann ich nur bekennen, es war eine besonnte Vergangenheit. Als einer, der viel empfangen hatte, durfte ich das alles dann noch einmal an die eigenen 5 Kinder weitergeben.
Immer hatte es mich mit Dank erfüllt, daß ich in München, Memmingen und Augsburg ein humanistisches Gymnasium besuchen durfte, das mir eine gediegene Ausbildung in den Fächern Latein und Griechisch, Deutsch und Geschichte vermittelte. Um den naturwissenschaftlichen Unterricht freilich war es damals schlecht bestellt, was ich zeitlebens als Mangel empfunden habe. Mein Vater, der seinen Sohn gut kannte in der Neigung, leicht verzagt zu sein und den Mut zu verlieren, gab mir am Palmsonntag 1912 als Konfirmationsspruch auf den Lebensweg ein Wort aus dem 1. Korintherbrief, Kapitel 16, 13 mit: „Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark."

Mit 18 Jahren wurde ich Soldat, nachdem ich kurz zuvor den Vater allzu früh verloren hatte. Der 1. Weltkrieg führte mich an die Fronten in Rumänien und nach Frankreich. Das schaurige Todeserlebnis der Großkampfschlachten hat entscheidend auf meine Berufswahl eingewirkt, nachdem ich zuvor der Literaturgeschichte und der Musikwissenschaft zuge neigt war. Im Frühjahr 1918 hatte ich an der Westfront als vorgeschobener Beobachter meiner Batterie beschädigte Telefonleitungen zu flicken, während die amerikanischen Brisanz-granaten ringsumher einschlugen. Da lernte ich beten und danken: „In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet."

Das Studium der Philosophie und Theologie führte mich an die Universitäten München, Erlangen und Tübingen. Ich wurde Mitglied der Deutsch-christlichen Studentenvereinigung (DcSv), deren Ursprung auf eine amerikanische Erwek-kungsbewegung zurückgeht. Den weitaus größten Segen empfing ich während meiner Studienzeit durch den Tübinger Professor Karl Heim. Seine Vorlesungen und Predigten und wiederholte seelsorgerliche Aussprachen haben recht eigentlich mein Wesen geprägt und zum Durchbruch im Leben des Glaubens verholfen. Heim vereinigte in seiner Person umfassende geistige Bildung mit einer schlichten Herzenfrömmig-keit. Besonders imponierte mir, wie vornehm er in ehrfürchtiger Einfühlung und ohne jede Gehässigkeit auch außerchrist-liches Gedankengut darzustellen vermochte, getreu seinem Grundsatz: „Wer viel streitet, betet wenig!"

Im Dienst für Jesus
Nach abgeschlossenem Studium stand ich vier Jahre lang im Dienst der Evangelisch-lutherischen Landeskirche von Bayern. Als junger Pfarrer in Augsburg wurde mir unter anderem auch die Seelsorge an dem Untersuchungs- und Strafvoll-streckungsgefängnis, reichlich früh für mein Alter, anvertraut. Aus zahlreichen Geständnissen drängte sich mir die Einsicht auf, was für eine traurige Rolle der Alkohol im Leben der Männer und Frauen gespielt hatte, die straffällig geworden waren. Grund genug für mich, daß ich von da an abstinent wurde. Als Religionslehrer an Höheren Schulen in München durfte ich erleben, daß ganze Schulklassen bereit waren, im Unterricht mitzugehen, wenn ihnen die großen Taten Gottes im Alten und Neuen • Testament in farbiger Anschaulichkeit nahegebracht wurden.


Mit 26 Jahren wurde ich nach Leipzig berufen, um dort als Seminarleiter junge Menschen für den Missionsdienst in Ostafrika und Südindien auszubilden. Herzbeweglich war das Abschiednehmen von den Schülern, wenn sie nach abgeschlossener Prüfung von der Leitung für das eine oder andere Missionsfeld bestimmt worden waren. Die ganze Hausgemeinde begleitete sie zu den Zügen nach Hamburg oder Genua. Die große Leipziger Bahnhofshalle hallte wider von dem Gesang, mit dem wir das Geleit gaben: „Zieht im Frieden eure Pfade. Mit euch des großen Gottes Gnade und seiner heiligen Engel Wacht. Wenn euch Jesu Hände schirmen, geht's unter Sonnenschein und Stürmen getrost und froh bei Tag und Nacht. Lebt wohl, lebt wohl im Herrn! Er sei euch nimmer fern spät und frühe! Vergeßt uns nicht in seinem Licht und wenn ihr sucht sein Angesicht!"

Trotz einer Vielzahl von Unterrichtsfächern ermöglichten mir die Leipziger Jahre, das erste Buch zu schreiben. Es trug den Titel „Rechtfertigung und Heiligung" und hatte sich zur Aufgabe gesetzt, Gottes vergebendes und befreiendes Handeln in Jesus Christus darzustellen in ständiger Auseinandersetzung mit der Theologie der Gegenwart, die in den Zwanziger Jahren dazu neigte, bald nur der einen oder anderen Seite des göttlichen Heilshandelns Raum zu geben. Das Buch erlebte rasch mehrere Auflagen und wurde in die französische und englische und japanische Sprache übersetzt. Das Thema Vergebung und neues Leben hat mich seitdem nie mehr losgelassen. Ich habe es in größeren Zeitabständen noch zweimal erneut in Angriff genommen.

Zum Frühjahr 1930 wurde ich als Professor an die Theologische Fakultät der Universität Basel berufen. Die neun Jahre dort habe ich immer als eine besonders freundliche Fügung und Führung Gottes empfunden. Während in der deutschen Heimat auch redliche Christen den Durchbruch des Nationalsozialismus als eine große Hoffnung begrüßten, war es mir von der Schweiz aus möglich, das Böse und Gefährliche dieser Bewegung, die Häufung von Unrechtstaten von Anfang an zudurchschauen. Es war nicht mein Verdienst, daß ich infolgedessen nie auf den Gedanken kam, mich der Partei als Mitglied anzuschließen.

Eine lebhafte Freundschaft verband mich in Basel mit dem damaligen Missionsdirektor Karl Hartenstein und mit Erich Schick, der als Dozent am Missionsseminar lehrte. Beide waren charismatische Persönlichkeiten von hoher geistiger Begabung und weitblickender Reichsgottesgesinnung. Vertretungsweise habe ich neben der Hochschultätigkeit auch einige Jahre an der Evangelistenschule in St. Chrischona mit unterrichtet. Ab Herbst 1935 wurde Karl Barth mein Kollege im gleichen Fach der Systematischen Theologie. Barth war in Bonn entlassen worden, weil er sich geweigert hatte, die vorgeschriebene Eidesformel auf Hitler zu leisten. Seine Geburtsstadt nahm ihn mit jubelnder Begeisterung auf. Für mich war es nicht immer leicht, im Schatten seiner prachtvollen Wirksamkeit zu stehen.

Karl Heim, der mir Lehrer und Freund geworden war, wurde auf Frühjahr 1939 aus Altersgründen in den Ruhestand versetzt. Es war sein lebhafter Wunsch, daß ich sein Erbe in Tübingen übernehmen möchte. Es war für mich ein schwerer Entschluß, Basel zu verlassen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, den man von der Schweiz aus mit Sicherheit kommen sah, während in Deutschland die verführten und irregeleiteten Massen immer noch an den Friedenswillen des ‚Führers' glaubten. Ich habe es trotzdem nicht bereut, die Berufung nach Tübingen angenommen zu haben, wo ich dann 26 Jahre lang den Schwerpunkt meiner Lebensarbeit finden durfte. Nachdem die Kriegsangst und das Elend der Nachkriegszeit überstanden waren, konnte sich das Leben an der Hochschule frei und blühend entfalten. An die Stelle der materiellen Nöte und Kämpfe traten jetzt die schweren geistigen Auseinandersetzungen mit der Theologie Rudolf Bultmanns, mit der gesellschaftspolitischen Ethik und der fragwürdigen ‚Theologie nach dem Tode Gottes'.
In meinen Vorlesungen und Seminarübungen habe ich mir ein dreifaches Ziel gesetzt. Ich war darum bemüht, nicht nur ein Kopfwissen vorzutragen, sondern auch das Herz mitsprechen zu lassen. Christlicher Glaube ohne eigene Hinweise auf die persönliche Erfahrung hat keine Überzeugungskraft. Theologie als Selbstzweck ist mir immer ferngeblieben. - Ich wußte mich in meiner Lehrtätigkeit stets dafür verantwortlich, junge Menschen für den Dienst an den Gemeinden auszurüsten. Gerhard Tersteegen hat den Christenstand gerne mit einem Zirkel verglichen. Der innere Arm darf nicht wak-keIn. Er muß fest in Jesus Christus gegründet sein, sonst ist alles verdorben. Der äußere Arm mag dann weite Bögen schlagen und alles zu dem von Gott bestimmten Mittelpunkt in Beziehung setzen. - In diesem Sinn war auch ich darum bemüht, das unverkürzte Evangelium und die geistigen Strömungen der Zeit miteinander ins Gespräch zu bringen. Nicht alle haben diese Art zu schätzen gewußt, es hat aber auch an dankbarem Echo nicht gefehlt.

Unter Gottes Führung
Im Alter von 67 Jahren habe ich mich in den Ruhestand versetzen lassen und bin in die bayrische Heimat nach München zurückgekehrt. Ich verlor nach 44jähriger Ehe meine geliebte Frau, blieb 8 Jahre verwitwet und durfte dann noch einmal eine Lebensgefährtin finden, die mir hilfreich zur Seite steht. Ich bin auch im hohen Alter bei guten Schaffenskräften geblieben, das Gehör freilich hat schmerzlich nachgelassen. Um so mehr erfüllt es mich mit Dankbarkeit gegen Gott, daß die Augen noch immer ihren guten Dienst tun, so daß ich unbegrenzt lesen und schreiben und manches im Dienst des Reiches Gottes veröffentlichen kann.

Aus dem Alten Testament ist mir wichtig geworden: Ich habe vieler Dinge ein Ende gesehen (Ps. 119, 96), und es hat alles seine Zeit (Pred. 3, 1 f.), Lachen und Weinen, Geliebtwer-den und von Geliebtem Abschied nehmen müssen, jung und leistungsfähig sein und im Alter an seine Grenzen kommen. Das Wissen darum macht stille, geduldig und gelassen. - Von M. Luther habe ich gelernt, wie hilfreich sein Ratschlag ist: Gott in allen Nöten anrufen, beten, loben und danken. Aus dem Herzen gesprochen ist mir der Vers von Paul Gerhardt: „Alles vergehet, Gott aber stehet ohn alles Wanken, seine Gedanken, sein Wort und Wille hat ewigen Grund. 

Sein Heil und Gnaden, die nehmen nicht Schaden, heilen im Herzen die tödlichen Schmerzen, halten uns zeitlich und ewig gesund." - Das Bild Jesu hat mich von der Kindheit an begleitet. Oft waren es ganz bestimmte Worte, die zu Zeiten mit besonderer Eindringlichkeit zu mir gesprochen haben. Wider den Sorgengeist half mir: „Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen" (Matth. 6, 34). Wenn sich zornige Anwandlungen meiner bemächtigen wollten, traf mich der Ruf Jesu: „Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?" (Luk. 9,54).

Ich hatte das Studium und den Beruf der Theologie gewählt in der naiven Zuversicht, ich würde dadurch in einen Kreis gleichgesinnter Jünger kommen, und fiel aus allen Wolken, als ich erleben mußte, wieviel Zank und Streit, wieviel hartes, liebloses Richten auch unter Christen möglich ist. Und wieder war es ein Wort Jesu, das mir Beistand leistete, wo er in der Gleichnisrede den eilfertigen Knechten, die das Unkraut ausraufen möchten, zuruft: „Laßt beides miteinander wachsen bis zur Ernte" (Matth. 13,30). All unsere menschlichen Zensuren sind zuletzt doch vorläufiger Art. Der Herr allein ist es, dem das Gericht zusteht.

Im Zusammenhang damit ist mir ein Wort von Zinzendorf kostbar geworden: „Wenn Jesus seine Gnadenzeit bald da, bald dort verklärt, so freu dich der Barmherzigkeit, die andern widerfährt. Wenn er dich aber brauchen will, so steig in Kraft empor, wird Jesus in der Seele still, so nimm auch du nichts vor." Wie traurig ist es, wenn wir uns nicht mitzufreuen vermögen über alles, was Gott anderen in seinem Dienst gelingen läßt. Jede Art von verengtem Konfes-sionalismus ist mir darum immer fremd und fern geblieben.
In meiner Vaterstadt Memmingen im Allgäu lebte im Re-formationsj ahrhundert in dem dortigen Augustinerkloster ein Mönch mit dem Namen Georg Spenlein. Von vielen inneren Anfechtungen geplagt, wandte er sich an Martin Luther in Wittenberg um Rat und Hilfe. In einem berühmt gewordenen Brief schrieb ihm der Reformator: „Lieber Bruder, an dir selbst verzweifelnd, lerne sprechen: Du, Herr Jesu, bist meine Sünde, und ich bin deine Gerechtigkeit. Du hast mir genommen, was mein war, und hast mir gegeben, was dein war." 450 Jahre später habe auch ich mir diese Worte zu eigen gemacht. Sie umschreiben in einzigartiger Klarheit, daß das Wesen des Glaubens ein ständiger Tausch und Wechsel ist zwischen Christus und dem eigenen armen, argen Herzen. „Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt" (Jes. 53,5).

So gewiß der Umgang mit dem biblischen Wort, das tägliche Gebet und die Verbundenheit mit dem erhöhten Christus für mich die eigentlichen Quellen der Kraft sind, so sei doch offen bekannt, daß ich nicht nur aus dem Reich der Erlösung, sondern auch aus dem wunderbaren Reich der Schöpfung ständig eine Fülle von Beschenkungen empfange. Da ist die
Freude an der Natur, das Glückserlebnis der Musik, die Sprache großer Dichtung in Lyrik und Prosa, was Leib, Seele und Geist frisch und gesund erhält. Ein Christenleben, das den ersten Glaubensartikel vernachlässigt, muß verkümmern. Wir sind dazu berufen, aus der Fülle des dreifaltigen Gottes zu schöpfen. 

Natur und Gnade sind für mich zusammengefaßt in dem schlichten Tischgebet: „Zwei Dinge, Herr, sind not, die gib nach deiner Huld: Gib uns das täglich Brot, vergib uns unsre Schuld."
Im Altem kann es geschehen, daß uns die Erinnerung an eine Schuld jäh überfällt. Vielleicht haben wir jahrzehntelang die Gedanken daran beharrlich zurückgedrängt und verdrängt. Am Abend des Lebens aber meldet sich erneut, was wir an anderen versäumt haben. 

Die bittere Reue des Zuspät kann den Menschen im Alter dermaßen quälen, daß er in Zustände tiefster Verzweiflung versinkt. Für diese Anfechtung des Herzens gibt es nur ein Heilmittel. Es ist die Zuflucht zu der Barmherzigkeit Gottes, die er uns in Jesus Christus erschlossen und zugesagt hat. Es kommt ja keiner durch das Leben mit unversehrtem Gewissen. Wir aber dürfen uns an die Zusage halten: „So uns unser Herz verdammt, ist Gott größer als unser Herz und vergibt uns."
Wenn überhaupt in einem Lebensalter, dann sollte der Mensch spätestens am Ende seiner Lebenstage den Weg zu Gott hin suchen und finden. Das Alter hilft uns dazu, dadurch, daß vieles ganz von selbst abklingt und zurücktritt, was uns in der Mitte des Lebens absorbiert und fasziniert hatte. Gleichwohl sollte niemand die Hinwendung zu Gott auf den späten Lebensabend verschieben, denn wir wissen ja nicht, ob wir zu hohen Jahren kommen werden, und gleich gar nicht können wir damit rechnen und darauf bauen, daß uns dann auch noch alle Kräfte des Geistes, der Seele und des Willens zur Verfügung stehen werden, um die ewige Berufung festzumachen. 

Auf alle Fälle sollte der Mensch im Alter Frieden schließen mit Gott, mit dem Nächsten und mit sich selbst. Nur keine Bitterkeiten, keine Empörungen und Unversöhnlich-keiten auf die letzte Reise mitnehmen. Das alles wäre unnützes Gepäck, das uns bei dem Durchgang durch die enge Pforte nur hindern und aufhalten würde. Von Jakob Böhme stammen die beachtenswerten Worte: „Du mußt manchen Tod zuvor sterben, wenn dir der letzte glücken soll. Wer nicht stirbt, ehe er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt."
Altwerden heißt, sich zur letzten Reise rüsten. „Ein Tag, der sagt's dem andern, mein Leben sei ein Wandern zur großen Ewigkeit. 0 Ewigkeit, du schöne, mein Herz an dich gewöhne, mein Heim ist nicht in dieser Zeit." Es gibt in unseren Tagen vielerlei Angebote, die über das Leben nach dem Tod allerlei geheimnisvolle Aufschlüsse geben. Der christliche Glaube hat solche Geheimwissenschaften nicht nötig. Es genügt ihm, daß er sich an die Worte Christi halten darf: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben. Euer Herz erschrecke nicht. Glaubet an Gott und glaubet an mich. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen." Die Angst vor dem Sterben, die Schrecken des Todes verlieren ihre Gewalt, wenn wir uns an den Fürsten des Lebens halten, der dem Tod die Macht genommen und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat. Prof. D. Dr. Adolf Köberle

Quelle ISBN: 9783880022324
Format: 20,5 x 13,5 cm
Seiten: 144
Gewicht: 224 g
Verlag: Liebenzeller Mission
Erschienen: 1984
Einband: Paperback

4. Mose 19 Die rote junge Kuh, W. Kelly

04/26/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Die rote junge Kuh (4. Mose 19)

W. Kelly n Bible Treasury Vol. N 9, S. 97‑99

In diesem Kapitel haben wir eine äußerst lehrreiche Anordnung Gottes, wie sie diesem 4. Buch Mose eigen ist. "Dies ist die Satzung des Gesetzes, das Jehova geboten hat, indem er sprach: Rede zu den Kindern Israel, daß sie dir eine rote junge Kuh bringen, ohne Fehl, an der kein Gebrechen, auf welche kein Joch gekommen ist." Was der große Versöhnungstag als Mittelpunkt des dritten Buches Mose darstellt, das ist die rote junge Kuh für das vierte Buch Mose. Jeder der beiden Abschnitte scheint charakteristisch zu sein für das Buch, in dem er verzeichnet ist, eine Tatsache, die zeigt, wie systematisch Ordnung und Inhalt der Schrift sind.

So haben wir hier eine deutliche Vorsorge für die Verunreinigungen, denen wir auf unserem Weg durch diese Welt ausgesetzt sind. Für die Praxis ist das lebenswichtig. Mancher neigt zu der Annahme, die Versöhnung tue sozusagen das ganze Werk. Nun, keine Wahrheit ist gesegneter als die der Versöhnung, da es doch die Person des Herrn ist, die diesem Werk seinen göttlichen Wert verleiht. Doch daneben müs­sen wir Raum lassen für alles, was unser Gott uns gegeben hat. Nichts leistet der Sektenbildung so sehr Vorschub, als eine Wahrheit aus ihrer Verhältnismäßig­keit herauszunehmen und einen Teil der Wahrheit so zu behandeln, als umfasse er die gesamten Absichten Gottes. Es kann nicht genug betont werden, daß die Bibel das Buch ist, das freimacht von jeder Art kleinli­cher Ausschließlichkeit. Was bedeutet es schon, hier gute Gedanken und dort rechte Wege zu haben, wenn sich damit der wesentliche Fehler verbindet, daß man sich mit einem Teil der Wahrheit Gottes zufriedengibt, den Rest aber verwirft? Es ist unsere Aufgabe, den Willen des Herrn, und nichts als Seinen Willen auszu­führen, und zwar Seinen ganzen Willen, soweit wir ihn erkennen. Weniger als das heißt, die Herrlichkeit Chri­sti preiszugeben. Es ist unmöglich, sektiererisch zu sein da, wo Sein Wort alles regiert; und ohne Sein Wort ist es unmöglich, nicht sektiererisch zu sein. Diese oder jene Stellung einzunehmen, bewahrt uns nicht davor, persönlich sektiererisch zu werden. Die Saatkörner des Irrtums und das elende Ich arbeiten zusammen, und es gibt keine Befreiung davon außer durch einen Wandel in der Kraft eines gestorbenen und auferstandenen Christus. Das gilt auch hier, wo uns nicht nur das Übel des Sektengeistes entgegen­tritt, sondern auch das des Mißbrauchs kostbarster Wahrheiten Gottes. Wenn sie im ausschließenden Sinn gehandhabt werden, dienen sie bald zu einer Entschuldigung für Sünde, wie sehr auch immer ihre Aneignung in einem früheren Stadium geschätzt wor­den sein mag.

Es genügt also nicht, den Gläubigen auf das Süh­nungswerk Christi zu beschränken, auch wenn es für immer unsere Schuld vor Gott weggetan hat; auch dann nicht, wenn wir hinzufügen, daß wir wissen, wir sind in dem auferstandenen Herrn in eine ganz neue Stellung versetzt worden, in den Bereich eines Le­bens, wo Böses keinen Zutritt mehr hat. Beides ist sehr wahr und kostbar; aber ist das die ganze Wahr­heit? Gewiß nicht; und es ist nichts gefährlicher, als sie als die ganze Wahrheit hinzustellen. Sie sind ebenso kostbar wie nötig für die Seele; doch es gibt wirklich keinen Teil der Wahrheit, der nicht wirklich nötig wäre, und gerade diese Weise und Offenheit gegenüber aller Wahrheit ist es, worauf wir bestehen müssen. Ich bin in der Tat überzeugt, daß wir bei allem, was es an Eigentümlichkeiten in der Schrift gibt, doch Besonderheiten und Lieblingsgegenstände vermeiden sollten, um alle Wahrheit durch Gottes Gnade willkommen zu heißen. Natürlich kann man nicht viel sagen, wenn es um die Frage geht, wie weit wir eine Wahrheit uns schon zu eigen gemacht haben. Aber es ist gewiß von Gott, wenn wir in einer Stellung gefunden werden, wo alle Wahrheit für uns zugänglich ist, und wir für sie, und wo auch nicht ein einziger Bruchteil der göttlichen Gedanken und des göttlichen Willens ausgeschlossen ist. Es wird unmöglich sein, davon bin ich überzeugt ‑ außer auf dem Boden der Versammlung Gottes ‑ einen Platz zu finden, wo Wahrheit nicht ausgeschlossen wird, und vielleicht viel Wahrheit, die ganz offensichtlich überaus kostbar ist. Es ist gut, noch etwas anderes sorgfältig zu beachten, und zwar, daß wir uns nicht einfach damit zufrieden geben, uns auf dem rechten gottgemäßen Boden zu wissen, sondern daß unsere Herzen zugleich sehnlich wünschen, alles, was Er uns gegeben hat, immer und einzig zu Seiner Verherrlichung zu nutzen.

Die junge rote Kuh lehrte die Kinder Israel schon rein äußerlich, daß das Werk des Versöhnungstages das Thema Sünde nicht so vollständig behandelt hatte, daß sie über die täglichen Verunreinigungen als gegen­standslos hinweggehen könnten. Wir können den Wert des Blutes Christi, das für unsere Sünden vergossen wurde, nie zu hoch einschätzen. Es bewirkt, daß wir kein Bewußtsein von Sünden mehr haben. Wir sind durch Sein Blut gerechtfertigt ‑, ja mehr noch, mit Chri­stus sind wir der Sünde gestorben und in Ihm leben wir Gott. Aber obwohl das alles völlig wahr ist (und es wurde damals dargestellt, soweit es im Vorbild ge­schehen konnte, wenn wir an einen Israeliten denken), eine solche Gnade ist der stärkste Beweggrund dafür, mit einer Verunreinigung nicht leichtfertig zu verfahren. Eben die Tatsache, daß wir vor Gott vollkommen gerei­nigt sind, ist ein lauter Ruf an uns, einen Makel vor Menschen nicht zu dulden. Und um Sein Volk auf dem Wege vor Schmutz zu bewahren, traf Gott hier eine so bemerkenswerte Vorsorge. "Eine rote junge Kuh" war zu bringen, "ohne Fehl, an der kein Gebrechen, auf die kein Joch gekommen" war ‑ ein eindrucksvolles Bild von Christus, jedoch in einer Art, in der in der Schrift nicht oft von Ihm gesprochen wird. Die Anordnung setzte nicht nur das Fehlen solcher Gebrechen voraus, wie es bei jedem Opfer unerläßlich war, sondern ver­langte darüber hinaus ausdrücklich, daß sie nie ein Joch kennengelernt hatte. In dem Joch sehen wir ein Bild vom Druck der Sünde. Wie spricht dies von dem Gegenbild! Christus war allezeit völlig annehmlich für Gott. "Und ihr sollt sie Eleasar, dem Priester, geben, und er soll sie vor das Lager hinausführen, und man soll sie vor ihm schlachten."

Das Blut wurde genommen und siebenmal gegen die Vorderseite des Zeltes der Zusammenkunft gesprengt.

Es war recht so, daß die Verbindung mit der großen Wahrheit des Blutes gewahrt wurde, des Blutes, das Sühnung bewirkt und Gott rechtfertigt, wo auch immer der Gedanke an Sünde auftaucht. Aber seine Anwen­dung weist auf einen anderen Zug hin. Das Sprengen des Blutes bezeugt fortwährend die im Opfer liegende Wahrheit ‑, aber dann folgt, was dem besonderen Be­dürfnis begegnet: "Und man soll die junge Kuh vor seinen Augen verbrennen: ihre Haut und ihr Fleisch und ihr Blut samt ihrem Mist soll man verbrennen. Und der Priester soll Zedernholz und Ysop und Karmesin neh­men und es mitten in den Brand der jungen Kuh wer­fen." Dann finden wir, daß die Asche der jungen Kuh an einem "reinen Ort" niederzulegen ist. "Und ein reiner Mann soll die Asche der jungen Kuh sammeln und sie außerhalb des Lagers an einen reinen Ort schütten, und sie soll für die Gemeinde der Kinder Israel aufbe­wahrt werden zum Wasser der Reinigung; es ist eine Entsündigung." In welchem Sinn? Einfach und einzig im Blick auf die Gemeinschaft, das heißt auf Wiederherstellung, wenn sie unterbrochen ist. Es geht durchaus nicht um die Frage der Herstellung von Beziehungen (das war längst geschehen), sondern auf dem Boden der bestehenden Beziehung durfte der Israelit in sei­nem Verhalten nichts zulassen, was die Heiligkeit, die dem Heiligtum Jehovas geziemte, beflecken konnte. Darum ging es hier.

Das ist der wahre Maßstab, wie er in diesem Vorbild deutlich wird. Es geht nicht nur darum, daß das Ge­setz Jehovas dies oder jenes verurteilt. Dieser Schatten künftiger Güter verlangte Absonderung von allem, was mit dem Heiligtum nicht in Einklang stand. Die Form, die diese Anordnung hatte, berücksichtigte die Wüstenreise, auf der sie beständig der Berührung mit dem Tod ausgesetzt waren. Der Tod ist es, der hier hineingebracht wird, als der, der die Befleckung, ver­schieden nach Art und Grad, verursacht. Angenom­men, jemand berührte die Leiche eines Menschen, so war er sieben Tage unrein. Was war zu tun? Er "soll sich am dritten Tag damit entsündigen, und am sieb­ten Tag wird er rein sein; und wenn er sich nicht entsündigt am dritten Tag, so wird er am siebten Tag nicht rein sein." Es war nicht gestattet, die Entsündi­gung am ersten Tag vorzunehmen. Irre ich mich in der Annahme, daß wir gewiß ganz selbstverständlich ge­dacht hätten, rasches Handeln sei bei weitem das beste Verfahren gewesen? Warum nicht sofort? Nein, nicht der erste, sondern der dritte Tag war vorge­schrieben. Wenn eine Befleckung auf dem Geist la­stet, wenn irgend etwas es fertigbringt, die Gemein­schaft mit Gott zu unterbrechen, so ist es von tiefer moralischer Bedeutung, daß wir unser Vergehen gründlich erkennen sollten.

Das scheint hier die Bedeutung des dritten Tages zu sein. Es sollte nicht bloß ein flüchtiges Gefühl sein, daß man gesündigt hatte, und damit war die Sache dann auch schon erledigt. Bis zum dritten Tag sollte die Empfindung auf dem Israeliten lasten, daß er ge­sündigt hatte. Das war eine schmerzliche Sache. Er hatte die Tage zu zählen und bis zum dritten Tag zu warten; dann wurde das Wasser der Reinigung zum ersten Mal auf ihn gesprengt. " . . . damit aus zweier oder dreier Zeugen Mund (die wohlbekannte Vorsorge in jedem Fall) jede Sache bestätigt werde." So sehen wir, daß derjenige, der mit dem Tod in Berührung gekommen war, eine angemessene Zeit warten mußte, um anzuzeigen, daß er sich dessen wohl be­wußt war und den Platz eines Menschen einzunehmen hatte, der vor Gott verunreinigt war. Eine eilige Bekun­dung von Trauer beweist noch nicht echte Reue über die Sünde. Bei Kindern nehmen wir etwas Ähnliches wahr. Mancher hat ein Kind, das schnell bereit ist, um Vergebung zu bitten oder seine Verfehlung einzuge­stehen; aber ein Kind, das sie tiefer empfindet, ist nicht immer so eilig. Ein Kind, das mit seinem Einge­ständnis zurückhaltender ist, hat möglicherweise ein tieferes Gefühl dafür, was ein Bekenntnis bedeutet. Nun, es geht mir jetzt nicht um den natürlichen Cha­rakter, doch ich möchte feststellen, daß es recht und geziemend ist (und ich glaube, dies ist die allgemeine Bedeutung der Anordnung des Herrn hier), daß je­mand, der verunreinigt ist (d. h., dessen Gemeinschaft mit Gott unterbrochen wurde), jenen Platz in tiefem Ernst einnehmen sollte. Im Christentum ist das natür­lich nicht eine Frage von Tagen, sondern dessen, was der Bedeutung dieses Vorbildes entspricht. Genügend Zeit sollte vergehen, damit die Empfindung für das Böse einer Verunreinigung, die Gott und Sein Heilig­tum verunehrt hat, sich erweisen kann. Hast und Eile bekunden eher, daß ein solches Empfinden in Wirk­lichkeit gar nicht vorhanden ist. Jemand, der sich am dritten Tag gebührend reinigte, der war tatsächlich auch am siebten Tag rein.

Er erlangt also zunächst einmal ein Gefühl für die Sünde angesichts der Gnade, die dafür Vorsorge trifft; und dann erfaßt er die Gnade angesichts der Sünde. Die beiden Besprengungen stehen in einem Gegensatz zueinander. Sie tun dar, wie Sünde Schande auf die Gnade gebracht hat und wie die Gnade über die Sünde triumphiert hat. Das scheint die Bedeutung zu sein, und zwar besonders aus folgendem Grund. Die Asche der jungen Kuh ist Ausdruck der Wirkung des verzehrenden Gerichts Gottes über den Herrn Jesus der Sünde wegen. Es ist nicht einfach so, daß Blut kundtut: ich bin schuldig, und Gott gibt ein Opfer, um die Schuld zu tilgen. Die Asche bezeugt sozusagen das richterliche Handeln Gottes im Verzehren des ge­segneten Opfers, das unserer Sünde wegen unter das ganze heilige Urteil Gottes kam. Das Wasser (oder der Geist durch das Wort) läßt uns erkennen, wie Christus für das gelitten hat, was wir leider geneigt sind, so wenig zu empfinden, wenn nicht gar zu bagatellisieren.

Noch etwas sollten wir nebenbei beachten. Es be­durfte des Reinigungswassers nicht nur, wenn jemand einen toten Körper berührt hatte, sondern in verschie­denen Weisen und in verschiedenem Maß. Jenes mochte ein wichtiger Fall genannt werden, doch die Anordnung zeigt, daß Gott auch von der geringfügig­sten Sache Notiz nimmt. Auch wir sollten das tun ‑wenigstens bei uns selbst. "Dies ist das Gesetz, wenn ein Mensch im Zelt stirbt: Jeder, der ins Zelt geht, und jeder, der im Zelt ist, wird sieben Tage unrein sein. Und jedes offene Gefäß, auf dem kein festgebundener Deckel ist, wird unrein sein. Und jeder, der auf freiem Felde einen mit dem Schwert Erschlagenen oder einen Gestorbenen oder das Gebein eines Menschen oder ein Grab anrührt, wird sieben Tage unrein sein." "Das Gebein eines Menschen" mag uns als eine viel geringfügigere Sache erscheinen, aber alles, was ver­unreinigt, findet Beachtung, und in Christus, unserem Herrn, ist für alles Vorsorge getroffen. So möchte Gott uns zu schärfstem Unterscheidungsvermögen verhel­fen und zu gründlichstem Selbstgericht. Es sind nicht nur schwerwiegende Dinge, die uns verunreinigen, sondern in unseren Augen vielleicht nichtige Ursa­chen, die sich trennend zwischen uns und die Ge­meinschaft mit unserem Gott und Vater stellen kön­nen. Doch Er hat für jede Befleckung das unveränder­liche Heilmittel Seiner Gnade bereitet.

Der König, den Gott wählte, Die Lebensgeschichte des Königs David 2. Teil, Josef Kausemann

04/20/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

VorwortBN0509.jpg?1682009302279

Ein Lebensbild Davids von seiner Thronbesteigung bis zu seinem Tod 2. Samuel 15 - 1. Könige 2
Nachfolgende Betrachtung ist eine Fortsetzung der Beschreibung des Lebens Davids von dem Tag an, als ganz Israel ihn zum König salbte, bis zu seinem Eingang in die Ruhe des Volkes Gottes. In diesem Buch bemühen wir uns, die geschichtliche, die belehrende und die prophetische Sehe der Lebensgeschichte Davids hervorzuheben.
Es gibt wenige biblische Gestalten, d&ien Leben so wechselhaft war wie das des Königs David. Wir werden Tiefen durchschreiten und Höhen ersteigen, die uns zu dem Ausruf bringen: 0 Herr, wie groß ist Deine Treue, Deine Langmut und Dein Erbarmen mit einem Menschen! Wo scheinbar alles verloren ist, beginnen Deine Möglichkeiten zur Durchführung Deiner Pläne!
David, der »Geliebte des Herrn«, wird uns im Wort Gottes zum Ansporn und zur Warnung vorgestellt. Seine Demut, sein Gottvertrauen, sein Gerechtigkeitssinn sind nachahmenswert. Da aber Gott nie einen Menschen mit einem Heiligenschein zeichnet, finden wir auch einen David in seiner ganzen angeborenen Schwachheit und fleischlichen Gebundenheit.
Was seine Gestalt so groß und wertvoll erscheinen läßt, ist die Vor-schattung der Person Jesus Christus. Die Prophetie zeigt uns ein Stück der Vorbereitungszeit zur Aufrichtung des Milleniums, des Friedensreiches Christi. Die Segnungen dieses Reiches finden wir dann im 1. Buch der Könige in der Herrschaft Salomos.
Es ist ein Vorrecht, daß wir den Spuren gesegneter Gottesmänner folgen dürfen, um von ihnen zu lernen. Im Vertrauen auf den Herrn, verbunden mit der Bitte, daß Gott dieses Buch an den Herzen vieler Leser segnen möge, geben wir das Geschriebene in ihre Hände. Wenn neue Impulse zu größerer Treue und Hingabe als Dank für Golgatha beim Lesen geweckt werden, hat sich jede Mühe gelohnt. Dem Schreiber geht es einzig und allein um die Ehre des Herrn Jesus Christus.
Im Jahr 1988
Josef Kausemann

2. Samuel 5  Zion, die Stadt des großen Königs
Dreißig Jahre war David alt, als er König über ganz Israel wurde.
Im ganzen regierte er vierzig Jahre uber das Volk Gottes Hebron, wo er mehr als sieben Monate die Regentschaft über Juda ausgeübt hatte, konnte nicht länger die Stadt des Regierungssitzes blei-bern Deshalb zog David seine Mannen zusammen und zog wider die Jebusiter, die damals Jebus (Salem) bewohnten, zu Felde.
Die Jebusiter waren Nachkommen Kanaans, des dritten Sohnes Hams. Sie werden stets mit den sieben Königen genannt, die Is-
rael auf Geheiß Gottes ausrotten mußte. Bei der Landverteilung
fiel ihr Gebiet Juda zu, das aber nicht im Stande war, sie zu besiegen. Wir lesen: »Aber die Jebusiter, die Bewohner von Jerusalem,
- die Kinder Juda vermochten sie nicht auszutreiben; und die Je-busiter haben mit den Kindern Juda in Jerusalem gewohnt bis auf diesen Tag« (los. 15,63).
Der König nach dem Herzen Gottes war dazu erkoren, Jerusalem, die von Gott erwählte Stadt einzunehmen und die Jebusiter zu ver-
treiben. Diese Stadt besaß das ganze Interesse des Lenkers der Ge-
schicke. Es heißt.: »Der Herr hat Zion erwählt, hat es begehrt zu seiner Wohnstätte: Dies ist meine Ruhe immerdar; hier will ich
wohnen, denn ich habe es begehrt« (Ps. 132,13-14). »Seine Gründung ist auf den Bergen der Heiligkeit; • der Herr liebt die Tore Zions mehr als alle Wohnungen Jakobs« (Ps. 87,1-2).
Wie verständlich, daß der Herr diese Stadt nicht in den Händen Seiner Feinde lassen konnte. Gottes Herz hing an diesem Ort; hier
wollte Er den Thron Seiner Gnade aufrichten. Schaute Er vom
Himmel herab, dann hefteten sich Seine Augen an diese Stadt Seiner Freude. Hier sollte Seine Wohnung, der Tempel erbaut wer-
den. »Warum blicket ihr neidisch, ihr gipfelreichen Berge, auf den Berg, den Gott begehrt hat zu seinem Wohnsitz? Auch wird der Herr daselbst wohnen immerdar« (Ps. 68,16).
Nun schlug Gottes Stunde. Seine Gnade setzte an diesem Ort den König nach Seinem Herzen ein, um die Grundlage eines ewigen Heils zu legen. Das liebende Herz Gottes sah über David hinaus und erblickte die Wurzel Davids, den König der Gnade, Jesus Christus, der das »Ja und Amen« aller Verheißungen Gottes bildet. Was für Israel noch zukünftig ist, erfreut die Gemeinde Jesu schon
heute. Das Herz des Erlösten schlägt höher, wenn es sich an den Tatsachen erfreut: »Ihr seid gekommen zum Berg Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem« (Hebr. 12,22). Alle himmlischen Segnungen gehören uns jetzt schon..

Kampf und Einnahme Jerusalems
Die Jebusiter, die von Juda geduldet wurden, hatten ihre Stadt zu einer starken Festung ausgebaut. Sie fühlten sich so sicher, daß sie David spottend zuriefen: »Du wirst hier nicht hereinkommen, sondern die Blinden und die Lahmen werden dich wegtreiben; sie wollten damit sagen: David wird nicht hier hereinkommen« (2. Sam. 5,6). Sie bauten so fest auf ihre starken Befestigungen, daß sie meinten, die Kranken in ihrer Sippe wären im Stande, das Heer Davids zu vertreiben. Wie konnte dieser heidnische Überrest ahnen, daß ihr Hügel von je her von Gott zu besonderen Aufgaben bestimmt war. Tausend Jahre vorher stiegen zwei Gestalten diesen Hügel hinan. Wortlos vollzog sich in jener Morgendämmerung die einsame Wanderung, bis ein ängstlicher junger Mann fragte: »Mein Vater! . ..Siehe,  das Feuer und das Holz; wo. aber ist das Schaf zum Brandopfer? Und Abraham sprach: Gott wird sich ersehen das Schaf zum Brandopfer, mein Sohn« (1. Mose 22,7-8). 

Es war der Hügel Morija, den der Gottesknecht in altgrauen Tagen emporstieg, um im Gehorsam die Forderung Gottes zu erfüllen. Seinen einzigen Sohn, sein zweites Herz, der Inbegriff aller seiner Zukunftshoffnungen, den sollte er opfern. Gott wollte bei Abraham nicht seine väterliche Liebe prüfen, denn das wäre der Fall gewesen, wenn von ihm gefordert worden wäre, sein eigenes Leben für den Sohn zu geben. Auch ging es nicht darum, seine Liebe zu Gott unter Beweis zu stellen, ob sie stark genug wäre, die natürliche Liebe zum Erstgeborenen der Liebe zum Herrn unterzuordnen. Solche Probe hatte schon mancher bestanden und mit Hiob gerufen: »Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen!« Bei Abraham ging es um die Glaubensprüfung. War er so fest gegründet, daß er Gott beim Wort nahm und Ihm vertraute, daß in Isaak sein Same ihm genannt werden würde? 

An diesen Sohn hatte Gott sich mit Seinem Wort gebunden und mit ihm einen Bund gemacht; Deshalb sah der Erzvater in Isaak nicht nur die Zukunft seines Hauses, sondern auch den Träger der Verheißung, an den das Heil der Welt geknüpft war. In Isaaks Samen (Christus) sollten gesegnet werden alle Geschlechter der Erde.
Abraham bestand die Probe. Gott wurde durch die Glaubenstat des Patriarchen verherrlicht, denn in der Glaubensprobe urteilte jener, daß Gott ihm den Isaak nach der Opferung aus den Toten wiederschenken würde.
Hier an dieser geweihten Stätte trat auch Melchisedek dem Abraham entgegen, als dieser aus der siegreichen Schlacht über fünf Könige zurückkehrte, und reichte ihm Brot und Wein. Melchise-dek bedeutet: König der Gerechtigkeit, und seine Residenz war in Salem (Jerusalem), deshalb wurde er auch »König des Friedens« und »Priester des Allerhöchsten« genannt. Dieser Mann segnete Abraham. Ob aber der Erzvater ahnte, wer vor ihm stand und wen Melchisedek vorschatten sollte, ist kaum anzunehmen.
An diesem Ort stand nun David und mußte sich von den Heiden, die sich dieser Stadt bemächtigt hatten, verhöhnen lassen. Den Namen »Salem« hatte man mit »Jebus« vertauscht. In dem bevorstehenden Kampf ging es nun nicht nur darum, die Schmach der Verhöhnung zu beseitigen, sondern in erster Linie um die Ehre Gottes. Die Stunde war gekommen, daß der Beweis erbracht werden mußte, wer der allein wahre Gott ist und wem die Stadt des Friedens gehört. In Richter 19,12 begegnet uns die Stadt Jebus schon unter der Bezeichnung: »Wir wollen nicht in eine fremde Stadt einkehren, die nicht von den Kindern Israel ist...«
Entrüstet, ja, mit berechtigtem Zorn erfüllt über die Selbstsicheren, gibt David die Parole aus:

»Wer die Jebusiter schlägt und an die Wasserleitung gelangt, und die Lahmen und die Blinden schlägt, der stürze sie in den Abgrund (— so muß wohl übersetzt werden —)' welche der Seele Davids verhaßt sind« (2. Sam. 5,8). Es gibt Ausleger, die in den Lahmen und Blinden verächtlich gemachte und in Jebus aufgestellte tote Götzen sehen. Wenn man den Text jedoch weiterliest: »Daher spricht man: Ein Blinder und ein Lahmer darf nicht ins Haus kommen«, so wird diese Annahme zweifelhaft.
Der Sieger sollte fürstlich belohnt werden. Joab war sofort bereit, so wird uns in 1. Chron. 11 berichtet. Dort lesen wir: »Da stieg Joab, der Sohn der Zeruja, zuerst hinauf, und er wurde zum Haupt« (1. Chron. 11,6).
In merkwürdiger Kürze umschreibt die Bibel dieses Ereignis: »Und David nahm die Burg Zion ein, das ist die Stadt Davids«. Alles ist so einfach, und kein weiteres Wort wird mehr hinzugefügt, als hätte es keine Anstrengungen gekostet. So ist es immer, wenn Gott die Wege bahnt, wenn Er Seine Pläne verwirklicht. Was ist der Mensch, wenn er es wagt, dem Höchsten entgegenzutreten?
Was David hier erlebt, wird sich bald in weit gewaltigerem Umfang abspielen. In jener Stunde, wenn sich die ganze Menschheit unter der Anführung des Antichristen Gottes Gesalbtem in höchster Vollendung der Feindschaft entgegenstellt, wird der Herr sie mit dem Hauch seines Mundes vernichten. Es klingt wie göttliche Ironie, wenn Er in Psalm 2 niederschreiben läßt: »Warum toben die Nationen und sinnen Eitles die Völkerschaften? Es treten auf die Könige der Erde, und die Fürsten ratschlagen miteinander wider den Herrn und seinen Gesalbten: Lasset uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Seile! Der im Himmel thront, lacht, der Herr spottet ihrer!« Dann wird Er alle Feinde zum Schemel seiner Füße legen.

Ein dunkler Schatten lag über der Einnahme von Jebus, denn Jo-ab war es, der sich bei dieser Gelegenheit zum Heerführer emporarbeitete. Er war der Sohn der Schwester Davids, die Zeruja hieß. Der Mann, dessen Ränke, dessen List und Verschlagenheit sich schon früher bemerkbar gemacht, den David als »Sohn der Ungerechtigkeit« bezeichnet hatte, stand nun als Oberbefehlshaber den Soldaten des Königs vor. Er war »zu hart« für David und machte die Schwachheit des Königs diesem Mann gegenüber offenbar. Wir sehen, wohin ein leichtfertiges Wort führen kann, wenn fleischlicher Eifer sich regt und man nicht auf den Hinweis des Heiligen Geistes wartet. Diese Tatsache sollte uns eine Warnung sein, denn David hat in seinem Leben die Ungerechtigkeit Joabs oft zu spüren bekommen.

Ein mutmachendes Zeugnis
Sobald die Festung genommen war, zog David in die Burg ein und nannte den Ort »Stadt Davids«. Das alte Salem bekam den Zusatz »Jeru«, das heißt: Stadt oder auch Wohnung. Dadurch entstand der schöne Name »Jeru-Salem, Stadt oder Wohnung des Friedens«!

Vorwort -
2. Samuel 5
Zion, die Stadt des großen Königs 12
Kampf und Einnahme Jerusalems 13
Ein mutmachendes Zeugnis 15
Darum werden wir nicht mutlos 16
Jerusalem, du Schöne 17
Jerusalem, wie könnte ich deiner vergessen 19
Das neue Jerusalem 20
Die Wohnung Gottes auf Erden 21
Davids Königtum wird von Hiram anerkannt • 24
Davids Bescheidenheit 25
Davids Eigenmächtigkeit 26
Davids Abhängigkeit und sein Warten auf Gott 27
Davids Sieg verleitet ihn nicht zu 28
selbständigem Handeln Gott offenbart sich gerne 
Glaubenserfahrungen führen zur Anbetung 31
2. Samuel 6
David holt die Bundeslade nach Zion 32
Ein folgenschwerer Irrtum 33
Eine wichtige Belehrung 34
Davids große Bestürzung 36
David hat gelernt 37
Ein wichtiges Vorbild 38
Michal, die Frau Davids, verachtet ihren Mann 39
Davids Reaktion auf die Vorhaltungen seiner Frau 41
Ein Hinweis auf die Bundeslade - 43
Noch geringer will ich in meinen Augen werden 45
Eine Nachlese 46
Freimütiges Bekenntnis 47
Die Liebe zu allen Heiligen 47
Die Schmach des Christus 48
2. Samuel 7
Entschlüsse ohne Abstimmung mit Gott 50
Wo war die Stiftshütte 50
Das »Nein« Gottes führt zu größeren Segnungen 52
Hat die Verheißung Gottes heute noch Gültigkeit 53
Herr, durchforsche mich 55
Davids Reaktion auf Gottes Hinweis 56
Die vier Erfahrungsstufen des Königs 57
Davids große Not 58
David saß und stand vor dem Herrn 58
Voraussetzung der Gemeinschaft mit Gott 59
Gemeinschaft wird durch Vertrauen vertieft 61
2. Samuel 8
Neue Kämpfe und Siege 63
Der tiefere Sinn der Siege Davids 64
Der Tag ist weit vorgerückt 65
2. Samuel 9
Mephiboseth
Der Triumph der Gnade 67
Die Herablassung des Königs 68
Die Erhöhung Mephiboseths 69
Ein Bild des Menschen 70
Auch Segnungen Israels finden wir 72
2. Samuel 10
Hanun
Verschmähte Gnade 74
Ein weiterer Gedanke über Gottes Gerechtigkeit 75
Undank durch bösen Einfluß 76
Böser Einfluß verdirbt gute Sitten 77
Wie ist der Einfluß der Gotteskinder 78
2. Samuel 11
Der schwere Fall Davids 79
Ein wenig Ausruhen, und die Sünde lauert 79
Herr, in deinem Licht möchte ich wandeln 82
2. Samuel 12
Buße, Zucht und Wiederherstellung 84
Die Selbstgerechtigkeit zerbricht 85
Warnung vor dem Reisenden 85
Der innere Zusammenbruch 86
Gott ist reich an Vergebung 87
Die Vergebung ist kostbar - die Folgen
der Sünde aber bleiben 87
David versuchte, Gott umzustimmen 88
Herr, Du bist heilig 90
2. Samuel 13
Herzeleid und Unheil kommen über David 93
Die Sünde macht kraftlos 94
Der heuchlerische Neffe Davids 95
2. Samuel 14
Joab nutzt die Schwäche Davids aus 97
Das Ränkespiel geht weiter 99
2. Samuel 15
Absaloms Verschwörung 102
Davids Reaktion 104
Ein weiterer Grund für die Räumung Jerusalems 105
David zieht über den Bach Kidron 106
Herzen werden offenbar 107
2. Samuel 16
Weitere Begegnungen auf Davids Flucht 111
Simei - vom Haß getrieben 112
Absaloms Einzug in Jerusalem und seine Sünde 114
2. Samuel 17
Im Dienst für David 116
David geht über den Jordan 117
Das furchtbare Ende eines eitlen Menschen 118
Die ersehnte Hilfe kommt 119
2. Samuel 18
Der Entscheidungskampf 121
Eine Trauernachricht für David 122

2. Samuel 24
125 - Gott, Deine Gedanken sind mir zu hoch 169
126 Davids Handeln und Gottes Gericht 170
127 Die späte Erkenntnis 171
128 Die Wahl unter drei Gerichtsarten 172
129 Prophetischer Ausblick 173
Eine ergreifende Szene 175
131 - - Drei wichtige Tatsachen 176
Die Weisung Gottes 176
Ein weiteres Vorbild 177
1. Chronika 28 ii. 29
Davids Sorge um Tempelbau und Nachfolger 180
2. Samuel 20
Eine neue Meuterei
Der Schuldige stirbt, und die Stadt wird verschont
Wichtige Hinweise
Die Spuren Jesu
Ein Bild des Verworfenen
Der Verräter
Die Rückkehr Davids auf den Thron
2. Samuel 21
Eine Schandtat Sauls wird von Gott
in Erinnerung gebracht 145
Die Liebe einer trauernden Mutter 146
Die Tat Rizpas findet höchste Anerkennung 147
Der alte Feind bedrängt wiederum Israel 148
Erneute Angriffe der Philister 149
Der vierte Versuch der Philister 150
Was wir hieraus lernen dürfen 150 1. Könige 1
2. Samuel 22
David jubelt seinem Gott zu 153
Eine erneute Prophetie 156
2. Samuel 23
Prophetische Schau und Davids Heldenehrung 158
Zuvor aber das Gericht 160
Selbstlosigkeit ziert die Helden Davids 162
Die drei Mutigsten 164
Die drei Anonymen 165
Noch ein schmerzliches Erleben 182
David wendet das Unheil ab 182
Bestürzung und Flucht der Rebellen 184
David und Salomo - ein Vorbild auf Christus 186
Wir sehen aber Jesum 188
Der mit Herrlichkeit Gekrönte 188
Wohl allen, die in Gihon weilen 190
Glückselig, die sehen 191
lind das himmlische Volk Gottes? 193
Es gibt Lohn für euer Tun 193
Ein Bild der Hingabe 194
Eine liebliche Parallele 195
Treue und Fleiß lohnen sich 196
Alles Fleisch ist wie Gras 197
David soll für uns ein Ansporn sein 199
Herr, Du bist schöner als alle 202
Y Ein Schlußwort 203
2. Samuel 19
Herr, Deine Gnade genügt
Gnade und Vergebung
Die Gnade breitet sich aus
Barsillai, der treue Helfer
Ein bescheidener Mann
Der Segen der Eltern baut den Kindern Häuser
Der unselige Bruderzwist

Der König, den Gott wählte: Die Lebensgeschichte des Königs David, Teil 2 Diilenburg: Christliche Verlagsgesellschaft
ISBN 3-921 292-67-0
© Copyright 1988:
Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg Umschlaggestaltung: Eberhard Platte, Wuppertal Umschlagfoto: Martin von der Mühlen,
Das »Goldene Tor« in Jerusalem Druck: Druckhaus Gummersbach Printed in West-Germany
Inhaltsverzeichnis Seite

Psalm 23 Der gute Hirte, Phillip Keller

04/18/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

DER HERR IST MEIN HIRTEBN0627.jpg?1681803934222

Der Herr! Wer ist dieser Herr? Welche persönlichen Eigenschaften hat er? Kann er sich mir gegenüber ausreichend als mein Hirte - mein Führer, mein Besitzer - ausweisen?
Und wenn er das wirklich kann, wie soll ich mich denn seiner Führung unterstellen? Wie kann ich mich seiner Anteilnahme und ständigen Fürsorge versichern?
Dies sind tiefschürfende Fragen, die eine Antwort erfordern. Sie müssen ehrlich und gründlich geprüft werden.
Ein großes Unheil für das Christentum liegt in unserer Neigung, uns in doppeldeutigen Verallgemeinerungen zu ergehen.
David, der Schreiber dieses Psalms, war selbst Hirte und Sohn eines Hirten und wurde später als »Hirtenkönig« Israels bekannt. Er sagte ausdrücklich: »Der Herr ist mein Hirte.« Wen meinte er damit?
Er meinte Jehova, den Gott Israels.
Seine Aussage wurde durch Jesus Christus bestätigt. Als er, Gott von Ewigkeit, ins »Fleisch kam« und unter den Menschen lebte, sagte er ausdrücklich von sich: »Ich bin der gute Hirte.«
Und wer war dieser Jesus Christus? Wenn wir seine Person betrachten, dann denken wir oft kleinlich, verkrampft, engstirnig und menschlich von ihm. Deswegen sind wir auch so oft nicht bereit, ihm die Herrschaft und Leitung - und noch viel weniger das volle Eigentumsrecht - über unser Leben einzuräumen.
Dabei ist er es, der die Schöpfung und alle Dinge - sowohl die natürlichen wie die übernatürlichen - ins Dasein gerufen hat (Kolosser 1,15-20).
Wenn wir einmal gründlich über die Person Jesu Christi nachdenken - uns seine Kraft und seine Werke vor Augen stellen -‚ werden wir wie David mit Stolz und Freude feststellen: »Der Herr - er ist mein Hirte!«
Ehe wir das aber tun, wird es uns eine große Hilfe sein, wenn wir über die besondere Stellung nachdenken, die Gott, der Vater, Gott, der Sohn, und Gott, der Heilige Geist, in unserer Menschheitsgeschichte einnehmen.
Gott, der Vater, ist zugleich Gott, der Urheber - der Schöpfer alles dessen, was da ist. Er hat alles zuerst in seinem Geist geplant.
Gott, der Sohn - unser Heiland und Erlöser -‚ ist Gott, der Kunsthandwerker, der Künstler, der schöpferisch alles ins Dasein rief, was ursprünglich im Geiste seines Vaters geplant und vorgesehen war.
Gott, der Heilige Geist, ist die Mittelsperson der Gottheit, die diese Tatsachen meinem Verstand und meinem geistlichen Verständnis deutlich macht, damit sie für mich ganz persönlich Wirklichkeit werden können.
So entspricht also das wunderbare Verhältnis zwischen Gott und Menschen, das uns wiederholt in der Heiligen Schrift geoffenbart wird, dem eines Vaters zu seinen Kindern oder dem eines Hirten zu seiner Herde. Diese Vorstellungen entstammen dem Geist Gottes, unseres Vaters. Durch das Werk Jesu Christi auf Golgatha wurden sie in die Tat umgesetzt, und durch das gnädige Wirken des Heiligen Geistes werden sie dann in mir real und lebendig.
Wenn also ein Mann oder eine Frau die einfache und doch so erhabene Feststellung machen: »Der Herr ist mein Hirte!«, wird damit ein tiefgreifendes und inniges Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer zum Ausdruck gebracht, das jedoch auch praktische Folgen hat.
Das gibt einem Klumpen Erde eine göttliche Bestimmung - ein gewöhnlicher Sterblicher wird zum Gegenstand göttlicher Fürsorge und dadurch mit Liebe und Zärtlichkeit behandelt.
Schon allein dieser Gedanke sollte meinen Geist entzünden, mein ganzes Bewußtsein durchdringen und mir als Persönlichkeit eine unvorstellbare Würde verleihen. Der Gedanke, daß sich Gott in Jesus Christus ausgerechnet um mich ernsthaft Gedanken macht, gibt meinem kurzen Aufenthalt auf diesem Planeten sofort einen ganz neuen Sinn und eine unermeßliche Bedeutung.
Je größer, herrlicher und majestätischer Jesus Christus vor meinen Augen steht, desto enger und tiefer wird mein Verhältnis zu ihm sein. Offensichtlich spricht David in diesem Psalm nicht als Hirte, obwohl er ja ein Hirte war, sondern vielmehr als Schaf, als einer aus der Herde. Er spricht mit einem starken Gefühl des Stolzes, der Verehrung und Bewunderung. Es hört sich an, als ob er lauthals prahlt: »Seht einmal, wer mein Hirte, mein Herr, mein Führer ist!« Es ist der Herr!
Immerhin wußte er aus eigener Erfahrung, daß das Schicksal eines jeden Schafes von seinem Besitzer abhängig ist. 

Manche Herdenbesitzer waren im Blick auf die ihnen. anvertrauten Tiere liebevoll, gütig, klug, tapfer und selbstlos Es gab aber auch andere Bei ihnen mußten die Schafe um ihre Nahrung kämpfen, hungern. und Mißhandlungen erdulden. Unter der Obhut wiede eines anderen gediehen sie, vermehrten sich und waren zufrieden.

Wenn nun der Herr mein Hirte ist, möchte ich etwas über seine Eigenschaften und auch über seine Kraft und Fähigkeiten erfahren.
Darüber nachzudenken, gehe ich nachts häufig allein unter dem Sternhimmel spazieren, um mir die Größe und Majestät Gottes vor Augen zu führen. Beim Anblick des sternenübersäten Himmels fällt mir ein, daß. mindestens 250 Millionen mal 250 Millionen solcher Himmelskörper,jeder größer als unsere Sonne, von ihm selbst über das unendliche Weltall verteilt worden sind. Ich denke daran, daß unser Planet Erde - für ein -paar kurze Jahre meine vorübergehende Heimat - nur ein winziges Sternchen im Universum ist. Wenn es möglich wäre, unser stärkstes Fernrohr zu dem uns am nächsten gelegenerY'Stern Alpha Centauri zu transportieren und von dort- durch dieses Fernrohr in Richtung Erde zurückzublicken, könnte man die Erde selbst mit diesem mächtigen Instruinent.überhaupt nicht sehen
Für uns Menschen ist das natürlich demütigend. 

Es dämpft unseren Stolz und läßt unser Ich ziemlich klein erscheinen, aber es bringt die Dinge in die richtige Perspektive. Mit erschreckender Deutlichkeit wird uns bewußt, daß der Mensch in diesem unendlichen Universum nur ein winziges Stäubchen ist. Dennoch bleibt die erschütternde Tatsache bestehen, daß sich Jesus Christus, der Schöpfer dieses Universums von so überwältigenden Ausmaßen, dazu herabläßt, sich mein :Hirte zu nennen. Gleichzeitig fordert er mich auf, mich als sein Schaf zu betrachten, als Gegenstand seiner besonderen Liebe und Fürsorge. Wer könnte besser für
mich sorgen als er? -.
Noch in diese Gedanken versunken, bücke ich mich
und nehme etwas Erde aus dem Garten in die Hand. Ich lege es unter ein Elektronenmikroskop und entdecke staunend, daß dieses bißchen Erde von Milliarden und
Abermilliarden von Mikroorganismen nur so wimmelt. Viele von ihnen sind in der Eigenart ihres Zellenaufbaus so kompliziert, daß bis heute ihr Einfluß auf den Mutterboden nur zu einem geringen Teil erforscht werden konnte.
Jawohl, er; der Christus, der Sohn, Gottes, rief den ganzen Kosmos ins Dasein. Von den unermeßlichen Milchstraßen bis hin zu den winzigsten Mikroben läuft alles reibungslos nach ganz bestimmten Gesetzen ab. Das Gehirn des geistig und zeitlich begrenzten Menschen ist völlig unfähig, das zu erfassen.

Schon aus diesem Grunde bin ich dazu verpflichtet, Gott das gesetzliche Eigentumsrecht über mich, das menschliche Wesen, zuzugestehen - einfach weil er es ist, der mich geschaffen hat. Niefhand kann zudem besser für mich sorgen oder mich besser verstehen als er. Ich gehöre ihm, einfach weil er mich ausdrücklich als Gegenstand seiner Zuneigung und Liebe erschaffen hat.
Es ist offenkundig, daß sich die meisten Menschen weigern, diese Tatsache anzuerkennen. Sie geben sieh die größte Mühe zu bestreiten, daß eine Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer besteht oder auch nur möglich sein könnte. Damit wird

ISBN 3-89437-649-x @1978 Schulte&Gerth

und Ihr sollt auch leben - mit Christus in die Weite, Siegfried Kettling

04/15/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Geburt - ich wurde nicht gefragt bei meiner zeugung und die mich zeugten wurden auch nichtBN2925.jpg?1681555507110 gefragt bei ihrer zeugung niemand wurde gefragt außer dem Einen und der sagte ich wurde nicht gefragt bei meiner geburt

• und die mich gebar wurde auch nicht gefragt bei ihrer geburt niemand wurde gefragt außer dein Einen und der sagte ja

• »... niemand wurde gefragt«
Dichtung macht dicht, kondensiert, preßt den Extrakt heraus: sIch wurde nicht gefragt... niemand wurde gefragt.« Das ist die menschliche Grundsituation, die menschliche Urerfahrung - in einen Satz geballt. Ich wurde nicht gefragt, ob ich überhaupt leben wollte, erst recht nicht gefragt, ob als Junge oder Mädchen; Meine Eltern, meine soziale Herkunft habe ich mir nicht ausgesucht. Meine Hautfarbe konnte ich nicht wählen. Weder bin ich Europäer aus Entscheidung noch Mensch des 20. Jahrhunderts. Ich wurde nicht gefragt.
Von draußen geht's nach drinnen: Fähigkeiten oder Schwächen, gesunde: Konstitution oder stets angegriffene Gesundheit, gewinnende Frohnatur oder dunkler Hang zur Schwermut - all dieses prägt unser Ich bis ins Tiefste, aber wir wurden nicht gefragt. Es würde uns zudiktiert. Heidegger spricht vom »Geworfen-Sein«, Goethe vom »Gesetz, wonach du angetreten«. »Gesetz« ist das uns Gesetzte, vor uns wie eine Mauer Hingestellte, das Unausweichliche, Unübersteigbare.
Schon die Geburt richtet also eine Mauer auf. »So mußt du sein, du kannst dir nicht entfliehen« (Goethe) Das Schicksal fugt eine zweite hinzu jenes jähe Hereinbrechen des Unvorhergesehenen und Unabwendbaren, jene Katastrophen, die alle meine Sicherh-eitsnetze durchschlagen, der Herzinfarkt, der Verkehrsunfall... Die dritte Mauer fügt sich bruchlos an: die Schuld. Tief verwoben sind hier Zwang und Entscheidung, Freiheit und Geschick. »Das Gute, das ich tun will, nie ich nicht; son-dem das Böse, das ich nicht tun will, das tue ich« (Röm 7,19). Die vierte Mauer heißt Tod. Sie verriegelt den Platz

Inhalt Vorwort.
Leben Sie schon?
Geburt- ................. 10
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein 1-5
Leben Sie schon, oder sind Sie noch tot 22.
jesusprovokativ
Du sollst nicht... 32
Buße - Gottes Geschenk an uns 39
Jesus provokativ - er stort uns 69
Wie kann Gott das zulassen) 83
Echt sein 93
Nun lebe ich wieder? 98
Schalom . 103
Aufwachen Seltsame Logik 114
Aufwachen .......................117
Fünf Brote und zwei rasche 124
Christenhumor ...................135
Maranatha Normal oder toll 142
Die Brucke zum »Goldenen Tor« 149
Adventsfreude .................... 164 --

»- außer dem Einen«.

»Der Eine« - mit dem bestimmten Artikel davor! »Der Eine«, den man großschreiben muß, wo ringsum alles kleingeschrieben wird' Der Einzigartige' Das ist von vornherein sicher Diese Ausnahme, die die Regel zerbricht, kann ich nicht unter meinesgleichen suchen Der Gefragte stammt nicht von uns Ungefragten Er gehört auf die andere Seite, auf die Seite der Freiheit, er gehört zu— Gott
Und nun müssen wir, sehr menschlich reden Da steht der Eine neben Gott, und Gott zeigt ihm sein künftiges Geschick, zeigt es ihm, ohne zu schonen Gott macht den Einen zu einem Wissenden, zu einem, der durchschaut, und dann erst stellt er die Fragen
»Siehst du den Mann, der unbehaust und angefeindet durchs Land zieht, ohne Nest, ohne Bau, armer als ein Tier Siehst du in ihm alles Ausgestoßensem, alles Flüchtlingselend? Sieh diesen Paria, diesen Outcast Das ist dein Lebens Willst du es?« -
»Siehst du den Mann, angepflockt, blutüberströmt? .ødernemen zerfetzen seine Haut Siehst du an ihm alle

»... und der sagte ja«
Da halten Himmel und Erde den Atem an. Der Eine ist gefragt worden. Nun muß die Entscheidung fallen, die 'alles entscheidet. (Kurt Marti hat in sein. Gedicht die Pause hineinkomponiert, der breite Zeilenabstand zeigt sie an.) Da fällt in das Schweigen das weltverwandelnde Wort: Ja.
Dieses Ja heißt Weihnachten: »Von einem Weibe geboren und unter das Gesetz getan« (Gal 4,4). Darin ist letzte Solidarität mit -uns. Der Gefragte kommt zu den Ungefragten, der Großgeschriebene zu uns Kleinen. Er wird Kamerad, atmet die Luft unseres Gefängnisses.
Dieses Ja heißt Karfreitag: »Er ward ein 'Fluch für uns« (Gal 3,13) Da nimmt der Eine, der ja zu uns sagt, Gottes richtendes Nein stellvertretend auf sich, läßt sich von diesem Nein zerschlagen für uns.
Dieses Ja heißt Ostern. Da ruft Gott sein schöpferisches Ja diesem Einen zu, reißt ihn aus dem Tode und sprengt damit das Gefängnis, reißt die Wände nieder, von denen bisher unser Nein widerhallte. Dieses Ja verwandelt das Gesetz der Geburt. Ich lerne das Ja nachsprechen - zunächst zu mir selbst: Ich kann mich annehmen, ohne neidisch nach dem anderen zu blicken. Ich bin »geschaffen«, nicht »geworden«, ein unverwechselbarer, originaler Gedanke Gottes. - Dann aber gilt das Ja auch dem anderen Feinde werden Brüder. Es gilt auch der Welt ringsum: Ich darf sie ernst nehmen, sie froh nehmen.
Dieses Ja verwandelt das Gesetz des Schicksals. Durch alle schrillen Dissonanzen hindurch klingt nun der gute Grundton. Durch alles verzweifelte und resignierte Nein in mir und ringsum tönt Gottes tiefes, heimliches Ja: »Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen« (Röm 8,28).
Dieses Ja verwandelt auch das Gesetz der Schuld und des Todes. Vergebung verschließt das quälende Gestern und öffnet das- Morgen, öffnet es für immer. Einer wurde gefragt, und der sagte ja zu uns —Jesus Christus.
Die begnadigte Gemeinde
- sagt zu Christi Wegen: Ja!
Ja, wir danken deinen Schmerzen;
ja, wir preisen deine Treu;
ja, wir dienen dir von Herzen;
ja, du machst einst alles neu.
Friedrich von Bodelschwingb

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
»Wovon lebt der Mensch«
Diese Frage klingt verschieden, je nachdem, ob eine Diätberaterin damit ihre ernährungswissenschaftlichen Empfehlungen einleitet oder ein Todeskandidat in der Krebsstation sie seinen Mitpatienten vorlegt Eben das tat Jefrem, der unheilbare Fall, in Solschenizyns Roman »Krebsstation« Nie hatte der kerngesunde, bärenstarke Kerl sich mit solchem »Tiefsinn« herumgeschlagen, er hatte über Ärzte und Medizin gelacht, das Leben in die eigenen Fauste genommen - bis die heimtückische Krankheit seine Zunge befiel, dann den Hals und sich nun unaufhaltsam in den Kopf-hineinbohrte. Jetzt steht die Frage im Raum Er braucht Antwort, die Hilfe der anderen, das Gespräch. - Aber es kommt sucht zustande Die Antworten greifen nicht, erreichen nicht die Frage, noch weniger den Menschen »Vor allem von der Luft, dann vom Wasser, dann vom Essen«, doziert einer. Früher hatte Jefrem genauso geantwortet, vielleicht mit dem Zusatz Vom Alkohol! - »Vom Arbeitslohn'«, ruft der Pfleger dazwischen »Von der Qualifikation«, heißt es aus einer Ecke »Von der Heimat«, sagt ein Sterbender, »da ist alles leichter.« Schließlich außen sich Rusanow, ein verdienter Parteifunktionär, der seine Einquartierung in diese Station als Skandal empfindet Seine Antwort kommt wie vorprogrammiert »Darüber kann doch kern Zweifel bestehen
.yoh der Ideologie und dengesellschaftlichen Interessen ... «

Wer als Christ dieses Kapitel lies dem schießt es durch den Kopf: Weiß denn keiner die richtige Antwort? Nur banales Geschwätz und ideologische Phrasen? Wie gut, daß wir es besser wissen! »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«, sagt Jesus, »sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht« (Mt 4,4; 5.Mose 8,3). Also: vom Gespräch mit Gott lebt der Mensch. —Ja, i wir Christen wissen es besser. - Aber reicht dies »Besser-wissen«, tut's die richtige Antwort? Meldet sich da nicht sofort der Ideologieverdacht? Ist das auch nur eine vorgestanzte Vokabel, heruntergeplappert, weil »indoktriniert?« - Leben wir davon? Bewährt sich das - auch auf der Krebsstation? Wir fragen: Wo liegt die Begründung? Und: Wie gestaltet sich von daher das Leben?
..»Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei..:«
»Pflegen Sie Ihr Kind optimal, baden Sie es täglich in Kleie, wickeln Sie es in keimfreie Windeln, füttern Sie es mit feinster Babykost, sparen Sie nicht an Creme und Vitaminen aber zeigen Sie ihm nicht Ihr Gesicht, versagen Sie ihm die Liebkosung Ihrer Hände, lassen Sie es nicht Ihre Stimme hören, nicht Ihre Augen sehen - dann werden Sie es garantiert vernichten!«
Es hat sich herumgesprochen, ist experimentell erhärtet: Ein Mensch lebt von der Zuwendung des anderen, nicht nur seelisch-geistig, auch biologisch-vital. Mensch ist nur, wem der andere das DU schenkt und ihn so zum ICH erweckt, und wer dem anderen das DU zurückgeben kann und so sein ICH entbindet. Wer das nicht erfährt, wird zurückgestoßen ins ES, .hineingebannt ins:

Dinghaft-Sächliche - und erstickt darin. So (Martin:Bu-ber hat es eindrücklich beschrieben) wird der Mensch »Person«, lebt vom Dialog zwischen ICH und DU. Das Gespräch ist ein Lebenselement. Dies ist das Geheimnis, das Wunder der Sprache: Sie baut die Brücke zum anderen. Wir betreten die Brücke - du und ich, wir transportieren nicht nur etwas auf ihr, sind nicht nur Informationsträger, wir bringen uns selbst, teilen von uns mit, verlassen uns, vertrauen uns an. Dieses Herüber und Hinüber auf der Brücke der Sprache heißt Leben. Sprache ist dabei weit zu fassen: nicht nur die Stimmbänder sind beteiligt, nicht nur Vokale und Konsonanten fügen sich zusammen. Alles nimmt die Sprache in Dienst - das Winken der Hand, das Zwinkern der Augen, Lachen und Weinen; beredt kann auch das Schweigen sein. Unser ganzer Leib ist Instrument der Sprache, wohlklingendes oder verstimmtes; auch was er gestaltet und gibt, beginnt zu reden: das Bild, der Blumenstrauß.
»Und Gott setzte den Menschen in den Garten
und sprach zu ihm...«
Menschliche Existenz ist »worthaft«. Warum ist das so? Anthropologische Beobachtungen, Erhebungen aus Psychologie oder Verhaltensforschung umschreiben das
- Geheimnis nur von außen, schließen sein Herz nicht auf. Der Schlüssel liegt hier: Gottes Geschöpf ist der Mensch, und das heißt: »Nicht der Mensch hat das Wort gemacht, sondern umgekehrt, das Wort hat den Menschen ins Leben gerufen« (Helmuth Schreiner). Die Tide der Sprache gründet in dem »Und Gott sprach«, in dem »Lasset uns

Menschen schaffen ein Gegenüber, das uns entspricht.« Gott wii mich als sein Du. Im Geheimnis  der Sprache meldet sich das Geheimnis Gottesebenbildlichkeit. Zu gleich wird dabei das Ziel unseres Sprechens, ja unseres ganzen Daseins durchsichtig: > ...daß du Gottes Namen ohne Unterlaß segnest, lobst und ehrst. Denn wozu anders ist die Zunge, Stimme, Sprache und der Mund geschaffen?« (Luther). Mensch-sein ist demnach Sprache-sein mit dem Ziel des Gotteslobs. Unser Gespräch miteinander - das zwischenmenschliche -ist dann im Grunde ein Dreiecksgespräch, geschieht über den Dritten, den Ersten. Nur »via Gott«, der mein Schöpfer ist und der des anderen, dem wir beide offenstehen, geschieht menschliche Kommunikation. »Kommunikation« müßte man übersetzen: Zwei haben Anteil an einem Dritten und so aneinander. Dann reicht das alltägliche Gespräch in den Raum des Betens hinein (schon das süddeutsche »Grüß' di Gott!« weist darauf hin).
»Da sprach die Schlange zum Weibe....«
Genau hier steht neben dem Wunder der Sprache ihre Verderbnis, ihre Perversion, die sie zur mörderischen Waffe macht. Streiche ich das »via Gott«, dann bricht die Klammer: Ich und Du fallen auseinander. »Entfremdete« stehen sich gegenüber, Konkurrenten. An die Stelle der Grundvokabel der »heiligen Sprache«, an den Platz des DU, tritt das stolze, sich selbst behauptende, herrische ICH. Da entartet Sprache zur Lüge, wird Heuchelei, Flucht vor helfendem Tun in verbale Vertröstung, ätzende Polemik, vergiftende Ironie, verletzende

opaganda, leeres Geschwätz. Die freundliche Geste d Fassade, im Lächeln versteckt sich Aggression, das '.bweigen ist Rückzug ins vermauerte Ich.
- Wir spüren den tödlichen Riß: Ist Leben Gespräch, edeutet Verstummen den Tod. Mit Eifer werden Repa-iturarbeiten an der Brücke in Angriff genommen (z.B. uppendynamische). Verräterische Beteuerungen und eschwörungen laufen um: das »echte« Gespräch, der hrliche« Dialog, die »ernsthafte« Bereitschaft zum Hö-
Diese Adjektive signalisieren die Krise, so wie der Id nur in einer Welt voller Lüge gebraucht wird.
Unsere menschliche Sprache steht im Zwielicht: der bglanz des göttlichen Schöpferwortes, des »Urworts« gt darauf und das irrlichternde Gleißen der Sünde, die amonie des Falls. Und wer will das eine vom anderen heiden - beim anderen und in sich selbst?
TUnd alsbald ward er von seinem Aussatz rein. und Jesus sprach zu ihm «
Die Bibel verkündet gute Nachricht, Wende der Si-ation Gott selbst nimmt in souveränem Entschluß, in reier, nicht hinterfragbarer, von uns her nicht begrund-arer Liebe das abgebrochene Gespräch wieder auf. Er bergreift den Graben unseres feindlichen Schweigens, Unseres brüllenden Lasterns, unseres stummen Desmter-bsses Er tut das nicht nur verbal, sondern so handelt er! Das Wort ward Fleisch« (Joh 1,14) Gott bricht das chweigen tathaft, personhaft, leibhaft Das ist Gottes Sprache Er gibt sich, wirft sich selbst als Brücke über den Riß Jesus Christus heißt dieses Wort Dieses Tatwört, dieses Person-wort Gottes setzt sich unserem mör4 denschen Nein-aus, laßt sich niederstimmen, totschreien - und wird doch wieder laut aus dem Grabe heraus: »Ich bin das Leben« (Job 11,25).
Und nun - seit Ostern und Pfingsten - übersetzt
dieses. eine Wort sich stets neu hinein in die Wörter und Fragen unserer Zeit und meines Lebens. Die Bibel ist das:
Instrument dazu, es klingt auf im Gespräch über eine Text, im Rat eines Mitchristen, in der Predigt am Sonn tag. Schuldspruch -und Freispruch ist dieses Wort, weckt aus dem Tode, weist neu ins Leben ein.
- Antwort sucht das Wort, möchte sie herauslocken,': will nicht Monolog bleiben, bittet - ums Gespräch »Furchte dich nicht, du bist mein« Ges 43,1), sagt es und möchte uns damit herausziehen aus der Todesstarre der Sprachlosigkeit. So wie der Skeptiker Thomas, der dann rief: »DU. Mein Herr und mein Gott!« (Job 20,28). -
- Wie kann dies neue »Zur Sprache-kommen« bei uns aussehen? Ich nenne als Beispiel ein Psalmwort, das mir selbst in der Auslegung eines Bruders einmal sehr gehoffen hat, lebendiges Wort wurde, »Lebensbrot«. Psalm 27,8: »Mein Herz hält dir vor dein Wort: Ihr sollt mein'
- Antlitz suchen! Damm suche ich auch, Herr, dein Antlitz.« Da ist einer am Ende mit sich selbst und seinem Glauben Vielleicht hat er sich ernsthaft vorgenommen, vielleicht auch Gott versprochen »Das geschieht bei mir nicht mehr. Hier fange ich neu an!« Aber aus der Umkehr wurde - zum wievielten Male schon? - der Rück fall. Sprachlos steht er nun vor seinem Versagen. Ihn: packt der Ekel vor sich selbst, wie eine Woge geht die.
- Scham über ihn hin. Verstecken will er sich - vor sich selbst, vor Gott. Gott anzuschauen, ihn wieder anzusprechen, das ist, unmöglich. Das wäre unanständig, ehrlos, skandalös... Da bricht Gott das Schweigen Ein unmißverständlicher Befehl »Du sollst mein Gesicht suchen
Jetzt Gerade jetzt' Bleib nicht bei deinen Scherben sitzen. Meditiere sie nicht, füg dir nicht noch weitere Wunden zu. Du sollst kommen, ich bin dein Arzt.« Wie solch ein »autoritärer« Befehl befreien kann; reinstes Evangelium ist er!
So wage ich es denn »Herr, ich habe kein Recht, und ich schäme mich entsetzlich. Aber nun nehme ich dein Wort wie einen Schild. Du hast befohlen, hast mir-das Hocken in meinen Trümmern nicht erlaubt Auf deine Verantwortung...« Wie einen Schild halte ich Gott dieses Wort vor, und es -deckt mich.. So 'fliehe ich vor Gott - zu Gott!
Wer, so kommt, findet den Vater, der schon lange wartend ausschaut. Der findet sich selbst neu - als Gottes Kind. Der entdeckt den anderen wieder - als Bruder und Schwester.
So kommt von Gott her das verdorbene Gespräch
grundsätzlich und je neu wieder in Gang - das vertikale wie das horizontale; ein Ende aber ist nicht vorgesehen.
Luther sagt »Wo also und mit wem Gott redet, es sei in Zorn oder in Gnäden, der ist gewiß unsterblich. Die Person Gottes und das Wort zeigen an, daß wir solche Kreaturen sind, mit denen Gott bis in Ewigkeit... reden will.«,

Leben Sie schon, oder sind Sie noch tot
Mit Blaulicht und Krankenwagen zur Kinderklinik. Dort ist im OP schon alles vorbereitet Höchste Eile ist geboten, um das Leben eines Neugeborenen zu retten Der Rhesus-Faktor im Blut von Vater und Mutter waren unterschiedlich Nun ist die gefährliche Unvertraglich-keitsreaktion eingetreten Im Körper des Babys ballen sich die Blutkörperchen zusammen, die tödliche Gelbsucht zeigt sich Da hilft nur eins Das zerstörte Blut wird völlig abgepumpt, gesundes Blut aus der Konserve infundiert
Völliger Blutaustausch - das ist in der Tat eine Ra-dikalkurl Doch unvergleichlich radikaler ist der Satz, den Jesus beim nächtlichen Zwiegespräch dem Nikodemus zumutet »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde « (Job 3,3) Neue Geburt, das ist mehr als ein paar Liter neues Blut, das zielt auf einen völlig neuen Lebensursprung, ein ganz neues Wesen Neue Geburt ist Austausch der ganzen Existenz
Im griechischen Grundtext steht wörtlich »anothen = geboren werden« Diese Vokabel hat einen seltsamen Doppelklang- Man kann übersetzen: »noch einmal (ein zweites Mal) geboren werden« So versteht es Nikode-
mus schüttelt fassungslos sein Gelehrtenhaupt Wie
sollt ich Greis noch einmal als Embryo in den Mutterschoß zurückkehren können. Verlockend ist die Melodie schon »Man mußte noch mal zwanzig sein!« Doch das ist unmöglich, unsinnig, absurd - Die Vokabel »anothen« kann aber auch bedeuten »von oben her - aus einer ganz anderen Wirklichkeit heraus - geboren werden.« So meint es Jesus zweifellos (vgl Job 3,3, 8,23, 19,11) Geburt aus Gott, Geburt senkrecht von oben - weniger ist nichts! »Was vom Fleisch (= von unten) geboren, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren, das ist Geist« (Job 3,6) Ist das nicht erst recht ein absurdes Wort? Wenn uns schon ein Rückspulen der Zeit, eine Rückkehr zu unserem biologischen Ursprung unmöglich ist, dann hegt doch eine Geburt aus Gottes Welt erst recht jenseits unserer Reichweite
Ja, Jesu Wort ist schonungslos scharf Es zersetzt alle Versuche, den neuen Menschen »von unten her« aus Menschenweisheit und Menschenwitz zu produzieren Es ist nichts mit der roten Fahne des Revolutionärs, nichts mit dem weißen Kittel des Genetikers, nichts mit der Couch des Psychiaters, nichts mit der transzendentalen Meditation und dem Mantramurnieln, nichts mit gruppendynamischen Muhen und Selbstfindung, nichts mit pädagogischer Arbeit an der Bewußtseinsverande-rung Man mag einen Esel streicheln oder prügeln - nie wird er Goldstucke ausspucken Was vom Fleisch geboren ist, ist und bleibt Fleisch Doch zugleich ist Jesu Wort voll von grenzenlosem Erbarmen Das uns völlig Undenkbare - Er will es tun Den neuen Ursprung, Leben von Gottes Leben - Er will es in uns schaffen Eben dazu wurde doch das Wort »Fleisch« (Job 1,14) Nun soll das »Fleisch« an Gottes Art Anteil bekommen Kinder Gottes sollen wir werden. »Was vom Geist geboren ist, das ist Geist.« Wir merken Wenn wir das uns so geläufige Wort »Wieder-geburt« nachbuchstabieren, dann gilt es aufzupassen Das »Wieder« hat rein gar nichts zu..

© Copyright 1991 by Hänssler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart
Das vorliegende Buch ist die überarbeitete und erweiterte Neuauflage
von »... und der sagte ja« (erschienen 1979 im Hänssler-Verlag)

Der Richterstuhl des Christus, Albert von der Kammer

04/15/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Der Richterstuhl Christi (2. Kor. 5, 10)

Manche Kinder Gottes, die es ernst in ihrem Wandel nehmen, sind in Zweifel und Sorge darüber, was ihnen der Richterstuhl Christi bringen wird, und andere, die mit Ernst an den Richterstuhl denken sollten, gehen gleichgültig daran vorüber.
Diese kleine Betrachtung möchte beiden Gruppen dienen, aber doch besonders denen zu helfen suchen, die sich »beeifern, Ihm wohlgefällig zu sein« (2. Kor. 5, 9), aber, über ihre Mangelhaftigkeit und ihr Zukurzkommen unglücklich, mit Furcht und Sorge an den Richterstuhl Christi denken. Im Glauben erfaßten sie einst das Wort des Herrn: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben übergegangen« (Joh. 5, 24), und ihre Seele ruhte voll Freude in der Zuverlässigkeit Seines Wortes. 

Dann aber lasen sie: Wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, auf daß ein jeder empfange, was er in dem Leib getan, je nachdem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses« (2. Kor. 5, 10), und Fuecht und Zweifel beschlich ihr Herz, ob nicht doch noch einmal die Frage ihrer Sünden auf gerollt und sie von dem Richter »zur Linken« gestellt werden könnten.
Solche Gedanken kommen aus der falschen Annahme daß an einem bestimmten Tag der Richterstuhl Christi aufgerichtet und alle Menschen, gläubig und ungläubig, durch das Sieb einer peinlich Untersuchung hindurchgehen müssen, um dann zu erfahren, ob man selig wird, oder verloren geht.
Wohl werden alle Menschen einmal vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, und es mag deshalb so erscheinen, als widerspräche dies dem Wort des Herrn, daß der Gläubige nicht ins Gericht komme.

Aber auch betreffs dieses scheinbaren Widerspruchs dürfen wir mit voller Gewißheit sagen: »Die Schrift kann nicht gebrochen werden« (Joh. 10, 35). Vielleicht sagt jemand, wenn alle Menschen vor den Richterstuhl Christi kornmen, so ist doch klar, daß alle, Gläubige und Ungläubige, gleichzeitig vor dem Richterstuhl Christi stehen werden?! Durchaus nicht! Niemals werden Gläubige mit Ungläubigen zugleich vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden. Die oft vertretene Meinung, daß der Richterstuhl Christi ein allgemeines Gericht bedeute, vor dem alle Menschen zugleich versammelt werden, hat keine Begründung in der Schrift. Der »Richterstuhl« Christi ist ein sehr weitgehender Begriff, der mehr umfaßt als eine einmalige Handlung. In diesem
Ausdruck »Richterstuhl des Christus« ist jede Richterhandlung des Herrn einbegriffen, die der Herr über Personen oder Werke vollziehen wird. Der Richterstuhl Christi ist sowohl der »Thron der Herrlichkeit« (Matth. 25, 31), vor dem alle Nationen versammelt werden, als auch der »große weiße Thron« (Offenb. 20, 11), vor dem die unerretteten Toten stehen werden. In dem Hinweis auf den Richterstuhl Christi, vor dem alle offenbar werden müssen, bringt der Apostel den göttlichen Grundsatz zum Ausdruck, den wir schon im Alten Testament (Pred. 12, 14) finden, daß

»Gott jedes Werk, es sei gut oder böse, in das Gericht über alles Verborgene bringen wird«.
Aber, könnte jemand sagen, sind die Ungläubigen eingeschlossen in das Wörtchen »alle« in 2. Kor. 5, 10? Ohne Zweifel. Wir brauchen nur den folgenden 11. Vers zu lesen: »Da wir nun den Schrecken des Herrn kennen, so überreden wir die Menschen«. Warum sollte der Apostel die Menschen überreden, wenn • sie nichts mit dem Richterstuhl Christi zu tun haben?
Er sieht (und ich folge z.T. den Ausführungen eines anderen) den Ernst, das Furchtbare des Augenblicks, wenn ein Mensch vor dem Richterstuhl Christi offenbar wird. Mit tiefem Ernst denkt er an den Unbekehrten, wenn dieser in seinen Sünden vor dem Richter zu erscheinen hat. Er zittert, aber er zittert nicht für sich. Er ist erschrocken, aber der Schrecken des Herrn berührt nicht ihn selbst. Dadurch daß der Herr das Gericht für ihn erduldet und entfernt hat, ist das Gericht mit seinen Schrecken für ihn weggenommen. Aber für den Ungläubigen ist das Offen
barwerden vor dem Richterstuhl Christi eine Stunde der Furcht und des Schreckens.
Von der Liebe Christi gedrängt, überredet der Apostel deshalb die Menschen, dem Gericht zu entfliehen. So zeigt uns dieser 11. Vers, daß er sowohl an Gläubige als auch Ungläubige denkt. Keineswegs aber wird uns damit gesagt, daß dieses Offen-barwerden der Gläubigen und der Ungläubigen gleichzeitig geschieht.
Laßt uns nun ein wenig näher auf einige Stellen der Schrift eingehen, die auf den Richterstuhl Christi Bezug haben:
In 2. Tim. 4, 1 lesen wir: »Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Christus Jesus, der da richten wird Lebendige und Tote, und bei Seiner Erscheinung und Seinem Reich«. Hier wird uns gesagt, daß der Herr Jesus richten wird 1. Lebendige und 2. Tote. Über das Gericht der Lebendigen wird uns in Matth. 25 berichtet, und über das Gericht der Toten finden wir Näheres in Offb. 20. Laßt uns diese beiden Stellen aufmerk-samlesen! Zunächst Matth. 25, 31-46.

Kammer, Albert von der: Der Richterstuhl des Christus / A. v,d. Kammer. - Dillenburg Christl.-Verl.-Ges., 1989 ISBN 3-921292-83-2
© Copyright 1989 Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg Überarbeitung: Dieter Boddenberg, Mettmann Umschlaggestaltung: Eberhard Platte, Wuppertal Druck: Druckhaus Gummersbach
Printed in West-Germany

Typisch evangelisch, Siegfried Kettling

04/03/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Dieses Buch ist mit Dank zwei Vätern und Brüdern in Christus gewidmet. Kurt Heimbucher hat als Gnadauer Präses und „lutherischer Pietist" evangelische Freude beispielhaft gelebt, hat die Verbindung zwischen Reformation und Gemeinschaftsbewegung anschaulich verkörpert und immer wieder zur theologischen Arbeit daran gemahnt. Nur so bekam man nach seiner Überzeugung „Eisen ins Blut". Die hier gesammelten Aufsätze sind Frucht dieser Ermutigung, sind im „Gnadauer Kontext" erwachsen und möchten den empfangenen Impuls weitergeben. Gleichzeitig sind sie ein dankbarer Gruß an Paul Deitenbeck, den Ursauerländer mit dem weiten, für Jesus brennenden Herzen, den „Bischof' unter den Pietisten. Sein Name hat schon in meine Kindheit geleuchtet, sein Mutmachen mich jahrzehntelang begleitet. 

Auf einer Tagung mit Predigern des Evangeliums faßte er das, was ihm sein Glaube ganz persönlich bedeute, „typisch evangelisch" in die reformatorische Formel: „Facultas standi extra mc in Christo", „die Ermächtigung außerhalb meiner selbst Position zu fassen, nämlich in Christus". Unterweissach Pfingsten 1992 Siegfried Kettling 

ERSTES KAPITEL Die Rechtfertigung des Gottlosen Einleitung In seinem großen Galaterkommentar' von 1531 (,‚in gewisser Hinsicht ... ein theologisches Testament", Iwand2) berichtet Luther gleich zweimal von dem Eremiten Arsenius3, der überall in dem Ruf stand, ein besonders geheiligtes Leben zu führen, und seinen Zeitgenossen als leuchtendes Vorbild galt. „Kurz bevor er starb, stand er traurig und unbewegt drei Tage mit zum Himmel gerichteten Augen. Gefragt, warum er das mache, sagte er, erfürchte den Tod. Als die Schüler ihn trösteten, es gäbe keinen Grund, warum er den Tod fürchten müßte, da er völlig heilig gelebt habe, antwortete er: Ich habe zwar heilig gelebt und die Gebote Gottes gehalten, aber es sind die Gerichte Gottes bei weitem anders als der Menschen Gerichte. - 

Und so verlor er das Vertrauen in alle seine guten Werke und Verdienste, und wenn er nicht durch die Verheißung Christi aufgerichtet worden ist, ist er verzweifelt. Daher, das Gesetz kann nichts anderes bewirken, als uns nackt und als Schuldner hinzustellen; da ist dann nicht Rat noch Hilfe, sondern alles ist verloren" (S. 99 f). „Si salvus, hat er kriechen müssen ad Christum mortuum" (Wenn er doch gerettet wurde, so hat er zum für uns gestorbenen Christus kriechen müssen). Worauf kann ich sterben? Was macht mich getrost und gewiß, wenn ich vor Gottes Gericht gefordert werde? Denn wer ich bin und wie es um mich steht, das kommt allein im Urteil Gottes heraus, nirgends sonst! Indem Luther so nach dem Sterbetrost fragt, fragt er in Wahrheit nach dem Lebensmut. Denn was sich im Sterben als feuerfest erweist, lohnt als Basis für das Leben. Was jedoch im Tod nicht standhält, taugt auch im Leben nicht. Fragt man Luther nach dem Fundament seines Lebensmuts und seiner Lebensfreude, dann hat er nur eine Antwort:   „Gott macht den Gottlosen gerecht!” 

Diese „justificatio impii" ist „der erste und Hauptartikel": „Von diesem Artikel kann man nicht weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erde oder was nicht bleiben will. "4 Die Rechtfertigung des Gottlosen als Basis unserer Existenz - das ist unser Thema. Wir wollen zunächst fragen, was es heißt, ein Gottloser zu sein, und dann, was es bedeutet, daß Gott solche Gottlosen gerecht macht.   

1. Der gottlose Mensch (Gesetz und Sünde) 

1.Geist wider Fleisch (Gesetz und gefallener Mensch) Ich las von einemJungen, der alles, was er fand, in seine Hosentasche steckte, so auch eines Tages einen merkwürdigen weißen Steinbrocken, den er auf einer Baustelle entdeckte. Anschließend watet er mit seinen Freunden in den nahen Dorfteich. 

Plötzlich beginnt er mörderisch zu schreien: „Es brennt, es brennt! Mein Bein brennt!" Die Kameraden halten ihn für verrückt: Wie kann es mitten im kühlen Wasser brennen? Doch der Kleine setzt sein verzweifeltes Geschrei fort: „Hilfe, mein Bein brennt!" Tatsächlich zeigt sich dann am Oberschenkel eine so tiefe Brandwunde, daß sofort ärztliche Hilfe nötig ist. Bei dem seltsamen Steinbrocken handelte es sich um gebrannten, ungelöschten Kalk. Wir wissen: Wenn solcher ungelöschter Kalk mit Wasser in Berührung kommt, setzt ein intensiver chemischer Prozeß ein, der von Zischen und Sieden und mächtiger Wärmeentwicklung begleitet ist. Das mag ein schwaches Bild sein für das, was geschieht, wenn Gottes Gesetz mit dem gefallenen, Gott entfremdeten Menschen in Kontakt kommt, wenn „Geist" auf,, Fleisch" stößt. Gottes Gesetz, das ist die Summe des guten göttlichen Willens, der auf Leben aus ist (Röm 7,10 „zum Leben gegeben"). 

Es ist - wie Paulus sagt -„heilig, gerecht und gut" (Röm 7,12), ja „geistlich" ('i). Es trägt also Gottes Art an sich, kommt von ihm, ist sein heilsames Gebot, seine helfende Weisung (Tora). Aber dieses göttliche Gesetz stößt nun auf den Sünder, auf den von Gott abgesonderten Menschen. „Fleisch" ist dieser Mensch (Röm 7,18). „Fleisch" - das hat nichts mit Biologie zu tun und dem Metzgerladen, auch nichts mit der idealistischen Unterscheidung zwischen dem Materiell-Triebhaften und dem Vernünftig-Geistigen im Menschen. „Fleisch" meint nicht etwas, eine niedere Schicht im Menschen, sondern ist ein Ganzheitsurteil: „Fleisch" ist der Mensch in seinem Widerstand gegen Gott, in seinemWahn, wie Gott sein zu wollen. Dieses „Fleisch-Sein" des Menschen äußert sich in doppelter Weise: als Selbst-Sucht und als Welt-Sucht. Beide Dimensionen hat Luther sehr plastisch beschrieben.   

2. „Selbst-Sucht"(Eingekrümmt-Sein in sich selbst) 

Von Gott her - auf Gott hin, das ist die schöpfungsmäßige Bestimmung des Menschen. Aber eben dagegen rebelliert der Sünder. Er will selber Herr sein; seine Sünde ist „Selbstherr-lich-keit". Er will kein (Ober-)Haupt über sich dulden; seine Sünde ist „Selbst-be-haupt-ung". Luther sagt: Er ist „incurvatus in se ipsum", ist in sich selbst „eingekurvt" und eingekrümmt, dreht sich wie ein Karussell stets um die eigene Achse, wobei ständig ein schrilles „Ich - Meiner - Mir - Mich" ertönt als Ausdruck der Anmaßung, daß alles und alle, die ganze Welt und selbst Gott um ihn rotieren sollten. Dieser „in sich eingekurvte" Mensch gleicht - in einem anderen Bild - einem Menschen im Boot, der nur auf einer Seite das Ruder zu betätigen vermag. Auch der größte Eifer, die stärkste Anstrengung bringen ihn nicht vom Fleck; er rotiert unablässig um sich selbst. Als „Mittelpunktshaltung" hat derTheologeW. Elert diese Selbst-Sucht charakterisiert. Auf sich selbst ist dieser „Süchtige" fixiert: Er kann nicht wollen, daß Gott GOTTsei (Luther). 

3. „Welt-Sucht"
(„Festhängen im Geschaffenen")
Von Gott getrennt, ist dieser Mensch zugleich von Gottes Schöpfung entfremdet. Der „Ichverkrümmte" empfindet das als tiefe Leere, erfährt sich als Vakuum, spürt einen wilden Durst, eine heiße Gier: alles möchte er in sich hineinsau-gen, alles in sich hineinfressen, und bleibt doch durstig. Es geht ihm wie einem Schiffbrüchigen, der seinen Durst mit Meerwasser zu stillen sucht und ihn dadurch schier zum Wahnsinn steigert. Süchtig ist dieser Mensch; zur Selbst-Sucht (,‚incurvatus") kommt die Welt-Sucht, das gierige Haben-, Ergreifen-, Besitzen-Wollen. Er beginnt, die Welt zu verzehren, ohne doch satt zu werden.
Gestalten aus Geschichte und Dichtung lassen die verschiedenen Ausrichtungen, die Betätigungsfelder dieser Gier modellhaft erfassen (Kierkegaard): Im Don Giovanni ist der sexuelle Trieb verdichtet: Allein in Spanien hat er „mille e tre" (1003) Frauen als Objekte seiner Sucht benutzt und ist doch keiner wahrhaft begegnet. Der sexuelleVirtuose ist in wahrer Liebe impotent!
Im Modell Faust giert der Mensch nach Wissen, begehrt zu erkennen, „was dieWelt im Innersten zusammenhält", und bleibt ein „armer Tor".
Im Modell Nero will er sich an der Macht berauschen, zündet Rom an, um Stoff für ein Gedicht zu finden, und stirbt mit leeren Händen.
Die Gier nach Geld schließlich, die banalste und doch so dämonisch mächtige, hat kein großes Modell hervorgebracht. Neben dem König Midas, dem alles zu Gold wird, was er berührt, so daß er nicht einmal mehr Nahrung findet, steht allenfalls ein Comic-Star: Donald Ducks geiziger Onkel Dagobert!
Im Haben und Besitzen will dieser leere Mensch sich stillen und wird stets Gefangener seines Verlangens. Die Mächte, deren er sich bedienen möchte, spielen sich als Diktatoren auf, die ihn versklaven. Sex und Wissen, Macht und Geld, Alkohol und LSD, - nicht er hat sie, sie haben ihn. Luther spricht vom „haerere in creaturis ", vom »Festhängen im Ge-
schaffenen": Der Mensch, der das Geschaffene vergötzt, von ihm Heil, Erlösung, Freiheit erwartet, wird zum Sklaven der Dämonen, hängt im Geschaffenen fest wie ein Insekt im Spinnennetz.
„Incurvatum esse in se", rotieren ums eigene Ich, und „haerere in creaturis", der geschaffenen Welt verfallen sein, mit diesen beiden sehr plastischen Aussagen hat Luther die Wirklichkeit „Fleisch" beschrieben: süchtig ist der Mensch; Selbst-und Welt-Sucht haben ihn gefangen, machen ihn zum Besessenen.
4. Die eine Sünde - drei Variationen
Auf diesen „fleischlichen" Menschen stößt Gottes geistliches Gesetz - wie das Wasser auf den ungelöschten Kalk. Jetzt beginnt ein Prozeß von ungeheurer Dynamik, ein Brodeln, Zischen, Sieden: Sünde, nichts als Sünde treibt und gärt da. „Die Kraft der Sünde" (der chemische Katalysator) „ist das Gesetz" (iKor 55,56).
Was will dieses heilige Gesetz? Alle Forderungen lassen sich bündeln im ersten Gebot: Es gilt Gott über alle Dinge zu fürchten, Gott zu lieben, Gott zu vertrauen. Gott will die Mitte sein, allein an ihm soll der Mensch hängen. Gott will beim Menschen wahrhaft GOTT werden! Das geistliche Gesetz fordert also Geistliches, das, was Gott ehrt, Ihn groß macht. Aber eben dies Geistliche kann und will das „Fleisch" nicht produzieren (so wie man einen Esel weder durch Prügeln noch durch Streicheln dazu bringen kann, Goldstücke zu spucken; das ist bei ihm „nicht drin"!). „Vom Fleisch wollt' nicht heraus der Geist, vom G'setz erfordert allermeist", so hat Luthers Mitstreiter Paul Speratus höchst präzis formuliert (EKG 242,2). Das heilige Gesetz Gottes versetzt das Fleisch in Aufruhr: die bisher schwelende Rebellion wird ans Tageslicht gefördert, die Inkubationszeit der Krankheit kommt abrupt zum Ende, jetzt bricht sie voll aus, jetzt erreicht die Sünde Siedetemperatur, zeigt ganz ihr Gesicht (,‚auf daß die Sünde recht als Sünde erscheine", wörtlich „damit sie zum Phänomen werde", Röm 7,13).

Allerdings kann diese Rebellion gegen Gott ganz unterschiedliche Strategien anwenden, kann die eine Krankheit ganz verschiedene Symptome hervorbringen. Drei Variationen der Sünde, dreiTypen, drei Modelle möchte ich aufzeigen, das eine Gesicht der Sünde in drei Masken.
a) „Modell Zöllner Zachäus"
Fragt man den erfolgreichen Zolldirektor, wie er zu seiner prächtigen Villa und dem gefüllten Safe kam, so wird er grinsend sein „todsicheres (!) Erfolgsrezept" präsentieren: „Seit ich endlich das völlig antiquierte Gebot ‚Du sollst nicht stehlen!' zum alten Eisen warf; häuft sich bei mir das Gold-"
Die Weisung Gottes war diesem ich- und weltsüchtigen Mann ein lästiger Zaun; mutwillig setzte er darüber hinweg. Sünde erscheint hier in der uns wohl geläufigsten Gestalt - als Übertretung. Das ist der eineTrick Satans: Er schildert uns das von Gott umfriedete Gelände innerhalb des Zaunes als stickiges Gefängnis, malt uns jenseits der Begrenzung den Traum der großen Freiheit: „Da bist du wer, da hast du was!" „Nicht ehebrechen!?", so höhnt er, „weg mit dieser bürgerlichen Moral! Gebote Gottes? Nichts als Freudenverbote sind sie! Brich durch, steig hinüber; das Leben wartet auf dich!"
„Modell Zachäus" - Sünde als Übertretung, Sünde als ChorMut!
b) „Modell Pharisäer Saulus"
Voller Stolz steht der hochbegabte junge Theologe, der fromme Eiferer vor uns, die Zierde seiner Generation! Wie der reiche Jüngling spricht er: „Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend an. Pfui den Übertretern, die Gottes Tora als Zaun ansehen, wehe ihnen! Nicht Zaun ist Gottes Weisung; man muß sie nur um 90 Grad nach oben drehen, und aus dem Zaun wird die Leiter zum Himmelreich."
12
Imponierend, wie hoch der Mann schon geklettert ist (vgl. Phil 3,4ff.)! Doch dieser Eiferer meint im Tiefsten nicht Gott, um sich selbst eifert er. Später wird er die „eigene Gerechtigkeit", das „Sich-Rühmen" vor Gott, scharf verurteilen. Es ist die andere List des Satans, dem Menschen, dem alten Adam „erbaulich" zu kommen, ihm einzureden, durch die eigene Leistung könne er sich vor Gott aufbauen, könne sich vor Gott Ansprüche, Verdienste erwerben. Als Engel des Lichts erscheint der Satan hier, äfft Gottes Stimme nach, empfiehlt dringend Gottes Gebote, appelliert an den „frommen Gernegroß", der aus sich etwas machen möchte. Doch die vermeintliche Himmelsleiter ist nur ein neuer babylonischer Turm! Spüren wir, wie bei dieser selbstherrlichen „Erfüllung" der Gebote gerade das erste Gebot, das „Soli Dco Gloria", radikal verneint wird?
„Modell Saulus" - Sünde als selbstherrliche Erfüllung, als Hochmut!
Luther beurteilt dieses Modell so:
„Das Gesetz ... kann nur im Geist erfüllt werden. Aus den Gesetzeswerken die Rechtfertigung suchen, heißt die Glaubensgerechtigkeit verleugnen ... DieWerkhei-ligen ... verfehlen sich gegen das erste, zweite und dritte Gebot und gegen das ganze Gesetz ... Darum handeln sie gerade darin, daß sie das Gesetz halten, am allermeisten gegen das Gesetz" (Gal, S. 153).
c) „Modell Mönch Luther"
Der vonWachen, Fasten, Geißelhieben, unerbittlicher Selbsterforschung Gezeichnete sieht fastjenem büßenden Fürsten von Anhalt ähnlich, der ihm als Schüler in Magdeburg so mächtig imponiert hatte, „der in der Barfüßerkappe auf der Breiten Straße nach Brot ging und den Sack trug wie ein Esel; er hatte so sehr gefastet und sich kasteit, daß er aussah wie der Tod, lauter Bein und Haut ... Wer ihn ansah, der schmatzte vor Andacht. "5
Warum diese Selbstquälerei? Dem Mönch erscheint das Gesetz als steil aufragende, ja überhängende und zudem völlig vereiste Felswand. Hinauf muß er, muß die „vollkommene Reue" (contritio cordis) in sich erzeugen, den ganzen Gehorsam, gerade gegenüber dem i. Gebot! Aber der Absturz ist eine tägliche Erfahrung. Verzweifelnd ruft er: Ich muß hinauf, aber ich kann es nicht! Gott soll ich lieben, aber ich beginne, ihn zu hassen wie einen sadistischen Sklavenhalter. Das ist der dritteTrick des Satans: Er isoliert das Gesetz Gottes von der Gnade, will den Menschen in das Dunkel der Depression treiben, ja bis zum Selbstmord (Judas!): „Sage Gott ab und stirb!"

„Modell Luther" - Sünde als Verzwefiung, als GotteshaJi.
Der Zöllner, der Pharisäer, der Mönch! Auf den ersten Blick möchte man nicht glauben, daß diese so gegensätzlichen Figuren nur drei Variationen des einenThemas sind: Sünde als Selbst-Sucht und Welt-Sucht.
Doch dies ist allen gemeinsam: Sie wollen ihr Leben selbst in den Griff nehmen, aus sich selbst etwas machen, wollen vom Werk her ihre Person qualifizieren. So unterschiedlich auch die Wege erscheinen - offene Rebellion (Zachäus), Werkheiligkeit und Stolz (Saulus), Gotteshaß und Verzweiflung (Luther) - gemeinsam ist das Motiv, gemeinsam das letzte Ziel, das ICH!
Begegnet Gottes geistliches Gesetz dem fleischlichen Menschen, dann kommt nichts als Sünde heraus. Luther hat später über diesen Selbermacher Mensch, der sich an Gottes Gesetz vergreift, scharf geurteilt: „Wie es lästerlich ist zu sagen, daß einer selbst sein eigener Gott sei, sein Schöpfer oder Erzeuger, so ist es auch lästerlich, gerecht zu werden durch seine eigenenWerke. "
. Rettung für den Gottlosen?
„Eingekrümmt-Sein in sich selbst", „Festhängen im Geschaffenen", „Mittelpunktshaltung", „Weltverfallenheit", Gotteslästerung, - mit all dem haben wir versucht, dasWort „der Gottlose" (das eine Leitwort unseres Themas!) zu umschreiben.
Nach all dem bedeutet „gott-los" mehr als ein bloßes Defizit. Sagen wir „ein Mittel-loser", „ein Fried-loser", „ein Hoffnungs-loser", „ein Freud-loser", dann bezeichnet das Wörtchen „los", diese negative Nachsilbe, stets einen Hohlraum, der nach Ausfüllung verlangt, einen schmerzhaften Mangel, dessen Beseitigung heiß ersehnt wird. Welcher Hoffnungslose möchte nicht Hoffnung finden? Was wünscht sich ein Freudloser mehr als Freude? Aber der Gottlose ist der aktive Feind Gottes; Gottlosigkeit bedeutet Widerstand gegen Gott: Der Sünder haßt Gott, statt ihn zu lieben, er verachtet Gott, statt ihn zu fürchten, er reckt sich hochmütig empor oder verkrampft sich verzweifelt, statt Gott zu vertrauen. Der „Gott-lose" (lat. „impius", griech. „asebes") ist der, dessen Leben (bewußt oder unbewußt) im leidenschaftlichen Nein gegen Gott gipfelt.(7)
Unsere Frage heißt nun: Wie kann diesem Gottlosen geholfen werden? Gibt es Rettung für ihn, Rettung für uns alle, die wir ausnahmslos hier oder dort in den drei Typen der Sünde eingefangen sind?
Eins ist deutlich: Vom Gesetz kann die Rettung nicht kommen. Wohl ist es in der Konfrontation mit der dunklen Macht „Fleisch" Gottes Gesetz geblieben, heilig, gerecht und gut. Aber es ist seinem eigentlichenWollen, seiner Intention, Heil, Leben zu schaffen, entfremdet. Denn wo es mit seinem kompromißlosen „Du sollst!" auf den selbst-und welt-süchtigen Menschen trifft, entsteht nichts als Sünde. Nun ist das Gesetz Ankläger, Richter, Henker geworden: „Der Buchstabe tötet" (aKor 3,6). DiesesTöten ist nun der dunkle Glanz des Gesetzes Es vermag Gottes heiliges Nein zur Sünde zu demonstrieren, beweist, daß Gott sich nicht spotten läßt. Es erstrahlt in der blutigen Herrlichkeit des unerbittlichen Richters. Aber Heilsweg ist es in kei-nerWeise: Leben, Rettung, Neuanfang kann es nicht bewirken. Wie soll da Rettung möglich sein? Da müßte Gott schon ganz neu einsetzen, das ganze System aus den Angeln heben. Und dieser Neueinsatz müßte auf einer ganz neuen Ebene geschehen, außerhalb des Gesetzes, besser: oberhalb. Daß Gott eben dies tat, ist der Inhalt des Evangeliums. In Röm 3,21 begrüßt Paulus voller Jubel den Sonnenaufgang ber dem Todesdunkel, das Juden und Heiden, alle Menschen ohne Ausnahme, einhüllte: „Nun, jetzt ist - abgesehen vom Gesetz - die Gerechtigkeit Gottes offenbart." Gerechtigkeit Gottes, diese zwei Worte umschreiben die „süße Wundertat": Gott macht den Gottlosen gerecht!

II. Christus -unsere Gerechtigkeit
Gerechtigkeit Gottes, was bedeutet das? Hier wäre ausführlich von Luthers reformatorischem Durchbruch zu berichten, von seinem »Turmerlebnis". Es wäre zu entfalten, wie er durch dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes" aus der Hölle ins Paradies versetzt wurde. Wie er Gottes Gerechtigkeit zunächst als fordernde, strafende, verurteilende Instanz betrachtet hatte („fustitia distributiva '9, wie er dann entdeckte: Es geht hier um Gottes schenkende Barmherzigkeit, um seine den Sündengraben übergreifende Bundestreue. Nicht um Leistungsgerechtigkeit geht es, die ich vorweisen muß (‚justitia activa"), sondern um Gnadengerechtigkeit, die ich ganz „passiv" empfange („justitiapassiva'o).
i. ER—für uns
Doch wir wollen uns an Luthers Grundregel halten: „Die wahre christliche Theologie fängt ... an ... mit Christus" (S. 37).9
Denn Gottes Gerechtigkeit ist nicht etwas, eine Eigenschaft, ein Vorgang, eine Tat; sie ist Jesus Christusselbst: „Er
ist uns gemacht zur Gerechtigkeit" (i Kor 1,30). -
„Der im Glauben ergriffene und im Herzen wohnende Christus ist die christliche Gerechtigkeit, derentwillen Gott uns als gerecht betrachtet und das ewige Leben schenkt" (5. o).
Dies hat Luther in seinem Galaterkommentar (153 r) gewaltig bezeugt. Einige Aussagen daraus wollen wir im Folgenden bedenken. Da heißt es:
Er ist „der größte Räuber, Mörder, Ehebrecher, Dieb, Tempelschänder, Lästerer..., der durch keinenVerbre-cher in derWeltje übertroffen wird" (S. 168).
Wen meint Luther? Kaiser KariV, der ihn ächtete, ihn aus der menschlichen Gemeinschaft ausstieß? Papst Leo X., der ihn durch seinen Bannfluch aus der Christenheit exkommunizieren wollte? Sich selbst, „den verlorenen und verdammten Sünder", den „stinkenden Madensack"?Von wem redet er? Er spricht von Jesus Christus! Er ist der größte Räuber, Mörder, Ehebrecher ... Klingt das nicht wie Gottesläste-rung?Ja, wenn Luther das erfunden hätte, aber er spricht es ja nur dem Apostel Paulus nach. Ja, wenn Paulus dies aus sich produziert hätte, aber er zeichnetja nur nach, was Gott, Gott selbst, getan hat: „Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht" (aKor 5,21).
Für sich genommen ist Jesus freilich der Reine, der Unschuldige, der von aller Sünde Geschiedene, ganz mit demVater Verbundene. Aber das ist gerade dasWunder der göttlichen Liebe: Gott will nicht „für sich genommen" werden; der Immanu-El will er sein, der Gott für uns und mit uns. Das ist gerade das Wunder der Menschwerdung: Der ewige Sohn will nicht für sich selbst bleiben (hält seine Gottheit nicht fest wie ein Raubtier seine Beute, Phil 2); zu uns drängt es ihn, für uns „schüttet er sich aus". Weil von Gott her dies Ungeheure geschehen ist, darum wagen Paulus und Luther das Ungeheure auszusprechen: „Christus aber hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, indem er für uns ein (von Gott) Verfluchter wurde" (Gal 3,13). „Für uns!" Luther betont leidenschaftlich:
„Der ganze Nachdruck liegt auf dem Wörtchen ‚für uns" (5. 168). „Die ganze Gewalt liegt darin; daß einer die Pronomina gut auf sich bezieht" (5. 40).
Im Wort steckt's, daß wir es ja wortwörtlich nehmen, das kleine Fürwort „Für dich"!
Alles ist verloren, wenn wir an dieser Stelle „Christum von den Sünden und den Sündern scheiden" (5. 169), ihn etwa alsVorbild anpreisen, dis wir nachbilden sollen. Das stürzt uns nur wieder in den tödlichen Strudel derWerkerei. Hier haben wir uns dem zu beugen, dürfen uns dem überlassen,

@Brunnen ISBN 3765595373

Allein mit dem Meister, Jakob Kroeker

03/19/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

»Ruhet ein wenig!«

Da sprach Er zu ihnen: Kommt, lasst uns allein in eine menschenleere Gegend gehen; da ruhet ein wenig! Markus 6,31
Wer Menschen mit Ewigem dienen will, muss von Gott aus zum Menschen kommen. Darin liegt das Geheimnis der Jüngerschaft und des Aposteldienstes. Das Ziel in der Führung des Nächsten muss der Ausgang der Sendung sein, d. h. zu dem hinführen, von dem man
gesandt worden ist. Jesus konnte Menschen zum Vater bringen, weil Er vom Vater kam. Seine Erlösung blieb nicht stecken bei Tempel, Priester und Opferkultus. Er kam von weit höher, daher wies auch sein Dienst mit dem damit verbundenen Heil weit darüber hinaus. Die Menschen priesen Gott, wenn sie Ihn wirken sahen. Sein Himmelreich war Heil für den Menschen auf allen Gebieten des Lebens, aufgrund gegenwärtiger Gottesherrschaft.


In diesen Geist seiner persönlichen Sendung suchte Jesus auch seine berufenen Jünger hineinzuziehen. Er wusste, dass das entscheidend für ihr Leben und ihren Apostelberuf sein würde. Wenn durch sie fortleben sollte, was Ihm vom Vater zum Heil der Welt geworden war, so musste ihre Botschaft aus demselben Geiste fließen, aus dem sein Evangelium an die Welt
floss. Vollmachten, von denen sein Handeln getragen wurde, mussten auch das Geheimnis der Kraft in dem Dienste der Jünger werden. Wie des Vaters Sendung hinter seinem Messiasberuf stand, sollte seine Person das Programm ihrer Jüngerbotschaft sein. 

Nicht etwa rein äußerlich fortsetzen, sondern dem Geiste nach durch das Leben fortführen sollten die Jünger, was ihr Meister als Heiland der Welt vom Vater brachte. Daher war später auch Paulus nicht der Zweite nach Jesus, sondern der Erste in Christo. Diese Sehnsucht bestimmte Jesus, mit seinen Jüngern so oft allein zu sein. Er kannte die Gefahr, die
auch mit dem höchsten und heiligsten Dienst verbunden sein kann. Daher sprach Er auch diesmal zu seinen Jüngern: »Kommt … und ruhet ein wenig!«
Denn soeben waren die Zwölfe mit tiefen Eindrücken von ihrer Mission zurückgekehrt. Ausgerüstet mit weitestgehenden Vollmachten (Mark. 6,7) hatte Er sie zu zwei und zwei unter das leidende Volk gesandt. Ihr Dienst unter Besessenen und Kranken war nicht vergeblich gewesen, ihr Wort an Mühselige und Beladene nicht ohne Frucht geblieben. Nun war ihre
Seele voll von dem, was sie getan und gelehrt hatten.


Selbst die bösen Geister waren ihnen untertänig gewesen. Dieser Erfolg ihrer Mission bedrohte ihre Seele. Die Jünger standen in der Gefahr, dass ihnen die Frucht ihres Dienstes höher stand als das Wort ihres Meisters, während das Geheimnis ihres Erfolges doch in der Sendung und in der Vollmacht lag, die sie vom Herrn empfangen hatten. Nicht sie waren das Geheimnis ihres Segens, sondern es war sein Wort durch sie. Deshalb führte Er sie in eine menschenleere Gegend, um ihnen Zeit und Gelegenheit zu geben, mit Ihm wieder allein zu sein.

Zudem hatte der Dienst die Jünger auch körperlich und seelisch müde gemacht. Die Not ihres Volkes war so groß, die Sehnsucht nach der neuen Botschaft so lebendig, dass es ein ständiges Kommen und Gehen der Volksmengen war. Die Jünger hatten vielfach nicht einmal Zeit zum Essen gefunden. Im Ringen um die Not ihres Volkes und im Kampf mit den geistigen Mächten der Finsternis hatten sie Kräfte ausgegeben, ohne Zeit zu gewinnen, neue Kräfte zu sammeln. Das musste zu einer Schwächung führen. Ohne neue Zündungen in ihrer Seele durch dauernde lebendige Worte ihres Meisters musste aber auch ihr gesegneter Dienst zu einer rein äußerlichen und gewohnheitsmäßigen Routine werden, in der man vielleicht noch
von der Kraft der Vergangenheit, aber nicht mehr von der Inspiration der Gegenwart lebt.


In solcher suchten Pharisäer und Schriftgelehrte dem wartenden Volke das Reich Gottes zu bringen. Aber es kam nicht, trotz all ihres Dienstes. Damit ihr Körper und ihr gesamtes Innenleben neue Kraft gewönne, nahm Jesus die Jünger mit sich und führte sie in die Stille. Der Umgang mit Ihm sollte ihnen Gelegenheit geben, Neues zu empfangen, bevor sie
Weiteres zu geben hatten. Dieses Geheimnis hat sich auch für die dienenden Jünger und Jüngerinnen unserer Tage noch nicht geändert. Allein im lebendigen Umgang mit Christus, liegt
das verborgene Wurzelgebiet eines fruchtbringenden Lebens. Christus als Herr seiner Kirche weiß, wie sehr wir der Ruhe bedürfen, wenn unsere Seele gearbeitet und unsere Liebe gelitten hat unter der Not des Volkes. Daher waren Ihm auch unsere Zeiten der Ruhe zur Sammlung neuer Kräfte niemals verlorene Zeiten. Er führte auch uns aus der Fülle unserer Arbeit in die Stille, um mit uns allein zu sein.


Zwar leben wir in einer Zeit, die auf allen Gebieten mehr als je auf den Dienst der Kirche Christi wartet. Es gibt kaum eine organisierte Reichsgottesarbeit, in der ihren Trägern noch Zeit zur innerlichen Stärkung und zur stillen Sammlung bliebe. Es scheint, als ob alles in der Welt reif zur Ernte wäre. Denn die ganze Gegenwart liegt wie in Geburtswehen. Fragen, die einst nur
einzelne bewegten, haben ganze Volksschichten erfasst. Die Welt hat auf so unendlich vielen Gebieten die erschütterndsten Gerichte erlebt. Wie vieles ist ihr hoffnungslos zusammengebrochen, da es sich für das Reich Gottes als völlig untauglich erwies! Was ihr
Erlösung bringen sollte, wurde ihr zum Fluch. Daher sehnt sich in ihr alles nach dem Durch- und Anbruch einer höheren Weltordnung. Das Volk schaut aus nach jenem Weg, auf dem es zu einer Erlösung gelangen kann, die nicht zusammenbricht. Alles ringt um eine überzeitliche Wirklichkeit. Die einen sehen sie hier, die andern dort. Kaum je ist daher ein so bewusstes
Suchen nach Wahrheit, aber auch kaum je ein so bewusstes Kämpfen wider die Wahrheit gesehen worden wie in unseren Tagen.


Es ist verständlich, dass solche Zeiten besondere Ansprüche an die einzelnen Glieder und an die Gesamtkirche Christi stellen. Herzen und Länder stehen er Botschaft vom Kreuz offen. Einzelne und ganze Völker warten bewusst und unbewusst auf den Augenblick, wo ihnen jemand im Auftrage Gottes dienen wird. Unzählige Herden rufen nach wahren Hirten.
Verlorene suchen in der Nacht ihres Lebens nach jenen Führern, durch die sie zurück zum Vaterhause geleitet werden. Gebrochene Herzen harren auf Hände, die Schwaches tragen und Wunden heilen können. Im wilden Durcheinander der Gegenwart möchte Jugend und Alter Anschluss an das Starke und Befestigte finden, um nicht im Strudel der Zeit unterzugehen. Müde aller fleischlichen Waffenrüstung schaut man aus nach Kämpfern, die in göttlicher Vollmacht
den Kampf des Glaubens zu führen suchen. Auf allen Gebieten des Lebens sehnt man sich nach Männern, die angesichts großer Widerwärtigkeiten einen noch weit größeren Gott kennen, nach Persönlichkeiten, in deren Wort und Leben Christus mit seinem Heil zu einem Programm für die Zukunft geworden ist.


Solche Zeiten großer Aufgaben waren jedoch auch immer Zeiten großer Gefahren. Man fürchtet, die gegebenen Gelegenheiten zu verpassen, die sich wahrem, hingegebenem Dienste bieten. Oder wenn die Not von allen Seiten ruft, kann der Jünger leicht über den Dienst an anderen den Dienst seines Meisters an sich vergessen. Wer jedoch dauernd Seelen pflegen und dem Nächsten dienen will, muss eine von Gott gepflegte Seele in sich tragen. Denn an sich kann auch die ehrlichste Arbeit uns nicht vor einer Verflachung und Seelenverarmung bewahren. Schöpferische Kräfte werden nur durch einen dauernden Umgang mit dem Schöpfer selbst gewonnen. Eine geübte Zunge für den Dienst an den Müden der Zeit gewinnt man nur,
wenn man hören gelernt hat wie ein Jünger. Nur jenes Ohr, das sich jeden Morgen öffnen lässt für die Aufgaben des Tages, wird vertraut mit Gottes Führung und Absichten. Dauernd fruchtbringend zu dienen vermag daher nur, wer sich zuvor dauernd von oben dienen lässt.
Auch der treueste Jünger Jesu ist in sich selbst keine lebendige Quelle. Diese ist allein Christus.

 Von Ihm vermag Paulus zu bezeugen: dass nach Gottes Wohlgefallen in Ihm die ganze Fülle wohnen sollte, um durch Ihn alles zu versöhnen, was im Himmel und auf Erden ist (Kol. 1,19f). Ewig frisches, lebendiges Wasser zu geben vermag nur Er. Wir können nur Kanäle dieser Quelle sein: Zeugen seines Lebens und seiner Auferstehungskräfte. Wer sich aus dieser Quelle in der Stille füllen lässt, wird im Geräusch des Tages auch quellfrisches Wasser zu geben haben.
Fruchtbar und frisch bleiben mithin allein jene Jünger, die Zeit haben zu hören, wenn der Meister redet.

Sie lernen Schritt halten mit dem Wirken des Heiligen Geistes. Im Umgang mit dem Auferstandenen empfangen sie Licht über die Pläne Gottes zum Aufbau der Gemeinde und zur Rettung der Welt. Sie gleichen jenen Propheten, die wie ein Jeremia und Habakuk auf hoher Warte stehen und sich ihren Blick durch allerlei politische und religiöse Strömungen nicht trüben lassen. Hier gewinnen sie eine Orientierung, einen Weitblick und eine Fernsicht, wie sie niemand sonst zu gewinnen vermag.

Daher werden sie nicht mutlos selbst in den dunkelsten Zeiten und wissen eine kommende Erlösung zu künden. Sie erweisen sich stark, wo andere haltlos zusammenbrechen. Sie wagen Vorarbeiten des Glaubens zu tun und Vorbereitungen für neue Segenszeiten zu treffen, weil sie solche in der Zukunft kommen sehen.
Sie sind nicht ohne Hoffnung, daher wecken sie Zuversicht und Vertrauen in den Schwachen. Sie lenken den Blick der Zagenden auf das Kommende, das Gott zu geben und zu wirken vermag. Ihr Dienst hebt die weinende Gemeinde Zions an den Wassern Babels über die Leiden der Gegenwart hinaus und redet von jenem Tempel Gottes der Zukunft, dessen Herrlichkeit
unvergänglich sein wird (Hag. 3,7-9).
Als ich noch in den deutschen Kolonien Südrusslands lebte, hatten wir zweimal im Jahre für die
Reichsgottesarbeiter einen achttägigen Bibelkursus.

Diese Kurse erwiesen sich für manchen müden Gottesknecht als eine seltene Gelegenheit der Stärkung und Ausrüstung. Manche, die innerlich gebrochen zum Kursus kamen, kehrten in neuer Kraft und mit neuem Vertrauen in den Dienst ihrer Gemeinde zurück. Jedoch die Kurse hatten auch ihre stillen Gegner. Als ich eines Tages mit einem solchen über die in Aussicht stehende achttägige Zusammenkunft sprach, antwortete er mir, dass er keine Zeit habe, acht volle Tage nur mit Bibelstunden auszufüllen. Ich konnte ihm darauf keine Antwort geben. Es vergingen
Jahr und Tag, und ich traf abermals mit dem Bruder zusammen. Bald merkte ich, wie seine Seele litt. Während der Unterredung teilte er mir mit, was ihn so tief bewegte. Er hatte entdeckt, wie wenig sein Dienst dem wachsenden Bedürfnis der Gemeinde entspräche. Er fühlte, wie seinem Geist die Schwingen, seinem Zeugnis die Kraft, seinem Dienst die Frische des
Lebens und der Unmittelbarkeit fehlte. Ich wunderte mich nicht darüber.

Wenn wir uns die Gelegenheit entgehen lassen, wo der Meister zunächst uns dienen möchte, bevor wir anderen zu dienen haben – kein Wunder, dass unser Innenleben alsdann leer wird und unsere Worte ohne Seele und unsere Botschaft ohne Klang der Ewigkeit sind. Unser Gott hat daher Zeit, mit uns zu reden, wenn wir nur Zeit haben, Ihn zu hören. Sein Herz sehnt sich danach, uns seine Kraft und Aufträge mitzuteilen.
Er weiß, welch einen Gewinn es für uns und für die Welt bedeutet, wenn wir Zeit haben für den Umgang mit Ihm. Könnten wir hier die Geschichte der Kirche Christi in ihrem Werdegang durch die Jahrhunderte reden lassen, so würden wir klarer erkennen, dass das Geheimnis der größten Männer, die so erfolgreich in ihrem Dienste waren, immer wieder darin bestand, dass sie Zeit hatten, mit Gott allein zu sein. Das machte ihr Leben so reich an Licht und Gnade, ihren Dienst so fruchtbar in einer bankrotten Welt. Jenen Abraham, der unter den schattigen Eichen
Mamres seine Zelte aufschlug und Zeit hatte, dem Herrn einen Altar zu erbauen, während in der Jordanaue der Kampf wütete, konnte der Herr gebrauchen, als es galt, einen Lot mit seiner Familie aus der Gefangenschaft Kedor-Laomers zu retten. 

So bedeutete es auch einst für die israelitische Gemeinde in der Wüste keinen Verlust, dass Mose auf das Wort Gottes hinaufstieg in das Dunkel, wo Gott war, und vierzig Tage im verborgenen Umgang mit Gott verharrte. Als er zurückkehrte, strahlte nicht nur sein Angesicht
die Herrlichkeit des Herrn wider, sondern er durfte mit einem göttlichen Gesetz und mit einer göttlichen Offenbarung für die Zukunft unter sein Volk treten.
In der Gegenwart Gottes hatte er Eindrücke empfangen, die später entscheidend waren für seinen priesterlichen Dienst unter seinen vielfach so wankelmütigen Brüdern. Nur aus diesem Umgang mit Gott heraus wurde er fähig, jene große Aufgabe zu lösen, die er immer wieder in der Mitte seines Volkes fand.
Jene Maria, die da ruhte, während Martha diente, verstand später zu dienen, wie es weder ihre Schwester noch sonst jemand vermochte. Sie hatte sich vom Meister dienen lassen, daher verstand auch sie wiederum zu dienen. Sie begriff, dass Jesu Gegenwart zunächst ihr etwas zu bieten hatte, bevor sie Ihm etwas bot. Auch wusste sie, dass das, was der Meister ihr gab,
viel wertvoller war, als was sie Ihm zu bringen hatte.
Daher ruhte sie, während Er diente. Ihr Herz hing an ihres Meisters Lippen, und ihr Auge ruhte in seinem Auge. Seine Gegenwart war ihr wie ein frischer Morgentau. Ihre dürstende und aufgeschlossene Seele sehnte sich, gesättigt zu werden mit dem Leben, das von Ihm floss. Es weiteten sich in dem Licht, das ihr vom Herrn wurde, mehr und mehr ihr Herz und
Blick, so dass sie immer klarer die Pläne Gottes und die Messiasaufgaben ihres Meisters erfasste. Zu seinen Füßen reifte sie daher zu jenem Opfer aus, von dem der Herr bezeugte: »Solches hat sie behalten zum Tage meines Begräbnisses« (Joh. 12,7). 

Auch sie hätte nie das Verständnis für den Tod Jesu gewonnen, wenn sie nicht geruht hätte, während andere dienten. Aber sie ruhte, als Jesus ihr diente; sie schwieg, als Er redete. Wer aber schweigen kann, wenn Gott redet, wird durch Wort und Tat reden können, wo andere schweigen.
Am reinsten hat das Jesus selbst in seinem Umgang mit dem Vater ausgelebt. Er wollte seine Jünger in denselben Geist hineinziehen, in dem Er vor dem Vater lebte. Zwar liebte Er die Welt, wie sie niemand vor Ihm und nach Ihm geliebt hat. Und doch zog Er sich aus der Menge zurück, die Ihn suchte, um im Umgang mit dem Vater neue Kraft zu sammeln für seinen Dienst. Bildet es doch in unseren Evangelien einen sehr wesentlichen Zug in dem Lebensbilde Jesu, dass es von Ihm immer wieder heißt: »Er ging aber allein, um zu beten.« Wohl hörte am Tage die Welt
seine wunderbaren Worte, die voller Geist und Leben waren. Wohl sah man in der Not des Volkes sein segnendes Wirken, das Liebe und Mitleid atmete. 

Wohl empfand man, dass in dem großen Propheten von Nazareth der wunderwirkende Gott der Väter wieder gegenwärtig sei und sein verlassenes Volk heimsuchte. Aber die Kraftquelle dieses Propheten kannte man nicht. Diese lag in dem verborgenen Umgang des Sohnes mit dem Vater. Jesus hatte Zeit für Gott. Daher konnte Ihm anvertraut werden, was Pharisäer und
Schriftgelehrte nicht empfingen. Der Vater hatte Gelegenheit, zum Sohne zu reden. Daher hatte der Sohn auch so Großes über den Vater dem Volke zu künden. In den Stunden des Alleinseins mit dem Vater besprach der Sohn die Nöte der Zeit. Daher blieb Er am Tage auch Herr dieser Nöte und verstand Er, in denselben mit innerlicher Vollmacht zu dienen. Er ging mit der am Tage offenbar gewordenen Feindschaft der Pharisäer und Schriftgelehrten zum Vater und ließ
sie dort beleuchten vom göttlichen Lichte. Daher wusste Er sich am nächsten Tage auch stark den Angriffen der Hölle gegenüber. So reich sein Dienst auch wurde, so sehr die Sehnsucht des Volkes auch wuchs, so groß die Not auch war, die auf seine Hilfe wartete – diesen verborgenen Umgang mit dem Vater ließ Er sich nicht nehmen. Wer jedoch wie Jesus Zeit hat für Gott, wird auch wie Er Zeit haben, in göttlicher Vollmacht einer verlorenen und wartenden Menschheit
zu dienen.

Beiseite genommen

Sechs Tage später nahm Jesus Petrus, Jakobus und Johannes mit sich und führte sie ganz allein auf einen hohen Berg. Markus 9,1
Jesus wollte wieder mit seinen Jüngern allein sein, wie Er es öfter gewesen war. Jedoch diesmal nahm Er nur Petrus, Jakobus und Johannes zu sich und führte sie aus dem Geräusch des Tages in die Stille. Ihre Seele war tief bewegt durch das, was sie aufs Neue in der Nachfolge ihres Meisters gesehen und gehört hatten.
Sie hatten jedoch in der letzten Zeit aus seinem Munde Worte über bevorstehende Leiden vernommen, die sie nicht mit dem Messiaswerk vereinbaren konnten,  das zu erfüllen Er gekommen war. Zwischen dem, was Jesus tat, und dem, was Jesus sagte, waren für sie
Gegensätze offenbar geworden, die sie nicht zu überbrücken vermochten. Hatten sie es doch miterlebt, wie unlängst Jesus in der öden Gegend Tausende speiste, wie Er die Bitte der Syro-Phönizierin erhörte und deren Tochter von dämonischen Mächten befreite,
wie Er den Taubstummen im Gebiet der zehn Städte heilte und wie Er seine Hände auf die Augen des Blinden in Bethsaida legte und ihn sehend machte.
Alle diese Geschehnisse hatten in der Menge des auf den Messias wartenden Volkes überschwänglichen Jubel ausgelöst, waren es doch die untrüglichen Zeichen einer messianischen Heilszeit. In Jesus schien volle Erfüllung zu werden, was Propheten längst geschaut und als Gottes Sieg über die Welt der Sünde und des Todes angekündigt hatten. Obwohl Jesus dem Volke verbot, von den erlebten Wundern zu sprechen, ging es dennoch hin und verkündete die großen Taten Gottes. In seiner Freude sprach es: »Er hat alles
wohl gemacht; auch die Tauben macht Er hören und die Sprachlosen reden« (Mark. 7,37). Und als Jesus sich eines Tages an seinen engsten Jüngerkreis mit der Frage wandte: »Und ihr, was sagt denn ihr, dass ich sei?«, da wurde Ihm durch Petrus die eindeutige Antwort: »Du bist der Messias!« (Mark. 8,29), d.h. der Gesalbte Gottes.


Umso unverständlicher war es nun den Jüngern, dass Jesus in den letzten Tagen von seinem Leiden, Sterben und Auferstehen gesprochen hatte. Er hatte es ihnen nämlich frei herausgesagt, dass der Menschensohn von den Ältesten, Hohenpriestern und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden würde und dass Er alsdann am dritten Tage auferstehen werde. Durch diese Worte waren die Jünger so erschüttert worden, dass Petrus gleich darauf den Meister beiseite nahm und ernst auf Ihn einzureden versuchte. Jesus jedoch sprach zu ihm: »Hebe dich hinter mich, Satan! Ein Skandalon, ein Anstoß bist du mir! Denn du sinnst nicht aufs Göttliche, sondern
aufs Menschliche, urteilst nicht nach Gottes, sondern nach der Menschen Art« (Mark.8,33).

Dass auch Jesu Leiden und Sterben nichts anderes als Messiasdienst sein sollte, hatten die Jünger noch nicht begriffen. Ihnen war es vielmehr ganz unverständlich, dass ein neuer Leidensweg, ähnlich dem der Propheten, der Ausgang des so gesegneten und von Gott
legitimierten Dienstes ihres Meisters sein sollte. Unmöglich könne solch ein Ausgang der Schlussakt des angebrochenen Reiches Gottes sein. Wie hatten sie sich gefreut, wenn Lahme gingen, Blinde sahen, Kranke heil wurden und Mühselige und Beladene in Ihm den Trost und die Ruhe fanden, nach denen sie sich so lange gesehnt hatten! Waren sie doch Zeuge gewesen von den gewaltigen Taten, die durch Ihn geschahen. 

Vor der königlichen Gestalt ihres Meisters schwanden die Schmerzen, schwieg die Angst, verwandelte sich der Zweifel in Vertrauen. Vor seinem Erscheinen flohen die bösen Geister, und die von der Angst Gepeinigten und die seelisch Zerrissenen sammelten sich zu seinen Füßen und gesundeten in seiner Gegenwart. Von seinem Wort ging solch eine erlösende und glaubenweckende Kraft aus, dass das Volk – überwältigt von seiner Rede – sprach: »Er redet ja als ein Berufener und nicht wie die Schriftgelehrten« (Matth. 7,29).


Und wie reich war ihr eigenes Leben und Dienen seit jenen Tagen geworden, wo sie vom Meister in dessen Nachfolge gerufen worden waren! Der Herr hatte Vollmachten in ihr Leben gelegt, durch die sie fähig waren, im Zeichen einer wahren Messiaszeit ihrem leidenden Volke zu dienen. Kam doch eines Tages der aus siebzig Personen bestehende größere Jüngerkreis von seiner Mission mit der Kunde zurück: »Herr, auch die bösen Geister gehorchen uns, wenn wir deinen Namen aussprechen« (Luk. 10,17).
Im Umgang mit dem Herrn als ihrem Messias war ihrem Glauben eine geistige Wirklichkeit aufgegangen, die nicht von dieser Welt war. Umso unverständlicher war ihnen nun die Sprache Jesu in den letzten Tagen gewesen. Da ruft Jesus sie, nicht, um sie gleich wieder neu auszusenden, sondern um mit ihnen allein zu sein.
Denn obgleich eine Welterlösung auf seiner Seele lag, Jesus stürmte nie. Wenn auch das Volk Ihn drängte und suchte, niemals stürzte Er sich in die Arbeit, die seiner auf allen Gebieten des menschlichen Elends wartete. Sein Dienst war von einer einzigartigen Ruhe getragen. Daher führte Er auch alle Müden in die Ruhe. Er konnte auf das Drängen seiner Mutter antworten: »Meine Stunde ist noch nicht gekommen« (Joh. 2,3f ). 

Trotz der schwersten Krankheit seines Freundes Lazarus in Bethanien blieb Er noch zwei Tage an dem Ort, wo Er war. Jesus konnte warten, wenn andere eilten, und Er konnte eilen, wo andere durch ihr Zögern Gottes Stunde verpassten. Daher lag Ihm auch das rein Betriebsame des Reiches Gottes so völlig fern. Er kannte keinen Bekehrungseifer und weinte doch über Jerusalem. Er wies jede künstliche Mache von sich und sprach dennoch: »Ich muss wirken, solange es Tag ist, und zwar die Werke dessen, der mich gesandt hat. Es kommt die Nacht, wo niemand wirken kann« (Joh. 9,4).

Seine Passivität war jedoch kein träges Ruhen, sondern immer eine zurückgehaltene und auf die Stunde Gottes wartende Aktivität. Wohl war Er gekommen, die Werke des Teufels zu zerstören, aber nicht mit den Machtmitteln der Gewalt. Es genügte Ihm nicht, den Feind äußerlich zu besiegen, sondern sein Sieg bestand in der Erlösung, in die Er seine Feinde hineinzuziehen suchte. Er rang mit der Finsternis, indem Er Licht in sie hineintrug. Er triumphierte über
den Hass der Welt, indem Er die Gewalttätigen zu Lämmern im Königreich der Himmel seines Vaters machte. Er zankte nicht mit den Irrenden, sondern
erzählte ihnen zu ihrem Heil das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Er wusste: Was dem Menschen von Gott und dessen Heil bekannt werden soll, muss ihm zuvor von Gott her geoffenbart werden. Dazu aber war Er erschienen, darin lag das Geheimnis seiner Messias- und
Heilandsmission.

Um die Jünger in denselben Geist göttlicher Sendung und in die Art eines wahren Messiasdienstes hineinzuziehen, führte Er sie oft in das Alleinsein mit sich selbst. Ihr Ohr hatte so viele andere Stimmen vernommen, nun sollte es wieder Ihn hören. Ihr Auge hatte so große und herrliche Dinge in dem angebrochenen Reiche Gottes geschaut, nun sollte es wieder
Gelegenheit finden, die weltüberwindende Seelengröße und Herrlichkeit dessen zu sehen, der sie gesandt hatte. Ihr Herz war so voll von dem, was Jesus durch sie getan hatte, nun sollte es wieder voll werden von dem, was Jesus ihnen sein wollte. Sie hatten so viel Gelegenheit gehabt, die Wunden ihres Volkes zu sehen, nun sollten sie aufs Neue den Arzt ihres Volkes
und das Geheimnis seiner Kraft sehen. Hatten sie anderen gedient, nun wollte der Meister ihnen dienen und ihnen völlig neue Seiten der Herrlichkeit seines Wesens und seiner Mission erschließen. Sie sollten in ihrem Dienen mit Ihm auf eine weit höhere Stufe gestellt werden, als jene war, auf der die herrschende Frömmigkeit derzeit stand. 

Wie sein Wirken aus dem inneren Kontakt mit dem Vater floss und sich allein der geistigen Mittel bediente, um göttliche Ziele zu erreichen, so sollten auch sie erfassen, wes Geistes Kinder sie geworden waren. Nicht Feuer vom Himmel fallen lassen sollten sie, wenn man sie nicht aufnehmen wollte, sondern mit dem Menschensohn der Menschen Seelen gewinnen und erretten. Daher führte Er sie beiseite, um mit ihnen allein zu sein. Selig jedoch jene Knechte und Mägde auch in unseren Tagen, die dann Zeit haben, wenn sie von ihrem himmlischen Meister gerufen werden!

 Im Alleinsein mit Gott werden sie jene Segnungen und Offenbarungen
erleben, die ihrem Dienen neue Vollmacht und dauernde Frische geben. Denn das Geheimnis eines gesegneten Dienstes liegt nicht in den geistlichen Reserven, die man besitzt, sondern in den Inspirationen, die man erlebt. Um zu Gott zu führen, muss man von Gott her kommen. Die Gewinnung neuer Perspektiven, die Sammlung höherer Kräfte, die Lösung ungelöster Fragen liegen auch für uns allein im verborgenen Umgang mit Gott. Dauernd zu dienen vermag nur, wer
dauernd mit Gott verkehrt. Wir gewinnen nur insoweit Seelen, als unsere Seele von Gott gewonnen ist.

Es haben daher zu allen Zeiten die Berufenen und Auserwählten ihre tiefsten Segnungen in jenen Stunden gefunden, wo sie mit Gott allein waren. So fand einst Abraham die Erfüllung jener Gottesverheißung, ein Segen für die Völker zu werden, allein auf dem Wege, dass er Vaterland, Freundschaft und Vaterhaus in seiner urchaldäischen Heimat verließ und mit Gott
allein in jenes Land zog, das Gott ihm zeigte. Um der Welt mit Höherem dienen zu können, musste er zuvor Höheres in Gott gefunden haben. Wenn Er sie mit ewigen Gütern segnen wollte, durfte er nicht mehr an ihre Segnungen gebunden sein. Zu solch einem Separatismus des Glaubens wurde Abraham jedoch erst fähig, als er der Stimme der göttlichen Berufung
folgte, um ein Fremdling und Pilger auf Erden zu sein.

Jahrzehnte später fand Jakob nach allen Irrungen und Kraftentfaltungen seines eigenen Lebens im Alleinsein mit Gott an der Furt Jabboks jenes Pniel, wo ihm Gottes Angesicht leuchtete. Er rang mit Gott, während Gott mit ihm rang. Er konnte unmöglich vor seinen Bruder Esau treten, bevor nicht Gott den Sieg in seinem Leben davongetragen hatte. In eigener Kraft und mit fleischlichen Machtmitteln konnte und sollte Esau nie durch Jakob überwunden werden. Daher musste Gott zuvor Jakobs Kraft brechen, damit er als Israel Gottes, d. h. als ein von Gott Überwundener, das Angesicht seines Bruders schaute. 

Wäre Jakob seinem Bruder ebenfalls im Bewusstsein seiner Stärke mit einem bewaffneten Heer entgegengetreten, wie dieser ihm entgegenzog, so wäre er gewiss unterlegen. In Pniel siegte jedoch Gott in Jakob, daher siegte später Jakob auch in der Welt. Gebrochen in seiner Kraft sprach er: »Ich lasse dich nicht, ehe du mich gesegnet hast!« In der Ohnmacht fand er nun seinen Sieg, im Gebet weltüberwindende Kraft, in der Abhängigkeit vom Sieger die Rettung
und Zukunft seines Lebens. Auf diesem Boden stehend, durfte er hinfort auch Esau begegnen.

 Denn wer erst lernt, im Angesicht des Unbekannten und mit ihm Ringenden das Angesicht Gottes zu schauen, dem gehört die Zukunft, selbst wenn auf ihr zunächst auch noch der dunkle Schatten Esaus ruht. Jahrhunderte später stand Josua einst zitternd vor Jericho (Jos. 5,14f ). Er sollte ein ohnmächtiges Heer in diese Festung führen, die den Schlüssel jenes heiligen Landes bildete, das der Herr dem Volke versprochen hatte. Da begegnete ihm der Fürst über die Heere
Gottes. Er fiel auf sein Angesicht, betete an und sprach: »Was sagt mein Herr seinem Knechte?« So fand er im Alleinsein mit Gott jene innere Stellung, wo ihm das Programm gegeben werden konnte, wie Jerichos starke Mauern durch den Glauben seines Volkes überwunden werden konnten.

In den Tagen eines Samuel befand sich der Benjaminite Saul, der Sohn des begüterten Kis in Israel, auf der Suche nach den verlaufenen Eselinnen seines Vaters. Da er sie nicht finden konnte, wandte er sich In seiner Not an den Propheten Samuel. Diese Begegnung führte jedoch zu jenem Alleinsein mit Gott, wo der Prophet im göttlichen Auftrage Sauls Haupt mit heiligem Öl salben, ihn küssen und mit den Worten begrüßen konnte: »Hat nicht der Herr dich zum Fürsten über sein Erbteil gesalbt?« (2. Sam.10,1).

Völlig entmutigt kam einst der sonst so glaubenskühne Prophet Elia an den Berg Horeb. Die Drohung Isebels hatte seine Seele gepackt, und sein Glaube sah hinfort nicht mehr die Macht dessen, von dem er gesandt war, sondern nur den Arm des Fleisches, der sich gegen ihn erhoben hatte. Durch den Gottessieg auf dem Berge Karmel hatte er gehofft, ganz Israel für
Gott gewonnen zu haben. Er musste jedoch erleben, dass Begeisterung für Gott noch nicht Hingabe an Gott ist. Völlig entmutigt und mit zerrissener Seele war er daher zum Berge Horeb gekommen. Hier ging der Herr an ihm vorüber: nicht im Winde, nicht im Feuer, auch nicht im Erdbeben, sondern erst im stillen,
sanften Sausen. Er war mit Gott allein, und nun wurde ihm jenes wunderbare Geheimnis jeglichen Prophetendienstes erschlossen, dass die Kraft prophetischer
Mission nicht in äußeren Machtmitteln und vernichtenden Gerichten besteht, sondern allein in jenem göttlichen Lebensodem, der still wirkend und Leben weckend durch die Herzen des Volkes weht. Und Träger und Dolmetscher solch einer Gottesoffenbarung soll auch
der Prophet sein (1. Kön.19, 11-13).
In den Tagen eines Elisa seufzte eine Prophetenwitwe schwer unter den Schulden, die ihr Mann
zurückgelassen hatte. Man drohte ihr das Höchste zu nehmen, das sie als israelitische Mutter besaß, nämlich ihre zwei Söhne. In dieser Not wandte sie sich an den Propheten Gottes. Als dieser erfuhr, dass sie in ihrem Hause nichts als einen Krug mit etwas Öl hatte, sprach er zu ihr: »Besorge dir eine Anzahl leerer Krüge, nimm deine beiden Söhne und bleibe bei verschlossener Tür mit Gott allein!« Sie tat es. Und als sie nun anfing, die leeren Ölkrüge mit dem Öl ihres
Kruges zu füllen, da fand sich’s, dass sie goss und goss, bis alle Gefäße gefüllt waren. In Gottes Gegenwart wurde ihr stehendes Öl fließendes Öl und gab ihr die Möglichkeit, nicht nur alle ihre drückenden Schulden zu bezahlen, sondern auch mit ihren Söhnen vom Überfluss zu leben (2. Kön.4,1-7).

Erst von dem Augenblick an konnte der größte aller Propheten des Alten Bundes, Jesaja, mit gereinigten Lippen seinem Volke dienen, als er mit Gott allein gewesen war. Und im göttlichen Lichte erkannte er nun, dass er unreine Lippen hatte und unter einem Volke mit unreinen Lippen wohnte und daher untauglich war, seinem Volke zu dienen. Als er jedoch erst in dieser tiefen Selbsterkenntnis vor dem Herrn stand, erlebte er jene wunderbare Offenbarung,
dass Gottes Gegenwart nicht nur aufdeckt, sondern auch zudeckt. Seine Lippen wurden mit einer glühenden Kohle vom Altar berührt, und seinem Leben wurde die wunderbare Kunde: »Siehe, deine Sünden sind von dir genommen!« Nun konnte er als einer, der von Gott gereinigt worden war, auch seinem Volke Reinigung verkünden. Nachdem er selbst die Vergebung seiner Sünden empfangen hatte, konnte er auch in das so schwer belastete Leben seiner Brüder
Vergebung tragen (Jes. 6,5-7).
Ist doch auch die Offenbarung des Neuen Testaments von jenem Johannes geschrieben worden, der um des Namens Jesu willen auf der einsamen Insel Patmos saß. Und doch war er nicht allein. Gott war mit ihm, und er sah am Tage des Herrn nicht nur die Leiden und Kämpfe der kleinasiatischen Gemeinden, sondern auch die Herrlichkeit und Majestät des gekrönten Lammes. Seinen Augen bot sich hier ein Abschluss der ganzen Welt- und Heilsgeschichte dar, wie
es nur ein Glaube zu schauen vermag, den Gott in seine Offenbarung und Herrlichkeit hineinziehen kann.
Daher lässt auch Johannes alles Weltgeschehen ausklingen mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde, über deren Sein und Leben für ewige Zeiten geschrieben steht: »Es ist alles neu geworden!« (Offb. 21,5).
Mit Gott allein! Welch eine Fülle von Licht und Gnade, von Kraft und Herrlichkeit kann es für ein Leben bedeuten, das dem Rufe des Meisters folgt, wenn Er es in die Stille führen will!

Tabors-Höhen
… und führte sie allein auf einen hohen Berg.
Markus 9,2
Tabors-Höhen, auf denen wir die Herrlichkeit unseres Meisters schauen, sind nicht der Segen einer heiligen Örtlichkeit, sondern der göttlichen Offenbarung. Wir wissen nicht einmal genau, welches der »hohe Berg« war, auf dem Jesus vor seinen Jüngern verklärt wurde. Die
Überlieferung nimmt an, dass es der schöne Berg Tabor gewesen sei. Jedoch nach Jesus ist niemand mehr auf ihm verklärt worden. Denn nicht der Berg war die Quelle dieses Segens für die Jünger, sondern dass der Vater dort seinen Sohn verklärte. Wo immer unserer Seele ein tieferer Einblick in die verborgene Herrlichkeit Jesu Christi geschenkt werden konnte, da bewegte sie sich auf einer Tabors-Höhe.
Daher ist der Name Tabor auch in der Sprache der Kirche Jesu Christi zur Bezeichnung der tiefsten Segnungen im Reiche Gottes geworden. Denn welch eine Bergeshöhe es im Lande Jesu und der Apostel auch war, wo die Jünger das Große an der Seite ihres Meisters erlebten, der Segen war nicht an den Ort an sich, sondern an die göttliche Offenbarung gebunden. Diese kann aber nur erlebt und nicht hier oder dort einfach gefunden werden. 

Alles Erleben ist allein an die Gegenwart dessen gebunden, der sich uns in der Fülle seines Lebens offenbaren will. Wer da glaubt, Tabors-Höhen an heiligen Orten oder in heiligen Einrichtungen an sich zu finden, der wird vergeblich auf die Offenbarung Gottes und seines Gesalbten warten. Wohl heiligt Gott Orte und Handlungen, wenn Er sie in seine Offenbarung hineinziehen kann, aber niemals heiligen Orte und Einrichtungen den Menschen. Der feurige Busch in der Wüste brannte nur so lange, als Gott von ihm Besitz genommen hatte. 

Als Gott erst seine Berufung an Mose vollendet hatte, verlor er wieder sein Feuer und seine Weihe. Orte und Mittel sind daher nur insoweit geheiligt und geweiht, als sie Gott dienen, uns seine Herrlichkeit und Majestät zu enthüllen. Er hat mithin unsere Erwartungen, Taborstunden zu erleben, nicht an heilige Örtlichkeiten und Einrichtungen gebunden, sondern allein an sich selbst als den Quell jeglicher Segnung und Offenbarung.
Dasselbe gilt auch von unseren Glaubenskonferenzen, Bibelstunden, Erbauungsversammlungen und Gottesdiensten allerart. Auch sie brennen nur in einem heiligen

© der Lizenzausgabe 1998
by CLV · Christliche Literatur-Verbreitung

Keller Samuel 1856-1924

01/28/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Samuel Keller wurde 1856 in St. Petersburg geboren, verlebte die von Armut geprägte Kindheit und Jugend in Estland, studierte in Dorpat Theologie und war dann ein Jahrzehnt lang in Südrußlands Steppe und auf der Krim Pfarrer der lutherischen Kirche Rußlands.

 Als er 1890 fliehen mußte, weil ihm die Verbannung nach Sibirien drohte, führte ihn der Weg für kurze Zeit nach Berlin und dann nach Düsseldorf, wo er sechs Jahre lang als Pfarrer der Rheinischen Kirche wirkte. Als 42jähriger wagte er es, künftig als freier Evangelist durch Stadt und Dorf zu ziehen, um den Menschen die Frohe Botschaft zu sagen. 

Gott hatte ihm die Gabe geschenkt, nicht nur lau gewordene Christen, sondern auch der Kirche Femstehende zu erreichen. Kirchen und Säle waren zumeist überfüllt, wenn er auf Kanzel oder Podium stand. Neben Elias Schrenk gilt er als die markanteste Evangelistengestalt in den beiden ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. - Samuel Keller starb 1924 in Freiburg.

ISBN 3 501 01156 3 Johannis

Hebräer 4,14‑16 Hohepriestertum Kelly William BdH 1876

01/23/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Das Hohepriestertum Christi

B.d.H. 1876 (Hebräer 4,14‑16)

Das Hohepriestertum unseres Herrn wird von vielen Gläu­bigen nicht richtig verstanden. Es herrscht Unklarheit über die Bedeutung, die es besitzt, wie über die Grundlage, auf der es beruht. Man hat keine richtige Vorstellung von der Verbindung, in der das Hohepriestertum Christi mit anderen Wahrheiten steht, z. B. mit der Erlösung; es wird nicht er­kannt, was Gott uns dadurch geben will. Viele merken nicht, wie viel sie durch ihr mangelhaftes Verständnis verlieren. Verweilen wir daher einige Augenblicke bei dieser wichtigen Wahrheit, um zu prüfen, was die Heilige Schrift darüber lehrt!

Wir finden unser Thema im Brief an die Hebräer behandelt. Dieser Brief stellt uns ein erlöstes Volk von Pilgern und Fremdlingen vor Augen. Es befindet sich nicht in Ägypten, nicht in Kanaan, sondern auf dem Wege durch die Wüste. 

Damit will ich nicht sagen, daß die hier dargestellten Gläu­bigen nicht ‑ gleich anderen ‑ ihren Platz in den himmli­schen Örtern hätten; aber von dieser Seite werden die Kin­der Gottes in diesem Briefe nicht betrachtet. Von solchen Segnungen, über die im Epheserbrief und zum Teil auch im Kolosserbrief gesprochen wird, finden wir hier kein Wort. Es ist sogar an keiner Stelle von unserer Auferstehung die Rede, wie es in den Briefen an die Römer und an die Philip­per der Fall ist.

Der Heilige Geist stellt uns im Hebräerbrief von Anfang an Christus als sitzend zur Rechten Gottes vor Augen; und das ist einer der bezeichnenden Charakterzüge Seines Priester­tums. Solange Christus auf Erden war, konnte Er kein Prie­ster sein. Sein Priestertum ist ausschließlich himmlisch; Er ist der Priester für ein himmlisches Volk. 

Der Vorhang ist zerrissen, der Himmel geöffnet und der Heilige Geist als Folge der Erlösung und der Verherrlichung Christi auf die Erde herniedergestiegen. Die Grundlage ist fest und sicher durch die Tatsache, daß Christus, nachdem Er die Reinigung unserer Sünden bewirkt, nun im Himmel und demnach in einer lebendigen Verbindung mit denen ist, derer Er Sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen. 

Darum werden die Gläu­bigen, an welche dieser Brief gerichtet ist, im dritten Kapitel "Genossen der himmlischen Berufung" genannt. Sie waren nicht nur berufen, später den Himmel zu ererben, sondern Er, der sie berief, war auf Grund einer vollbrachten Erlösung bereits im Himmel. Und das ist sehr wichtig; denn die Tat­sache, daß unser Herr diesen Platz im Himmel einnimmt, wird hier als die Folge des vollkommenen, allgenugsamen Opfers betrachtet, das Er selbst für unsere Sünden dar­brachte. 

Er, der Sohn Gottes, der auf die Erde gekommen war, um das Verlorene zu suchen und zu erretten, nahm auf Golgatha den Zorn Gottes auf sich; und nachdem Er durch sich selbst die Reinigung unserer Sünden bewirkt hatte, stieg Er in den Himmel empor und setzte sich zur Rechten Gottes, um dort eine neue Art von Tätigkeit zu beginnen, die sich darauf gründete, daß Er die Sünde durch das Opfer Sei­ner selbst zunichte gemacht hat.

Damit ist die Anwendung des Priestertums Christ! für die Gläubigen klar ans Licht gestellt. Es wird ein erolöstes Volk vorausgesetzt. Es wird vorausgesetzt, daß das große und durchaus notwendige Werk der Gnade zugunsten der Gläubigen bereits vollbracht ist. 

Es wird vorausgesetzt, daß sie ohne irgendwelche Unsicherheit in diesem Werke ruhen, aber dennoch nötig haben, inmitten vie­ler Schwierigkeiten, Versuchungen und Verfolgungen durch den Herrn bewahrt zu werden. Die Lehre des Hebräerbriefes zeigt uns ganz klar, daß Gott alles getan hat, was bezüglich der S ü n d e n zu tun nötig war, bevor Christus in den Himmel einging, um das Priesteramt zu übernehmen.

Mangelhafte Auffassungen über diese wichtige Wahrheit sind die Ursache der Verwirrung und Finsternis, die so viele Ge­müter hinsichtlich des Priestertums Christi beherrschen. Wenn der Gläubige nicht in dem vollbrachten Werk Christi ruht und kein gereinigtes und vollkommenes Gewissen hat, so nimmt er das Priestertum Christi in Anspruch, um das Fehlende zu ersetzen. 

Der eigentliche Wert des Priestertums geht aber auf diese Weise gänzlich verloren; denn die erste Sache ist, Christus zu kennen und zu wissen, daß die Sün­den durch Sein Blut vergeben sind. Solange man über diesen Punkt nicht volle Gewißheit hat, kann von einer Zueig­nung des Priestertums durchaus nicht die Rede sein; und ach! die meisten Gläubigen besitzen nicht viel mehr als eine Hoffnung bezüglich ihrer Errettung. 

Das Priestertum verliert seine wahre Bedeutung, solange nicht die Erlösung in ihrer Einfachheit und Fülle angenommen ist; in einem solchen Fall werden der Wandel und das Priestertum Christi in die Waagschale geworfen, um das zu vollbringen, was der Tod des Herrn am Kreuz bereits vollbracht hat.

Eine nähere Prüfung des Hebräerbriefes wird uns das noch deutlicher machen. Bevor der Heilige Geist über das Prie­stertum zu sprechen beginnt, wird uns mit der größten Ge­nauigkeit und Vollständigkeit die Person des Herrn Jesus vorgestellt, und zwar in zweifacher Weise. 

Wir betrachten Ihn als den Sohn Gottes und als den Sohn des Menschen; und beide Naturen waren notwendig für Sein Priestertum. Wäre Er nicht in einem Sinne, wie ein anderer es nicht sein kann, der Sohn Gottes gewesen, so gäbe es kein Priester­tum, wie es uns in diesem Briefe vorgestellt wird;

 und wäre Er andererseits nicht ebenso wie ein anderer Mensch ‑ je­doch in einem Ihm allein eigenen Charakter ‑ der Sohn des Menschen gewesen, so gäbe es kein Priestertum, das für uns gültig wäre. Der Herr Jesus war beides; im ersten Kapi­tel finden wir Ihn als den Sohn Gottes, im zweiten als den Sohn des Menschen. Erst am Schluß des zweiten Kapitels ist zum ersten Male von dem Priestertum die Rede.

Beide Kapitel stellen uns zugleich die Vollkommenheit der Erlösung dar. Ober den Inhalt des ersten Kapitels haben wir bereits gesprochen. Im zweiten Kapitel lesen wir: "Denn es geziemte ihm, um deswillen alle Dinge und durch den alle Dinge sind, indem er viele Söhne zur Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen. Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die, wel­che geheiligt werden, sind alle von einem; um welcher Ur­sache willen er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen." 

Das Priestertum steht daher in Beziehung zu den Geheilig­ten, und zu ihnen allen. Christus hat durch die Gnade Gottes ‑ für alle Menschen ‑ den Tod geschmeckt, wie in V. 9 gesagt wird, aber sobald der Apostel von dem Priestertum redet, spricht er nicht mehr von allen, sondern von dem Samen Abrahams in geistlichem und nicht in buch­stäblichem Sinne.

Das Priestertum Christi ist also etwas ganz anderes als Sein Versöhnungswerk auf Golgatha. Während sich das letzte über die ganze Welt ausdehnt, steht das erste nur mit den Geheiligten in Verbindung. Das, was im Alten Testament durch das auf den Gnadenstuhl gesprengte Blut vorgebildet wurde, erstreckte sich auf alle. Es war dabei durchaus nicht von denen die Rede, die sich in unmittelbarem Bereich der Segnungen Gottes befanden; nein, das Blut hatte einen grenzenlosen Wert.

 "Durch die Gnade Gottes schmeckte er den Tode für alle." Aber sobald wir Christus in Seinen Tä­tigkeiten und in Seinem Mit‑Leiden betrachten, die Ihn als Hohenpriester kennzeichnen, dann sehen wir, wie bereits bemerkt, unsere Aufmerksamkeit auf die beschränkt, die in einer besonderen Gnadenbeziehung zu Ihm stehen. "Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise an denselben teilgenommen, auf daß er durch den Tod den zunichte machte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreite, die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft un­terworfen waren."

Es ist daher sehr deutlich, daß Christus für Sein erlöstes Volk, für die Geheiligten, für die Kinder, ein barmherziger und treuer Hoherpriester ist. "Denn er nimmt fürwahr sich nicht der Engel an, sondern des Samens Abrahams nimmt er sich an." Nach Seinem wohlgefälligen Willen machte Er sündige Menschen zu Kindern Gottes, während die Engel in der Stellung bleiben, die sie von jeher einnahmen.

 "Darum mußte er den Brüdern in allem gleich werden," denn sonst hätte Er kein "barmherziger und treuer Hoherpriester" sein können. Vor Seinem Kommen in diese Weit war Christus kein Hoherpriester. Erst 'mußte Er den Brüdern in allem gleich werden; erst mußte Er am Kreuz das Erlösungs­werk vollbringen, bevor von einem Hohenpriester die Rede sein konnte. 

Erst nachdem Er diese Erde verlassen hatte und zu Seinem Vater gegangen war, konnte Er als der Ho­hepriester Seines erlösten Volkes betrachtet werden; und so sehen wir Ihn mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Sein Hohepriestertum ist ein Amt, das Er im Himmel für d i e bekleidet, die von der Welt abgesondert und zu Gott ge­bracht sind.

Nachdem uns das alles vorgestellt worden ist, finden wir erst am Ende des zweiten Kapitels Christus als Hohenprie­ster. Er ist "in den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer Hoherpriester, um die Sünden des Volkes zu sühnen." Das erinnert uns an den großen Versöhnungstag. Dort er­schien der Hohepriester und vollzog die Versöhnung für das ganze Jahr; und nur einmal im Jahr ging er in das Allerhei­ligste, um das Blut der Versöhnung vor Gott zu bringen. 

Was der Hohepriester oder die Priester auch sonst zu tun haben mochten, welche Opfer sie auch täglich bringen mußten, so geschah doch diese Handlung ‑ die Versöhnung im Innern des Vorhangs ‑ nur einmal im Jahr, und zwar zu der von Gott bestimmten Zeit. Der Hohepriester vertrat bei dieser Gelegenheit das Volk und opferte den Bock, auf den das Los Jehovas gefallen war, für die Sünden des Volkes.

 Da­nach brachte er das Blut in das Innere des Vorhangs, um also "Versöhnung zu tun wegen der Unreinigkeiten der Kin­der Israel und wegen der Übertretungen in allen ihren Sün­den." Dann trat er aus dem Allerheiligsten, legte seine bei­den Hände auf den Kopf des noch lebenden Bockes, des Bockes Asasel, der in die Wüste gesandt werden sollte, und bekannte auf ihn alle ihre Sünden; und schließlich wurde dieser Bock in die Wüste fortgesandt, als ein Sinnbild, daß alle Sünden hinweggetan waren. (3. Mose 16)

Zur Versöhnung Israels bedurfte es also zweier Böcke. Bei­de dienten dazu, die Versöhnung in ihren beiden bedeut­samsten Seiten vorzustellen. Die eine Handlung war der Ausdruck des gerechten Gerichts Gottes über die Sünde, die andere die damit in Verbindung stehende Tröstung für uns, daß alle Sünden hinweggetan sind und nicht mehr ge­sehen werden. Beide Handlungen finden wir im Neuen Testament, z. B. in Römer 3 und 4 deutlich wieder. 

Der letzte Teil des dritten Kapitels entspricht mehr dem Lose Jehovas, während der letzte Teil des vierten Kapitels uns das Los vor Augen stellt, das auf den Bock Asasel fiel. Der erste Fall zeigt uns, daß Gott gerecht ist und den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist; und hier finden wir das Blut auf dem Gnadenstuhl. Im zweiten Fall aber sehen wir Christus als den, "der unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist"; denn Seine Dahingabe wegen unserer Sünden wird uns in dem Bock vorgebildet, der mit den Sünden des Volkes in die Wüste geschickt wurde. Indes denke man nicht, daß der Bock Asasel ein Vorbild der Auferstehung sei. Hiervon fin­den wir in diesen Opfern nichts. 

Andere Stellen reden da­von, wie z. B. die Opferung Isaaks, oder auch das Opfer, das ein Aussätziger zu seiner Reinigung bringen mußte. Hier mußte der lebendige Vogel, nachdem er in das Blut des ge­schlachteten Vogels getaucht worden war, im offenen Feld freigelassen werden (3. Mose 14). Bei dem Bocke Asasel war es anders. Zwar wurde er freigelassen, jedoch in die Wüste, in ein abgesondertes, unbewohntes Land getrieben. Der Himmel aber ist kein unbewohntes Land und kann nicht mit einer Wüste verglichen werden. Es soll daher nur, wie ich glaube, das Wegtun der Sünde Israels, die Vernichtung des sichtbaren Zeugnisses ihrer Ungerechtigkeiten, vorge­stellt werden.

Das, was nun auf dem großen Versöhnungstage geschah, ist ein Vorbild von dem, was Christus tat. Nachdem Er sich selbst zum Opfer hingegeben, nachdem Er Sein Blut zur Vergebung der Sünden vergossen hatte, ging Er mit diesem Blut in das himmlische Heiligtum und brachte es dort als der große Hohepriester Seines Volkes vor das Angesicht Gottes, um dadurch für die Sünden des Volkes Sühnung zu tun. Die­se Versöhnung ist eine ewige. 

"Er aber, nachdem er e i n Schlachtopfer für die Sünden dargebracht, hat sich für im­merdar gesetzt zur Rechten Gottes" (Hebr 10, 12). "Die Sum­me dessen aber, was wir sagen, ist: Wir haben einen solchen Hohenpriester, der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln" (Hebr 8, 1). Eine jährliche Wiederholung der Versöhnung findet nicht mehr statt. Das Blut der Versöhnung ist durch den großen Hohenpriester in die Gegenwart Gottes gebracht und durch Gott angenom­men worden; und Er, der es dorthin gebracht hat, hat sich zur Rechten Gottes gesetzt.

 Dort sitzt Christus als der Hohepriester Seines Volkes für immer. Sein Blut ist im Hei­ligtum. Das Werk der Versöhnung ist nicht nur vollbracht, sondern die Versöhnung ist auch angenommen. Die Geheiligten stehen kraft dieser angenommenen Versöhnung, kraft dieses Blutes in der Gegenwart Gottes und werden, da Ihr großer Hoherpriester nie Seinen Platz im Heiligtum verläßt, für Immer dort sein. Er lebt, um für immer ihren Platz in der Gegenwart Gottes zu bekleiden.

Obschon nun, wie bereits gesagt, die Versöhnung allein durch den Hohenpriester geschehen ist, so war das, genau gesprochen, doch nicht der eigentliche, gewöhnliche Dienst des Priesters. Es bildete vielmehr die Grundlage und war daher mit seinem Dienst eng verbunden. Die Versöhnung für die Sünden war die erste Forderung und der Grund, auf dem der Priester täglich vor Gott zugunsten des Volkes er­scheinen konnte.

Damit kommen wir zu einer anderen, nicht weniger wichtigen Offenbarung betreffs der Person Dessen, dem es allein ge­ziemte, der wahre Hohepriester zu sein. "Denn worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht werden." Herrliche Wahrheit! Laßt uns einige Augenblicke über diese Worte nachsinnen, nicht weil es sich dabei um uns handelt, sondern weil Er hier der Gegenstand ist ‑ 

Er, Dessen Herz so oft durch Seine Freun­de wie durch Seine Feinde versucht wurde. Welch eine Zärt­lichkeit Seines Herzens, weich eine gnädige Fürsorge, daß Er durch die Menschen versucht werden sollte, um denen, die versucht werden, um so besser helfen zu können!

Welche Deutung aber hat hier das Wörtchen "versucht"? Diese Frage ist sehr wichtig; denn mancher, der sich einen falschen Begriff davon machte, ist dadurch auf schreckliche Irrwege gekommen. Wir finden dieses Wort, nachdem zuvor von den "Geheiligten" gesprochen ist; sicher bezeichnet es eine innere Neigung zum Bösen. 

Kein Gedanke daran; denn die Behauptung, der Herr sei auf eine solche Weise versucht worden, wäre Lästerung. Oberhaupt geht es, wenn von dem Priestertum zu unseren Gunsten die Rede ist, um Schwachheiten und Versuchungen, aber keineswegs um Sünden und Übertretungen. Wie würde der Herr auch mit unseren Sünden Mitleid haben können, da Er doch die Sün­de haßt? 

Das ist unmöglich. "Da wir nun einen großen Ho­henpriester haben, der durch die Himmel gegangen ist, Jesum, den Sohn Gottes, so laßt uns das Bekenntnis festhalten; denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mit­leid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde" (Hebr 4, 14. 15).

Der Heilige Geist offenbart uns hier eine Wahrheit, die so­wohl mit der Herrlichkeit Christi, als auch mit dem Bedürfnis des Gläubigen in vollem Einklang steht. Es ist sicher wahr, daß Christus nie eine Sünde tat; aber der Heilige Geist läßt uns hier eine weit herrlichere Wahrheit verstehen. Christus ist in allem versucht worden in gleicher Weise wie wir, aus­genommen die Sünde. 

Er hat nicht nur nie gesündigt, son­dern Er hatte keine Sünde; und das ist ein großer Unter­schied. Es war in Ihm keine Sünde; es gab in Ihm keinen An­knüpfungspunkt für die Sünde. Nicht nur willigte Er nie in die Sünde ein, nein, es gab in Ihm keine Sünde, in die Er hätte einwilligen können. In Seiner Natur als Mensch wohnte nichts Böses, auf das der Teufel hätte einwirken können. 

Das Böse kam Ihm von außen her entgegen. In einer gefal­lenen und verderbten Weit war Er den listigen Anläufen des Teufels ausgesetzt. Alles, was Ihm irgend Schmerz bereiten konnte, war gegenwärtig, und zwar nicht nur in den Juden, sondern auch in Seinen Jüngern. Am Anfang Seiner Lauf­bahn suchte der Teufel Ihn durch das, was angenehm war, zu verführen, und am Ende trachtete er Ihn zum Aufstand gegen Gott zu reizen, indem er Ihm die unaussprechlichen Schrecken jenes Todes vorstellte, den Er erdulden sollte.

So ist also Christus gleichwie wir zu allen Zeiten, unter allen Umständen ‑ sei es durch eine Vorspiegelung des Schmer­zes oder der Freude ‑ versucht worden. Jedenfalls ist Er ‑und das dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren ‑ in weit höherem Maße als wir versucht worden. "Keine Versuchung hat euch ergriffen, als nur eine menschliche," sagt Paulus in 1. Korinther 10, 13. 

Kann das von dem Herrn Jesus gesagt werden? Sind wir nicht alle Überzeugt, daß der Herr mehr als irgendein anderes Wesen versucht wurde, und daß keine Versuchung mit der Seinigen zu vergleichen ist? Es ist wahr, daß Er in allem, gleichwie wir, versucht worden ist, aber kei­neswegs sind wir, wie etliche behaupten, in allem versucht worden, gleichwie Er. 

Wenn wir unseren Blick auf die drei uns bekannten Versuchungen Jesu in der Wüste richten, müssen wir dann nicht bekennen, daß wir in einer solchen Weise nie vom Teufel versucht worden sind? Unsere Versu­chungen mögen mit denen des Herrn in einigen Punkten übereinstimmen, aber sie sind niemals mit ihnen zu verglei­chen. Dazu wurde Er außer diesen drei Versuchungen vier­zig Tage hindurch von dem Teufel versucht. Sind wir je in einer solchen Weise versucht worden? Sicher nicht, und wir werden, wie ich glaube, auch nie in solche Versuchungen kommen.

Während daher der Herr in allem versucht worden ist, gleich­wie wir, so wurde Er dennoch in einer Weise versucht, die Ihm allein eigen war. Das konnte nicht anders sein; denn Er war, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht in einem ge­wöhnlichen Sinn ein natürliches Glied, und selbst nicht ein natürliches Haupt der Menschheit. Er wurde Mensch ‑ das ist unstreitig wahr ‑ aus Gnaden geboren von einer Jungfrau; aber Er war der Sohn Gottes, ja Gott Selbst und im Begriff, den ersten Platz in einer neuen Schöpfung einzunehmen. 

Er war das Gegenbild des ersten Menschen ‑ indem sich dieser in Sünde, Er aber in Gerechtigkeit und Gnade offenbarte. Während der erste Mensch, Adam, in den gün­stigsten Umständen fiel und sich und seinen Nachkommen den Tod brachte, blieb der zweite Mensch, Jesus Christus, Sieger in den fürchterlichsten Versuchungen und umringt von Tod und Elend; nun ist Er der verherrlichte, aus den Toten auferstandene Mensch im Himmel.

Der Zustand, in dem Adam vor dem Fall war, erklärt uns, was Versuchung ist; denn die allgemeine Annahme, daß eine Versuchung das inwendige Böse voraussetzt, ist ganz und gar falsch. Wenn wir so denken, vermengen wir "Versu­chung" mit "Begierde oder Neigung zur Sünde". Wurde Adam nicht versucht? Gewiß. Aber war Sünde oder eine innere Neigung zum Bösen in Adam, bevor er fiel? Keines­wegs. Es bedarf keiner Sünde für die Versuchung in dem hier bezeichneten Sinn. Die erste Versuchung trat an jeman­den heran, der ohne Sünde geschaffen war. 

So war es auch bei dem zweiten Menschen. Er war ohne Sünde und, was noch mehr war, als "das Heilige" geboren; Er lebte, ohne „die Sünde zu kennen"; und wie könnte daher von einer in Ihm wohnenden Neigung zur Sünde die Rede sein? Es war die Absicht des Teufels, die Sünde in Ihn hineinzubringen. Doch selbst am Ende Seines Lebens kam "der Fürst dieser Welt und fand nichts in ihm". Satan fand in dem Menschen Christus Jesus weder innere Sünde, um sie aufzuwecken, noch irgendwelchen Mangel an Gemeinschaft und Abhän­gigkeit von Gott, wodurch die Sünde sich hätte festsetzen können. 

Wenn der Teufel es nur dahin hätte bringen können, daß der Herr Jesus Seinen eigenen Willen getan hätte, so würde die Sünde vorhanden gewesen sein, und alles wäre verloren gewesen. Doch, Gott sei Dank! das konnte nicht ge­schehen; denn Er war sowohl eine göttliche Person als der abhängige Mensch. Christus ist ebensowohl Gott, wie es der Vater und der Heilige Geist ist. 

Seine Menschwerdung hat nicht im geringsten Seine Gottheit geschwächt, da Er die Menschheit in Seiner Person zur Vereinigung mit Gott er­hob. Sowohl Seine Gottheit als auch Seine Menschheit be­hielten ihre eigentümlichen Eigenschaften; und beide Na­turen waren in ihrer ganzen Vortrefflichkeit in der Person Jesu vereinigt. Und ein solcher Jesus kam auf diese Erde, um Seinen Gott und Vater zu verherrlichen und uns von allen unseren Sünden zu erlösen. Und einen solchen Jesus haben wir als Hohenpriester vor Gott.

Welch eine Kraft liegt daher in den Worten: "Worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde .. 21 Ja, Er litt. Und wo je­mand leidet, wenn er versucht wird, da kann von keiner Nei­gung zur Sünde die Rede sein. Der Sünder tut seinen eige­nen Willen ‑, er kümmert sich nicht um den Willen Gottes, und das ist Sünde. Aber Jesus tat nie Seinen eigenen Willen. 

Er wollte ihn nie tun. Er zögerte nie einen einzigen Augenblick, den Willen Gottes zu tun. "Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun." So war es, bevor Er kam, so war es am Anfang, so war es am Ende, so war es während Seines ganzen Lebens. Nicht einen Augenblick tat Er Seinen eigenen Willen. Er lebte als Diener in völliger Abhängig­keit von Seinem Vater. Er war ‑ mit einem Wort ‑ der voll­kommene Mensch, der Einzige, der n u r den Willen Gottes getan hat. Darum hat auch niemand so gelitten wie Er; denn nach dem Maß der Liebe und Heiligkeit leidet jemand mehr oder weniger, abgesehen von der Herrlichkeit, die Er allein besaß.

So ist es jetzt mit den Kindern Gottes. Sie wollen nicht ihren eigenen, sondern den Willen Dessen tun, den sie als Vater" anrufen dürfen. Das aber ist keine geringe Sache in einer Welt, in der nichts als Eigenliebe herrscht und die In Übereinstimmung mit ihrem eigenen Willen lebt und handelt. Der Herr Jesus tat gerade das Entgegengesetzte, und so auch die, die Ihm angehören. Petrus nennt uns "Auserwählte nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, durch Heiligung des Gei­stes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi." 

Der Gehorsam Christi kann also auch von uns gefordert wer­den. Er unterwarf Sich stets vollkommen dem Willen des Vaters. Er litt ‑, und dieses Leiden war eine Folge der Versu­chungen Satans, die dem entgegentraten, der die Wonne Gottes war, und der Sich stets weigerte, Seinen Gehorsam aufzugeben. Überdies litt Er, indem sich Seine Seele mit heiligem Abscheu gegen das Böse sträubte, das nicht in Ihm, wohl aber überall außerhalb von Ihm war.

Die Einflüsterungen des Feindes bewirkten, anstatt Seinen eigenen Willen wachzurufen, in Ihm nur Leiden und Betrüb­nis. Er litt eben deshalb, weil Er der Heilige war. Darum le­sen wir: "Denn worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht werden." Wie beachtenswert ist es daher, daß wir als "Söhne Gottes" in der neuen Natur und durch den Heiligen Geist zu demsel­ben Gehorsam berufen sind!

Von diesem Gesichtspunkt aus werden die Christen im He­bräerbrief betrachtet. Sie sind erlöst ‑, sie sind geheiligt; sie sind Kinder Gottes; Christus nennt sie Seine Brüder. Aber zur gleichen Zeit befinden sie sich auf dem Schauplatz der Versuchung in der Wüste. Der Psalmist erinnert die Kinder Israel an den „Tag der Versuchung in der Wüste". 

So ist es auch mit uns; wir befinden uns in der Wüste; die Jetztzeit ist der Tag der Versuchung. Wir werden versucht und vielfältig auf die Probe gestellt. Unser Gott läßt alles zum Guten mit­wirken; denn wir durchschreiten eine Stätte, wo jeder Ur­sprung von Macht, wo jede gute und vollkommene Gabe, wo das Licht, das unseren Weg bescheint, von oben kommt und nicht von uns selbst oder von der uns umgebenden Welt. Es gibt nichts um uns her und nichts in unserer alten Natur, das uns helfen könnte. Vielmehr ist alles geeignet, uns zu ver­leiten und unsere Schritte zu hemmen, während der Teufel uns zum Bösen verführt. Doch Christus weiß es; 

Er hat Sein wachsames Auge sowohl auf den Teufel als auch auf uns gerichtet. Ein Feldherr, der früher selbst in einer belagerten Stadt dem Feinde die Stirn zu bieten hatte und ihn zum Ab­zuge zwang, kann am besten den Zustand seiner Freunde ermessen, die, von demselben Feinde umzingelt, noch mit einem Verräter in der Stadt zu kämpfen haben. Um wieviel mehr kann daher der Herr Jesus mit uns Mitleid haben! 

Es gibt keinen größeren Irrtum als die Annahme, daß der Herr Jesus, um mit uns fühlen zu können, den alten Menschen in Sich gehabt haben müsse. Wäre das der Fall gewesen, so würde die Person Christi in ihrer moralischen Herrlichkeit und Vollkommenheit zunichte gemacht sein; und weder Sein Werk, noch dessen Folgen würden von einigem Wert sein; ja, wir würden keinen Erlöser haben und da stehen, wo der Unglaube steht, der den Sohn und Sein Werk leugnet. 

Es läuft fast auf eins hinaus, ob wir die Gottheit Christi leugnen, oder Sein vollkommenes, fleckenloses Menschsein unter­graben; denn beides hat die schrecklichsten Folgen, beides beraubt uns des vollkommenen Menschen, der allein kraft Seiner Vollkommenheit imstande war, unsere Sünden auf Sich zu nehmen und die Schuld zu bezahlen. Ich wiederhole es: Er, der unter Versuchungen zu leiden wußte, kann in voll­kommener Weise mit uns fühlen, die wir nicht nur gegen denselben Versucher, sondern auch gegen das Fleisch in uns zu wachen haben. Sollte Sein Mitgefühl, weil Er den Kampf gegen das Fleisch nicht zu bestehen hatte, darum geringer sein? Im Gegenteil; denn der alte Mensch hält je­manden in dieser oder jener Weise mit sich selbst beschäf­tigt, während Er ganz frei war, um zu lieben, zu dienen und zu leiden.

Christus kommt jedoch, wie bereits bemerkt, nur den Gläu­bigen, den Kindern Gottes, den heiligen Brüdern, die "der himmlischen Berufung teilhaftig sind", zu Hilfe. Sie sind die "Geheiligten". Das Priestertum Christi steht nur mit den Heiligen in Verbindung. Darum erwähnt der Apostel, wenn er von dem Priestertum Christ! spricht, mit keinem einzigen Wort die "Sünden". Dennoch gibt es viele Christen, die meinen, daß Christus als Hoherpriester der Sünden wegen auf­trete, die wir von Zeit zu Zeit begehen. Die Schrift lehrt das nirgends. Im Gegenteil, unser Brief verbindet sein Priester­tum mit der Hilfe und dem Mitleiden, das wir erfahren, wenn wir versucht werden, wie Christus versucht ward.

Christus hat Mitleid mit unseren "Schwachheiten", keines­wegs aber mit unseren Sünden. Wenn ein Gläubiger gesün­digt hat, so ist von seiten Gottes dafür eine andere Vorsorge getroffen worden; denn in diesem Falle ist Christus unser Sachwalter bei dem Vater" (1.Joh 2). Hier aber ist von dem Hohenpriestertum Christ! die Rede; und in dieser Eigen­schaft hat Er mit unseren Sünden nichts zu tun. Als Hoher­priester beschäftigt Er Sich mit unseren "Schwachheiten".

 "Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausge­nommen die Sünde." Er sitzt nun zur Rechten Seines Vaters; und dort ist Er in Seiner liebevollen Sorge für mich beschäf­tigt, um mich inmitten all der Leiden und Prüfungen, die ich durch die Menschen, durch die Welt und den Teufel um Sei­nes Namens willen zu ertragen habe, zu unterstützen und mir zu helfen. Er ist in der Herrlichkeit; ich bin in der Wüste, jedoch mit der Hoffnung, bald dort zu sein, wo Er ist, in derselben Herrlichkeit. 

Doch will Er uns ‑ gepriesen sei Sein Name! ‑ während unserer Pilgerschaft durch diese Welt nicht allein lassen. Er ist uns ein großer Hoherpriester; und wir dürfen mit Freimütigkeit zu Ihm gehen, "damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzei­tigen Hilfe". Er kennt ‑ und das ist überaus herrlich ‑ jedes Leid aus eigener Erfahrung. Er weiß, welch ein Feind Satan ist: Er kennt seine Schlauheit, List und Bosheit. Er, der Hei­lige, ward vollkommener Mensch, ward uns in allem gleich, ausgenommen die Sünde: und darum kann Er in vollkom­mener Weise mit uns fühlen, ja, mit uns leiden in unseren Schwachheiten.

Die Wahrheit, daß Er nicht nur nicht sündigte, sondern ohne Sünde war und daß Seine Versuchungen nichts mit Sünde zu tun hatten, findet im folgenden Kapitel (Hebräer 5) eine nähere Erklärung. "Denn jeder aus Menschen genommene Hohepriester wird für Menschen bestellt in den Sachen mit Gott." Nun, bezieht sich das nicht auf den Herrn Jesus? fragt vielleicht jemand. 

War Er nicht aus den Menschen genom­men? ‑ Meine Antwort ist, daß der Heilige Geist hier durch­aus nicht das Priestertum Christ! beschreibt, sondern gera­de im Gegenteil das jüdische Priestertum als einen Gegen­satz zu dem Seinigen bezeichnet. Das geht deutlich aus den nachfolgenden Worten hervor: Auf daß er sowohl Gaben als Schlachtopfer darbringe für die Sünden, der Nachsicht zu haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden, indem auch er selbst mit Schwachheit umgeben ist; und um dieser willen muß er, wie für das Volk, so auch für sich selbst opfern für die Sünden." 

Das räumt für den Gläubigen jede Schwie­rigkeit hinweg. Wenn der hier in Rede stehende Hoheprie­ster nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst, für seine eigenen Sünden opfern muß, so wird doch niemand wagen, das auf Christus anzuwenden. Wir lesen weiter: "Und niemand nimmt sich selbst die Ehre, sondern als von Gott berufen, gleichwie auch Aaron. Also hat auch der Chri­stus sich selbst nicht verherrlicht." 

Der Apostel beginnt hier mit einem Vergleich, jedoch nur, um den Gegensatz um so schärfer hervortreten zu lassen. Allerdings verherrlichte Christus Sich nicht Selbst; aber Er, der zu Ihm sagte: "Du bist mein Sohn!" derselbe Gott setzte Ihn als Priester ein. "Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchise­deks." Wir sehen also, daß hier, wo uns die Wurzel, der Stamm und die Früchte vor Augen gestellt werden, das We­sen des Priestertums Christi darin besteht, daß Er nicht nur der Sohn des Menschen, sondern auch der Sohn Gottes war.

 Der Hohepriester, von dem in den ersten Versen des 5. Ka­pitels die Rede ist, ist, wie jeder andere, nur ein Kind Adams ‑ ein Hoherpriester, der "Nachsicht zu haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden," und zwar einfach deshalb, weil er nicht besser war. Er war, wie jeder andere, "mit Schwachheit umgeben." Kein Wunder daher, daß er mit sei­nen Mitmenschen Nachsicht hatte. Doch dieses alles bildet einen völligen Gegensatz zu der Majestät und der Gnade des himmlischen Hohenpriesters, der, obwohl der eingebo­rene Sohn Gottes, sich dennoch zur Menschwerdung ernie­drigte, um als Sohn des Menschen hier auf Erden zu wan­deln.

Das Priestertum Christ! steht also, wie bereits gesagt, in Be­ziehung zu den Versuchungen und Schwachheiten derer, die Er die Seinigen nennt, die Er liebt und bis ans Ende lieben wird. Es dient zu ihrer Unterstützung, wenn sie versucht werden, wie Er es ward, wenn sie um der Gerechtigkeit oder um Seines Namens willen leiden, wenn sie ‑ mit einem Wort ‑ durch irgend etwas, das nicht die Folge ihrer Sün­den ist, geprüft werden. Wohl hat der Herr in Seiner Gnade auch bezüglich der Sünden Vorsorge getroffen. Er kann sich auch mit jemandem beschäftigen, dessen Leiden eine Folge seiner eigenen Sünden sind; allein das wird uns hier nicht gezeigt. 

Es ist sehr wichtig, die verschiedenen Unterweisun­gen der Heiligen Schrift nicht miteinander zu vermengen. Eine Verbindung des Hohenpriestertums Christ! mit unseren Sünden und Gebrechen mag vielleicht unseren Wünschen und Gedanken mehr liegen, aber darauf kommt es nicht an. Der Glaube darf sich nicht um menschliche Urteile kümmern; sein Weg ist, die Bibel zu erforschen und sich dem Urteil Gottes zu unterwerfen. Eine völlige Unterwürfigkeit unter das Wort allein wird uns in den Stand setzen, die Absicht und die Gedanken des Heiligen Geistes recht zu verstehen.

Als wir noch Gottlose und Sünder waren, konnte natürlich nicht von Mitleid und demzufolge nicht von einem Priester­tum die Rede sein. Wir bedurften damals keines Mitleids mit unseren Sünden, sondern eines Sühnopfers für unsere Sünden ‑ eines Sühnopfers, wie nur Christus es darbringen konnte. Ein rechtlich gesinnter Mensch, und vor allem ein Heiliger Gottes, begehrt kein Mitleid mit seinen Sünden. Christus litt für uns, der Gerechte für die Ungerechten, und durch Sein kostbares Blut reinigte Er uns von unseren Sün­den. Das war der Weg, auf dem Gott diesem unserem Be­dürfnis begegnete. Aber Mitleid mit unseren Sünden kann Er nicht haben. 

Jetzt aber, nachdem wir in Christus eine neue Schöpfung geworden und nicht allein im Blut, sondern auch im Wasser durch das Wort gewaschen sind ‑ "Dieser ist, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus, der Christus, nicht durch das Wasser allein, sondern durch das Wasser und durch das Blut" ‑ jetzt, da wir nach Seinen ei­genen Worten in Christus ganz rein und ohne Sünde sind, haben wir etwas anderes nötig als einen Versöhner für un­sere Sünden; wir brauchen eine Person, die uns in allen Ver­suchungen, in allen Mühen und Gefahren, denen wir auf Er­den um Seines Namens willen ausgesetzt sind, vollkommen unterstützen, ja selbst mit uns leiden kann.

Und das ist es eben, was der Herr Jesus nun für uns tut. Er beschäftigt sich mit jedem einzelnen von uns p e r s ö n ‑11 c h . Er ist nicht der Hohepriester der Versammlung; das wird nirgends im Neuen Testament gesagt; nein, es ist ein persönlicher Segen, eine persönliche Beziehung zwischen Christus und den Seinigen. Wir sind in dieser Welt den An­griffen des Feindes ausgesetzt; wir durchschreiten als Pil­ger und Fremdlinge die dürre Wüste, und als solche haben wir das Priestertum Christ! nötig.

Als die Kinder Israel durch die Wüste reisten, wurde der Hochmut des menschlichen Herzens immer wieder offenbar. So einmal, als Korah sich gegen Moses auflehnte und erklär­te, daß, da sie alle ein heiliges Volk bildeten, sie keinen Prie­ster mehr brauchten. Die Folge war, daß unter dem Volk eine große Plage entstand und daß die, welche den Aufruhr angestiftet hatten, durch den Zorn Jehovas von der Erde verschlungen wurden. Kurz nachher aber wird dem Volke in einer bemerkenswerten Weise die Bedeutung des Priester­tums vorgestellt. 

Jedes Familienhaupt mußte für jeden einen Stab ins Heiligtum bringen. So auch Aaron. Als nun Moses am folgenden Morgen in das Zeit des Zeugnisses trat, sah er, daß der Stab Aarons blühte und Früchte trug. Dieser Stab des Hohenpriesters war demzufolge das Kennzeichen des auserwählten Priestertums. Die Israeliten konnten nicht ohne Autorität sein; kein Gläubiger kann das wünschen; denn nicht der Mensch, sondern Gott muß regieren. Den­noch war es nicht die richterliche Autorität des Stabes Mo­ses, der nur Verwüstung und Gericht über sie hätte bringen können. 

Der Stab Aarons hingegen war der Ausdruck der priesterlichen Gnade; er war der Stab der lebendigen Kraft, des Lebens, das den Tod überdauert und Früchte hervor­bringt. Der Heilige Geist zeigt uns also in einer besonderen Weise, daß etwas ganz anderes nötig ist, um das Volk durch die Wüste zu führen, als wenn es sich um seine Befreiung aus Ägypten handelt. Als die Israeliten auf der anderen Seite des Roten Meeres standen, waren sie zwar aus den Händen ihrer Feinde befreit; aber wer würde sie durch die Wüste ge­führt haben, wenn Gott nicht auch in dieser Beziehung Vor­sorge getroffen hätte. Sicher niemand. Daher bedurfte es der Gnade des Priestertums, vorgestellt in dem blühenden Stabe Aarons; es bedurfte der Kraft eines endlosen Lebens (4. Mose 16 und 17).

So begegnet der Herr Jesus auch unseren Bedürfnissen wäh­rend unseres mühevollen Wandelns auf der Erde. "Er ver­mag völlig zu erretten, die durch ihn Gott nahen." Er errettet sie völlig. Hier ist nicht von der Erlösung der Sünder, son­dern von der Erlösung der Heiligen die Rede, von der Erlö­sung jener, denen, wie der Apostel sagt, "ein solcher Hoher­priester geziemte: heilig, unschuldig, unbefleckt, abgeson­dert von den Sündern, und höher als die Himmel geworden." 

Solche errettet Er, bringt sie durch alle Mühen, durch all die Angriffe Satans hindurch, und über die Folgen der eigenen Schwachheiten hinweg wohlbehalten ins Vaterhaus. Herr­liche Wahrheit! Ja, unser treuer Führer, unser mitfühlender Hoherpriester wird uns in dieser Wüste nicht verlassen. Er leidet mit uns, die wir in Ihm heilig, vollkommen und ohne Sünde sind. 

Nicht, als ob wir nicht sündigen, Gott bewahre uns vor diesem Irrtum! Nur zu oft willigen wir in die Versu­chungen Satans ein. Aber auch in dieser Beziehung hat der Herr in Seiner unendlichen Gnade Vorsorge getroffen, wo­von jedoch hier nicht die Rede ist. Nur mit den Seinigen, nur mit den Schwachheiten und den Versuchungen, die Ihm Selbst auf dieser Erde begegnet sind, kann Er Mitleid ha­ben. Der Herr schenke uns allen, diese Wahrheit recht zu verstehen.