L Schriftsteller

Dorie Doris Van Stone/Erwin W. Lutzer

07/03/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Inhalt

Mutter, komm doch heim! 5
Das Waisenhaus 11
Auf der Suche nach Liebe 22
Mutter, wo bist du? 29
Herr, es tut ja so weh 35
Ist das Ihre Tochter? 46
Dorie, wo ist dein Vater? 52
Mein Herr, sind Sie mein Vater? 62
Herr, du wirst doch nicht etwa … ? 69
Du bist nicht meine Tochter 77
Die Soldaten kommen! 81
Vati, ich habe dich geliebt 89
Neuguinea, da sind wir! 95
Die Herausforderung vom Baliem-Tal 100
Das Leben im Baliem-Tal 107
Unsere Zeit steht in deinen Händen 117
Versprich mir, dass du mich beerdigst 128
Mutter, was ist ein Denkmal? 132
Abschied vom Tal 140
Heilen, die zerbrochenen Herzens sind 144
Gedanken am Grab 155

Mutter, komm doch heim!

Schweigend trat ich ans Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Meine Augen folgten den Scheinwerfern jedes vorbeifahrenden Autos. Ich saß auf meinem braunen Schemel, die Arme fest um die Knie geschlungen in dem verzweifelten Bemühen, warm zu werden.
Stunden vergingen. Endlich erblickte ich die schattenhaften Umrisse meiner Mutter um die Ecke biegen und den Fußweg hochkommen. Bis sie unsere Wohnung im ersten Stock erreicht hatte, hatte ich mich durch den dunklen Raum getastet, um sie zu begrüßen.

Hoffentlich freut sie sich, mich zu sehen! Doch wie ge­wöhnlich schob sie mich beiseite und nahm meine Schwester Maria in die Arme. »Liebling, wie geht es dir?«, sagte sie zärtlich. Ich stand da, die Hände in den Taschen meines verschlissenen Rocks vergraben, und wartete darauf, dass sie mich auch lieb hatte. Doch sie stieß mich beiseite. »Was willst du?«, fuhr sie mich an.
»Würdest du mich auch umarmen?«, fragte ich schüchtern.

»Scher dich weg!«, schnauzte sie mich an. Ich war erst sechs Jahre alt. Doch die Szenen in jener Wohnung sind unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingegraben. Ich erinnere mich an nichts Helles. Dunkle Holzleisten säumten die schmutzigfarbenen Wände. Ein brauner Polstersessel, eine Bank und ein kleiner Teppich bildeten die Einrichtung des Wohnzimmers. Das nächste Zimmer enthielt nur ein Schrankbett, in dem Maria und ich gemeinsam schliefen.
Morgens verließ meine Mutter die Wohnung und kehrte erst spätabends wieder zurück. Ich sehe sie noch vor mir – pechschwarzes Haar umrahmte ein vollkommen ovales Gesicht.

Ein eiskalter Blick war in ihren braunen Augen, wenn sie schrie: »Doris, gib gut auf deine Schwester acht! Und mach ja kein Licht an!«
Maria war ein Jahr jünger als ich, und meine Mutter wollte mir eins klarmachen: Sollte Maria etwas zustoßen, wäre es meine Schuld. Ich trug die Verantwortung.

Meine Schwester und ich verbrachten unsere Tage allein in der Wohnung. Wir freuten uns auf das Wochenende, weil Mutter uns dann etwas zu essen machte. An diesen Tagen schlief sie lange, und dann frühstückten wir schweigend zu dritt. Doch meistens bestand unsere Nahrung aus dem Einzigen, was ein sechsjähriges Kind zubereiten kann: Brote mit Erdnussbutter und Marmelade. Das Glas im Küchenschrank konnte ich gerade erreichen. Dann klemmte ich es zwischen meine Knie und versuchte krampfhaft, das Öl mit der Erdnusspaste zu verrühren. »Verschütte das Öl nicht!«, 
hatte Mutter mich gewarnt. Wenn es dennoch geschah, wischte ich es schnell mit Toilettenpapier auf. Ich schmierte die Erdnussbutter so auf, dass das Brot immer zerkrümelte. Hatten wir keine Marmelade, würgten wir es so gut es ging trocken hinunter.
Manchmal bekamen wir Milch, doch gewöhnlich tranken wir nur Wasser. Wir hatten keine Trinkbecher, nur Marmeladengläser. Nachdem ich eine Tracht Prügel bekommen hatte, weil ich eins zerbrochen hatte, lernte ich achtzugeben. Ich schob einen Stuhl an das Spülbecken, stellte das Glas unter den Wasserhahn und ließ Wasser hineinlaufen. Mit beiden Händen hielt ich dann 
Maria das Glas hin und kletterte anschließend wieder hinunter.

Wie oft knurrte unser Magen vor Hunger! Einmal ging ich mutig in ein Geschäft in der Hoffnung, dass der Lebensmittelhändler mir etwas zu essen geben würde. Als er meine Bitte abschlug, versprach ich ihm, dass meine Mutter am nächsten Tag bezahlen würde. Da lernte ich, dass nur Menschen, die Geld haben, Essen kaufen konnten. Widerstrebend ging ich nach Hause zurück – mit leeren Händen und leerem Magen.
Jeden Abend, wenn ich auf meine Mutter wartete, fühlte ich mich allein. Die Verantwortung lastete schwer auf mir. Ich hatte unheimliche Angst, dass mir oder meiner Schwester etwas Schreckliches passieren könnte. Die Dunkelheit unserer trostlosen Wohnung nährte meine 
kindliche Fantasie. Was würde geschehen, wenn Mutter nicht nach Hause käme?
Eines Abends hörte ich, wie die Haustür unten aufging. Ich nahm ein Fleischmesser aus der Küche, öffnete die Wohnungstür und sah zwei Betrunkene unten an der Treppe stehen. Das Fleischmesser so fest umklammernd, dass meine Knöchel weiß wurden, schrie ich so grimmig, wie ich nur konnte: »Macht, dass ihr fortkommt! 
Ich habe ein Messer!« Maria versteckte sich hinter mir. Sie lachten, doch einige Augenblicke später machten sie sich aus dem Staub.
Als ich Mutter von dem Schrecken erzählte, zuckte sie nur die Achseln. »Na und? Sie sind doch nicht hereingekommen, oder?« Dann stellte sie die einzige Frage, die 
von Bedeutung war: »Hattest du das Licht an?«
Darum hatte ich meinen Stuhl in die Nähe des Fensters gerückt. Die Scheinwerfer der Autos, die auf der 34. Straße in Oakland, Kalifornien, entlanghuschten, waren tröstlicher als die drohende Dunkelheit der kalten Wohnung. Ich hatte Angst einzuschlafen, bevor Mutter da war. Manchmal schrie Maria auf, erschreckt durch fremdartige Geräusche. Dann legte ich ruhig meinen Arm um sie und redete ihr zu, keine Angst zu haben. 

Innerlich war ich voller Furcht. Abend für Abend saß ich in der Dunkelheit und hatte Angst davor, was Mutter mir antun würde, sollte Maria krank werden oder ihr etwas zustoßen.
Wenn Mutter dann spätabends nach Hause kam, sprach sie kein Wort mit mir, sondern suchte nur schnell Maria, die meistens auf der Couch eingeschlafen war. 
»Maria ist ein hübsches Kind – sie ist nicht wie du«, pflegte meine Mutter oft zu sagen. Sie packte Maria ins Bett und gab ihr einen Gutenachtkuss. Ich blieb mir selbst überlassen.

Ohne mich auszuziehen – ich besaß keinen Schlafanzug –, kroch ich neben meine Schwester unter die Decke. Kein einziges Mal umarmte mich meine Mutter oder nahm mich auf ihren Schoß. Gelegentlich brachte Mutter für Maria ein Geschenk mit, aber nie für mich. Unsere Kleider bekamen wir von Nachbarn nebenan. Sie waren entweder zu klein oder zu groß, unsere Hosen waren an den Knien durch­­­gescheuert, und unsere Schuhe drückten. Alle neuen 
Sachen bekam Maria.

Wenn Mutter zu Hause war, verbarg ich meine Ängste. Ich kroch hinter eine Couch, wo ich unentdeckt schluchzen konnte. Manchmal, wenn ich Magenkrämpfe hatte, krümmte ich mich auf dem Fußboden. Doch wenn Mutter mich weinend fand, bekam ich Schläge.
Eines Nachts wachte ich auf und stellte erschrocken fest, dass Maria nicht mehr neben mir lag. Ich rief nach Mutter, die zuvor nach Hause gekommen war, erhielt aber keine Antwort. In panischer Angst suchte ich die vier Zimmer unserer dunklen Wohnung ab. In dem Glauben, allein gelassen zu sein, begann ich zu schreien. 

Ich kroch in eine Ecke und bekam einen Weinkrampf. Es verging vielleicht eine Stunde. Plötzlich hörte ich jemanden auf der Treppe. Dann sah ich Mutter an der Tür mit Maria auf ihrem Arm. Sie hatte mich allein gelassen, ohne mir etwas zu sagen. Und für ihr Verschwinden gab 
sie nie eine Erklärung. Eines Nachmittags nahm Mutter Maria und mich mit, um eine Freundin zu besuchen. Maria saß auf Mutters Schoß, während die Frau die Schönheit meiner 
Schwester bewunderte. Dann sagte sie mit einem unverhohlenen Seitenblick auf mich: »Aber das mit der anderen ist ja wirklich zu schade.«

Was ist denn so anders an mir? Warum bin ich so hässlich? Kann mich denn keiner lieb haben?, dachte ich. Niedergeschlagen rutschte ich vom Stuhl herunter und verkroch mich in eine Ecke. Meine Gefühle überwältigten mich. Niemand sprach mit mir, und ich wollte auch mit niemandem sprechen. Selbst diese Frau bedauerte, dass ich geboren worden war.

Vielleicht kann ich Mutter doch noch dazu bringen, mich lieb zu haben, sagte ich mir. Doch jedes Mal, wenn ich meine Arme um sie legte, stieß sie mich weg. Sobald ich versuchte, auf ihren Schoß zu klettern, schüttelte sie mich ab, wie man einen gutmütigen, aber unerwünschten Hund abschiebt. »Lass das!«, fuhr sie mich an. Dann fügte sie hinzu: »Und nenne mich nicht Mutter, nenne mich Laura.«

Im Alter von sechs Jahren wusste ich, dass ich unerwünscht war – eine Schande, eine Last, eine Plage. Ich kannte die Bedeutung jener Worte nicht, doch empfand ich, wie schwer jedes wog. Ich bin hässlich, und es ist meine Schuld. Wenn ich doch nur etwas dagegen tun könnte!, 
seufzte ich innerlich. Die Tage zogen sich in trostloser, hoffnungsloser Eintönigkeit dahin. Maria und ich lachten selten. Die meiste Zeit saßen wir nur da und fragten uns, was in unserer 
Welt nicht stimmte.

Einige Hundert Meter von unserer Wohnung entfernt war ein freier Platz, auf dem meine Schwester und ich oft spielten. Wir hatten keine Spielsachen, sondern benutzten Stöckchen und Steine, die dann darstellten, was wir uns in unserer Fantasie ausmalten. Dort vergaßen wir 
unsere Angst; doch nicht für lange.
Wir spürten, dass andere Kinder Spaß hatten. Sie waren glücklich und sorglos, doch für uns war es schwer, uns zu freuen. Die kurzen Augenblicke des Glücks vermochten nicht das Leid auszulöschen, das wir so gut kannten. Irgendetwas stimmte nicht in unserem Heim. Wir fanden es schwer, freundlich zu sein oder zu lächeln.

Mein Vater besuchte uns vielleicht drei oder vier Mal in unserer Wohnung. Obwohl ich mich kaum an ihn erinnern kann, erinnere ich mich doch, dass auch er sagte, wie niedlich Maria sei. Sie war auch sein Liebling. Ein winziger Lichtstrahl durchdringt die dunklen Erinnerungen an jene Zeit – der Drugstore an der Ecke. So oft ich es wagte, ging ich dorthin. »Wie geht’s, Clara 
Bow?« Mit diesem Spitznamen begrüßte mich der Kaufmann. »Möchtest du ein Sodawasser?«
Ich sagte: »Nein«, denn ich hatte kein Geld. Doch seine Augen zwinkerten voller Freundlichkeit, während er mich auf einen Drehstuhl setzte und mir eine Limonade gab. Sieh doch hinter meine schäbigen Kleider, bitte! Ich bin so voller Angst und Leid!

Obgleich er diese meine Gedanken nicht lesen konnte, gab er mir doch das erste Zeichen menschlicher Liebe. Diese Ausflüge zum Drugstore nahmen jedoch bald ein Ende. Meine Mutter traf eine Entscheidung, die unsere Zukunft einschneidend verändern sollte. Die Tage in unserer ärmlichen Wohnung waren gezählt.

Das Waisenhaus

»Kinder, euer Vater und ich können euch nicht versorgen. Deshalb werde ich euch in ein Heim geben, wo ihr es gut haben werdet«, erklärte Mutter uns eines Tages. Kurze Zeit später luden sie und eine Nachbarin meine Schwester und mich in eine Straßenbahn. Eine lange Strecke fuhren wir, dann gingen wir noch ein Stück zu Fuß. Mutter hielt uns an der Hand. Unsere wenigen Kleider trug ich 
in einer Papiertüte. Spielsachen besaßen wir nicht. Auf einmal entdeckte ich ein großes Gebäude mit einem roten Ziegeldach. Es war U-förmig angelegt und hatte zwei Stockwerke. In meinen Augen war es riesig. 

Eine Palme, umgeben von Geranien, erhob sich im Hof. Durch einen Eisengitterzaun sah ich Jungen spielen. Muss wohl eine Schule sein, dachte ich. »Lebt wohl!«, sagte Mutter wenig später, ohne eine 
Träne zu vergießen. »Bis bald!« Die beiden Frauen gingen zur Tür. Auf dem traurigen Gesicht der Nachbarin zeichnete sich die Sorge um uns ab. (Insgeheim hoffte ich, dass sie uns einmal besuchen 
würde, doch sie kam nie.) An der Tür blieb Mutter stehen, die Hand auf der Klinke. »Vielleicht müsst ihr nicht allzu lange hier bleiben!« Dann schloss sich die Tür, und wir waren uns selbst überlassen. Es war, als hätte Mutter ein Paket abgegeben und vergessen, es je wieder 
abzuholen.

Wir waren gerade vor dem Mittagessen angekommen, so wurden wir in einen Ess-Saal gebracht, wo ungefähr 65 Kinder an langen Tischen saßen. »Doris«, sagte die Aufseherin, »du wirst lernen, bei 
Tisch nicht zu reden. Wenn du etwas willst, heb deine Hand!«
Unsere erste Mahlzeit bestand aus Roten Rüben. »Ich mag keine Roten Rüben«, erklärte ich der Aufseherin. »Dann wirst du lernen, sie zu mögen«, lautete die Antwort. »Du wirst nicht früher vom Tisch aufstehen, bis sie aufgegessen sind.«
Doch ich war fest entschlossen, keine Roten Rüben in meinen Mund zu lassen. Ich saß da und rührte mich nicht. Die Roten Rüben rührte ich nicht an. »Doris, iss die Roten Rüben!«, ermahnte mich die 
Aufseherin. Ich antwortete nicht. Doch ich aß auch nicht. 

Schließlich wurden die anderen Kinder entlassen. Ich saß immer noch da. Nachmittags nahm mir die Aufseherin den Stuhl weg. Schließlich kamen die anderen Kinder zum Abendessen zurück. Ich bekam nichts, da ich meine Roten Rüben nicht aufgegessen hatte. Als die anderen Kinder fertig waren, standen sie wieder auf. Ich musste bis 21 Uhr sitzen bleiben. Wieder wurde mir der Stuhl weggenommen. Ich stand vor dem Tisch, doch die Roten Rüben aß ich nicht. Ich dachte schon, ich hätte gewonnen, doch da kam die Aufseherin mit einer dünnen, langen Klatsche zurück und verhaute mich so damit, dass ich es nie vergessen werde.

Anschließend wurde ich in ein Ankleidezimmer geführt. Jedes Kind hatte einen Verschlag mit einem Haken für Kleider und einem Brett darüber für Handtücher. Schuhe wurden darunter gestellt. Die anderen Kinder waren schon im Bett. So zog ich mich allein aus. Die Aufseherin zeigte mir mein Bett, eines von zwanzig, die die Wand säumten. Es begann mir zu dämmern, dass dies eine seltsame Schule war.

»Wird meine Mutter zurückkommen?«, fragte ich. »Oh, sie wird dich wohl besuchen kommen«, 
antwortete die Aufseherin ausweichend. An jenem ersten Abend tat ich etwas, was ich von da 
an jeden Abend in den nächsten sieben Jahren wiederholte: Ich weinte mich in den Schlaf.
Nach einigen Tagen begann ich die anderen Kinder auszufragen. »Wie nennt man das hier?«
»Es ist ein Waisenhaus«, antworteten sie.
»Ein Waisenhaus?«
Ein großes Mädchen mit dunklem Haar erklärte mir feierlich: »Hier kommst du her, wenn niemand dich will.«
Unsere Mutter hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich das Waisenhaus anzusehen. Fräulein Ward, eine füllige Frau mit grauem Haar und blauen Augen, stellte uns der Aufseherin, Fräulein Gabriel, vor. Fräulein Gabriel zeigte uns das Spielzimmer, in dem sich Spielzeug befand, das alle Kinder benutzen durften. An einer Wand befand sich eine lange Reihe von Holzkästen mit Deckeln, in dem jedes Kind seine persönlichen Dinge aufbewahren konnte. Meine war die erste in der Ecke. 
Doch ich hatte nichts, was ich in meinen Kasten hätte hineinlegen können.

Manchmal fragte ich ein anderes Kind während der Spielzeit, ob ich ein Spielzeug in meinem Kasten auf­bewahren könnte. Doch es sagte immer: »Nein. Das gehört mir!« So schaffte ich mir einige Dinge selbst an. Fand ich einen unzerbrochenen Malstift, so ließ ich ihn in meinem Kasten verschwinden, wenn niemand es sah. Oder wenn ich ein Bild malte, steckte ich es in meinen Kasten, damit niemand es verkritzeln konnte. Ich legte meine Sachen immer schön ordentlich übereinander, damit ich, falls erforderlich, schnell zum Weggehen bereit war. Mutter hat gesagt, wir würden wohl nicht allzu lange bleiben müssen. Vielleicht werden wir ja jede Minute abgeholt, dachte ich.

Zuerst war ich ein Einzelgänger. Stundenlang saß ich auf einer langen, grünen Bank, baumelte mit den Füßen und überlegte mir, wie ich wohl hier herauskäme. Die Hände hatte ich unter meine Beine gelegt, so wie ich es am Fenster unserer Wohnung getan hatte. Wann wird Mutter zurückkommen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder.

Wie sehr wünschte ich mir, wieder in der vertrauten Wohnung zu sein! Die Kinder forderten mich auf, mit ihnen zu spielen, doch ich weigerte mich. Ich werde ja nicht lange hier sein, sagte ich mir.
Als ich noch zu Hause war, hatte ich eine rote Strickjacke mit braunem Rand und Holzknöpfen bekommen. 

Diese trug ich jetzt jeden Tag und knöpfte damit Geborgenheit um mich herum. Fräulein Gabriel konnte mich kaum dazu bringen, sie an Waschtagen herzugeben. Sie war noch das einzige Bindeglied zu dem, was ich als Zuhause kannte.
Tage und Wochen vergingen. Mutter kam nicht zurück. Widerstrebend fand ich mich mit der Tatsache ab, dass sie ihr Versprechen wohl nicht halten würde. Scheinbar sollten wir endgültig hierbleiben. Ja, ich nahm an, dass Maria und ich den Rest unseres Lebens hier verbringen würden.

Langsam begann ich mich an die Routine zu ge­wöhnen. Wenn ich hart bin, kann ich überleben, sagte ich mir. Ich drangsalierte die anderen Kinder. Zart war ich nie gewesen. Ich stieß, schubste und schlug. Wenn ein anderes Kind mir sein Spielzeug nicht zeigen wollte, riss ich es ihm weg. Die anderen schlugen mich nicht, doch ich schlug sie, und es tat mir gut. Ich war weder größer 
noch stärker als die anderen, doch muss ich sehr böse ausgesehen haben.

Der Tagesablauf war ziemlich eintönig. Morgens ertönte eine Klingel zum Aufstehen. Zum Frühstück stellten wir uns in einer Reihe auf. Jeden Tag gab es Brei – zähen, klebrigen, gekochten Brei. Ich gebrauchte meinen Einfallsreichtum bis an die Grenze meines Vermögens und machte einen Plan, um zu vermeiden, dieses Schleimzeug schlucken zu müssen. Zuerst stopfte ich alles in den Mund, was nur hineinging. Meine dicken Backen wurden noch dicker. Dann hob ich meine Hand, 
um auf die Toilette gehen zu dürfen. Dort spuckte ich alles ins Waschbecken. Das machte ich jeden Morgen.

Bei einem dieser Ausflüge ins Badezimmer spürte ich plötzlich die feste Hand der Aufseherin an meinem Hals. »Komm her, Doris!«, befahl sie. Alle Köpfe im Ess-Saal drehten sich zu mir um. Sie führte mich ins Bad, und ich spuckte das Breizeug direkt in den Ausguss. Dann 
nahm sie ein Stück Seife und seifte meine Zunge ein. Am nächsten Tag schmeckte der Brei schon etwas besser. 

Von da an aß ich ihn. Jeden Dienstag und Donnerstag gab es Buttermilch. Ich hasste dieses weiße, flockige Zeug und zwang andere Mädchen, meine Milch zu trinken. Obgleich sie ihre auch nicht mochten, tranken sie sie immer schnell aus, um die Sache hinter sich zu bringen. Wenn die Auf­herin nicht hinschaute, tauschte ich die Gläser aus. 

»Wenn du das nicht trinkst, gibt’s später im Hof Haue!«, drohte ich. Mein Ruf, gemein zu sein, brachte sie dazu, zähneknirschend zu gehorchen.
Maria und ich spielten nicht oft zusammen. Sie war in einem anderen Teil des Gebäudes bei den Fünfjährigen. Ich war bei den Sechs- bis Achtjährigen. Das Waisenhaus ließ keine engen Beziehungen zwischen Mitgliedern derselben Familie zu, nicht einmal enge Freundschaften unter den einzelnen Kindern. Später entdeckte ich, warum: Wenn ein Kind, das eine enge Freundschaft mit einem anderen eingegangen ist, adoptiert wird, ist das andere tief verletzt.

Allmählich freundete ich mich gut mit Esther an, einem freundlichen, blonden Mädchen, dessen Bett nahe bei meinem stand. Eines Tages, völlig unerwartet, war sie plötzlich fort: Sie war adoptiert worden. Die Mitarbeiter im Waisenhaus bereiteten ihren Abschied vor, als wir anderen in der Schule waren, um das Abschiednehmen zu vermeiden. An jenem Abend, als ich herausfand, dass Esther nicht mehr da war, warf ich mich über mein schmales Bett und weinte bitterlich. Ich wusste: 
Ich würde sie nie wiedersehen. Die Aufseherin hatte gewarnt: »Lasst euch auf keine engen Freundschaften ein, sonst tut ihr euch selbst weh!«

Fräulein Gabriel, die ich »Engel Gabriel« nannte, beherrschte uns mit der Disziplin eines Feldwebels. Ihr pechschwarzes Haar trug sie in einem Knoten. Sie hatte eine krumme Nase und pechschwarze, stechende Augen. »Ich kann durch euch hindurchblicken«, pflegte sie uns zu versichern, wenn sie uns ohne mit der Wimper zu zucken anstarrte. Und wir glaubten es ihr.  

Sie war der festen Meinung, dass Krankheit immer das Ergebnis von Sünde sei, besonders der Sünde des Ungehorsams gegenüber ihren Anordnungen. Wenn jemand von uns krank wurde, brachte sie diese Krankheit in eine theologische Perspektive. »Es ist der Herrgott! Er straft dich!«, schimpfte sie. »Wenn du nicht so ungezogen wärst, wärst du auch nicht krank.« Wir erduldeten, 
was wir als des Herrgotts Strafe ansahen, und versuchten herauszufinden, durch welche begangene Sünde wir eine Erkältung, Grippe oder auch nur einen Schnupfen verdient hatten. 

Doch eines Tages erhielt der »Engel Gabriel« einen Schnellkurs in Theologie: Er erkrankte an Mumps! Durch meine Ungezogenheit brachte ich mich oft selbst in Schwierigkeiten. Doch selbst wenn ich ungerechterweise bestraft wurde, hatten die anderen Mädchen kein Mitleid mit mir. Ich hatte genug Böses getan, um es zu verdienen. Eines Morgens standen wir in Reih und Glied aufgestellt, um Anweisungen entgegenzunehmen, als ein Mädchen Fräulein Gabriel die Zunge 
herausstreckte. Impulsiv holte der »Engel« in Richtung auf den Kopf des Mädchens aus. Das Mädchen duckte sich. Ich stand direkt hinter ihm. Mein ganzes Gesicht tat weh von dem Schlag.

»Aber Fräulein Gabriel, ich war es doch gar nicht!«, jammerte ich los – lauter, als nötig gewesen wäre. »Ich weiß, doch du verdienst es nächste Woche«, versicherte mir Fräulein Gabriel. Sie entschuldigte sich nicht dafür.
An jenem Abend fand mich Fräulein Gabriel, als ich vor dem Einschlafen weinte. »Nicht schon wieder du, Doris!«, murmelte sie und verabreichte mir eine Tracht Prügel. So lernte ich, leise zu weinen, den Kopf unter den Decken vergraben.

Der »Engel« schlug uns auch, wenn wir den Athleten der Oakland Technical High School, die an unser Grundstück angrenzte, beim Training zusahen. Warum das nun verboten war, wird wohl immer eines der undurchdringlichen Geheimnisse des Lebens bleiben.
Als ich älter wurde, rächte ich mich an Fräulein Gabriel bei der Wäsche. Meine Aufgabe war, die ge­waschenen Kleider zu sortieren und aufzuhängen. Unsere Kleider wurden sehr gestärkt und dann flach gebügelt. Das zerdrückte alle Rüschen. Die Kleider waren so steif, dass ich sie einzeln mit einem Lineal auseinanderreißen musste. Wenn Fräulein Gabriel nicht hinhörte, sprach ich zu den Kleidern so wie sie zu uns.

»Molly, noch ein Wort und du verschwindest aus dem Esszimmer!«, sagte ich giftig, ganz den Ton des 
»Engels« nachahmend. Oder: »Jeannie, iss deinen Brei oder ich stopfe ihn dir rein!«
Eine andere Aufgabe, die ich mit neun Jahren hatte, war, den kleinen Mädchen beim Anziehen zu helfen. Eine Fünfjährige machte immer ins Bett. Sie saß absichtlich in ihrem Bett und machte es nass. Ich musste immer ihre Laken wechseln. Schließlich hatte ich die Nase voll. 

Eines Morgens, nachdem Fräulein Gabriel gegangen war, nahm ich das kleine Mädchen und steckte ihre Nase ins nasse Bett.
»Doris!« Die anderen Mädchen rangen nach Luft. Doch von da an machte die Kleine nie wieder ihr Bett nass.
Obwohl ich in dem Ruf stand, raubeinig zu sein, wollte ich doch mit den anderen spielen. Zuerst stand ich nur am Rand und sah zu. »Wir wollen dich nicht haben!«, sagten mir die anderen. Ich musste lernen, freundlich zu sein. »Bitte, darf ich mitspielen?«, bettelte ich. »Ich verspreche, ich werde euch nicht hauen.«

Als ich allmählich lernte, nicht mehr so böse zu sein, nahmen sie mich in ihre Reihen auf. In der Schule konnte man die Kinder aus dem Waisenhaus leicht an ihren schäbigen Kleidern und dem besonderen Haarschnitt erkennen. An einem bestimmten Tag wurde ein Stuhl auf einen niedrigen Tisch gestellt. Nacheinander krabbelten wir auf den Tisch und schließlich auf den Stuhl. Fräulein Gabriel stülpte einen Topf über unseren Kopf. Das Gefäß war so riesig, dass ich an einen Schirm 
erinnert wurde. Wir hätten uns darunter verstecken können. Dann schnitt sie unser Haar rundherum ab.

Wenn wir zur Schule marschierten, sahen wir alle gleich aus. Fuhren Autos an uns vorbei, verlangsamten sie ihre Fahrt. Eltern zeigten uns ihren Kindern. Wir sind alle komische Käuze, und ich bin außerdem auch noch hässlich, dachte ich.
Zwei Interessen erhielten mich in jenen Jahren bei gesundem Menschenverstand. Eines davon war meine Liebe zu Büchern, das zweite mein Zeichentalent. Nicht einmal der »Engel Gabriel« konnte meinen Hunger nach Lesestoff verhindern. Ich schlich mich in den Aufenthaltsraum und schaute prüfend über die lange Reihe von Büchern, die auf den Regalen standen. Dort fand ich Huckleberry Finn, Tom Sawyer oder Black Beauty und las sie in Raten durch. Über den Seiten brütend, entfloh 
ich in eine Welt der Abenteuer und herrlicher Erlebnisse. Heidi und die Pollyanna-Bücher verschlang ich.

Doch meine Lieblingsbücher waren die »Old Mother West Wind«-Bände. Als ich von den kleinen Tieren las, die so frei im Wald herumliefen, träumte ich davon, genauso niedlich und bewundernswert zu sein wie die Eichhörnchen.

Manchmal erwischte mich »Engel Gabriel« beim Lesen, wenn ich hätte arbeiten sollen, oder sie fand mich zu verbotener Stunde lesend. Doch die Schläge, die ich bekam, konnten mich nicht von jenen Büchern fernhalten. Sie waren die einzigen Freunde, auf die ich zählen konnte, und sie hoben mich aus der eintönigen und deprimierenden Welt des Waisenhauses heraus.
Neben Lesen war Zeichnen meine Lieblingsbeschäftigung. Ich schaute mir ein Bild an und skizzierte es mit der linken Hand. In der Schule gab es jedoch eine Anordnung, dass alle Kinder die rechte Hand gebrauchen mussten. Mir war das fast unmöglich. Ich schrieb schlecht und begann zu stottern. So sehr ich mich auch anstrengte – die Worte kamen nur bruchstückweise aus meinem Mund.

Eines Tages, als die Lehrerin nicht hinschaute, skizzierte ich ein Bild von Kindern auf einem Hügel, die einen Drachen steigen lassen. »Doris, das hast du doch nicht gemacht!«, schnauzte mich die Lehrerin an, als sie an meinem Pult vorbeiging.
»D-doch.«
»Nein. Das hast du nicht gemacht!«
»Aber s-sicher. D-doch!«
Sie nahm ein Lineal und schlug mir damit über die Fingerknöchel. In dem Moment blickte sie dem Mädchen in der anderen Bankreihe in die Augen. »Hat Doris 
das gezeichnet?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte das Mädchen schüchtern.
»Wie hast du das nur gemacht, Doris?«, fragte sie ein wenig einlenkend.
»I-ich h-habe es n-nicht mit die-ser Hand, s-sondern 
mit der g-gemacht«, stammelte ich, indem ich auf meine linke Hand zeigte.

Damit riss sie mir das Bild aus der Hand und ging zum Büro des Direktors. Etwas später brachte mir die Lehrerin eine gute Nachricht: Der Direktor hatte mir erlaubt, meine linke Hand zu gebrauchen!
Es dauerte nicht lange, da bekam ich Freude an der Schule, und schließlich verlor ich auch meinen 
Sprachfehler wieder. Ich fing tatsächlich an, für meine Leistungen anerkannt und nicht nur nach meinem Aussehen beurteilt zu werden.
Als wir älter wurden, bekamen wir vom Waisenhaus die Erlaubnis, lange Spaziergänge zu machen. Jeden Samstagabend ging ich direkt zum Drugstore an der Ecke, um die Saturday Evening Post anzuschauen. Auf der ersten Seite war meistens eine große Zeichnung von Norman Rockwell abgebildet. Ich studierte sie, analysierte sie und beneidete den Künstler. Insgeheim stieg ein großes Verlangen in mir auf. 

Eines Tages werden meine Zeichnungen dort prangen, sagte ich mir. Ich pflegte zu warten, bis es dunkel wurde, um meinen Spaziergang zu machen. Dann ging ich so nahe wie möglich an die Häuser heran und schaute durch die Fenster. Ich sah Kinder auf dem Fußboden zusammen spielen oder Familien zusammen essen. Mütter standen in der Küche und kochten. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das sein würde.
Wenn ich dann ins Waisenhaus zurückkehrte, träumte ich davon, wie es sein würde, draußen zu wohnen, wo niemand mich ausschimpfte und wo ich alles zu essen bekam, was ich wollte. Ich könnte sagen, was ich wollte, und niemand würde mir gebieten, den Mund zu halten. 
Ich könnte jeden Abend saubere Bettwäsche haben und wenn ich wollte, mich zweimal täglich umziehen. 

Manchmal, wenn die Aufseherin schlief, schlüpfte ich aus meinem Bett und tappte auf Fußspitzen den Flur entlang, um mich vor dem langen Spiegel in unserem gemeinsamen Ankleidezimmer aufzubauen. Dann nahm ich meinen Metallkamm, ließ ein paar Tropfen Wasser vom Wasserhahn darauf fallen und machte mir eine andere Frisur. Zuerst machte ich auf der linken Seite einen Scheitel, dann auf der rechten und schließlich in der Mitte. Zuletzt kämmte ich es ganz zurück. Mein krauses schwarzes Haar ließ sich einfach nicht frisieren. 

Die widerspenstigen Locken legten sich immer wieder anders, als ich wollte. Ich beneidete andere Mädchen, die tatsächlich ihre Frisur ändern konnten. Mit meinem schwarzen Wuschelkopf aber konnte ich nichts anfangen. Da diese Versuche sich in keiner Weise positiv auf meine Erscheinung auswirkten, arbeitete ich an meinem Gesichtsausdruck. Ich zwang mich zu einem Lächeln und beobachtete mich genau – Mund offen, Mund zu, Zähne zeigen, Zähne nicht zeigen. Nachdem ich alle Möglichkeiten ausprobiert hatte, stieg ich wieder ins Bett, um mich wieder in den Schlaf zu weinen.

Auf der Suche nach Liebe

Meine Mutter hatte versprochen, dass sie uns im Waisenhaus besuchen würde, und das tat sie – zweimal in sieben Jahren! Bei ihrem ersten Besuch rannte ich instinktiv auf sie zu. »Mutter! Mutter!«, schrie ich und vergaß ganz ihre Anordnung, sie »Laura« zu nennen. Doch sie stieß 
mich beiseite, öffnete eine Einkaufstasche und gab Maria ein Geschenk. Nichts hatte sich geändert.

Das Wort »Vater« bedeutete mir wenig. Meine Erinnerung an meinen Vater war nur schwach und verworren. Wenn andere Kinder von ihren Vätern sprachen, hatte ich nur ein Achselzucken. Doch von den Empfindungen, die ich für Laura hatte, konnte ich mich nicht lösen. Ich 
klammerte mich an die Hoffnung, dass sie mich eines Tages doch noch lieben würde.
In der Weihnachtszeit hoffte ich besonders, dass Mutter uns mit einem Besuch überraschen würde. Weihnachten im Waisenhaus mag Außenstehenden öde vorgekommen sein, doch für mich war es etwas Besonderes. 
Ich hatte noch nie zuvor Weihnachten gefeiert. Jedes Jahr bekamen wir die gleichen Geschenke: dunkelbraune Strümpfe mit Strumpfhaltern, eine Orange oder einen Apfel und einen Lutscher. Ein großer Baum wurde in eine Ecke des Aufenthaltsraums gestellt und mit 
Lichtern und Kugeln geschmückt. Dann wurden Weihnachtslieder gesungen.
Auch ein Weihnachtsspiel wurde aufgeführt. Die Ge­­­­­schichte war genauso vorprogrammiert wie die Geschenke: Ein zerlumptes Mädchen wird vom Weihnachtsmann überrascht, 

1. Auflage 2011 (CLV)
This book was first published in the United States 
by Moody Publishers, 820 N. LaSalle Blvd., Chicago, Illinois, 60610 
with the title Dorie: The Girl Nobody Loved.
© 1979 by The Moody Bible Institute of Chicago. 
Translated by permission.
© der deutschen Ausgabe 
2011 by CLV · Christliche Literatur-Verbreitung
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CLV im Internet: www.clv.de
(früher erschienen bei Schulte & Gerth, Aßlar)
Übersetzung: Inge Bürklin
Satz: CLV
Umschlag: typtop, Andreas Fett, Meinerzhagen
ISBN 978-3-86699-138-5

Legrand L A Fernand, In den Wind geredet?

07/15/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Kapitel 1

"DIE ANALYSE DER CHARISMATISCHEN ERNEUERUNGSBEWEGUNG"
'Die charismatische Erneuerung im Schoße der Katholischen Kirche' war unter der Feder von D. Cormier der Titel eines Büchleins, das in Kanada gegen Ende der 70er Jahre erschien. Es umschrieb die Stellung der klassischen Pfingstbewegung zu jener Zeit. Wir werden es hier zusammenfassen, ohne die Meinung des Autors zu verflilschen oder zu verstümmeln.
Wenn manchen die Sprache gelegentlich übertrieben scheint, sie ist nicht von uns; wie eigentlich nichts von uns ist, mit Ausnahme der Verbindungen zwischen den Abschnitten.
Dieses Buch beschreibt die Ratlosigkeit aufrichtiger Katholiken angesichts der Trockenheit ihrer Kirche, ihren Durst nach echten geistlichen Leben und ihre aufrichtige Suche nach dem Leben des Geistes, seit ihrem Kontakt mit verschiedenen Pastoren der Pfingstbewegung, der Lektüre des Buches 'Das Kreuz und die Messerhelden' von David Wilkerson und eines anderen pfingstlerischen Buches mit dem französischen Titel: 'Us parlent en d'autres langues' (Das Reden in anderen Sprachen) von J. Sherriil.

"Sie harrten über ein Jahr aus, indem sie jeden Tag beteten: Komm, Heiliger Geist... Das war an der Universität Duquesne in Pensylvania. In South Bend in Indiana geschah die gleiche Suche, eins gleiche Warten, mit Theologieprofessoren der Hochschule Sankt-Maria. Dort riefen sie Bruder Ray Bullard, Diakon einer benachbarten Pfingsigemeinde und Ortsvorsitzender der Geschäftsleute des Vollen Evangeliums. Dieser Mann war geschätzt für seine grqße' Erfahrung mit geistlichen Gaben und man beschrieb ihn als denildilgen Mann, der nichts anderes suchte, als vom HERRN ge-lu'aurht zu werden. Er wurde in gewissem Sinne der geistliche Pate der eharismatisehen Gemeinschaft, die in Notre Dame entstand.
Mehrere Monate lang kamen sie bei Ray Bullard zusammen, wo bereits pfingstlerische Versammlungen abgehalten und mehrere Pastoren der Pfingstgemeinden regelmäßig eingeladen wurden, um Referate zu halten und auf die Fragen der Neuhinzugekommenen zu antworten.
Dann geschah die Explosion; an einem Wochenende wurden zahlreiche katholische Studenten mit dem Heiligen Geist getauft. Das verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Bei einem jener Zusammenkünfte bei Ray Bullard stellte ein ehemaliger Pfingstmissionar die Frage: "Da ihr nun den Heiligen Geist empfangen habt, wann wollt ihr die katholische Kirche verlassen?" Erstaunt antworteten sie: "Aber wir haben überhaupt nicht vor, die Kirche zu verlassen!" Die einstimmige Ansicht der klassischen Pfingstler zu der Zeit war, daß der Heilige Geist früher oder später den Katholiken die Augen öffnen würde. Aber in dem Maße, wie die Zeit verstrich, wurde es offensichtlich, daß sie doch entschieden waren Katholiken zu bleiben, und daß die Hierarchie die Bewegung zum Nutzen der römischen Kirche vereinnahmte. Fünf Hypothesen wurden daraufhin geäußert, um die Haltung dieser Katholiken zu erklären, die weiterhin den Lehren und Praktiken ihrer Kirche folgten, während sie versicherten den Heiligen Geist empfangen zu haben:
1. Diese Bewegung ist erst in ihren Anfängen; die Katholiken, die dazugehören, werden sich später ändern.
2. Diese Bewegung kommt vom Heiligen Geist, aber die katholische Hierarchie hat es verstanden, sie zu ihrem Nutzen zu kanalisieren.
3. Diese Bewegung ist die Erfüllung der Prophetie: "Ich werde meinen Geist auf alles Fleisch ausgießen" und beweist, daß der Heilige Geist über unseren religiösen Vorurteilen steht und jeden, unabhängig von seiner Lehre, retten kann.
4. Diese Bewegung ist nur eine Inszenierung, um die Protestanten in die Falle des Ökumenismus zu locken.
5. Diese Bewegung ist eine Fälschung des Teufels und bereitet das Kommen des Antichristen vor."
Der Autor des oben zitierten Buches entwickelt die Position, welche auch noch von einem Teil der historischen Pfingstbewegung, zumindest in Europa, gehalten wird anhand der folgenden Erläuterungen zu diesen fünf Hypothesen:
2. "Diese Bewegung kommt vom Heiligen Geist, aber die katholi-
sche Hierarchie hat es verstanden, sie zu ihrem Nutzen zu kanalisieren."
1. "Diese Bewegung ist erst in ihren Anfängen; die Katholiken,
die dazugehören, werden sich später ändern."
Er stellt fest, daß entgegen der allgemeinen Erwartung, diejenigen, die sich vom Katholizismus entfernt hauen, durch die charismatische Bewegung wieder dahin zurückgebracht wurden und ihr Götzendienst neue Belebung erfuhr.
Die charismatischen Glaubensbekenntnisse drücken sich folgendermaßen aus:

  • Die Marienverehrung übernimmt für uns die Rolle der Heiligung."

- "Das sakramentale Leben der Kirche ist für uns bedeutungsvoller geworden."• "ich bin zu einem tieferen Verständnis der Eucharistie als Opfer gelangt und zu häufigeren Beichte zurückgekehrt."

"Ich habe nun für mich eine tiefe Verehrung Marias entdeckt."
Wenn wir jetzt den Pater O'Connor zitieren, liefen er uns ein charismatisches Glaubensbekenntnis, das jeden Pfingstler, ob evangelisch oder reformiert, erschrecken läßt:
"Die ersten Auswirkungen waren eine größere Ehrerbietung gegenüber der Eucharistie. Die auffallendste Wirkung für einen Benediktiner nach seiner Tauft mit dem Heiligen Geist war, das Singen der Messe Die Marienverehrung ist im ganzen Land durch die - Pfingstbewegung verstärkt worden. Kurz gesagt, die Auswirkung der Pfingstbewegung war, Menschen für die Kjrche, für das Priestertum und für das religiöse Leben zu reifen."
Da die erwartete Veränderung nicht stattfand, konnte diese erste Hypothese nicht aufrechterhalten werden
Die Erklärung zu diesem Punkt ist weniger präzise. Als Namen werden zitiert: "Pater Regimbald, O'Connor und Kardinal Suenes, Männer, die die charismatische Bewegung unter Laien einführten. Die Rückkehr zur traditionellen Religiosität ist nicht das Ergebnis von Druck seitens der Hierarchie, sondern einzig die Wirkung der charismatischen Erfahrung."
Der Pater Mcflonnel wird mit seinen Worten zitiert:
"Die katholischen Pfingstler werden dazu gebracht, Formen des Kontaktes mit Gott wieder aufzunehmen und zu kultivieren, die sie aufgegeben hatten. Dieses liegt nicht an einer konservativen Theologie, sondern eher an der verwandelnden Wirkung ihrer Erfahrung."
Wenn die römische Hierarchie auch etwas mit einer Rückkehr zum christlich verbrämten Heidentum zu tun- hat, so ist doch der entscheidende Grund (wir zitieren) "die 'pflngstlerische' Erfahrung". Diese zweite Hypothese konnte nicht aufrechterhalten werden.
3. "Diese Bewegung ist die Erfüllung der Prophetie: 'ich werde
meinen Geist auf alles Fleisch ausgießen' und beweist, daß der Heilige Geist über unseren religiösen Vorurteilen steht und jeden unabhängig von seiner Lehre retten kann."
Die Frage, die anschließend gestellt wird, ist sehr folgenschwer: "ist der Geist, der in der römischen Kirche wirkt, der Heilige Geist? in Bezug auf den Heiligen Geist sagte Jesus: 'Er wird euch in alle Wahrheit leiten'. Das ist das Wesen des Heiligen Geistes. Das Wesen des falschen Geistes ist, nur in einen Teil der Wahrheit zu leiten. Nun ist aber eine der frappierendsten Wirkungen der charismatischen Bewegung, daß sie ihre Anhänger in einen Teil der Wahrheit und in einen Teil von irrtumflihn, wie z.B.: das spontane. Gebet
und der Rosenkranz; die Anbetung Christi und des Heiligen Sakramentes; das Lesen der Bibel und die Marienverehrung."
Es folgen einige Zeugnisse von Menschen, die vom Heiligen Geist getauft worden sind, der eine "als er gerade mit dem Aufsagen seines Rosenkranzes fertig war", der andere "während er eine Hymne in der Messe sang", eine andere überdies "während sie auf Knien war und zur Heiligen Jungfrau betete. Diese Zeugnisse genügen um klar und deutlich zu beweisen, daß der Geist, der diese Menschen tauft, im Widerspruch zur Schrift steht und auf keinen Fall der Heilige Geist sein kann. Nicht das Bezweifeln des Werkes des Heiligen Geistes stellt eine Lästerung seiner göttlichen Person dar, wohl aber, ihm solche Greuel und einen solchen Götzendienst zuzuschreiben."
Im Einverständnis mit dem biblischen Pfingstiertum jener Zeit, zieht der Autor eine sehr überlegte Schlußfolgerung, derer wir uns später noch bedienen werden: "Wir leben in einer vom Relativismus gekennzeichneten Welt..., in der man nicht mehr an eine absolute Wahrheit glaubt, sondern an relative Wahrheiten, die der menschlichen Erfahrung untergeordnet sind. So wird die Betonung mehr auf die Erfahrung, als auf die Lehre gelegt. Die Tatsache, daß man in Zungen redet oder einen gewissen inneren Frieden empfindet..., die Liebe zu Gott, Maria und die Heiligen: all das ist wichtiger, als die gesunde Lehre zu kennen." Charles Foster zitierend sagt er: 'Wenn die Erfahrung des Geistes den Vorrang vor der Lehre und dem Heil hat, ist die Verführung gewiß..."
Die dritte Hypothese konnte nicht aufrechterhalten werden.
"Diese Bewegung ist nur eine Inszenierung, um die Protestanten in die Falle des Ökumenismus zu locken."
Während er anerkennt, daß sich "die charismatische Bewegung ohne den pfingstlerischen Beitrag niemals im Schoße der katholischen Kirche hätte entwickeln können", gesteht er die Gefahr ein und fügt hinzu: "Es ist traurig,festzustellen, daß einige evangelikale Christen sowie zahlreiche Protestanten diese Falle nicht erkannt haben. Zahlreiche Beweise haben gezeigt, daß die Charismatik den Interessen Roms und der Ökumene dient, aber wir müssen die Hypothese zurückweisen, daß es nur eine Inszenierung war, um die Protestanten in die Falle der ökumenischen Ausschweifung zu lok-ken. Die in der charismatischen Bewegung gewirkten Heilungen, Prophetien und Wunder verbieten uns, darin nur eine menschliche Inszenierung zu sehen... Wenn nicht der Heilige Geist hinter dieser Bewegung stehen kann, ist es doch in der Tat ein wirklicher Geist, der handelt... übernatürliche Ereignisse sind es, die die Bewegung dazu gebracht haben, sich mit solcher Geschwindigkeit und Kraft zu entwickeln."
Da es also nicht das direkte Resultat menschlicher Berechnung war, sondern die Ausströmung eines fremden Geistes, konnte diese vierte Hypothese nicht aufrechterhalten werden. Es blieb die fünfte.
5. "Diese Bewegung ist eine Täuschung des Teufels und bereitet
das Kommen des Antichristen vor."
Wir können den Text nicht vollständig wiedergeben, aber diese Kurzfassung wird die Hauptgedanken liefern.
"An der Universität Duquesne folgten, nachdem etwa dreißig Studenten mit dem Heiligen Geist getauft worden waren, bald mehrere öffentliche und übernatürliche Heilungen. Unter denen, die die Beobachter am meisten beeindruckten, waren die prophetischen Bekundungen in Zungen und ihre Auslegung. K. und D.Ranafhan erzählen in ihrem Buch 'Le Retour de ['Esprit' (Die Rückkehr des Hl.Geistes): Anläßlich einer Gebetsversammlung in South Bernd fragte ein Priester, der zum ersten Mal daran teilnahm, seinen Nebenmann, wo dieser Griechisch gelernt habe. Welches Griechisch, war die Gegenfrage. Der Priester sagte daraufhin der Gruppe, daß er seinen Nachbarn deutlich die ersten Sätze des 'Gegrüßet seist du, Maria' auf Griechisch habe wiederholen hören. Der Pater O'Connor fügt in seinem Buch hinzu: "Vor dieser Begegnung hatte es nur sehr wenige Spuren von Marienverehrung in der Gruppe gegeben..., von da an gab es einen Aufschwung von
Marienfrömmigkeit. Für sie sind die verschiedenen Wunder und Marienerscheinungen der unfehlbare Beweis der Gegenwart Gottes in ihrer Kirche."
D. Cormier erwidert, daß uns "die Bibel jedoch vor wunderbaren und lügenhaften Zeichen warnt (2 .Thes.2 ‚9-12)."
Die Analyse konnte seitdem nur noch in die Richtung der letzten Hypothese gehen. Die Verurteilung der sogenannten charismatischen Erweckung ist klar und steht außer Frage. "Es handelt sich", so sagt er, "um die Kreuzung zwischen der protestantischen Pfingstbewegung und dem katholischen Götzendienst."
Wir erinnern daran, daß nichts in dieser Analyse von uns ist Deshalb haben wir darauf geachtet, den Originaltext in Anführungszeichen, bzw. kursiv zu setzen.
Entsprechen diese Analyse und diese Schlußfolgerungen den unsrigen? Erlauben sie uns, unsere Antwort vorläufig zurückzustellen, denn die obige Schlußfolgerung ist, so schroff sie scheinen mag, noch Teil der europäischen Pfingstbewegung. Erinnern wir uns daran, daß das Thema unserer Diskussion die Gabe der Zungenrede, und des damit verbundenen Zeichens, sein soll. Daß wir diesen schockierenden Artikel über die Charismatiker zusammengefaßt dargestellt haben, geschah deshalb, weil man bei ihnen, wie bei den Pfingstlern, die drei Begriffe der Sprachen, Zeichen und Taufe des Heiligen Geistes findet.
Dennoch streiten,wie es diese Analyse deutlich zeigt, die noch klassischen Pfmgstler ab, daß diese dengleichen Ursprung haben. Wenn sie davon überzeugt wären, würden sie sich dann beklagen, die Initiatoren dieses Irrtums zu sein, den sie als teuflisch bezeichnen? Wir zitieren noch einmal: "Ray Bullard, Diakon einer Pfingstgemeinde, der große Erfahru?i&niit geistlichen Gaben besaß... und mehrere Pfingstpasroren...Das sind diejenigen, die gelehrt, gebetet und die Hände aufgelegt haben, damit diese Katholiken den Heiligen Geist empfingen. Sollten es die Hände der Pfingstler mit einer gesunder Lehre gewesen sein, von denen sie einen unguten Geist empfangen haben?! Diese Frage ist berechtigt, denn sie müssen zugeben: "Wenn es nicht durch Ray Bullard. den Pfingstdiakon gewesen wäre.., hätte diese Bewegung nie den Tag gesehen" (Seite 15).Nehmen wir Beispiele von Händeauflegen aus dem N.T. :hinter den Ältesten, die Timotheus die Hände aufgelegt haben, stand nichts anderes, als was dieser junge Diener empfangen hat: die Gabe Gottes (2.Tint 1,6). Und hinter den Händen des Ananias, der Saulus von Tarsus die Hände auflegte, war nichts anderes als der Heilige Geist. Und als derselbe Saulus von Tarsus, zum Apostel Paulus geworden, den Jüngern des Johannes in Ephesus die Hände auflegte, haben sie keinen anderen als den wahren Geist empfangen. Wenn es also ein teuflischer Geist ist, den diese aufrichtigen Katholiken von den Händen dieser routinierten Spezialisten, wie Ray Bullard und die mit ihm verbundenen Pfingstpastoren es waren, empfangen haben, dann stand hinter ihren Händen und Gebeten das, was sie in der Folge beklagt haben - das heißt, etwas anderes als der Heilige Geist. Jesus drückte das in einer Weise aus, die ein Verwechseln ausschließt: "Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte tragen, noch ein schlechter Baum. gute Früchte" (Mt.7, 18). Wenn die Frucht von ihnen selber als schlecht deklariert wird, dann war ihr Baum von dergleichen Natur. Das scheint unseren Freunden in der Pfingstbewegung zu entgehen. Wenn man sie darauf aufmerksam macht,daß die Sonderbarkeiten wie unkontrollierbare verbale Abschweifungen und exzentrisches Verhalten von denen ihre Kreise heimgesucht werden nicht vom Heiligen Geist gewirkt sind,ist ihre unveränderliche Antwort das Wort Jesu: "Wo ist unter euch ein Vater, den der Sohn um einen Fisch bitten wird - er wird ihm statt des Fisches doch nicht einen Skorpion geben? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wißt, wieviel mehr wird der Vater, der vom Himmel (gibt), den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!" (Lk. 11,11-13).
Ist das nicht ein Bumerang-Argument? Denn als sie sich an Ray Bullard und die Pfingstpastoren wandten, haben diese Katholiken weder einen Stein, noch eine Schlange, noch einen Skorpion verlangt; dennoch haben sie es empfangen. Jetzt bereuen sie es zutiefst,

gebetet und Katholiken die Hände aufgelegt zu haben, die daraufhin, wie sie es bezeugen, einen falschen Geist empfangen haben. Was sie vor allen Dingen beunruhigen müßte, ist nicht so sehr, was diese Katholiken empfangen haben, sondern vielmehr, was sie ihnen übermittelt haben. Wäre es nicht der Gipfel der Verirrung, wenn sich ein Ehemann über einen Aids-Virus seiner Frau, den sie von ihm empfangen hat, beklagt oder entrüstet? Die Diagnose der Krankheit seiner Frau wäre zwar richtig, aber sie zu beschuldigen, daß ihr Aids-Virus schlecht ist und gleichzeitig zu behaupten, der seine sei gutartig, daß wäre eine ernste Angelegenheit, die eine weitergehende Überlegung nötig machen würde. Ich stimme der Meinung der Pfingstler vollkommen zu, wenn sie sagen, daß der von den kath. Chasismatikern eingefangene Virus schlecht ist, weil er antibiblisch ist; aber wenn man nach ihrem eigenen Geständnis weiß, wo sie ihn sich eingefangen haben und von wem sie ihn haben, dann müßten sie eigentlich die ersten sein, die sich selbst folgende Fragen stellen: Wenn es die gleiche 'Geistestaufe' wäre? Wenn es das gleiche 'Zungenreden' wäre? Was dann? Kapitel 2

EINE BOTSCHAFT AN MENSCHEN?
Wir werden uns im Laufe dieser Studie an das gute Prinzip halten, das von D. Corniler im Kapitel 1 formuliert wird: "Der Geist, der im Widerspruch zur Schrift steht, kann nicht der Heilige Geist sein." Es ermöglichte den konservativen Pfmgstlern, die schwerwiegenden Irrtümer der ihnen ähnlichen Charismatiker aufzudecken und daraus zu schließen: "Die übernatürlichen Phänomene (bei den Cha-rismatikern, d.A.) sind Zeichen, die ihnen sagen, daß sie nichts zu fürchten haben, daß sie auf dem richtigen Weg sind, während sie in Wirklichkeit im Irrtum wandeln... Die Phänomene selbst gleichen mehr oder weniger denen, welche man im Neuen Testament findet. Deshalb kann man mit Recht von Täuschung sprechen" ('Analyse der Charismatischen Erneuerung', Seite 15). Man kann diesem klaren biblischen Blick, den sie auf andere angewandt haben, nur zustimmen. Wenn sie ihre eigene Lehre mit nur halbsoviel Genauigkeit untersuchen würden, dann sähen sie, daß, um es mit ihren eigenen Worten zu sagen: 'zu glauben, daß man dank der Zeichen, Wunder, Zungenrede auf dem richtigen Wege sei', auch die Hauptsache dessen ist, was ihren eigenen Glauben, ihre Kraft und ihr Gefühl der Sicherheit ausmacht. Wenn zum Beispiel das schnelle Wachstum jener Bewegung die sie verurteilen, den geistlichen Phänomenen zugeschrieben wird, sind es dann nicht gerade diese Phänomene, derer sie selbst sich nähmen und auf die sie sich berufen, um ihre Ausbreitung, die schneller ist als die anderer evangelikaler Kreise, zu erklären und zu rechtfertigen? Aber wir selber sind biblisch! hören wir. Unsere Praktiken entsprechen dem Modell der Schrift!

Das werden wir in diesem zweiten Kapitel zu untersuchen beginnen. Wir lesen in der Bibel bezüglich der echten Ausübung des Zungenredens: "Wer in einer Zunge redet, redet nicht zu Men-

@1991 CV Dillenburg

Fünf Minuten nach dem Tod, Lutzer, Erwin

05/01/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

FÜNF MINUTEN NACH DEM TOD

Der Tod ist kein hoffnungsloses Fallen ins Unbekannte. Was erwartet uns also fünf Minuten nach unserem Tod?

KAPITEL 1
Der Versuch, hinter den Vorhang zu blicken Channeling - Reinkarnation - Todeserfahrungen
ährend der letzten Monate ihres Kampfes gegen den Krebs hat Jacquelin Helton ein Tagebuch geführt. Ihre Gedanken und Gefühle sollten eine Erbschaft für ihren Mann Tom und ihre achtzehn Monate alte Tochter Jennifer werden.


In ihrem Tagebuch fragt sie sich, wie der Tod wohl sein würde. Welche Kleider würde sie bei ihrem Begräbnis tragen? Sie dachte an ihre Tochter. Wer würde sie lieb haben? Sie zu Bett bringen? In ihren Schriften fordert sie Jennifer auf, dass sie sich an ihre Mutter erinnern solle, die sich um sie gekümmert hätte, wenn ihr etwas weh täte.
Zum Schluss ruft sie aus: »Was ist mit dir los, Gott? Meine Familie ist keine Pfadfindergruppe, die alles selbst erledigen kann - du musst verrückt sein, dass du so etwas zulässt! «
Ablehnung, Angst, Wut, Depression und hilflose Resignation - all diese Gefühle kommen bei denen auf, die dem Tod gegenüber stehen. 

Es ist ganz gleich, dass der Tod für die Menschen etwas Normales sein sollte, denn schließlich muss jeder Mensch diesen Weg einmal selbst gehen. Niemand kann UÜS auf diesem Weg vertreten. Freunde und Familie können uns nur bis zum Vorhang begleiten, doch der Sterbende muss allein hindurchschrei-ten. Verständlicherweise war Jacquelin gespannt, als sie dem Vorhang immer näher kam. Sie dachte über das nach, was hinter dem geheimnisvollen Vorhang verborgen ist. Sie wünschte sich ein wenig Einsicht, einen kleinen Ausblick in die Zukunft, der ihr versichern sollte, dass sie sich nicht zu fürchten brauche. Doch weder ihre Neugier noch ihr Lebenswille konnte sie davon abhalten, allein durch diesen Vorhang in die Finsternis schreiten zu müssen. Wird sie sich in • vollem Bewusstsein in einer dunklen Höhle wiederfinden, wo sie sich nach Gemeinschaft sehnt und sie doch nicht finden kann?

Tom Howard sagt, dass wir, wenn wir dem Tod so begegnen wie das Kaninchen, das die Schlange anstarrt, nicht in der Lage sind, irgendetwas angesichts eines Geschehens zu tun, das eigentlich drastisches und entschiedenes Handeln fordert. '>Es gibt«, schreibt er, »wirklich nichts, was wir tun könnten. Wir können sagen, was wir wollen, uns drehen und wenden, wir sind schon bald ein Haufen Fleisch und Knochen, der sich von dem Rest der Leichen uiti uns nicht mehr unterscheidet. Es wird offensichtlich nichts mehr ausmachen, ob wir dem Tod friedlich, mit Angst oder mit aufgesetzter Heiterkeit entgegengegangen sind - dies wird die Situation sein, in der wir uns befinden. «1
Natürlich würden wir gerne vorher wissen, was uns auf der anderen Seite erwartet. Als Menschen, die wir sind, warten wir natürlich auf einen Hinweis, einen Fingerzeig, den wir von denen erhoffen, die an der Schwelle stehen. Wir warten ängstlich auf ein gutes Wort, das uns bestätigt, dass alles gut wird. Als der Fernsehschauspieler
Michael Landon (»Bonanza«) auf dem Sterbebett lag, gestand er seinen Freunden, dass er ein »helles weißes Licht« sähe, das seine Furcht vertrieb und ihm half, sich auf das Jenseits zu freuen. Er starb ruhig in der Erwartung eines »wunderbaren Erlebnisses«, wie er sich ausdrückte.
Die Wiedergeburt, verschiedene Bewusstseinsstufen und freudige Wiedervereinigungen an einem Ort im jenseits wie dem Himmel sind beliebte Kassenschlager. Larry Gordon, Leiter von Largo Entertainment, sagt: »Die Leute wollen etwas, damit sie sich wohl fühlen. Wir alle wollen glauben, dass der Tod doch nicht so schlimm ist.„' Dutzende Filme zeigen, wie wunderbar das Leben im Jenseits ist. Einer wurde angekündigt: »Im Jenseits können Sie wenigstens einmal lachen.«

Die Furcht vor dem Tod ist durch ein freudiges Gefühl ersetzt worden, das uns ein Jenseits vorspiegelt, wo alle freudig vereint werden. Es gibt angeblich kein Gericht, das Leben des einzelnen wird nicht beurteilt. Natürlich hat der Tod etwas Geheimnisvolles, so wird uns gesagt, aber wir brauchen ihn nicht zu fürchten. Bei diesem positiven Bild vom Jenseits müssen wir uns nicht wundern, dass einige Menschen dieses Zieles schneller erreichen möchten.
Wie legitim aber sind solche Berichte von Blicken hinter den Vorhang? Viele Menschen sind überzeugt, dass die Unsterblichkeit der Seele heute durch übernatürliche Experimente bewiesen ist, die sich nur dadurch erklären lassen, dass die Seele den Tod des Leibes überlebt. Wir mögen derselben Meinung sein, aber wie verlässlich ist die Information, die von denen ins irdische Leben übermittelt wird, die berichten, was sie aufl der anderen Seite gesehen und gehört haben?
Lassen Sie uns drei verschieden Arten von Beweisen beurteilen, die manchmal benutzt werden, um uns zu versichern, dass alles gut sein wird, wenn 'wir einmal selbst durch den geheimnisvollen Vorhang schreiten müssen.

Spiritistische Medien
Einige Menschen behaupten, sie hätten mit Toten gesprochen. In seinem Buch »Die andere Seite« beschrieb Bischof James A. Pike ausführlich, wie er mit seinem Sohn Kontakt aufgenommen hat, der Selbstmord begangen hatte. Er benutzte ein 'sogenanntes Medium und glaubt fest daran, dass er mehrere ausführliche Unterhaltungen mit seinem Sohn geführt hat.
»Ich habe nicht bestanden, ich kann dir nicht begegnen, ich kann nicht dem Leben gegenübertreten<, sagte Pikes Sohn wiederholt. »Ich bin verwirrt. ... Ich bin nicht im Fegefeuer, sondern in so etwas wie der Hölle hier doch niemand schilt mich hier.«3 Jesus, so sagte der Junge, war ein Vorbild, 'aber kein Erlöser..
Eine Überraschung war die angebliche Erscheinung des Geistes eines Freundes, Paul Tillich, eines wohlbe-kannten deutsch-amerikanischen Theologen, der einige Monate vorher gestorben war. Pike war sehr erstaunt, als er den deutschen Akzent seines verstorbenen Freundes von den Lippen des Mediums hörte.
Wie sollte man diesen Beweis nun ‚interpretieren? Als liberaler Theologe wusste Pike nicht, dass Dämonen die Toten oft spielen, um die. Illusion hervorzurufen, dass lebendige Menschen mit den Toten reden können. Dies Geister haben ein erstaunliches Wissen über das Leben des Verstorbenen, weil .sie einzelne Menschen während ihres Lebens sorgfältig beobachten. Durch die Kraft der Verstellung können sie die Stimme des Verstorbenen nachahmen, ja sogar seine Persönlichkeit und Erscheinung.

Manchmal wird die Geschichte von Samuel und Saul benutzt, um Kontakte mit Toten zu rechtfertigen. Bei diesem bemerkenswerten Ereignis wurde Samuel offensichtlich von den Toten zurückgebracht, jedoch nicht durch. die Hexe von Endor., Gott selbst scheint dieses Wunder vollbracht zu haben, denn nur dadurch lässt sich die Angst des Mediums erklären (ISam 28,3-25).
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Stimme Samuels nicht durch die Lippen des Mediums sprach. Samuel und Saul haben durch dieses erstaunliche Wunder wirklich direkt miteinander, gesprochen. 

Und außerdem war, der Allmächtige zornig, dass Saul verzweifelt versucht hatte, mit dem toten Propheten Kontakt aufzunehmen. Kein Wunder, dass Saul eine Gerichtsprophetie hörte, dass er und seine Söhne schon am nächsten Tag sterben sollten - eine Prophezeiung, die sich erfüllte. Der Versuch, mit Toten zu reden, .wird von Gott wiederholt verurteilt (SMo 18,11-22).
Deshalb können' Sie ziemlich sicher sein, dass .keiner jemals mit Ihrem toten 'Onkel, Vetter oder Ihrer toten Großmutter geredet hat. Es gibt jedoch Geister, die die Toten vertreten. Ihre Verführungskunst ist recht trickreich, denn sie können vielleicht sogar über die Liebe reden, über den Wert 'der Religion oder Jesus in einem guten Licht darstellen. Und natürlich wissen 'sie genug über den Toten, um die Unkritischen zu betrügen.

Diese Fähigkeit dämonischer Geister, die Persönlichkeit der Toten nachzuahmen, hilft, uns, Spukhäuser zu verstehen. Als ich in einem Hotel in der Nähe' von Calgary wohnte, stand in dem örtlichen Blättchen eine Geschichte, in der behauptet wurde, dass es in dem wunderschönen Gebäude mindestens zwei Geister geben solle. Einer der Angestellten zeigte uns eine Marmortreppe, wo einer der Geister leben sollte (dies wurde durch das Zeugnis anderer Angestellter bestätigt). Eine frischgebackene Braut war vor Jahren auf dieser Treppe gestolpert und hatte sich dabei so den Kopf verletzt, dass sie daran starb. Man sagte uns, dass ihr Geist jetzt auf der Treppe lebe und mit einiger Regelmäßigkeit erscheine.

Wie erklären wir dieses Phänomen? Wenn ein Mensch stirbt, der besessen ist, dann müssen diese Geister einen neuen Wohnort suchen. Oft entschließen sie sich, an dem Ort zubleiben, wo die Person gestorben ist (dies scheint insbesondere für gewaltsame Tode zu gelten wie Mord
oder Selbstmord). Sie nehmen den Namen und die Eigenschaften des Verstorbenen an und erscheinen ab und zu in dieser Verkleidung. Solche Wesenheiten (wie sie heute oft genannt werden) sind böse Geister, die sich oftmals jedoch »freundlich« gebärden.

Wer versucht, mit Toten in Kontakt zu treten, wird immer in die Gemeinschaft finsterer Mächte geraten; die vorgeben, hilfreiche Engel des Lichts zu sein. Der Prophet Jesaja warnte die Menschen davor, dass jeder, der ein Medium konsultiert, Gott den Rücken kehrt. »Und wenn sie zu euch sagen: >Befragt die Totengeister und die Wahr-sagegeister, die da flüstern und murmeln!<, so antwortet: Soll nicht ein Volk seinen Gott befragen? Soll es etwa für die Lebenden die Toten befragen? Hin zur Weisung und zur Offenbarung! Wenn sie nicht nach diesem Wort sprechen, dann gibt es für sie keine Morgenröte« (Jes 8,19-20).

Der springende Punkt ist natürlich, dass alle Informationen über das Leben nach dem Tod, die wir von Spiritiseen oder Medien erhalten, unzuverlässig sind. Diejenigen, die sich an die okkulte Welt wenden, um von dort
Informationen über den Tod zu erhalten, werden irregeleitet. Ja, es gibt ein Leben nach dem Tod, doch auf Aufklärung von Dämonen sollten wir verzichten, denn ihre größte Freude besteht darin, Menschen zu verwirren und zu betrügen. Kein Wunder, dass die Theologie; die Pikes Sohn zum Besten gab, so verdreht war.
Wir dürfen nicht versuchen, einen Blick hinter den Vorhang zu erhaschen, indem wir mit dieser anderen Seite versuchen, Kontakt aufzunehmen. Sobald sich der Vorhang geöffnet hat, um einen unserer Mitreisenden einzulassen, schließt er sich wieder und wir dürfen nicht versuchen, dahinter zu schauen.

Wiedergeburt
Eine andere Form des Okkultismus, die angeblich Informationen über das Leben nach dem Tod gibt, ist die Lehre von der Wiedergeburt (nicht zu verwechseln mit der christlichen Lehre von der Wiedergeburt). Hier wird gelehrt, dass wir immer wiederkehren und dass der Tod nichts anderes als der Übergang zwischen einem Leib und dem nächsten ist. Deshalb behauptet Shirley MacLaine, dass wir die Todesfurcht verlieren, wenn wir einfach nur annehmen, dass er gar nicht existiert. Durch Kontakte mit der Geisterwelt will sie entdeckt haben, dass sie in früheren Existenzen eine Prinzessin in Atlantis war, eine Inka-Frau in Peru und sogar ein Kind, das von Elefanten aufgezogen wurde. In einigen vorhtrigen Leben war sie männlich, in anderen weiblich.
Eine Frau, die ich in einem Flugzeug traf, erzählte mir, dass sie als Kind ein detailliertes Wissen über ein Haus in Vermont hatte, das sie nie besucht hatte. Späte; als Erwachsene, besuchte sie das Haus und alle Einzelheiten stimmten mit ihren Erinnerungen überein. Sie war deshalb überzeugt, dass sie während des achtzehnten Jahrhunderts dort gewohnt haben muss. Ich wies sie darauf hin, dass es keine Seelenwanderung gibt, wohl aber eine Dämonenwanderung. Sie erhielt ihr Wissen über eine Familie des 18. Jahrhunderts von bösen Geistern.

»Aber«, warf sie ein, »ich habe überhaupt nichts mit bösen Geistern zu tun, ich habe nur Kontakt zu guten Geistern!«
»Wie erkennen Sie den Unterschied zwischen bösen und guten Geister?« fragte ich sie.
»Ich habe nur Gemeinschaft mit Geistern, die mir als Lichtgestalt erscheinen.«
Ich erinnerte sie an 2. Korinther 11,13-14: »Denn solche sind falsche Apostel, betrügerische Arbeiter, die die Gestalt von Aposteln Christi annehmen. Und kein Wunder, denn der Satan selbst nimmt die Gestalt eines Engels des Lichts an.«
Ja, natürlich Lichtgestalten!
Ihre und ähnliche Erfahrungen beweisen nicht die Seelenwanderung oder Wiedergeburt, sondern bestätigen
nur, dass Menschen jedes Zeitalters sich unter dämoni-
schem Einfluss befinden können. Es gibt Beweise dafür, dass sogar Kinder die dämonischen Züge ihrer Eltern
oder Vorfahren erben. Das würde erklären, warum einige Kinder, die nur wenige Monate alt waren, nach zuverlässigen Aussagen Gotteslästerungen und Obszönitäten plapperten, die sie in ihrem kurzen Leben unmöglich gelernt haben konnten.
Okkultismus, gleich welcher Art, bietet keine zuverlässige Information über das Leben nach dem Tod. Er beweist nur die Existenz einer Geisterwelt, einer Welt des Betruges und der finstersten Intelligenzen. Gott hält alle Formen des Okkultismus für Greuel (3Mo 19,31; SMo 18,9-12; Jes 8,19-20; iKor 10,14-22).

Weder Shirley MacLaine noch irgendein anderer Guru kann uns Zuverlässiges über die Ewigkeit sagen. Niemand kann beweisen, dass er oder sie die Erfahrung gemacht hat, wiedergeboren worden zu sein. Der Vorhang öffnet sich, wenn wir hindurchschreiten, doch wenn er einmal geschlossen ist, dann wird er sich nicht wieder öffnen, damit wir zurückkehren.
Erfahrungen an der Schwelle des Todes
Einige Menschen behaupten, gestorben und in ihren Körper zurückgekehrt zu sein, um uns Informationen über das Leben nach dem Tod zu geben. Im Jahre 1976 hat Raymond Moody in seinem Buch Leben nach dem Tod  Interviews mit vielen Menschen aufgezeichnet, die dem Tode nahe waren, aber wiederbelebt werden konnten. Ihre Geschichten hatten zum Großteil wiederkehrende Elemente: Dass der Patient hört, wie er für tot erklärt wird, dass er sich außerhalb seines Leibes befindet und die Ärzte sieht, wie sie sich an seinem Leib zu schaffen machten. In diesem Zustand begegnen den Betroffenen Verwandte oder Freunde, die gestorben sind und dann treffen sie auf ein »Lichtwesen«. Wenn der Patient erfährt, dass er zurückkehren muss; dann tut es ihm Leid, weil er eine S überwältigende Erfahrung von Liebe und Frieden gemacht hat.

Melvin Morse berichtet in dem Buch Zum Licht Geschichten von Kindern, die solche sogenannten Todes-erfahrungen gemacht haben. Und wieder sind ihre Geschichten erstaunlich ähnlich und in fast allen Fällen seh positiv. Typisch ist der Bericht eines 16 Jahre alten Jun-> gen, der mit ernsthaften Nierenbeschwerden in ein Kran4 kenhaus eingeliefert wurde. Während er im Vorberei tungsraum war, wurde er in seinem Stuhl ohnmächtig;T Eine Krankenschwester suchte nach dem Puls, konnt' aber keinen finden Glücklicherweise wurde er jedoch bald wiederbelebt Später berichtet er von einer uberna türlichen Erfahrung:

»Ich erreichte einen gewissen Punkt im Tunnel, an dem plötzlich um mich herum immer mehr Lichter aufleuchte-: ten. Dadurch war ich sicher, mich in einer Art Tunnel zu befinden, und meine Geschwindigkeit muss mehrere hundert Stundenkilometer betragen haben, nach der Art und Weise zu schließen, wie die Lichter an mir vorbeizischteb
An diesem Punkt bemerkte ich auch, dass ich nicht al lein war. Das Wesen war über zwei Meter groß und trug ein langes weißes Gewand, das mit einem einfachen Gürtel in der Taille festgehalten wurde. Sein Haar war golden, und obwohl er nichts sagte, hatte ich keine Angst, denn von ihm gingen Friede und Liebe aus. Nein es war nicht Jesus, aber ich wusste, dass Jesus ihn geschickt, hatte. Es war wahrscheinlich einer seiner, Engel oder jemand anders, der gesandt wurde, um mich.:.; in den Himmel zu holen.

Erst kürzlich hat Betty Eadie in dem Buch Licht am. Ende des Lebens6 einen fantastischen Bericht von ihrem Besuch auf der »anderen Seite« gegeben. Sie behauptet, dass sie Jesus Christus gesehen habe, und hat ihm sogar ihr Buch gewidmet: »Dem Licht, meinem Herrn und Heiland Jesus Christus, dem ich alles schulde, was ich habe. Er ist der Stab, auf den ich mich stütze, und ohne ihn würde ich straucheln.« Doch wird deutlich, dass der Christus, von dem sie uns berichtet, nicht mit dem Jesus Christus des Neuen Testamentes identisch ist.
Der Jesus, den Eadie beschreibt, ist ein wohlwollendes ichtwesen, das sie so umgab, dass sie nicht mehr wusste, wo ihr Licht aufhörte und seines begann. Jesus, so sagt sie uns, ist vom Vater zu unterscheiden und würde nichts un, das sie nicht wollte. Es gab keinerlei Grund, vergan-‚ene Taten zu bereinigen, denn wir Menschen seien keine sündhaften Geschöpfe. Statt dessen hätten menschliche »Geistwesen« dem himmlischen Vater bei der Schöpfung .I,eigestanden. Zum Glück sei die Welt nicht voller Tragödien, wie wir annehmen, und in der Gegenwart Christi, so schließt Eadie, »wusste ich, dass ich es wert war, ihn zu
umarmen.

Was beweisen diese Erfahrungen? Offensichtlich bestätigen sie, dass sich beim Tod die Seele vom Körper trennt. Einige Patienten konnten nicht nur zurückschaun und sehen, wie, die Ärzte sich mit ihrem Körper beschäftigten, sondern konnten sehen, was in anderen Räumen des Krankenhauses vor sich ging. Dies scheint uns unmöglich zu sein, es sei denn, die Seele habe wirklich den Körper schon verlassen und die Erde schon aus einer anderen Perspektive betrachten konnte.

Wir haben Grund zu glauben, dass Menschen Christus in der Zone zwischen Tod und Leben begegnen können. evor Stephanus gesteinigt wurde, gab Gott ihm einen inblick in den Himmel. Stephanus sagte: »Siehe, ich ehe die Himmel geöffnet und den Sohn des Menschen ur Rechten Gottes stehen!« (Apg 7,56). Diese Erfahrung war einzigartig in der Hinsicht, dass sie geschah, ehe Ste-phanus starb, nicht bei seinem Tod. Er bekam hier die wunderbare Versicherung, dass der Himmel darauf warte, ihn aufzunehmen!

Quelle:ISBN-13: 9783894361709
Format:    18 x 11 cm
Seiten:    160
Gewicht:    140 g
Verlag:    Christliche Verlagsgesellschaft
Erschienen:    2009
Einband:    Taschenbuch

Wölfe im Schafspelz, Løvås Edin

03/29/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

BN4491.jpg?1680110636251Ein bestürzendes Phänomen Nach 40 Jahren seelsorgerlicher Arbeit bin ich entsetzt darüber, welches Ausmaß von Leiden durch Machtmenschen einzelnen Christinnen und Christen und christlichen Gruppen und Gemeinden zugefügt wird. Ich bin zugleich bestürzt darüber, daß in christlichen Kreisen und selbst unter sachkundigen Fachleuten über diese Dinge nicht offen und ehrlich geredet wird. Was sagen christliche Psychiater und Therapeuten? Wie verhalten sich Seelsorger? Was weiß man bei kirchlichen Beratungsstellen? Welche Antworten bekommt man bei der Telefonseelsorge? 

So weit ich Einblick habe, scheinen die Opfer von Machtmenschen selten ernst genommen zu werden. Vielfach werden sie - wenn sie es endlich wagen, Hilfe zu suchen - schon beim ersten Anlauf abgewiesen; und ihre Unterdrücker wissen das! Im 2. Korintherbrief erwähnt Paulus „falsche Apostel"; er beschreibt, wie gelähmt die Gemeinde und ihre Leiter im Verhältnis zu diesen Menschen sind: „Ihr nehmt es hin, wenn euch jemand versklavt, ausbeutet, gefangenhält, auf euch herabsieht und euch ins Gesicht schlägt" (2. Kor. 11,20). Genau dies geschieht auch heute mit vielen unserer Brüder und Schwestern in Christus in Familien, christlichen Gruppen und Gemeinden.  

Immer wieder habe ich mich gefragt: Müssen sich die Pastoren und „Hirten" der Gemeinde nicht ganz besonders der Opfer dieser  Machtmenschen annehmen? Es steht ja geschrieben: „Weidet die Herde Gottes, die euch anvertraut ist, und habt auf sie acht!" (1. Petr. 5,2). Es steht auch geschrieben, daß wir uns der Schwachen annehmen sollen (1. Thess. 5,14) und daß wir, „die wir stark sind, das Unvermögen der Schwachen tragen" sollen (Röm. 15,1). Mir scheint, daß dieses sehr ernste Problem in einem diffusen Nebel liegt. Die Träger von Leitungsverantwortung reagieren an diesem Punkt meist wie gelähmt. Ich vermute, daß die Hirten mitunter genausoviel Angst haben wie die Herde. Sollte das zutreffen, will ich niemandem Vorwürfe machen; denn nichts - außer Satan selbst - ist so angsterregend wie die Situation, die entsteht, wenn irgendwo solche „reißenden Wölfe" (Apg. 20,29) eindringen.

Das Innenleben eines Machtmenschen
Der Einstellung, das Menschenbild und die Haltung des Machtmenschen werden in erster Linie davon bestimmt, daß er auf Macht aus ist. Er kennt nichts Schöneres als zu herrschen. Machtmenschen haben den unbändigen Drang, die Herzen und Gedanken anderer zu lenken. Christliche Gemeinden und Kreise sind Bereiche, wo sie diesem Bedürfnis meist ungehindert nachgehen können.
Machtmenschen sind in der Regel intelligent und gewinnend; ihren ganzen Einfluß und ihre ganze Energie stecken sie in den Machtkampf. Sie suchen von früh bis spät nach Methoden und Argumenten, die ihnen helfen, ihre Position auszubauen.
Sind diese Menschen krank? Ich bin mir nicht ganz sicher. Es ist möglich, daß ihre Seele einem Auto mit verbogenem Rahmen gleicht. Meiner Ansicht nach geht es aber in erster Linie um eine eingefahrene Handlungsorientierung, eine „Kontinuierlichkeit der Sünde" (Kierkegaard). Jakobus 1,14-16 ist von der „Versuchung zur Sünde" die Rede. Da heißt es: „Wer versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. Wenn die Begierde geschwängert ist, gebiert sie die Sünde; wenn aber die Sünde reif ist, gebiert sie den Tod" (Vers 15).

Um welche Art von Sünde geht es bei Machtmenschen? Wenn wir Jakobus 3,16 und 4,1-2 nachlesen, werden dort Neid, Selbstbehauptung und Machtlüsternheit genannt; ihre Folge sind Streit und Unfriede. Hier sind wir am Kern der Sache. Gewisse Menschen sind zur Machtbegierde disponiert, so wie andere Menschen für andere Sünden besonders anfällig sind. Alle Menschen sind solchen Neigungen ausgesetzt. Deswegen steht im 1. Petrusbrief:„Haltet euch frei von selbstsüchtigen Begierden, die gegen die Seele streiten!" (1. Petr. 2,11). Hat jemand eine latente Machtbegierde und gibt er ihr in seiner Phantasie und in seinen Gefühlen Raum, wird die Begierde „geschwängert" und gebiert die Sünde. In diesem Fall bedeutet das, daß sich ein Mensch dem schlimmsten aller Rauschzustände ausliefert: dem Machtrausch. Wer dem Machtrausch fortgesetzt nachgibt, wird nach und nach sein Sklave, „denn von wem jemand überwunden ist, dessen Sklave ist er geworden" (2. Petr. 2,19). So weit ich es als Christ und Seelsorger beurteilen kann, wird ein Mensch gewöhnlich auf diese Weise zum Machtmen-sehen.

Kann solch ein Mensch Christ sein? Ich will mich mit meinem Urteil. zurückhalten, zumal es Menschen gibt, die keine Vollblut-Machtmenschen sind, aber machtlüsterne Tendenzen erkennen lassen. Ihre Lebensführung und ihre Haltung weisen eine Reihe von Zügen auf, die zum Gesamtbild des Machtmenschen passen.
Dennoch ist es sehr ernst zu nehmen, wenn Jakobus den zitierten Worten hinzufügt: „Wenn die Sünde reif ist, gebiert sie den Tod." Das entspricht dem, was 1. Johannes 5,16-17 steht: „Es gibt Sünde, die zum Tode führt... Alles Unrecht ist Sünde; aber es gibt Sünde, die nicht zum Tode führt." 2. Petrus 2,12 ist von Menschen die Rede, die an ihrer eigenen Verdorbenheit zugrunde gehen.
Es kann geschehen, daß sich der Machtmensch so lange dem Machtrausch hingibt, bis dieser die Steuerung seiner gesamten Persönlichkeit übernimmt. Dann besteht die Gefahr, daß es zum geistlichen Tod kommt.

Immer im Mittelpunkt
Machtmenschen müssen immer im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sie lieben Situationen, in denen ihre Umwelt über sie redet. Sie genießen es, wenn die Leute die Köpfe zusammenstecken oder in den Ecken über sie tuscheln. Es macht ihnen wenig aus, ob gut oder schlecht über sie geredet wird, solange sie das allgemeine Interesse auf sich konzentrieren können.
Sobald sich die Situation beruhigt hat und sie aus irgendeinem Grund nicht mehr im Rampenlicht stehen, ärgert sie das. Dann bemühen sie sich, irgend etwas Dramatisches zu tun, damit sich die Lichtkegel auf sie richten und sie wieder in-aller Munde sind. Handelt es sich um einen Gemeindeleiter, kann er zum Beispiel Intrigen und Klatsch inszenieren. Es kann zu einer Fülle von Anschuldigungen kommen. Solch ein Leiter kann sich aus heiterem Himmel mitten in einer Gemeindeversammlung erheben und verkünden, daß er gewissen Leuten die Masken vom Gesicht reißen oder gewisse Mißstände entlarven werde. Er sieht den Splitter im Auge der anderen, aber nicht den Balken im eigenen Auge.
Machtmenschen können aber auch die genau entgegengesetzte Methode verfolgen. Sie können mit einer solchen
„Geistlichkeit" auftreten und sich als große Propheten
und Helden aufspielen, so daß sie bei den Leuten deswegen ins Gerede kommen. Jesus hat etwas über die Phari-
säer gesagt, was - mit zeitbedingten Abwandlungen - auf alle Machtmenschen zutrifft: „Alle ihre Werke tun sie, um von den Leuten gesehen zu werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern-groß. Sie sitzen gern obenan bei Tisch und in den Synagogen und haben es gerne, auf dem Markt gegrüßt und von den Leuten Rabbi genannt zu werden" (Matth. 23, 5-7). Jesus wollte damit nicht sagen, der beste Christ sei der, der am unauffälligsten ist. Aber er unterstrich nachdrücklich, daß das Motiv für die Handlung eines Christen niemals darin bestehen darf, das Interesse auf sich selbst zu ziehen, um anerkannt zu werden. 

Als Paulus und Bar-nabas in Lystra als Götter verehrt wurden und die Leute ihnen opfern wollten, erschraken die beiden derart, daß sie - nach damaliger Sitte - ihre Kleider zerrissen, der Menschenmenge entgegenliefen und riefen: „Was macht ihr da? Auch wir sind sterbliche Menschen wie ihr!" (Apg. 14,15). Hauptziel ihres Lebens und Tuns war es, Christus zu verherrlichen und sein Evangelium zu verkündigen. Wir dürfen nie vergessen, daß wir Menschen immer nur „Mondlicht" ausstrahlen können. Das Sonnenlicht kommt von Christus. Ein Machtmensch hätte niemals so reagiert, wie Paulus und Barnabas es getan haben. Er hätte sich statt dessen pudelwohl gefühlt und die Erregung bis zuletzt ausgekostet. Er möchte ja vor allem, daß man ihm dient und sein Wort wie einen göttlichen Befehl befolgt.

Allzeit kampfbereit
Um die Aufmerksamkeit der Leute aufrechtzuerhalten und um sich in immer bessere Machtpositionen hochzuarbeiten, befinden sich Machtmenschen dauernd in Angriffshaltung. Das strengt sie nicht an. Es ist ja ihr Lebenselexier.
Selbstverständlich gibt es auch gesunde Kämpfernaturen. Sie tauchen im Alten und Neuen Testament und in der Kirchengeschichte immer wieder auf. In den Kirchen, Glaubensgemeinschaften und christlichen Institutionen sind Menschen wichtig, die den Mut haben, voranzugehen und etwas durchzusetzen. Es ist auch natürlich, daß solche Naturen auffallen. Wir lesen von ihnen in den Zeitungen, hören von ihnen im Radio und sehen sie im Fernsehen. Manche von ihnen schlagen beim Kampf für die gute Sache und für das, was sie für die rechte Lehre halten, gelegentlich über die Stränge. Manchmal sind ihre Ansichten einseitig und unausgewogen. Sie neigen auch dazu, ihre Gegner ziemlich rücksichtslos zu behandeln. Taktische Schachzüge gehören durchaus zu dem Repertoire von Mitteln, die sie einsetzen, um ihr Ziel zu erreichen.
Dennoch handelt es sich hier um etwas ganz anderes als beim Kampf und bei der Aggressivität der Machtmenschen. Auf, den ersten Blick kann es so aussehen, als ginge es auch ihnen um die „Sache"; aber kratzt man ein bißchen an der Oberfläche- ihrer „Sache" oder „Lehre", merkt man sofort, daß es dem Machtmenschen um ganz andere Dinge geht, als es bei den gesunden Kämpfern
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MITMENSCHEN   IN   DER   GEMEINDE  - bestürzendes Phänomen  - Innenleben eines Machtmenschen  - immer im Mittelpunkt  - allzeit kampfbereit  - mit Schuldgefühlen operieren  - Vernichtung des Selbstwertgefühls  - kein Blick für fremde Bedürfnisse  - immer gelangweilt  - ungereimte Erwartungen  - Erfolgsrezept  - hierarchische Systeme  - willkommen in christlichen Kreisen  - Angriff auf die Schwächsten  - Machtrausch  - der Begriff Machtmensch und seine Gefahr  - Besserung: nicht zu erwarten  - Enttarnung  - Verbindungen kappen  - Urteil: Ihr Wert als Menschen  - Dienst statt Herrschaft  - eigenmächtige Werkzeuge Gottes

Des Pfarrers Kinder, Lenk Margarete

03/17/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Zweites KapitelBN0446.jpg?1679049121416

Ein Schreckenstag
Eine ernste Mahnung des Vaters erinnerte Gundel am andern Morgen an ihren guten Vorsatz, und sie hielt ihn wirklich eine ganze Woche lang. Ursula machte ihr's auch leicht, denn sie war milder gestimmt durch des Kindes Abbitte.
Eines Morgens waren Gretchen und Hans schon sehr früh - aufgestanden. Der Vater mußte heute in ein entferntes Nachbardorf gehen, das zu seinem Kirchspiel gehörte, und sie wußten, daß ihm die Morgensuppe nicht schmeckte, wenn er sie ganz allein aß. 

»Ihr dürft mich ein wenig begleiten, Kinder«, sagte er freundlich, und die drei schritten rüstig am Kirchhof vorüber. »Laßt uns eintreten und der Mutter Grab besuchen«, sagte der Vater. Als sie nun an dem grünen Hügel ein kurzes Gebet gesprochen hatten, wie sie stets zu tun pflegten, begann der Pfarrer mit ernster, fast feierlicher Stimme:
>Meine Kinder, ich hab' euch heute mit hierher genommen, damit meine Worte um so tiefer in eure Herzen dringen. Mir ist gar so weh, als müßt' ich bald von euch scheiden.«
»Ach, liebster Vater, bist du krank?« rief Gretchen erschrocken. »Komm doch wieder heim und leg' dich aufs Ruhebett, daß ich dich pflege.«
»Und ich will nach der Stadt laufen zum Doktor Fabius, und dir den stärkenden Trank holen, der -dir schon so oft wohlgetan«, sagte Hans.

»Nein, meine Lieben, ich bin nicht krank. Aber meine Sehnsucht nach der Entschlafenen ist groß, und Gottes Stimme in meinem Herzen mahnt mich an mein eigenes Ende. Ihr wart mir fromme, gehorsame Kinder und habt den Weg zur Seligkeit wohl gelernt aus Gottes Wort. Laßt euch ja nicht, weder durch Lust noch Leid, von der reinen Lehre des Evangeliums abwenden, die uns Dr. Luther wiedergebracht hat. Nehmt euch auch eurer Geschwister an und sucht sie auf dem rechten Weg zu
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erhalten. Besonders habt Geduld mit Gundel! Ihr Leichtsinn macht mir große Sorge; aber ihr Herz ist weich und läßt sich durch Liebe leiten. Solltet ihr aber in diesen bösen, gefährlichen Zeiten voneinander getrennt werden, meine Kinder, sobe-tet fleißig füreinander, daß wir uns einst alle im Himmel wie-derfinden. Und nun geht heim in Frieden und betrübt euch nicht über meine Worte. Meine Zeit steht in Gottes Händen; aber es drängte mich, heute so zu euch zu sprechen.«


Unter Tränen küßten die Kinder des Vaters Hand, versprachen ihm treulich zu folgen und wandten sieh heimwärts. Noch einmal sahen sie sich nach ihm um. Da stand er auf der Anhöhe und schaute über das friedliche Tal, als könne er sich nicht von dem Anblick trennen.
Vor dem Hoftor sprangen ihnen die Geschwister fröhlich entgegen; Gundel trug eine große, in verblichene Seide und Spitzen gekleidete Puppe im Arm; es war ihr größter Schatz, ein Geschenk ihrer Patin.
»0, heute ist's schön draußen«, rief sie, »heute möcht' ich in den Wald mit meiner Rosamunde!«
»So geh' mit mir, wenn es Ursel erlaubt«, sagte Hans. »Ich soll heute das Gras mähen auf unserer kleinen Waldwiese. Wir nehmen die Kuh mit und bleiben den ganzen Tag draußen.«
»0, das ist schön!« rief Gundel. »Ursel ist heute so verdrießlich, sie hat Kopfschmerzen; da mag ich nicht bei ihr bleiben. Komm auch mit, Martin!«
»Ich bleib' bei meiner Gretel; wir müssen heut' den Garten ganz rein machen von Unkraut, da freut sich der Vater, wenn er heimkommt.« Damit sprang er der Schwester nach, die mit Hacke und Rechen dem Garten zuschritt, der hinter dem Hause lag und sich fast bis zum Waldesrand erstreckte.
Hans führte die Kuh aus dem Stall, holte den Karren aus der Scheune und sagte freundlich:
»Setz' dich drauf mit Rosamunde; solang es bergab geht, will ich euch fahren.«


Aber da kam Ursel aus der Küche, um ihm die Hirtentasche mit Brot und Käse zu füllen. Sie hatte ein Tuch um den Kopf gebunden und sah wirklich recht mißmutig aus.
»Was soll denn das?« fragte sie. »Das Mädel bleibt daheim! Ich will des Vaters Stübchen gründlich rein machen; da muß es mir helfen. «
»Immer kommst du dazwischen, wenn man sich auf was freut«, rief Gundel zurück. »Ich bin die ganze Woche so fleißig gewesen; heut' will ich mit in den Wald.«
»Du kannst nachmittags 'rauslaufen; weißt ja den Weg. Erst mußt du mir helfen.«
»Ich will aber jetzt mit; bei dir bleib' ich nicht, du zankst heute immer.« Damit setzte sie sich behaglich auf dem Karren zurecht und nahm die Puppe auf den Schoß.
»Aber Gundel«, mahnte Hans, »bleib' doch da und hilf der Ursel! 's ist ja für den Vater; du hast ihn doch so lieb.«


»Lieb hab' ich ihn, aber in seinem dumpfen Stübchen mag ich nicht herumkratzen; das kann Grete! tun. Fahr' zu, Hans, mach' schnell!«
Aber schon hatte die Alte den Arm des Mädchens erfaßt, um es herabzuziehen. In dem lebhaften Kampf, der nun entstand, glitt Rosamunde von Gundels Schoß, schlug auf einen Stein, und ihr Kopf sprang in Stücke. Nun war es ganz aus mit Gun-dels Fassung; sie sprang vom Karren, raffte ihr schwerverwun-detes Kind vom Boden auf und stürmte in höchstem Zorn auf Ursula ein. So böse Worte entfuhren dabei dem kleinen lieblichen Munde, daß sich Hans ganz entsetzt zwischen beide warf.
»Gundel, o schäme dich doch! 0, wenn das der Vater wüßte! Er war so traurig heute früh und ermahnte uns so herzlich. Ach Ursel, höre doch nicht auf sie, sie weiß nicht, was sie spricht; habe doch Geduld mit ihr!«
»Ja, Geduld! « rief die Alte. »Ihr werdet so lange Geduld haben, bis das Kind ganz verdorben ist. Pack' dich fort, Bub, und ärgere mich nicht auch noch; diesmal soll's ihr nicht ungestraft hingehen.«
Was konnte Hans tun, als traurig mit Karren und Kuh seines Weges ziehen? Ursula aber packte das unartige Kind fest beim Arme, zog es ins Haus und sperrte es nach heftigem Widerstand in die Wohnstube.
»Da bleibst du drin, bis der Vater heimkommt«, rief sie, die
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‚Für zuschließend und ging dann brummend hinauf, um ihre Arbeit zu verrichten.
Gundel war ganz außer sich und stieß laut weinend und schreiend gegen die Tür, bis ihr Blick von ungefähr auf Ursels Spinnrad fiel. Sauber war der glänzende Flachs mit einem blauen Band zusammengehalten, und der Faden, der sich um das Rad wand, war fein und gleichmäßig. Niemand durfte der Ursel an ihr Spinnrad rühren; sie hielt es gar so hoch und wert. Aber Gundel wußte kaum, was sie tat. »Sie hat meine Rosamunde verdorben; nun verderb' ich auch ihr Spinnrad«, rief sie aus, zerrte den fertigen Faden wieder und wieder und stampfte so heftig auf das Fußbrett, daß es zerbrach. Kaum aber war die Zerstörung vollendet, so kam auch die Reue. 

Was würde der Vater sagen zu dieser boshaften Tat? Wie wurde er trauern über die häßlichen Schimpfworte, die sein Kind ausgestoßen! Ja, diesmal würde er gewiß strafen und zwar recht streng. Diesen Gedanken konnte Gundel nicht ertragen. Sie versuchte das Spinnrad wieder instand zu setzen, aber es gelang ihr nicht; es war ganz und gar verdorben. »Ich laufe fort und verstecke mich«, sagte sie bei sich selbst. »Nimmer kann ich's ertragen, daß mich der Vater schlägt, nein, nimmer! Aber wo soll ich hin? Zu Gretel in den Garten? Nein; die wird sagen, ich soll Ursel um Verzeihung bitten und die Strafe geduldig leiden, aber das kann ich nicht. Jetzt weiß ich's! Ich spring' zum Fenster hinaus und lauf' zur Patin; die nimmt mich gewiß in Schutz.«


Die Patin war eine alte Edelfrau, die eine gute Stunde entfernt in einem Schlößchen wohnte, das ihr Witwensitz war. Von ihr hatte Gundel den vornehmen Namen erhalten; und bei den häufigen Besuchen, die sie im Schlößchen machen durfte, war ihr Eigenwille und ihre Eitelkeit sehr gestärkt worden. Es waren große Festtage für sie, wenn die ungefüge Kutsche der Patin vor dem Pfarrhofe hielt, um sie abzuholen ins Schloß, wo es viel schöner war als. zu Hause. Da gab es feine Wecken zu essen und süße eingemachte Früchte; da stand ein großes Puppenhaus mit vielen zierlich eingerichteten Zimmern, womit einst die Töchter der Patin gespielt hatten. Das Beste war aber eine ganze Truhe voll alter Spitzen, Bänder, Federn und Bor ten, womit sie sich nach Herzenslust schmücken durfte und manch Stücklein davon geschenkt bekam Auch fand die alte kränkliche Dame großes Wohlgefallen an dem hübschen, frischen Mädchen, lobte alles an ihm und sagte ihm viel mehr Schmeichelworte, als gut war. 

Damm sah der Pfarrer, seit Gundel älter wurde, diese Besuche nicht sehr gern; es waren Monate vergangen, seit sie zuletzt bei der Patin war. Jetzt aber erschien es ihr als einzige Zuflucht in der großen Angst und Not. Freilich, im Zwillichröckchen und den alten schiefgötrete-nen Schuhen durfte sie nicht zu ihr kommen, aber dort in der Truhe lag ja das hübsche grüne Kleidchen mit den geschlitzten Puffärmeln, das ihr die Patin selbst für diese Besuche geschenkt. Sie nahm es heraus und legte es mit Mühe an, ebenso die seidenen Strümpfe und die feinen, glänzenden Schuhe. Dann öffnete sie das Fenster und schaute hinaus. Schon oft war Hans im Spiel da hinunter gesprungen; es war nicht sehr hoch. Alles war still auf dem Hofe; niemand konnte ihre Flucht bemerken, denn aus des Vaters Stübchen sah man nach dem Garten zu. 

Der Sprung gelang, und flüchtigen Fußes lief das törichte Kind von dem trauten Vaterhaus fort, das es nie, nie wiedersehen sollte.
Unterdessen arbeitete Gretel fleißig im Garten; Martin aber ward es bald müde, das ausgeraufte Unkraut in den Korb zu sammeln. Er schwang sich auf eine Bohnenstange, nahm einen Holunderzweig als Spieß in die Hand und trabte lustig den Garten auf und nieder. Zwei Stunden mochten so vergangen sein, da kam der Kleine erschrocken auf die Schwester zu und rief:
»Gretel, Gretel, der Vater kommt wieder, quer übers Feld kommt er und sieht so anders aus; ich fürcht' mich vor ihm «
Das Mädchen fuhr empor, von jähem Schreck durchzuckt, denn es gedachte an des Vaters Worte auf dem Kirchhof. Ja, da kam er wirklich auf das hintere Gartentor zugelaufen, verstört, erhitzt und offenbar in höchster Aufregung.
»Fliehet, Kinder«, rief er schon von weitem. »Gretel, eile mit dem Kleinen in den Wald, in die Schlucht, die sie das Bärenloch nennen. Tillys Heerhaufen sind ins Land gefallen; schon bren-
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neu rings die Dörfer, auch das Nachbardorf steht in Flammen! 0, Gott erbarme sich unser! Wo sind Hans und Gundel?«
»Auf der Waldwiese mit der Kuh«, erwiderte Martin, der kaum begriff, um was es sich handelte.
Eben kamen einige Bauernburschen vorüber. Mit Sensen auf der Schulter wollten sie hinaus, um Gras zu mähen.
»Kehrt um«, rief ihnen der Pfarrer zu, »helft den Weibern und Kindern zur Flucht und rettet, was ihr könnt; Tillys Scharen sind im Anzug. Du aber, Niklas, tu' mir die Liebe und lauf' auf meine Waldwiese; dort sind Hans und Gundel. Führ' sie sicher über die Bergeshöhen ins Bärenloch; Gott lohn' es dir!«
Niklas eilte dem Walde zu, aber auf die Wiese kam er nimmer, und niemand hat wieder etwas von ihm gehört. Herumstreifende Soldaten werden ihn wohl gefangen fortgeführt haben.


»0 Vater«, stammelte Gretchen, »komm doch mit uns, daß sie dir nichts tun.«
»Wehe dem Hirten, der fliehet, wenn der Wolf kommt! Bei den Kranken und Schwachen, die nicht fliehen können, ist mein Platz. Nimm das Kind und lauf', und kehre nicht zurück, ehe einer der Männer euch holt.«
Zitternd, mit wankenden Knien, gehorchte das Mädchen. Da kam Ursula, die am offenen Fenster die Schreckenskunde nur halb gehört, totenbleich angelaufen.
»Ins Bärenloch, Ursel, so schnell ihr könnt«, rief der Pfarrer; »es ist eine wilde Bande, roh, betrunken und beutegierig.« Damit lief er mit Windeseile ins Dorf hinab.
Wunderbar schnell ging der Angstruf durch die friedlichen Hütten; Frauen und Kinder liefen dem Walde zu, alles im Stich lassend, nur einige schnell zusammengeraffte Nahrungsmittel tragend.
Ursula, die arme alte Magd, war vor Schreck fast gelähmt, und nur die Angst gab ihr Kräfte, den Kindern nachzueilen. Schon waren sie unter den schützenden Bäumen, da stand sie plötzlich still, fuhr mit der Hand über die Stirn und rief ganz außer sich: »Barmherziger Gott, das Gundel!« wandte sich um und lief, so schnell sie nur die Füße trugen, nach dem Hause zurück.


»Es ist ja mit Hans in den Wald!« rief ihr Gretchen nach. »Nein, o nein! Ich hab's eingesperrt; eile, Gretel, rette dich und den Herzensjungen.«
Seit vielen Jahren war Ursula nicht so gelaufen wie jetzt; und als sie endlich mit zitternder Hand den Schlüssel umdrehte und in die Stube trat, fiel sie völlig erschöpft auf den Fußboden nieder. »Gundel, Gundel, wo bist du?« rief sie angstvoll. »Ach, das arme Lamm ist in einem Winkel eingeschlafen. Gundel, wach' doch auf! 0, wie konnt' ich doch so hitzig sein gegen das Kind?« Als alles still blieb, raffte sie sich mühsam auf und durchsuchte das Zimmer, ohne das zerbrochene Spinnrad zu beachten. Alles war leer; das Fenster nach dem Hofe zu stand weit offen. »Vielleicht hat das Kind die Schreckensrufe gehört, ist hinausgesprungen und mit den andern geflohen. Klug und beherzt ist's ja. Aber was soll ich tun?

 Ich kann ja nicht mehr stehen; die Glieder versagen mir. Ach Gott, erbarme dich meiner!« Immer von neuem versuchte sie, das Haus zu verlassen, aber sie vermochte es nicht. Schreck und Anstrengung hatten ihre Kräfte ganz gelähmt; sie sank auf den Boden nieder. Jetzt schallte vom Dorf herauf wüster, wilder Lärm, näher kam es; zitternd hörte es die arme Alte. Bald aber wich die Furcht aus ihrem Herzen und machte stiller Ergebung Platz. Mühsam erhob sie sich auf die Knie, faltete die mageren Hände und betete mit lauter Stimme:
»0, Herre Gott, in meiner Not Ruf' ich zu dir, du hilfest mir; Mein' Leib und Seel' ich dir befehl' In deine Händ'; dein'n Engel send', Der mich bewahr', wenn ich hinfahr' Aus dieser Welt, wenn dir's gefällt! In Jesu Namen, Amen!«
»Pfaff, wo steckst du?« schrie eine rauhe Stimme im Hofe. »Heraus mit dem Geld, heraus mit dem Gold- und Silberplunder aus deiner Kirche!« Die Tür ward aufgerissen, und zwei struppige wilde Gesellen traten ein Sie trugen Lederwämse und
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breite Hüte mit weißen Schnüren, eiserne Arm- und Beinschienen und große Pistolen im Gürtel. Ihre langen Hellebarden stellten sie in die Ecke und fuhren die Kniende hart an:
»Heda, Alte, was liegst du da? Auf, und schaff' den Pfaffen her!«
»Ich weiß nicht, wo er ist«, war die ruhige Antwort.
»Dann gib das Geld 'raus, alles Geld! Schnell, eh' die andern kommen. Wenn's genug ist, tun wir dir nichts, aber mach' hurtig.«
»Es ist kein Geld mehr da«, versicherte Ursel; »dort im Wandschrajik steht ein Kästchen, darin ist alles, was wir haben.«.
Gierig rissen sie den Schrank auf.
»Was? Zwei Gulden und ein paar lumpige Groschen? Vergraben hast du's, alte Hexe; gib's her oder du bist des Todes!«
Während nun einer dieser Unholde die arme Alte würgte und mit Fäusten schlug, daß ihr die Sinne fast vergingen, und immer von neuem nach dem Versteck des Geldes fragte, stürzte der andere die Truhe um, durchwühlte die ärmlichen Kleider, steckte, was ihm gefiel, in einen Sack, zerriß und zerstampfte das andere. Halbtot ließen sie Ursel liegen und hausten ebenso in der Küche und im Studierstübchen, fanden aber nur wenig, was ihnen behagte. 

Der leere Stall reizte sie zu neuer Wut; eine Weile machten sie sich darin zu schaffen und eilten dann der Mühle zu, wo sie bessere Beute zu finden hofften. Da schlug plötzlich aus dem Strohdach des Stalles eine helle Flamme auf, die vom Winde dem Hause zugetrieben ward; in kurzer Zeit stand auch dieses in heller Glut. Ursel aber merkte nichts davon. Als ihre Quäler sie verlassen hatten, war sie ohnmächtig zusammengesunken. Dichter Rauch, der bald darauf ins Zimmer drang, betäubte sie noch mehr, und stille schwebte ihre Seele empor zu dem treuen Gott, dem sie sich im Glauben befohlen.
Inzwischen bot die sonst so friedliche Dorfgasse einen wilden, schrecklichen Anblick.-Das wenige noch vorhandene Vieh ward aus den Ställen gezerrt, um teils gleich geschlachtet, teils weggetrieben zu werden. Betten, Kleider, blankes Zinngeschirr ward aus den Häusern geschleppt und auf die Wagen gepackt, die dem wilden Haufen folgten. Was des Mitnehmens nicht wert war, ward mutwillig zerstört. In allen Winkeln, in Kellern, selbst auf den Düngerstätten in den Höfen suchten und wühlten die Habgierigen nach Geld und Kostbarkeiten, fanden aber so wenig, daß sie nur um so wütender wurden. Schon waren mehrere Bauern, bei denen man noch Schätze vermutete, grausam mißhandelt und zuletzt erschossen worden. Mitten in dem Gewühl zündete man Feuer an, um große Stücke Fleisch an Spießen zu braten, während andere ein Füßchen Branntwein herbeischleppten, dessen Genuß ihre Wildheit noch vermehrte.


Unbemerkt war der Pfarrer, nachdem er überall ermahnt, getröstet und geholfen hatte, wo Kranke und Alte wohnten, in das Haus des Hofbauern Christoph gekommen, das ein wenig abseits vom Dorfe lag. Seine Frau war schon seit langer Zeit mit der Gicht behaftet und konnte nicht stehen noch gehen. Eben schlug der Pfarrer vor, die Kranke eilig durch die Hintertür hinaus ins Gebüsch zu tragen, da drangen schon mehrere betrunkene Soldaten ins Zimmer.
»Gib uns Geld, alter Graukopf«, schrien sie den ehrwürdigen Greis an; »bei dir wird's doch endlich was geben! In dem ganzen lumpigen Nest ist nichts Rechtes zu finden.«


»Nehmt, was da ist«, erwiderte ruhig der Alte, »und laßt uns dann in Frieden; ihr seht, mein Weib ist schwer krank.« Damit öffnete er den eichenen Schrank, der neben dem großen grünen Kachelofen stand und einige kleine Truhen, ein Säcklein und eine wohlgebrauchte Bibel enthielt.
Aber die Truhen waren leer und das Säcklein enthielt nur noch eine Handvoll Silbertaler, die der flinkste unter den Räubern alsbald einsteckte und damit hinauseilte.
»Wo ist der Silberschmuck, wo sind die Golddukaten, die in dem Kästchen waren?« schrien die Wilden.
»Der Krieg hat alles verzehrt«, war die Antwort. »Sucht, wo ihr wollt, ihr werdet nichts finden.«
»Ich weiß, wo's versteckt ist«, schrie ein wüster junger Geselle, »im Bettstroh wird's sein. Steh' auf, Alte, gib den Schatz 'raus!«
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Da trat der Pfarrer den Eindringenden entgegen und bat sie mit ernsten Worten, der Kranken zu schonen. Wirklich wandten sich einige zum Gehen, da schrie der böse Bube wieder;
»Das ist der Pfaff, sonst könnt' er nicht so schön reden; packt ihn fest, er kommt auch noch dran. Jetzt 'raus mit dir, Alte!« Damit riß er die arme Frau vom Lager empor, und ehe der Greis ihr zu Hilfe eilen konnte, fiel sie mit einem Wehgeschrei auf den harten Boden.
Aber in diesem Augenblick trat ein frischer Jüngling ins Zimmer, Andreas, der einzige Sohn des Hauses. Kaum sah er den Frevel, der an seiner Mutter geschah, so sprang er herzu und streckte den Grausamen durch einen gewaltigen Faustschlag zu Boden. Aber sogleich ward er von eisernen Fäusten gepackt, schon riß einer die Pistole heraus, um ihn zu erschießen, da schrien die andern: »Laßt ihn leben, 's ist ein schöner Bursch, der paßt zum Soldaten! Bindet ihn draußen an einen Wagen, daß er nicht entwischt.«


Laut jammerte die Mutter, als der Jüngling weggeschleppt wurde; man stieß sie mit den Füßen zur Seite, um das Stroh des Lagers zu durchwühlen. Der Greis war neben ihr zu Boden gesunken; dem Pfarrer aber hatten sie die Hände auf den Rücken gebunden und ihn in eine Ecke gedrückt. Als alles Suchen nach Geld vergeblich war, wandte sich die ganze Wut gegen ihn und ohne die Alten weiter zu beachten, zogen sie mit Hirn ab. Auch der betäubte Bursche erholte sich und taumelte ihnen nach. In
der Tür aber drehte er sich noch einmal um, zog etwas aus der Tasche, schlug es in den Händen zusammen und warf's in den
Strohhaufen; dann enteilte er hohnlachend. Ein glimmendes Stücklein Schwamm war es gewesen, das nun im Nu das dürre Stroh entzündete.
Aber Gott wollte die beiden frommen Alten nicht eines so entsetzlichen Todes sterben lassen. Der Greis fühlte sich plötz-
lich mit neuer Kraft durchdrungen, umfaßte die Hilflose mit
den Armen und trug sie aus der schon mit Rauch und Flammen erfüllten Stube. im Hof war's wieder still; er brachte seine teu-
re Last sicher in einen Stall, der entfernt von den übrigen Gebäuden lag und legte sie dort auf etwas Heu und Stroh nieder.
Weinend und betend sahen die beiden ihr Haus und Gut verbrennen, und doch hätten sie alles gern hingegeben, wenn man ihnen nur ihren Andreas gelassen hätte.
Indessen war der Pfarrer durch das Dorf geschleppt, bei seinem brennenden Hause vorbei, den Hügel hinauf in die Kirche, wo man reiche Beute zu finden hoffte. Aber nichts war zu sehen als kahle Wände und schlichte hölzerne Bänke. Sie lösten seine Bande und bestürmten ihn, das Kirchengut herauszugeben.
»Wäre es mein«, entgegnete er, »so solltet ihr's willig haben, da es aber Gott gehört, kann ich's euch nicht geben. Glaubet doch meinen Worten, es ist nur noch wenig, und gewiß nicht wert, daß ihr darum mein Blut vergießt.«


Da durchsuchten sie gierig alle Ecken und fanden endlich hinter dem Altar ein verborgenes Wandschränkchen. Darin lag eine gestickte seidene Decke, die Gundels Pate an des Kindes Tauftag der Kirche geschenkt. Schlichte zinnene Geräte für Taufe und Abendmahl standen dabei.
»Gib die silbernen her«, schrien die Räuber den Pfarrer an; »wo so ein goldgestickter Lappen ist, muß noch mehr sein.«
»Sie sind nicht mehr da«, war die Antwort, »in der Not hat sie die Gemeinde hingegeben, um die Kriegssteuern zu bezahlen.«
Indessen war zwischen zwei Soldaten heftiger Streit entbrannt um die Decke. Schimpfend und fluchend rissen sie sich darum, und keiner wollte dem andern weichen. Endlich begannen sie einander zu raufen, und zuletzt riß einer die Pistole aus dem Gürtel. Da warf sich der Pfarrer dazwischen und rief: »0, befleckt doch nicht das Heiligtum des Herrn mit Mord und Gewalttat! «
In diesem Augenblick schallte vom Dorfe herauf das Schmettern einer Trompete, das Zeichen zum Aufbruch. Mit.
einem kräftigen Ruck riß einer der Streitenden die Decke an sich, der andere wandte sich gegen den Pfarrer. Der Schuß
krachte, und während die Mörder enteilten, sank der fromme Mann schwer getroffen an den Stufen des Altars nieder, wo er so oft gebetet hatte. »Christus ist mein Leben, und Sterben ist
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mein Gewinn«, seufzte er; »Gott, erbarme dich meiner armen Kinder!« Dann entfloh seine Seele, und et war vereint mit der geliebten Gattin, nach der er sich am Morgen so schmerzlich gesehnt. Drittes Kapitel
Wie die Kinder zerstreut wurden
Mit recht schwerem Herzen war Hans am Morgen in den Wald gezogen. Der Vater hatte so traurig gesprochen, und Gundel war gar so bös gewesen. Sie war seine Lieblingsschwester, und er wollte sie gern recht an sich ziehen nach des Vaters Wunsch. Aber was sollte er tun, wenn sie gar so wild und widerspenstig war? Auf der Waldwiese, die, von hohen Tannen umgeben, etwa eine halbe Stunde vom Dorfe entfernt lag, war's friedlich und schön, so daß der Knabe mit Lust an die Arbeit ging und seinen Kummer ein wenig vergaß. Emsig mähte er das fette, mit vielen bunten Blumen durchwachsene Gras und streute es sorgsam auseinander, damit es an der Sonne trockne. Seinen Karren belud er, so hoch es gehen wollte, mit frischem Futter für die nächsten Tage, indes die Kuh neben ihm weidete. 

Als er sich müde gearbeitet hatte, ruhte er ein wenig im kühlen Schatten der Tannen, war aber dabei nicht müßig, sondern zog ein Psalmbüchlein aus der Hirtentasche, und fing an den Psalm zu lernen, den der Vater ihm aufgegeben: »Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzet, und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibet, der spricht zu dem Herrn. Meine Zuversicht und meine Burg; mein Gott, auf den ich hoffe.« So kam zwischen Arbeiten und Lernen der Mittag heran. Er molk sein Töpfchen voll Milch und labte sich an dem guten Brot und Käse, aber die Worte des Psalms klangen immer in seinem Herzen wider. 

Es war ihm so leicht geworden, ihn zu lernen, er paßte ja so gut zu der traurigen, angstvollen Zeit, die jetzt auf Erden war. »0, wie gut ist es, daß uns der liebe Gott beschützt!« dachte er. »Mir ist heute so - bange, und ich weiß nicht warum. Aber ich sitze ja unter dem Schirm des Höchsten, so will ich mich nicht fürchten, sondern ein wenig schlafen, denn ich bin sehr müde.« Damit streckte er sich aufs weiche Moos und war bald fest eingeschlafen. Es war schon hoch am
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