Kunz Eugen, Der Weg nach Luv Band 13

05/23/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Ein Königskind
Die Sonne versank wie eine feurige Kugel hinter den zackigen Gipfeln der Berge, und ihre letzten Strahlen hüllten den schneegekrönten Montblanc in purpurne Glut. Nördlich vom Wüstensee lag hoch oben auf Bergeshöhe die Burg Taubenhorst. Es war ein einfacher Bau, aus großen Quadern gefügt, mit dicken Mauern und kleinen Fenstern, wie man in der ersten Hälfte des Mittelalters die Schlösser gemeiniglich baute. Am Abhang des Berges, näher dem See zu, standen die einfachen Hütten der Landleute, auf welche die Burg gleich einer Warte herabschaute.

Drinnen in dem großen Raum des Herrenhauses stand an einem offenen Fenster ein liebliches Mägdlein von kaum sechs Jahren und blickte unverwandt in die herrliche Pracht jenseits des Sees, wie das Glühen und Funkeln da drüben auf dem Weißen Berg immer leuchtender wurde und dann allmählich in lichtes Rosa überging. In den dunklen Augen des Kindes schien sich all die Herrlichkeit widerzuspiegeln. Auf dem feinen, von braunen Locken umrahmten Gesichtchen lag ein rosiger Hauch. 

Das kleine Mädchen trug ein einfaches Linnenkleid, nach der Sitte der damaligen Zeit, nur die Einfassung mit Goldborte deutete den höheren Rang an. Eine hochgewachsene Frau trat zu dem Kind. Auf den ersten Blick erkannte man Mutter und Tochter. Dieselben lieblichen Züge, der sinnende Ausdruck, dieselbe einfache Kleidung. Nur waren Augen und Haar der Mutter heller. «Schau, Mutterli, wie schön! Jetzt hat er eine Krone auf von rotem Gold, wie ein König, - noch viel schöner als Vaters Krone! Jetzt wird sie blasser - ach, nun ist alles weg!« bedauerte das Kind.
«Ja, die Sonne ist jetzt untergegangen da drüben hinter dem Gebirge«, erklärte die Mutter. »Ihre Strahlen sind es, die unsere Schneeberge erglühen machen, und jetzt sind sie fort.«
Dann wandte sich die Mutter an einen kleinen Jungen, der auf dem Boden hockte und in großen Pergamentblättern zu lesen versuchte. «Komm, Burkhard, es ist zu dunkel zum Lesen.«
Gehorsam erhob sich der Knabe vom Boden. «Mutterli, wenn ich groß bin, werde ich Bischof!« sagte er mit funkelnden Augen.
«Warum willst du Bischof werden?« fragte die Mutter und strich dem etwa achtjährigen Knaben liebevoll über das lockige Haar.
«Ei, Mutter, um in Büchern zu lesen und alles, alles zu lernen, was die Mönche in den Büchern geschrieben haben. Und die Sprache der Römer will ich gründlich lernen - ein weniges weiß ich ja schon davon - und die Sprache der Griechen, - der Bischof Bruno von Lausanne versteht sie, - und ich will ein gelehrter Mann werden und ein berühmter, wie der Abt Rabanus von Fulda und Otfried von Weißenburg!« Und seine Augen glänzten vor Begeisterung.
»Wisse, mein Sohn«, entgegnete die Mutter, «nicht das ist der Beruf eines Bischofs, berühmt zu werden, son dem ein Diener des Heilandes zu sein. An des Herrn Statt soll er die ihm anvertraute Herde weiden und die verirrten Schafe zum Heiland zurückführen. So steht's im Buch aller Bücher.«
«Ja, Mutter, aber gelehrt und berühmt sein ist doch herrlich!«
«Gebrauchst du deine Gelehrsamkeit - sollte sie einmal geschenkt sein - im Dienste Gottes und zum Heil deines Nächsten, dann ja. Eine Gelehrsamkeit aber, die niemanden Segen bringt, die hat keinen Wert, und wenn sie noch so berühmt macht. Denke daran, mein Sohn. Ich tadle dein Streben nicht. Aber trachte vor allem danach, ein Diener Jesu Christi zu werden.«
Das kleine Mädchen hatte den Worten der Mutter aufmerksam zugehört.
«Mutterli, erzähle noch einmal vom Bischof Boso von Lausanne«, bat sie.

- «Es sind jetzt sechs Jahre her. Konrad war vier Jahre alt, Burkhard zwei, und du, Adelheid, noch nicht geboren. Da brach eine schwere Zeit über unser Land herein. Die Hunnugaren kamen in großen Schwärmen von allen Seiten, verbrannten und verwüsteten die Dörfer und metzelten die Wehrlosen nieder. Der Jammer war unbeschreiblich. Ich flüchtete mit euch zwei Knaben und sämtlichen Hausgenossen in den Turm von Neuenburg auf einem steilen Felsen am Neuenburger See. Da waren wir sicher. - Inzwischen kamen die Hunnugaren bis nach Lausanne am Wüstensee und drohten selbst den Bewohnern der Städte Tod und Verderben. In Lausanne wirkte damals Bischof Boso, ein ehrwürdiger Greis, allgemein geliebt und geachtet von seinen Untergebenen.«
«War er gelehrt?« warf Burkhard dazwischen.
«Nein, nicht in dem Sinne, wie die Welt es versteht. Aber in ihm war etwas von der göttlichen Weisheit. Als
die Feinde herannahten, drängten sich die Bewohner der Stadt und der naheliegenden Dörfer um ihn wie um ihren Vater, Rettung und Hilfe von ihm hoffend. Ihn jammerte des Volkes, und sein Herz floß über von Erbarmen. >Bleibt hier<, sprach er, >ich will dem Feind entgegengehen, ob ich ihn vielleicht besänftige und zum Rückzug bewege.< - 'Du willst dich in des Löwen Rachen stürzen?< rief das Volk entsetzt. - 'Der Herr im Himmel kann mich auch aus der Löwen Rachen erretten, wenn es Ihm gefällt<, sprach er. 'Gefällt es Ihm aber nicht, mich zu erretten, so nehme Er mein Leben zum Opfer an für das eure!< - Alle Tränen und Bitten der Seinen vermochten ihn nicht zu halten, im Gegenteil, er wurde immer mutiger, und freudige Entschlossenheit strahlte aus seinen Augen. >Wisset<, rief er, 'jene Heiden haben nie die frohe Botschaft vom Heiland gehört, die ich euch kundgetan habe. 

Sie wissen nicht was sie tun, indem sie euch ängstigen. Ich will hingehen und mit ihnen reden!< - Sie ließen ihn nicht allein ziehen, etliche Väter der Stadt gingen mit ihrem Bischof. Die andern hatten in Höhlen, Klüften und Wäldern Bergung gesucht. - Im Waadtland trafen sie mit den Heiden zusammen. Der Bischof ging ihnen entgegen. Seine ehrwürdige Gestalt, die Milde und Freundlichkeit seines Angesichts schienen zunächst nicht ohne Eindruck auf die rohen Heiden zu sein. >Bringt mich zu eurem Anführer!< bat er. - 'Hier bin ich<, rief der Rohesten einer, >was willst du, Christenhund?< - 'Barmherzigkeit für meine arme Stadt! Habt Erbarmen mit den wehrlosen Alten, den schwachen Frauen und Kindern, die darinnen sind! Der kalte Winter ist vor der Tür, laßt ihnen ihr Obdach! Der Gott der Christen, Jesus Christus, wird dir's segnen, wenn du Barmherzigkeit an ihnen tust!< - 'Was geht mich der Gott der Christen an?< fuhr er auf. >Allzu lange habe ich deine Rede angehört, du Christenhund!

Hebe dich hinweg, sonst schone ich deines Alters nicht!< - 'Herr<, war die Antwort, >wenig liegt an mir und meinem Leben. Nicht für mich flehe ich, nur für die hilflosen Schafe meiner Herde. Nimm mein Leben, aber dann schone ihrer!< - 'Ein Narr wäre ich, wollte ich solch Lösegeld annehmen<, höhnte der Heide. 'Dergleichen ist wohl Brauch bei den Christen? Mir ist ein Gerücht zu Ohren gekommen, euer Gott selbst habe sich zum Lösegeld gegeben. Laß sehen, Alter, was es dir nutzt!< 

Da strahlte des Bischofs Angesicht, und er rief aus: 'Der Gott, den du höhnst, ist mein Heiland, Er hat für mich das Lösegeld bezahlt, Er hat aber auch dich geliebt. 0 widerstrebe Ihm nicht! Laß ab, wider Ihn und die Seinen zu streiten! Laß ab von deinen Missetaten und kehre dich zu Ihm!< - >Wie, du wagst solche Sprache? - mir? - mir?< rief der Anführer wutentbrannt. 'Stoßt ihn nieder!< - Da trafen ihn die tödlichen Speere, und er sank hin mit seligem Lächeln und mit den Worten: 'Jesus Christus, mein Herr!«
So weit hatte die Mutter erzählt. Mit Tränen in den Augen schaute Adelheid zu ihr auf.
»Und er ging gleich ins Paradies, Mutter?«
>'Ja, mein Kind, wie Stephanus, von dem im Buche steht.«
»Der war ein Diener Gottes!« bemerkte Burkhard nachdenklich. Auch ihn hatte die schlichte Erzählung sichtlich ergriffen. «Er ist gestorben für die andern Leute - aber auch für seinen Heiland, gelt, Mutter?«
>'Ja, das ist er. Er hat aber auch gelebt für seinen Heiland und Ihm gedient an den Brüdern. Und so, mein Burkhard, mögest auch du werden - ein demütiger Diener des hohen Himmelsherrn.«
»Und ich?« fragte Adelheid. '>Was kann ich werden?«

@ 1990 CSV-Verlag