Hebräer 4,14‑16 Hohepriestertum Kelly William BdH 1876

01/23/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Das Hohepriestertum Christi

B.d.H. 1876 (Hebräer 4,14‑16)

Das Hohepriestertum unseres Herrn wird von vielen Gläu­bigen nicht richtig verstanden. Es herrscht Unklarheit über die Bedeutung, die es besitzt, wie über die Grundlage, auf der es beruht. Man hat keine richtige Vorstellung von der Verbindung, in der das Hohepriestertum Christi mit anderen Wahrheiten steht, z. B. mit der Erlösung; es wird nicht er­kannt, was Gott uns dadurch geben will. Viele merken nicht, wie viel sie durch ihr mangelhaftes Verständnis verlieren. Verweilen wir daher einige Augenblicke bei dieser wichtigen Wahrheit, um zu prüfen, was die Heilige Schrift darüber lehrt!

Wir finden unser Thema im Brief an die Hebräer behandelt. Dieser Brief stellt uns ein erlöstes Volk von Pilgern und Fremdlingen vor Augen. Es befindet sich nicht in Ägypten, nicht in Kanaan, sondern auf dem Wege durch die Wüste. 

Damit will ich nicht sagen, daß die hier dargestellten Gläu­bigen nicht ‑ gleich anderen ‑ ihren Platz in den himmli­schen Örtern hätten; aber von dieser Seite werden die Kin­der Gottes in diesem Briefe nicht betrachtet. Von solchen Segnungen, über die im Epheserbrief und zum Teil auch im Kolosserbrief gesprochen wird, finden wir hier kein Wort. Es ist sogar an keiner Stelle von unserer Auferstehung die Rede, wie es in den Briefen an die Römer und an die Philip­per der Fall ist.

Der Heilige Geist stellt uns im Hebräerbrief von Anfang an Christus als sitzend zur Rechten Gottes vor Augen; und das ist einer der bezeichnenden Charakterzüge Seines Priester­tums. Solange Christus auf Erden war, konnte Er kein Prie­ster sein. Sein Priestertum ist ausschließlich himmlisch; Er ist der Priester für ein himmlisches Volk. 

Der Vorhang ist zerrissen, der Himmel geöffnet und der Heilige Geist als Folge der Erlösung und der Verherrlichung Christi auf die Erde herniedergestiegen. Die Grundlage ist fest und sicher durch die Tatsache, daß Christus, nachdem Er die Reinigung unserer Sünden bewirkt, nun im Himmel und demnach in einer lebendigen Verbindung mit denen ist, derer Er Sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen. 

Darum werden die Gläu­bigen, an welche dieser Brief gerichtet ist, im dritten Kapitel "Genossen der himmlischen Berufung" genannt. Sie waren nicht nur berufen, später den Himmel zu ererben, sondern Er, der sie berief, war auf Grund einer vollbrachten Erlösung bereits im Himmel. Und das ist sehr wichtig; denn die Tat­sache, daß unser Herr diesen Platz im Himmel einnimmt, wird hier als die Folge des vollkommenen, allgenugsamen Opfers betrachtet, das Er selbst für unsere Sünden dar­brachte. 

Er, der Sohn Gottes, der auf die Erde gekommen war, um das Verlorene zu suchen und zu erretten, nahm auf Golgatha den Zorn Gottes auf sich; und nachdem Er durch sich selbst die Reinigung unserer Sünden bewirkt hatte, stieg Er in den Himmel empor und setzte sich zur Rechten Gottes, um dort eine neue Art von Tätigkeit zu beginnen, die sich darauf gründete, daß Er die Sünde durch das Opfer Sei­ner selbst zunichte gemacht hat.

Damit ist die Anwendung des Priestertums Christ! für die Gläubigen klar ans Licht gestellt. Es wird ein erolöstes Volk vorausgesetzt. Es wird vorausgesetzt, daß das große und durchaus notwendige Werk der Gnade zugunsten der Gläubigen bereits vollbracht ist. 

Es wird vorausgesetzt, daß sie ohne irgendwelche Unsicherheit in diesem Werke ruhen, aber dennoch nötig haben, inmitten vie­ler Schwierigkeiten, Versuchungen und Verfolgungen durch den Herrn bewahrt zu werden. Die Lehre des Hebräerbriefes zeigt uns ganz klar, daß Gott alles getan hat, was bezüglich der S ü n d e n zu tun nötig war, bevor Christus in den Himmel einging, um das Priesteramt zu übernehmen.

Mangelhafte Auffassungen über diese wichtige Wahrheit sind die Ursache der Verwirrung und Finsternis, die so viele Ge­müter hinsichtlich des Priestertums Christi beherrschen. Wenn der Gläubige nicht in dem vollbrachten Werk Christi ruht und kein gereinigtes und vollkommenes Gewissen hat, so nimmt er das Priestertum Christi in Anspruch, um das Fehlende zu ersetzen. 

Der eigentliche Wert des Priestertums geht aber auf diese Weise gänzlich verloren; denn die erste Sache ist, Christus zu kennen und zu wissen, daß die Sün­den durch Sein Blut vergeben sind. Solange man über diesen Punkt nicht volle Gewißheit hat, kann von einer Zueig­nung des Priestertums durchaus nicht die Rede sein; und ach! die meisten Gläubigen besitzen nicht viel mehr als eine Hoffnung bezüglich ihrer Errettung. 

Das Priestertum verliert seine wahre Bedeutung, solange nicht die Erlösung in ihrer Einfachheit und Fülle angenommen ist; in einem solchen Fall werden der Wandel und das Priestertum Christi in die Waagschale geworfen, um das zu vollbringen, was der Tod des Herrn am Kreuz bereits vollbracht hat.

Eine nähere Prüfung des Hebräerbriefes wird uns das noch deutlicher machen. Bevor der Heilige Geist über das Prie­stertum zu sprechen beginnt, wird uns mit der größten Ge­nauigkeit und Vollständigkeit die Person des Herrn Jesus vorgestellt, und zwar in zweifacher Weise. 

Wir betrachten Ihn als den Sohn Gottes und als den Sohn des Menschen; und beide Naturen waren notwendig für Sein Priestertum. Wäre Er nicht in einem Sinne, wie ein anderer es nicht sein kann, der Sohn Gottes gewesen, so gäbe es kein Priester­tum, wie es uns in diesem Briefe vorgestellt wird;

 und wäre Er andererseits nicht ebenso wie ein anderer Mensch ‑ je­doch in einem Ihm allein eigenen Charakter ‑ der Sohn des Menschen gewesen, so gäbe es kein Priestertum, das für uns gültig wäre. Der Herr Jesus war beides; im ersten Kapi­tel finden wir Ihn als den Sohn Gottes, im zweiten als den Sohn des Menschen. Erst am Schluß des zweiten Kapitels ist zum ersten Male von dem Priestertum die Rede.

Beide Kapitel stellen uns zugleich die Vollkommenheit der Erlösung dar. Ober den Inhalt des ersten Kapitels haben wir bereits gesprochen. Im zweiten Kapitel lesen wir: "Denn es geziemte ihm, um deswillen alle Dinge und durch den alle Dinge sind, indem er viele Söhne zur Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen. Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die, wel­che geheiligt werden, sind alle von einem; um welcher Ur­sache willen er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen." 

Das Priestertum steht daher in Beziehung zu den Geheilig­ten, und zu ihnen allen. Christus hat durch die Gnade Gottes ‑ für alle Menschen ‑ den Tod geschmeckt, wie in V. 9 gesagt wird, aber sobald der Apostel von dem Priestertum redet, spricht er nicht mehr von allen, sondern von dem Samen Abrahams in geistlichem und nicht in buch­stäblichem Sinne.

Das Priestertum Christi ist also etwas ganz anderes als Sein Versöhnungswerk auf Golgatha. Während sich das letzte über die ganze Welt ausdehnt, steht das erste nur mit den Geheiligten in Verbindung. Das, was im Alten Testament durch das auf den Gnadenstuhl gesprengte Blut vorgebildet wurde, erstreckte sich auf alle. Es war dabei durchaus nicht von denen die Rede, die sich in unmittelbarem Bereich der Segnungen Gottes befanden; nein, das Blut hatte einen grenzenlosen Wert.

 "Durch die Gnade Gottes schmeckte er den Tode für alle." Aber sobald wir Christus in Seinen Tä­tigkeiten und in Seinem Mit‑Leiden betrachten, die Ihn als Hohenpriester kennzeichnen, dann sehen wir, wie bereits bemerkt, unsere Aufmerksamkeit auf die beschränkt, die in einer besonderen Gnadenbeziehung zu Ihm stehen. "Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise an denselben teilgenommen, auf daß er durch den Tod den zunichte machte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die befreite, die durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft un­terworfen waren."

Es ist daher sehr deutlich, daß Christus für Sein erlöstes Volk, für die Geheiligten, für die Kinder, ein barmherziger und treuer Hoherpriester ist. "Denn er nimmt fürwahr sich nicht der Engel an, sondern des Samens Abrahams nimmt er sich an." Nach Seinem wohlgefälligen Willen machte Er sündige Menschen zu Kindern Gottes, während die Engel in der Stellung bleiben, die sie von jeher einnahmen.

 "Darum mußte er den Brüdern in allem gleich werden," denn sonst hätte Er kein "barmherziger und treuer Hoherpriester" sein können. Vor Seinem Kommen in diese Weit war Christus kein Hoherpriester. Erst 'mußte Er den Brüdern in allem gleich werden; erst mußte Er am Kreuz das Erlösungs­werk vollbringen, bevor von einem Hohenpriester die Rede sein konnte. 

Erst nachdem Er diese Erde verlassen hatte und zu Seinem Vater gegangen war, konnte Er als der Ho­hepriester Seines erlösten Volkes betrachtet werden; und so sehen wir Ihn mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Sein Hohepriestertum ist ein Amt, das Er im Himmel für d i e bekleidet, die von der Welt abgesondert und zu Gott ge­bracht sind.

Nachdem uns das alles vorgestellt worden ist, finden wir erst am Ende des zweiten Kapitels Christus als Hohenprie­ster. Er ist "in den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer Hoherpriester, um die Sünden des Volkes zu sühnen." Das erinnert uns an den großen Versöhnungstag. Dort er­schien der Hohepriester und vollzog die Versöhnung für das ganze Jahr; und nur einmal im Jahr ging er in das Allerhei­ligste, um das Blut der Versöhnung vor Gott zu bringen. 

Was der Hohepriester oder die Priester auch sonst zu tun haben mochten, welche Opfer sie auch täglich bringen mußten, so geschah doch diese Handlung ‑ die Versöhnung im Innern des Vorhangs ‑ nur einmal im Jahr, und zwar zu der von Gott bestimmten Zeit. Der Hohepriester vertrat bei dieser Gelegenheit das Volk und opferte den Bock, auf den das Los Jehovas gefallen war, für die Sünden des Volkes.

 Da­nach brachte er das Blut in das Innere des Vorhangs, um also "Versöhnung zu tun wegen der Unreinigkeiten der Kin­der Israel und wegen der Übertretungen in allen ihren Sün­den." Dann trat er aus dem Allerheiligsten, legte seine bei­den Hände auf den Kopf des noch lebenden Bockes, des Bockes Asasel, der in die Wüste gesandt werden sollte, und bekannte auf ihn alle ihre Sünden; und schließlich wurde dieser Bock in die Wüste fortgesandt, als ein Sinnbild, daß alle Sünden hinweggetan waren. (3. Mose 16)

Zur Versöhnung Israels bedurfte es also zweier Böcke. Bei­de dienten dazu, die Versöhnung in ihren beiden bedeut­samsten Seiten vorzustellen. Die eine Handlung war der Ausdruck des gerechten Gerichts Gottes über die Sünde, die andere die damit in Verbindung stehende Tröstung für uns, daß alle Sünden hinweggetan sind und nicht mehr ge­sehen werden. Beide Handlungen finden wir im Neuen Testament, z. B. in Römer 3 und 4 deutlich wieder. 

Der letzte Teil des dritten Kapitels entspricht mehr dem Lose Jehovas, während der letzte Teil des vierten Kapitels uns das Los vor Augen stellt, das auf den Bock Asasel fiel. Der erste Fall zeigt uns, daß Gott gerecht ist und den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist; und hier finden wir das Blut auf dem Gnadenstuhl. Im zweiten Fall aber sehen wir Christus als den, "der unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist"; denn Seine Dahingabe wegen unserer Sünden wird uns in dem Bock vorgebildet, der mit den Sünden des Volkes in die Wüste geschickt wurde. Indes denke man nicht, daß der Bock Asasel ein Vorbild der Auferstehung sei. Hiervon fin­den wir in diesen Opfern nichts. 

Andere Stellen reden da­von, wie z. B. die Opferung Isaaks, oder auch das Opfer, das ein Aussätziger zu seiner Reinigung bringen mußte. Hier mußte der lebendige Vogel, nachdem er in das Blut des ge­schlachteten Vogels getaucht worden war, im offenen Feld freigelassen werden (3. Mose 14). Bei dem Bocke Asasel war es anders. Zwar wurde er freigelassen, jedoch in die Wüste, in ein abgesondertes, unbewohntes Land getrieben. Der Himmel aber ist kein unbewohntes Land und kann nicht mit einer Wüste verglichen werden. Es soll daher nur, wie ich glaube, das Wegtun der Sünde Israels, die Vernichtung des sichtbaren Zeugnisses ihrer Ungerechtigkeiten, vorge­stellt werden.

Das, was nun auf dem großen Versöhnungstage geschah, ist ein Vorbild von dem, was Christus tat. Nachdem Er sich selbst zum Opfer hingegeben, nachdem Er Sein Blut zur Vergebung der Sünden vergossen hatte, ging Er mit diesem Blut in das himmlische Heiligtum und brachte es dort als der große Hohepriester Seines Volkes vor das Angesicht Gottes, um dadurch für die Sünden des Volkes Sühnung zu tun. Die­se Versöhnung ist eine ewige. 

"Er aber, nachdem er e i n Schlachtopfer für die Sünden dargebracht, hat sich für im­merdar gesetzt zur Rechten Gottes" (Hebr 10, 12). "Die Sum­me dessen aber, was wir sagen, ist: Wir haben einen solchen Hohenpriester, der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln" (Hebr 8, 1). Eine jährliche Wiederholung der Versöhnung findet nicht mehr statt. Das Blut der Versöhnung ist durch den großen Hohenpriester in die Gegenwart Gottes gebracht und durch Gott angenom­men worden; und Er, der es dorthin gebracht hat, hat sich zur Rechten Gottes gesetzt.

 Dort sitzt Christus als der Hohepriester Seines Volkes für immer. Sein Blut ist im Hei­ligtum. Das Werk der Versöhnung ist nicht nur vollbracht, sondern die Versöhnung ist auch angenommen. Die Geheiligten stehen kraft dieser angenommenen Versöhnung, kraft dieses Blutes in der Gegenwart Gottes und werden, da Ihr großer Hoherpriester nie Seinen Platz im Heiligtum verläßt, für Immer dort sein. Er lebt, um für immer ihren Platz in der Gegenwart Gottes zu bekleiden.

Obschon nun, wie bereits gesagt, die Versöhnung allein durch den Hohenpriester geschehen ist, so war das, genau gesprochen, doch nicht der eigentliche, gewöhnliche Dienst des Priesters. Es bildete vielmehr die Grundlage und war daher mit seinem Dienst eng verbunden. Die Versöhnung für die Sünden war die erste Forderung und der Grund, auf dem der Priester täglich vor Gott zugunsten des Volkes er­scheinen konnte.

Damit kommen wir zu einer anderen, nicht weniger wichtigen Offenbarung betreffs der Person Dessen, dem es allein ge­ziemte, der wahre Hohepriester zu sein. "Denn worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht werden." Herrliche Wahrheit! Laßt uns einige Augenblicke über diese Worte nachsinnen, nicht weil es sich dabei um uns handelt, sondern weil Er hier der Gegenstand ist ‑ 

Er, Dessen Herz so oft durch Seine Freun­de wie durch Seine Feinde versucht wurde. Welch eine Zärt­lichkeit Seines Herzens, weich eine gnädige Fürsorge, daß Er durch die Menschen versucht werden sollte, um denen, die versucht werden, um so besser helfen zu können!

Welche Deutung aber hat hier das Wörtchen "versucht"? Diese Frage ist sehr wichtig; denn mancher, der sich einen falschen Begriff davon machte, ist dadurch auf schreckliche Irrwege gekommen. Wir finden dieses Wort, nachdem zuvor von den "Geheiligten" gesprochen ist; sicher bezeichnet es eine innere Neigung zum Bösen. 

Kein Gedanke daran; denn die Behauptung, der Herr sei auf eine solche Weise versucht worden, wäre Lästerung. Oberhaupt geht es, wenn von dem Priestertum zu unseren Gunsten die Rede ist, um Schwachheiten und Versuchungen, aber keineswegs um Sünden und Übertretungen. Wie würde der Herr auch mit unseren Sünden Mitleid haben können, da Er doch die Sün­de haßt? 

Das ist unmöglich. "Da wir nun einen großen Ho­henpriester haben, der durch die Himmel gegangen ist, Jesum, den Sohn Gottes, so laßt uns das Bekenntnis festhalten; denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mit­leid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde" (Hebr 4, 14. 15).

Der Heilige Geist offenbart uns hier eine Wahrheit, die so­wohl mit der Herrlichkeit Christi, als auch mit dem Bedürfnis des Gläubigen in vollem Einklang steht. Es ist sicher wahr, daß Christus nie eine Sünde tat; aber der Heilige Geist läßt uns hier eine weit herrlichere Wahrheit verstehen. Christus ist in allem versucht worden in gleicher Weise wie wir, aus­genommen die Sünde. 

Er hat nicht nur nie gesündigt, son­dern Er hatte keine Sünde; und das ist ein großer Unter­schied. Es war in Ihm keine Sünde; es gab in Ihm keinen An­knüpfungspunkt für die Sünde. Nicht nur willigte Er nie in die Sünde ein, nein, es gab in Ihm keine Sünde, in die Er hätte einwilligen können. In Seiner Natur als Mensch wohnte nichts Böses, auf das der Teufel hätte einwirken können. 

Das Böse kam Ihm von außen her entgegen. In einer gefal­lenen und verderbten Weit war Er den listigen Anläufen des Teufels ausgesetzt. Alles, was Ihm irgend Schmerz bereiten konnte, war gegenwärtig, und zwar nicht nur in den Juden, sondern auch in Seinen Jüngern. Am Anfang Seiner Lauf­bahn suchte der Teufel Ihn durch das, was angenehm war, zu verführen, und am Ende trachtete er Ihn zum Aufstand gegen Gott zu reizen, indem er Ihm die unaussprechlichen Schrecken jenes Todes vorstellte, den Er erdulden sollte.

So ist also Christus gleichwie wir zu allen Zeiten, unter allen Umständen ‑ sei es durch eine Vorspiegelung des Schmer­zes oder der Freude ‑ versucht worden. Jedenfalls ist Er ‑und das dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren ‑ in weit höherem Maße als wir versucht worden. "Keine Versuchung hat euch ergriffen, als nur eine menschliche," sagt Paulus in 1. Korinther 10, 13. 

Kann das von dem Herrn Jesus gesagt werden? Sind wir nicht alle Überzeugt, daß der Herr mehr als irgendein anderes Wesen versucht wurde, und daß keine Versuchung mit der Seinigen zu vergleichen ist? Es ist wahr, daß Er in allem, gleichwie wir, versucht worden ist, aber kei­neswegs sind wir, wie etliche behaupten, in allem versucht worden, gleichwie Er. 

Wenn wir unseren Blick auf die drei uns bekannten Versuchungen Jesu in der Wüste richten, müssen wir dann nicht bekennen, daß wir in einer solchen Weise nie vom Teufel versucht worden sind? Unsere Versu­chungen mögen mit denen des Herrn in einigen Punkten übereinstimmen, aber sie sind niemals mit ihnen zu verglei­chen. Dazu wurde Er außer diesen drei Versuchungen vier­zig Tage hindurch von dem Teufel versucht. Sind wir je in einer solchen Weise versucht worden? Sicher nicht, und wir werden, wie ich glaube, auch nie in solche Versuchungen kommen.

Während daher der Herr in allem versucht worden ist, gleich­wie wir, so wurde Er dennoch in einer Weise versucht, die Ihm allein eigen war. Das konnte nicht anders sein; denn Er war, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht in einem ge­wöhnlichen Sinn ein natürliches Glied, und selbst nicht ein natürliches Haupt der Menschheit. Er wurde Mensch ‑ das ist unstreitig wahr ‑ aus Gnaden geboren von einer Jungfrau; aber Er war der Sohn Gottes, ja Gott Selbst und im Begriff, den ersten Platz in einer neuen Schöpfung einzunehmen. 

Er war das Gegenbild des ersten Menschen ‑ indem sich dieser in Sünde, Er aber in Gerechtigkeit und Gnade offenbarte. Während der erste Mensch, Adam, in den gün­stigsten Umständen fiel und sich und seinen Nachkommen den Tod brachte, blieb der zweite Mensch, Jesus Christus, Sieger in den fürchterlichsten Versuchungen und umringt von Tod und Elend; nun ist Er der verherrlichte, aus den Toten auferstandene Mensch im Himmel.

Der Zustand, in dem Adam vor dem Fall war, erklärt uns, was Versuchung ist; denn die allgemeine Annahme, daß eine Versuchung das inwendige Böse voraussetzt, ist ganz und gar falsch. Wenn wir so denken, vermengen wir "Versu­chung" mit "Begierde oder Neigung zur Sünde". Wurde Adam nicht versucht? Gewiß. Aber war Sünde oder eine innere Neigung zum Bösen in Adam, bevor er fiel? Keines­wegs. Es bedarf keiner Sünde für die Versuchung in dem hier bezeichneten Sinn. Die erste Versuchung trat an jeman­den heran, der ohne Sünde geschaffen war. 

So war es auch bei dem zweiten Menschen. Er war ohne Sünde und, was noch mehr war, als "das Heilige" geboren; Er lebte, ohne „die Sünde zu kennen"; und wie könnte daher von einer in Ihm wohnenden Neigung zur Sünde die Rede sein? Es war die Absicht des Teufels, die Sünde in Ihn hineinzubringen. Doch selbst am Ende Seines Lebens kam "der Fürst dieser Welt und fand nichts in ihm". Satan fand in dem Menschen Christus Jesus weder innere Sünde, um sie aufzuwecken, noch irgendwelchen Mangel an Gemeinschaft und Abhän­gigkeit von Gott, wodurch die Sünde sich hätte festsetzen können. 

Wenn der Teufel es nur dahin hätte bringen können, daß der Herr Jesus Seinen eigenen Willen getan hätte, so würde die Sünde vorhanden gewesen sein, und alles wäre verloren gewesen. Doch, Gott sei Dank! das konnte nicht ge­schehen; denn Er war sowohl eine göttliche Person als der abhängige Mensch. Christus ist ebensowohl Gott, wie es der Vater und der Heilige Geist ist. 

Seine Menschwerdung hat nicht im geringsten Seine Gottheit geschwächt, da Er die Menschheit in Seiner Person zur Vereinigung mit Gott er­hob. Sowohl Seine Gottheit als auch Seine Menschheit be­hielten ihre eigentümlichen Eigenschaften; und beide Na­turen waren in ihrer ganzen Vortrefflichkeit in der Person Jesu vereinigt. Und ein solcher Jesus kam auf diese Erde, um Seinen Gott und Vater zu verherrlichen und uns von allen unseren Sünden zu erlösen. Und einen solchen Jesus haben wir als Hohenpriester vor Gott.

Welch eine Kraft liegt daher in den Worten: "Worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde .. 21 Ja, Er litt. Und wo je­mand leidet, wenn er versucht wird, da kann von keiner Nei­gung zur Sünde die Rede sein. Der Sünder tut seinen eige­nen Willen ‑, er kümmert sich nicht um den Willen Gottes, und das ist Sünde. Aber Jesus tat nie Seinen eigenen Willen. 

Er wollte ihn nie tun. Er zögerte nie einen einzigen Augenblick, den Willen Gottes zu tun. "Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun." So war es, bevor Er kam, so war es am Anfang, so war es am Ende, so war es während Seines ganzen Lebens. Nicht einen Augenblick tat Er Seinen eigenen Willen. Er lebte als Diener in völliger Abhängig­keit von Seinem Vater. Er war ‑ mit einem Wort ‑ der voll­kommene Mensch, der Einzige, der n u r den Willen Gottes getan hat. Darum hat auch niemand so gelitten wie Er; denn nach dem Maß der Liebe und Heiligkeit leidet jemand mehr oder weniger, abgesehen von der Herrlichkeit, die Er allein besaß.

So ist es jetzt mit den Kindern Gottes. Sie wollen nicht ihren eigenen, sondern den Willen Dessen tun, den sie als Vater" anrufen dürfen. Das aber ist keine geringe Sache in einer Welt, in der nichts als Eigenliebe herrscht und die In Übereinstimmung mit ihrem eigenen Willen lebt und handelt. Der Herr Jesus tat gerade das Entgegengesetzte, und so auch die, die Ihm angehören. Petrus nennt uns "Auserwählte nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, durch Heiligung des Gei­stes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi." 

Der Gehorsam Christi kann also auch von uns gefordert wer­den. Er unterwarf Sich stets vollkommen dem Willen des Vaters. Er litt ‑, und dieses Leiden war eine Folge der Versu­chungen Satans, die dem entgegentraten, der die Wonne Gottes war, und der Sich stets weigerte, Seinen Gehorsam aufzugeben. Überdies litt Er, indem sich Seine Seele mit heiligem Abscheu gegen das Böse sträubte, das nicht in Ihm, wohl aber überall außerhalb von Ihm war.

Die Einflüsterungen des Feindes bewirkten, anstatt Seinen eigenen Willen wachzurufen, in Ihm nur Leiden und Betrüb­nis. Er litt eben deshalb, weil Er der Heilige war. Darum le­sen wir: "Denn worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht werden." Wie beachtenswert ist es daher, daß wir als "Söhne Gottes" in der neuen Natur und durch den Heiligen Geist zu demsel­ben Gehorsam berufen sind!

Von diesem Gesichtspunkt aus werden die Christen im He­bräerbrief betrachtet. Sie sind erlöst ‑, sie sind geheiligt; sie sind Kinder Gottes; Christus nennt sie Seine Brüder. Aber zur gleichen Zeit befinden sie sich auf dem Schauplatz der Versuchung in der Wüste. Der Psalmist erinnert die Kinder Israel an den „Tag der Versuchung in der Wüste". 

So ist es auch mit uns; wir befinden uns in der Wüste; die Jetztzeit ist der Tag der Versuchung. Wir werden versucht und vielfältig auf die Probe gestellt. Unser Gott läßt alles zum Guten mit­wirken; denn wir durchschreiten eine Stätte, wo jeder Ur­sprung von Macht, wo jede gute und vollkommene Gabe, wo das Licht, das unseren Weg bescheint, von oben kommt und nicht von uns selbst oder von der uns umgebenden Welt. Es gibt nichts um uns her und nichts in unserer alten Natur, das uns helfen könnte. Vielmehr ist alles geeignet, uns zu ver­leiten und unsere Schritte zu hemmen, während der Teufel uns zum Bösen verführt. Doch Christus weiß es; 

Er hat Sein wachsames Auge sowohl auf den Teufel als auch auf uns gerichtet. Ein Feldherr, der früher selbst in einer belagerten Stadt dem Feinde die Stirn zu bieten hatte und ihn zum Ab­zuge zwang, kann am besten den Zustand seiner Freunde ermessen, die, von demselben Feinde umzingelt, noch mit einem Verräter in der Stadt zu kämpfen haben. Um wieviel mehr kann daher der Herr Jesus mit uns Mitleid haben! 

Es gibt keinen größeren Irrtum als die Annahme, daß der Herr Jesus, um mit uns fühlen zu können, den alten Menschen in Sich gehabt haben müsse. Wäre das der Fall gewesen, so würde die Person Christi in ihrer moralischen Herrlichkeit und Vollkommenheit zunichte gemacht sein; und weder Sein Werk, noch dessen Folgen würden von einigem Wert sein; ja, wir würden keinen Erlöser haben und da stehen, wo der Unglaube steht, der den Sohn und Sein Werk leugnet. 

Es läuft fast auf eins hinaus, ob wir die Gottheit Christi leugnen, oder Sein vollkommenes, fleckenloses Menschsein unter­graben; denn beides hat die schrecklichsten Folgen, beides beraubt uns des vollkommenen Menschen, der allein kraft Seiner Vollkommenheit imstande war, unsere Sünden auf Sich zu nehmen und die Schuld zu bezahlen. Ich wiederhole es: Er, der unter Versuchungen zu leiden wußte, kann in voll­kommener Weise mit uns fühlen, die wir nicht nur gegen denselben Versucher, sondern auch gegen das Fleisch in uns zu wachen haben. Sollte Sein Mitgefühl, weil Er den Kampf gegen das Fleisch nicht zu bestehen hatte, darum geringer sein? Im Gegenteil; denn der alte Mensch hält je­manden in dieser oder jener Weise mit sich selbst beschäf­tigt, während Er ganz frei war, um zu lieben, zu dienen und zu leiden.

Christus kommt jedoch, wie bereits bemerkt, nur den Gläu­bigen, den Kindern Gottes, den heiligen Brüdern, die "der himmlischen Berufung teilhaftig sind", zu Hilfe. Sie sind die "Geheiligten". Das Priestertum Christi steht nur mit den Heiligen in Verbindung. Darum erwähnt der Apostel, wenn er von dem Priestertum Christ! spricht, mit keinem einzigen Wort die "Sünden". Dennoch gibt es viele Christen, die meinen, daß Christus als Hoherpriester der Sünden wegen auf­trete, die wir von Zeit zu Zeit begehen. Die Schrift lehrt das nirgends. Im Gegenteil, unser Brief verbindet sein Priester­tum mit der Hilfe und dem Mitleiden, das wir erfahren, wenn wir versucht werden, wie Christus versucht ward.

Christus hat Mitleid mit unseren "Schwachheiten", keines­wegs aber mit unseren Sünden. Wenn ein Gläubiger gesün­digt hat, so ist von seiten Gottes dafür eine andere Vorsorge getroffen worden; denn in diesem Falle ist Christus unser Sachwalter bei dem Vater" (1.Joh 2). Hier aber ist von dem Hohenpriestertum Christ! die Rede; und in dieser Eigen­schaft hat Er mit unseren Sünden nichts zu tun. Als Hoher­priester beschäftigt Er Sich mit unseren "Schwachheiten".

 "Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausge­nommen die Sünde." Er sitzt nun zur Rechten Seines Vaters; und dort ist Er in Seiner liebevollen Sorge für mich beschäf­tigt, um mich inmitten all der Leiden und Prüfungen, die ich durch die Menschen, durch die Welt und den Teufel um Sei­nes Namens willen zu ertragen habe, zu unterstützen und mir zu helfen. Er ist in der Herrlichkeit; ich bin in der Wüste, jedoch mit der Hoffnung, bald dort zu sein, wo Er ist, in derselben Herrlichkeit. 

Doch will Er uns ‑ gepriesen sei Sein Name! ‑ während unserer Pilgerschaft durch diese Welt nicht allein lassen. Er ist uns ein großer Hoherpriester; und wir dürfen mit Freimütigkeit zu Ihm gehen, "damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzei­tigen Hilfe". Er kennt ‑ und das ist überaus herrlich ‑ jedes Leid aus eigener Erfahrung. Er weiß, welch ein Feind Satan ist: Er kennt seine Schlauheit, List und Bosheit. Er, der Hei­lige, ward vollkommener Mensch, ward uns in allem gleich, ausgenommen die Sünde: und darum kann Er in vollkom­mener Weise mit uns fühlen, ja, mit uns leiden in unseren Schwachheiten.

Die Wahrheit, daß Er nicht nur nicht sündigte, sondern ohne Sünde war und daß Seine Versuchungen nichts mit Sünde zu tun hatten, findet im folgenden Kapitel (Hebräer 5) eine nähere Erklärung. "Denn jeder aus Menschen genommene Hohepriester wird für Menschen bestellt in den Sachen mit Gott." Nun, bezieht sich das nicht auf den Herrn Jesus? fragt vielleicht jemand. 

War Er nicht aus den Menschen genom­men? ‑ Meine Antwort ist, daß der Heilige Geist hier durch­aus nicht das Priestertum Christ! beschreibt, sondern gera­de im Gegenteil das jüdische Priestertum als einen Gegen­satz zu dem Seinigen bezeichnet. Das geht deutlich aus den nachfolgenden Worten hervor: Auf daß er sowohl Gaben als Schlachtopfer darbringe für die Sünden, der Nachsicht zu haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden, indem auch er selbst mit Schwachheit umgeben ist; und um dieser willen muß er, wie für das Volk, so auch für sich selbst opfern für die Sünden." 

Das räumt für den Gläubigen jede Schwie­rigkeit hinweg. Wenn der hier in Rede stehende Hoheprie­ster nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst, für seine eigenen Sünden opfern muß, so wird doch niemand wagen, das auf Christus anzuwenden. Wir lesen weiter: "Und niemand nimmt sich selbst die Ehre, sondern als von Gott berufen, gleichwie auch Aaron. Also hat auch der Chri­stus sich selbst nicht verherrlicht." 

Der Apostel beginnt hier mit einem Vergleich, jedoch nur, um den Gegensatz um so schärfer hervortreten zu lassen. Allerdings verherrlichte Christus Sich nicht Selbst; aber Er, der zu Ihm sagte: "Du bist mein Sohn!" derselbe Gott setzte Ihn als Priester ein. "Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchise­deks." Wir sehen also, daß hier, wo uns die Wurzel, der Stamm und die Früchte vor Augen gestellt werden, das We­sen des Priestertums Christi darin besteht, daß Er nicht nur der Sohn des Menschen, sondern auch der Sohn Gottes war.

 Der Hohepriester, von dem in den ersten Versen des 5. Ka­pitels die Rede ist, ist, wie jeder andere, nur ein Kind Adams ‑ ein Hoherpriester, der "Nachsicht zu haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden," und zwar einfach deshalb, weil er nicht besser war. Er war, wie jeder andere, "mit Schwachheit umgeben." Kein Wunder daher, daß er mit sei­nen Mitmenschen Nachsicht hatte. Doch dieses alles bildet einen völligen Gegensatz zu der Majestät und der Gnade des himmlischen Hohenpriesters, der, obwohl der eingebo­rene Sohn Gottes, sich dennoch zur Menschwerdung ernie­drigte, um als Sohn des Menschen hier auf Erden zu wan­deln.

Das Priestertum Christ! steht also, wie bereits gesagt, in Be­ziehung zu den Versuchungen und Schwachheiten derer, die Er die Seinigen nennt, die Er liebt und bis ans Ende lieben wird. Es dient zu ihrer Unterstützung, wenn sie versucht werden, wie Er es ward, wenn sie um der Gerechtigkeit oder um Seines Namens willen leiden, wenn sie ‑ mit einem Wort ‑ durch irgend etwas, das nicht die Folge ihrer Sün­den ist, geprüft werden. Wohl hat der Herr in Seiner Gnade auch bezüglich der Sünden Vorsorge getroffen. Er kann sich auch mit jemandem beschäftigen, dessen Leiden eine Folge seiner eigenen Sünden sind; allein das wird uns hier nicht gezeigt. 

Es ist sehr wichtig, die verschiedenen Unterweisun­gen der Heiligen Schrift nicht miteinander zu vermengen. Eine Verbindung des Hohenpriestertums Christ! mit unseren Sünden und Gebrechen mag vielleicht unseren Wünschen und Gedanken mehr liegen, aber darauf kommt es nicht an. Der Glaube darf sich nicht um menschliche Urteile kümmern; sein Weg ist, die Bibel zu erforschen und sich dem Urteil Gottes zu unterwerfen. Eine völlige Unterwürfigkeit unter das Wort allein wird uns in den Stand setzen, die Absicht und die Gedanken des Heiligen Geistes recht zu verstehen.

Als wir noch Gottlose und Sünder waren, konnte natürlich nicht von Mitleid und demzufolge nicht von einem Priester­tum die Rede sein. Wir bedurften damals keines Mitleids mit unseren Sünden, sondern eines Sühnopfers für unsere Sünden ‑ eines Sühnopfers, wie nur Christus es darbringen konnte. Ein rechtlich gesinnter Mensch, und vor allem ein Heiliger Gottes, begehrt kein Mitleid mit seinen Sünden. Christus litt für uns, der Gerechte für die Ungerechten, und durch Sein kostbares Blut reinigte Er uns von unseren Sün­den. Das war der Weg, auf dem Gott diesem unserem Be­dürfnis begegnete. Aber Mitleid mit unseren Sünden kann Er nicht haben. 

Jetzt aber, nachdem wir in Christus eine neue Schöpfung geworden und nicht allein im Blut, sondern auch im Wasser durch das Wort gewaschen sind ‑ "Dieser ist, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus, der Christus, nicht durch das Wasser allein, sondern durch das Wasser und durch das Blut" ‑ jetzt, da wir nach Seinen ei­genen Worten in Christus ganz rein und ohne Sünde sind, haben wir etwas anderes nötig als einen Versöhner für un­sere Sünden; wir brauchen eine Person, die uns in allen Ver­suchungen, in allen Mühen und Gefahren, denen wir auf Er­den um Seines Namens willen ausgesetzt sind, vollkommen unterstützen, ja selbst mit uns leiden kann.

Und das ist es eben, was der Herr Jesus nun für uns tut. Er beschäftigt sich mit jedem einzelnen von uns p e r s ö n ‑11 c h . Er ist nicht der Hohepriester der Versammlung; das wird nirgends im Neuen Testament gesagt; nein, es ist ein persönlicher Segen, eine persönliche Beziehung zwischen Christus und den Seinigen. Wir sind in dieser Welt den An­griffen des Feindes ausgesetzt; wir durchschreiten als Pil­ger und Fremdlinge die dürre Wüste, und als solche haben wir das Priestertum Christ! nötig.

Als die Kinder Israel durch die Wüste reisten, wurde der Hochmut des menschlichen Herzens immer wieder offenbar. So einmal, als Korah sich gegen Moses auflehnte und erklär­te, daß, da sie alle ein heiliges Volk bildeten, sie keinen Prie­ster mehr brauchten. Die Folge war, daß unter dem Volk eine große Plage entstand und daß die, welche den Aufruhr angestiftet hatten, durch den Zorn Jehovas von der Erde verschlungen wurden. Kurz nachher aber wird dem Volke in einer bemerkenswerten Weise die Bedeutung des Priester­tums vorgestellt. 

Jedes Familienhaupt mußte für jeden einen Stab ins Heiligtum bringen. So auch Aaron. Als nun Moses am folgenden Morgen in das Zeit des Zeugnisses trat, sah er, daß der Stab Aarons blühte und Früchte trug. Dieser Stab des Hohenpriesters war demzufolge das Kennzeichen des auserwählten Priestertums. Die Israeliten konnten nicht ohne Autorität sein; kein Gläubiger kann das wünschen; denn nicht der Mensch, sondern Gott muß regieren. Den­noch war es nicht die richterliche Autorität des Stabes Mo­ses, der nur Verwüstung und Gericht über sie hätte bringen können. 

Der Stab Aarons hingegen war der Ausdruck der priesterlichen Gnade; er war der Stab der lebendigen Kraft, des Lebens, das den Tod überdauert und Früchte hervor­bringt. Der Heilige Geist zeigt uns also in einer besonderen Weise, daß etwas ganz anderes nötig ist, um das Volk durch die Wüste zu führen, als wenn es sich um seine Befreiung aus Ägypten handelt. Als die Israeliten auf der anderen Seite des Roten Meeres standen, waren sie zwar aus den Händen ihrer Feinde befreit; aber wer würde sie durch die Wüste ge­führt haben, wenn Gott nicht auch in dieser Beziehung Vor­sorge getroffen hätte. Sicher niemand. Daher bedurfte es der Gnade des Priestertums, vorgestellt in dem blühenden Stabe Aarons; es bedurfte der Kraft eines endlosen Lebens (4. Mose 16 und 17).

So begegnet der Herr Jesus auch unseren Bedürfnissen wäh­rend unseres mühevollen Wandelns auf der Erde. "Er ver­mag völlig zu erretten, die durch ihn Gott nahen." Er errettet sie völlig. Hier ist nicht von der Erlösung der Sünder, son­dern von der Erlösung der Heiligen die Rede, von der Erlö­sung jener, denen, wie der Apostel sagt, "ein solcher Hoher­priester geziemte: heilig, unschuldig, unbefleckt, abgeson­dert von den Sündern, und höher als die Himmel geworden." 

Solche errettet Er, bringt sie durch alle Mühen, durch all die Angriffe Satans hindurch, und über die Folgen der eigenen Schwachheiten hinweg wohlbehalten ins Vaterhaus. Herr­liche Wahrheit! Ja, unser treuer Führer, unser mitfühlender Hoherpriester wird uns in dieser Wüste nicht verlassen. Er leidet mit uns, die wir in Ihm heilig, vollkommen und ohne Sünde sind. 

Nicht, als ob wir nicht sündigen, Gott bewahre uns vor diesem Irrtum! Nur zu oft willigen wir in die Versu­chungen Satans ein. Aber auch in dieser Beziehung hat der Herr in Seiner unendlichen Gnade Vorsorge getroffen, wo­von jedoch hier nicht die Rede ist. Nur mit den Seinigen, nur mit den Schwachheiten und den Versuchungen, die Ihm Selbst auf dieser Erde begegnet sind, kann Er Mitleid ha­ben. Der Herr schenke uns allen, diese Wahrheit recht zu verstehen.