Dorie Doris Van Stone/Erwin W. Lutzer

07/03/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Inhalt

Mutter, komm doch heim! 5
Das Waisenhaus 11
Auf der Suche nach Liebe 22
Mutter, wo bist du? 29
Herr, es tut ja so weh 35
Ist das Ihre Tochter? 46
Dorie, wo ist dein Vater? 52
Mein Herr, sind Sie mein Vater? 62
Herr, du wirst doch nicht etwa … ? 69
Du bist nicht meine Tochter 77
Die Soldaten kommen! 81
Vati, ich habe dich geliebt 89
Neuguinea, da sind wir! 95
Die Herausforderung vom Baliem-Tal 100
Das Leben im Baliem-Tal 107
Unsere Zeit steht in deinen Händen 117
Versprich mir, dass du mich beerdigst 128
Mutter, was ist ein Denkmal? 132
Abschied vom Tal 140
Heilen, die zerbrochenen Herzens sind 144
Gedanken am Grab 155

Mutter, komm doch heim!

Schweigend trat ich ans Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Meine Augen folgten den Scheinwerfern jedes vorbeifahrenden Autos. Ich saß auf meinem braunen Schemel, die Arme fest um die Knie geschlungen in dem verzweifelten Bemühen, warm zu werden.
Stunden vergingen. Endlich erblickte ich die schattenhaften Umrisse meiner Mutter um die Ecke biegen und den Fußweg hochkommen. Bis sie unsere Wohnung im ersten Stock erreicht hatte, hatte ich mich durch den dunklen Raum getastet, um sie zu begrüßen.

Hoffentlich freut sie sich, mich zu sehen! Doch wie ge­wöhnlich schob sie mich beiseite und nahm meine Schwester Maria in die Arme. »Liebling, wie geht es dir?«, sagte sie zärtlich. Ich stand da, die Hände in den Taschen meines verschlissenen Rocks vergraben, und wartete darauf, dass sie mich auch lieb hatte. Doch sie stieß mich beiseite. »Was willst du?«, fuhr sie mich an.
»Würdest du mich auch umarmen?«, fragte ich schüchtern.

»Scher dich weg!«, schnauzte sie mich an. Ich war erst sechs Jahre alt. Doch die Szenen in jener Wohnung sind unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingegraben. Ich erinnere mich an nichts Helles. Dunkle Holzleisten säumten die schmutzigfarbenen Wände. Ein brauner Polstersessel, eine Bank und ein kleiner Teppich bildeten die Einrichtung des Wohnzimmers. Das nächste Zimmer enthielt nur ein Schrankbett, in dem Maria und ich gemeinsam schliefen.
Morgens verließ meine Mutter die Wohnung und kehrte erst spätabends wieder zurück. Ich sehe sie noch vor mir – pechschwarzes Haar umrahmte ein vollkommen ovales Gesicht.

Ein eiskalter Blick war in ihren braunen Augen, wenn sie schrie: »Doris, gib gut auf deine Schwester acht! Und mach ja kein Licht an!«
Maria war ein Jahr jünger als ich, und meine Mutter wollte mir eins klarmachen: Sollte Maria etwas zustoßen, wäre es meine Schuld. Ich trug die Verantwortung.

Meine Schwester und ich verbrachten unsere Tage allein in der Wohnung. Wir freuten uns auf das Wochenende, weil Mutter uns dann etwas zu essen machte. An diesen Tagen schlief sie lange, und dann frühstückten wir schweigend zu dritt. Doch meistens bestand unsere Nahrung aus dem Einzigen, was ein sechsjähriges Kind zubereiten kann: Brote mit Erdnussbutter und Marmelade. Das Glas im Küchenschrank konnte ich gerade erreichen. Dann klemmte ich es zwischen meine Knie und versuchte krampfhaft, das Öl mit der Erdnusspaste zu verrühren. »Verschütte das Öl nicht!«, 
hatte Mutter mich gewarnt. Wenn es dennoch geschah, wischte ich es schnell mit Toilettenpapier auf. Ich schmierte die Erdnussbutter so auf, dass das Brot immer zerkrümelte. Hatten wir keine Marmelade, würgten wir es so gut es ging trocken hinunter.
Manchmal bekamen wir Milch, doch gewöhnlich tranken wir nur Wasser. Wir hatten keine Trinkbecher, nur Marmeladengläser. Nachdem ich eine Tracht Prügel bekommen hatte, weil ich eins zerbrochen hatte, lernte ich achtzugeben. Ich schob einen Stuhl an das Spülbecken, stellte das Glas unter den Wasserhahn und ließ Wasser hineinlaufen. Mit beiden Händen hielt ich dann 
Maria das Glas hin und kletterte anschließend wieder hinunter.

Wie oft knurrte unser Magen vor Hunger! Einmal ging ich mutig in ein Geschäft in der Hoffnung, dass der Lebensmittelhändler mir etwas zu essen geben würde. Als er meine Bitte abschlug, versprach ich ihm, dass meine Mutter am nächsten Tag bezahlen würde. Da lernte ich, dass nur Menschen, die Geld haben, Essen kaufen konnten. Widerstrebend ging ich nach Hause zurück – mit leeren Händen und leerem Magen.
Jeden Abend, wenn ich auf meine Mutter wartete, fühlte ich mich allein. Die Verantwortung lastete schwer auf mir. Ich hatte unheimliche Angst, dass mir oder meiner Schwester etwas Schreckliches passieren könnte. Die Dunkelheit unserer trostlosen Wohnung nährte meine 
kindliche Fantasie. Was würde geschehen, wenn Mutter nicht nach Hause käme?
Eines Abends hörte ich, wie die Haustür unten aufging. Ich nahm ein Fleischmesser aus der Küche, öffnete die Wohnungstür und sah zwei Betrunkene unten an der Treppe stehen. Das Fleischmesser so fest umklammernd, dass meine Knöchel weiß wurden, schrie ich so grimmig, wie ich nur konnte: »Macht, dass ihr fortkommt! 
Ich habe ein Messer!« Maria versteckte sich hinter mir. Sie lachten, doch einige Augenblicke später machten sie sich aus dem Staub.
Als ich Mutter von dem Schrecken erzählte, zuckte sie nur die Achseln. »Na und? Sie sind doch nicht hereingekommen, oder?« Dann stellte sie die einzige Frage, die 
von Bedeutung war: »Hattest du das Licht an?«
Darum hatte ich meinen Stuhl in die Nähe des Fensters gerückt. Die Scheinwerfer der Autos, die auf der 34. Straße in Oakland, Kalifornien, entlanghuschten, waren tröstlicher als die drohende Dunkelheit der kalten Wohnung. Ich hatte Angst einzuschlafen, bevor Mutter da war. Manchmal schrie Maria auf, erschreckt durch fremdartige Geräusche. Dann legte ich ruhig meinen Arm um sie und redete ihr zu, keine Angst zu haben. 

Innerlich war ich voller Furcht. Abend für Abend saß ich in der Dunkelheit und hatte Angst davor, was Mutter mir antun würde, sollte Maria krank werden oder ihr etwas zustoßen.
Wenn Mutter dann spätabends nach Hause kam, sprach sie kein Wort mit mir, sondern suchte nur schnell Maria, die meistens auf der Couch eingeschlafen war. 
»Maria ist ein hübsches Kind – sie ist nicht wie du«, pflegte meine Mutter oft zu sagen. Sie packte Maria ins Bett und gab ihr einen Gutenachtkuss. Ich blieb mir selbst überlassen.

Ohne mich auszuziehen – ich besaß keinen Schlafanzug –, kroch ich neben meine Schwester unter die Decke. Kein einziges Mal umarmte mich meine Mutter oder nahm mich auf ihren Schoß. Gelegentlich brachte Mutter für Maria ein Geschenk mit, aber nie für mich. Unsere Kleider bekamen wir von Nachbarn nebenan. Sie waren entweder zu klein oder zu groß, unsere Hosen waren an den Knien durch­­­gescheuert, und unsere Schuhe drückten. Alle neuen 
Sachen bekam Maria.

Wenn Mutter zu Hause war, verbarg ich meine Ängste. Ich kroch hinter eine Couch, wo ich unentdeckt schluchzen konnte. Manchmal, wenn ich Magenkrämpfe hatte, krümmte ich mich auf dem Fußboden. Doch wenn Mutter mich weinend fand, bekam ich Schläge.
Eines Nachts wachte ich auf und stellte erschrocken fest, dass Maria nicht mehr neben mir lag. Ich rief nach Mutter, die zuvor nach Hause gekommen war, erhielt aber keine Antwort. In panischer Angst suchte ich die vier Zimmer unserer dunklen Wohnung ab. In dem Glauben, allein gelassen zu sein, begann ich zu schreien. 

Ich kroch in eine Ecke und bekam einen Weinkrampf. Es verging vielleicht eine Stunde. Plötzlich hörte ich jemanden auf der Treppe. Dann sah ich Mutter an der Tür mit Maria auf ihrem Arm. Sie hatte mich allein gelassen, ohne mir etwas zu sagen. Und für ihr Verschwinden gab 
sie nie eine Erklärung. Eines Nachmittags nahm Mutter Maria und mich mit, um eine Freundin zu besuchen. Maria saß auf Mutters Schoß, während die Frau die Schönheit meiner 
Schwester bewunderte. Dann sagte sie mit einem unverhohlenen Seitenblick auf mich: »Aber das mit der anderen ist ja wirklich zu schade.«

Was ist denn so anders an mir? Warum bin ich so hässlich? Kann mich denn keiner lieb haben?, dachte ich. Niedergeschlagen rutschte ich vom Stuhl herunter und verkroch mich in eine Ecke. Meine Gefühle überwältigten mich. Niemand sprach mit mir, und ich wollte auch mit niemandem sprechen. Selbst diese Frau bedauerte, dass ich geboren worden war.

Vielleicht kann ich Mutter doch noch dazu bringen, mich lieb zu haben, sagte ich mir. Doch jedes Mal, wenn ich meine Arme um sie legte, stieß sie mich weg. Sobald ich versuchte, auf ihren Schoß zu klettern, schüttelte sie mich ab, wie man einen gutmütigen, aber unerwünschten Hund abschiebt. »Lass das!«, fuhr sie mich an. Dann fügte sie hinzu: »Und nenne mich nicht Mutter, nenne mich Laura.«

Im Alter von sechs Jahren wusste ich, dass ich unerwünscht war – eine Schande, eine Last, eine Plage. Ich kannte die Bedeutung jener Worte nicht, doch empfand ich, wie schwer jedes wog. Ich bin hässlich, und es ist meine Schuld. Wenn ich doch nur etwas dagegen tun könnte!, 
seufzte ich innerlich. Die Tage zogen sich in trostloser, hoffnungsloser Eintönigkeit dahin. Maria und ich lachten selten. Die meiste Zeit saßen wir nur da und fragten uns, was in unserer 
Welt nicht stimmte.

Einige Hundert Meter von unserer Wohnung entfernt war ein freier Platz, auf dem meine Schwester und ich oft spielten. Wir hatten keine Spielsachen, sondern benutzten Stöckchen und Steine, die dann darstellten, was wir uns in unserer Fantasie ausmalten. Dort vergaßen wir 
unsere Angst; doch nicht für lange.
Wir spürten, dass andere Kinder Spaß hatten. Sie waren glücklich und sorglos, doch für uns war es schwer, uns zu freuen. Die kurzen Augenblicke des Glücks vermochten nicht das Leid auszulöschen, das wir so gut kannten. Irgendetwas stimmte nicht in unserem Heim. Wir fanden es schwer, freundlich zu sein oder zu lächeln.

Mein Vater besuchte uns vielleicht drei oder vier Mal in unserer Wohnung. Obwohl ich mich kaum an ihn erinnern kann, erinnere ich mich doch, dass auch er sagte, wie niedlich Maria sei. Sie war auch sein Liebling. Ein winziger Lichtstrahl durchdringt die dunklen Erinnerungen an jene Zeit – der Drugstore an der Ecke. So oft ich es wagte, ging ich dorthin. »Wie geht’s, Clara 
Bow?« Mit diesem Spitznamen begrüßte mich der Kaufmann. »Möchtest du ein Sodawasser?«
Ich sagte: »Nein«, denn ich hatte kein Geld. Doch seine Augen zwinkerten voller Freundlichkeit, während er mich auf einen Drehstuhl setzte und mir eine Limonade gab. Sieh doch hinter meine schäbigen Kleider, bitte! Ich bin so voller Angst und Leid!

Obgleich er diese meine Gedanken nicht lesen konnte, gab er mir doch das erste Zeichen menschlicher Liebe. Diese Ausflüge zum Drugstore nahmen jedoch bald ein Ende. Meine Mutter traf eine Entscheidung, die unsere Zukunft einschneidend verändern sollte. Die Tage in unserer ärmlichen Wohnung waren gezählt.

Das Waisenhaus

»Kinder, euer Vater und ich können euch nicht versorgen. Deshalb werde ich euch in ein Heim geben, wo ihr es gut haben werdet«, erklärte Mutter uns eines Tages. Kurze Zeit später luden sie und eine Nachbarin meine Schwester und mich in eine Straßenbahn. Eine lange Strecke fuhren wir, dann gingen wir noch ein Stück zu Fuß. Mutter hielt uns an der Hand. Unsere wenigen Kleider trug ich 
in einer Papiertüte. Spielsachen besaßen wir nicht. Auf einmal entdeckte ich ein großes Gebäude mit einem roten Ziegeldach. Es war U-förmig angelegt und hatte zwei Stockwerke. In meinen Augen war es riesig. 

Eine Palme, umgeben von Geranien, erhob sich im Hof. Durch einen Eisengitterzaun sah ich Jungen spielen. Muss wohl eine Schule sein, dachte ich. »Lebt wohl!«, sagte Mutter wenig später, ohne eine 
Träne zu vergießen. »Bis bald!« Die beiden Frauen gingen zur Tür. Auf dem traurigen Gesicht der Nachbarin zeichnete sich die Sorge um uns ab. (Insgeheim hoffte ich, dass sie uns einmal besuchen 
würde, doch sie kam nie.) An der Tür blieb Mutter stehen, die Hand auf der Klinke. »Vielleicht müsst ihr nicht allzu lange hier bleiben!« Dann schloss sich die Tür, und wir waren uns selbst überlassen. Es war, als hätte Mutter ein Paket abgegeben und vergessen, es je wieder 
abzuholen.

Wir waren gerade vor dem Mittagessen angekommen, so wurden wir in einen Ess-Saal gebracht, wo ungefähr 65 Kinder an langen Tischen saßen. »Doris«, sagte die Aufseherin, »du wirst lernen, bei 
Tisch nicht zu reden. Wenn du etwas willst, heb deine Hand!«
Unsere erste Mahlzeit bestand aus Roten Rüben. »Ich mag keine Roten Rüben«, erklärte ich der Aufseherin. »Dann wirst du lernen, sie zu mögen«, lautete die Antwort. »Du wirst nicht früher vom Tisch aufstehen, bis sie aufgegessen sind.«
Doch ich war fest entschlossen, keine Roten Rüben in meinen Mund zu lassen. Ich saß da und rührte mich nicht. Die Roten Rüben rührte ich nicht an. »Doris, iss die Roten Rüben!«, ermahnte mich die 
Aufseherin. Ich antwortete nicht. Doch ich aß auch nicht. 

Schließlich wurden die anderen Kinder entlassen. Ich saß immer noch da. Nachmittags nahm mir die Aufseherin den Stuhl weg. Schließlich kamen die anderen Kinder zum Abendessen zurück. Ich bekam nichts, da ich meine Roten Rüben nicht aufgegessen hatte. Als die anderen Kinder fertig waren, standen sie wieder auf. Ich musste bis 21 Uhr sitzen bleiben. Wieder wurde mir der Stuhl weggenommen. Ich stand vor dem Tisch, doch die Roten Rüben aß ich nicht. Ich dachte schon, ich hätte gewonnen, doch da kam die Aufseherin mit einer dünnen, langen Klatsche zurück und verhaute mich so damit, dass ich es nie vergessen werde.

Anschließend wurde ich in ein Ankleidezimmer geführt. Jedes Kind hatte einen Verschlag mit einem Haken für Kleider und einem Brett darüber für Handtücher. Schuhe wurden darunter gestellt. Die anderen Kinder waren schon im Bett. So zog ich mich allein aus. Die Aufseherin zeigte mir mein Bett, eines von zwanzig, die die Wand säumten. Es begann mir zu dämmern, dass dies eine seltsame Schule war.

»Wird meine Mutter zurückkommen?«, fragte ich. »Oh, sie wird dich wohl besuchen kommen«, 
antwortete die Aufseherin ausweichend. An jenem ersten Abend tat ich etwas, was ich von da 
an jeden Abend in den nächsten sieben Jahren wiederholte: Ich weinte mich in den Schlaf.
Nach einigen Tagen begann ich die anderen Kinder auszufragen. »Wie nennt man das hier?«
»Es ist ein Waisenhaus«, antworteten sie.
»Ein Waisenhaus?«
Ein großes Mädchen mit dunklem Haar erklärte mir feierlich: »Hier kommst du her, wenn niemand dich will.«
Unsere Mutter hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich das Waisenhaus anzusehen. Fräulein Ward, eine füllige Frau mit grauem Haar und blauen Augen, stellte uns der Aufseherin, Fräulein Gabriel, vor. Fräulein Gabriel zeigte uns das Spielzimmer, in dem sich Spielzeug befand, das alle Kinder benutzen durften. An einer Wand befand sich eine lange Reihe von Holzkästen mit Deckeln, in dem jedes Kind seine persönlichen Dinge aufbewahren konnte. Meine war die erste in der Ecke. 
Doch ich hatte nichts, was ich in meinen Kasten hätte hineinlegen können.

Manchmal fragte ich ein anderes Kind während der Spielzeit, ob ich ein Spielzeug in meinem Kasten auf­bewahren könnte. Doch es sagte immer: »Nein. Das gehört mir!« So schaffte ich mir einige Dinge selbst an. Fand ich einen unzerbrochenen Malstift, so ließ ich ihn in meinem Kasten verschwinden, wenn niemand es sah. Oder wenn ich ein Bild malte, steckte ich es in meinen Kasten, damit niemand es verkritzeln konnte. Ich legte meine Sachen immer schön ordentlich übereinander, damit ich, falls erforderlich, schnell zum Weggehen bereit war. Mutter hat gesagt, wir würden wohl nicht allzu lange bleiben müssen. Vielleicht werden wir ja jede Minute abgeholt, dachte ich.

Zuerst war ich ein Einzelgänger. Stundenlang saß ich auf einer langen, grünen Bank, baumelte mit den Füßen und überlegte mir, wie ich wohl hier herauskäme. Die Hände hatte ich unter meine Beine gelegt, so wie ich es am Fenster unserer Wohnung getan hatte. Wann wird Mutter zurückkommen? Diese Frage stellte ich mir immer wieder.

Wie sehr wünschte ich mir, wieder in der vertrauten Wohnung zu sein! Die Kinder forderten mich auf, mit ihnen zu spielen, doch ich weigerte mich. Ich werde ja nicht lange hier sein, sagte ich mir.
Als ich noch zu Hause war, hatte ich eine rote Strickjacke mit braunem Rand und Holzknöpfen bekommen. 

Diese trug ich jetzt jeden Tag und knöpfte damit Geborgenheit um mich herum. Fräulein Gabriel konnte mich kaum dazu bringen, sie an Waschtagen herzugeben. Sie war noch das einzige Bindeglied zu dem, was ich als Zuhause kannte.
Tage und Wochen vergingen. Mutter kam nicht zurück. Widerstrebend fand ich mich mit der Tatsache ab, dass sie ihr Versprechen wohl nicht halten würde. Scheinbar sollten wir endgültig hierbleiben. Ja, ich nahm an, dass Maria und ich den Rest unseres Lebens hier verbringen würden.

Langsam begann ich mich an die Routine zu ge­wöhnen. Wenn ich hart bin, kann ich überleben, sagte ich mir. Ich drangsalierte die anderen Kinder. Zart war ich nie gewesen. Ich stieß, schubste und schlug. Wenn ein anderes Kind mir sein Spielzeug nicht zeigen wollte, riss ich es ihm weg. Die anderen schlugen mich nicht, doch ich schlug sie, und es tat mir gut. Ich war weder größer 
noch stärker als die anderen, doch muss ich sehr böse ausgesehen haben.

Der Tagesablauf war ziemlich eintönig. Morgens ertönte eine Klingel zum Aufstehen. Zum Frühstück stellten wir uns in einer Reihe auf. Jeden Tag gab es Brei – zähen, klebrigen, gekochten Brei. Ich gebrauchte meinen Einfallsreichtum bis an die Grenze meines Vermögens und machte einen Plan, um zu vermeiden, dieses Schleimzeug schlucken zu müssen. Zuerst stopfte ich alles in den Mund, was nur hineinging. Meine dicken Backen wurden noch dicker. Dann hob ich meine Hand, 
um auf die Toilette gehen zu dürfen. Dort spuckte ich alles ins Waschbecken. Das machte ich jeden Morgen.

Bei einem dieser Ausflüge ins Badezimmer spürte ich plötzlich die feste Hand der Aufseherin an meinem Hals. »Komm her, Doris!«, befahl sie. Alle Köpfe im Ess-Saal drehten sich zu mir um. Sie führte mich ins Bad, und ich spuckte das Breizeug direkt in den Ausguss. Dann 
nahm sie ein Stück Seife und seifte meine Zunge ein. Am nächsten Tag schmeckte der Brei schon etwas besser. 

Von da an aß ich ihn. Jeden Dienstag und Donnerstag gab es Buttermilch. Ich hasste dieses weiße, flockige Zeug und zwang andere Mädchen, meine Milch zu trinken. Obgleich sie ihre auch nicht mochten, tranken sie sie immer schnell aus, um die Sache hinter sich zu bringen. Wenn die Auf­herin nicht hinschaute, tauschte ich die Gläser aus. 

»Wenn du das nicht trinkst, gibt’s später im Hof Haue!«, drohte ich. Mein Ruf, gemein zu sein, brachte sie dazu, zähneknirschend zu gehorchen.
Maria und ich spielten nicht oft zusammen. Sie war in einem anderen Teil des Gebäudes bei den Fünfjährigen. Ich war bei den Sechs- bis Achtjährigen. Das Waisenhaus ließ keine engen Beziehungen zwischen Mitgliedern derselben Familie zu, nicht einmal enge Freundschaften unter den einzelnen Kindern. Später entdeckte ich, warum: Wenn ein Kind, das eine enge Freundschaft mit einem anderen eingegangen ist, adoptiert wird, ist das andere tief verletzt.

Allmählich freundete ich mich gut mit Esther an, einem freundlichen, blonden Mädchen, dessen Bett nahe bei meinem stand. Eines Tages, völlig unerwartet, war sie plötzlich fort: Sie war adoptiert worden. Die Mitarbeiter im Waisenhaus bereiteten ihren Abschied vor, als wir anderen in der Schule waren, um das Abschiednehmen zu vermeiden. An jenem Abend, als ich herausfand, dass Esther nicht mehr da war, warf ich mich über mein schmales Bett und weinte bitterlich. Ich wusste: 
Ich würde sie nie wiedersehen. Die Aufseherin hatte gewarnt: »Lasst euch auf keine engen Freundschaften ein, sonst tut ihr euch selbst weh!«

Fräulein Gabriel, die ich »Engel Gabriel« nannte, beherrschte uns mit der Disziplin eines Feldwebels. Ihr pechschwarzes Haar trug sie in einem Knoten. Sie hatte eine krumme Nase und pechschwarze, stechende Augen. »Ich kann durch euch hindurchblicken«, pflegte sie uns zu versichern, wenn sie uns ohne mit der Wimper zu zucken anstarrte. Und wir glaubten es ihr.  

Sie war der festen Meinung, dass Krankheit immer das Ergebnis von Sünde sei, besonders der Sünde des Ungehorsams gegenüber ihren Anordnungen. Wenn jemand von uns krank wurde, brachte sie diese Krankheit in eine theologische Perspektive. »Es ist der Herrgott! Er straft dich!«, schimpfte sie. »Wenn du nicht so ungezogen wärst, wärst du auch nicht krank.« Wir erduldeten, 
was wir als des Herrgotts Strafe ansahen, und versuchten herauszufinden, durch welche begangene Sünde wir eine Erkältung, Grippe oder auch nur einen Schnupfen verdient hatten. 

Doch eines Tages erhielt der »Engel Gabriel« einen Schnellkurs in Theologie: Er erkrankte an Mumps! Durch meine Ungezogenheit brachte ich mich oft selbst in Schwierigkeiten. Doch selbst wenn ich ungerechterweise bestraft wurde, hatten die anderen Mädchen kein Mitleid mit mir. Ich hatte genug Böses getan, um es zu verdienen. Eines Morgens standen wir in Reih und Glied aufgestellt, um Anweisungen entgegenzunehmen, als ein Mädchen Fräulein Gabriel die Zunge 
herausstreckte. Impulsiv holte der »Engel« in Richtung auf den Kopf des Mädchens aus. Das Mädchen duckte sich. Ich stand direkt hinter ihm. Mein ganzes Gesicht tat weh von dem Schlag.

»Aber Fräulein Gabriel, ich war es doch gar nicht!«, jammerte ich los – lauter, als nötig gewesen wäre. »Ich weiß, doch du verdienst es nächste Woche«, versicherte mir Fräulein Gabriel. Sie entschuldigte sich nicht dafür.
An jenem Abend fand mich Fräulein Gabriel, als ich vor dem Einschlafen weinte. »Nicht schon wieder du, Doris!«, murmelte sie und verabreichte mir eine Tracht Prügel. So lernte ich, leise zu weinen, den Kopf unter den Decken vergraben.

Der »Engel« schlug uns auch, wenn wir den Athleten der Oakland Technical High School, die an unser Grundstück angrenzte, beim Training zusahen. Warum das nun verboten war, wird wohl immer eines der undurchdringlichen Geheimnisse des Lebens bleiben.
Als ich älter wurde, rächte ich mich an Fräulein Gabriel bei der Wäsche. Meine Aufgabe war, die ge­waschenen Kleider zu sortieren und aufzuhängen. Unsere Kleider wurden sehr gestärkt und dann flach gebügelt. Das zerdrückte alle Rüschen. Die Kleider waren so steif, dass ich sie einzeln mit einem Lineal auseinanderreißen musste. Wenn Fräulein Gabriel nicht hinhörte, sprach ich zu den Kleidern so wie sie zu uns.

»Molly, noch ein Wort und du verschwindest aus dem Esszimmer!«, sagte ich giftig, ganz den Ton des 
»Engels« nachahmend. Oder: »Jeannie, iss deinen Brei oder ich stopfe ihn dir rein!«
Eine andere Aufgabe, die ich mit neun Jahren hatte, war, den kleinen Mädchen beim Anziehen zu helfen. Eine Fünfjährige machte immer ins Bett. Sie saß absichtlich in ihrem Bett und machte es nass. Ich musste immer ihre Laken wechseln. Schließlich hatte ich die Nase voll. 

Eines Morgens, nachdem Fräulein Gabriel gegangen war, nahm ich das kleine Mädchen und steckte ihre Nase ins nasse Bett.
»Doris!« Die anderen Mädchen rangen nach Luft. Doch von da an machte die Kleine nie wieder ihr Bett nass.
Obwohl ich in dem Ruf stand, raubeinig zu sein, wollte ich doch mit den anderen spielen. Zuerst stand ich nur am Rand und sah zu. »Wir wollen dich nicht haben!«, sagten mir die anderen. Ich musste lernen, freundlich zu sein. »Bitte, darf ich mitspielen?«, bettelte ich. »Ich verspreche, ich werde euch nicht hauen.«

Als ich allmählich lernte, nicht mehr so böse zu sein, nahmen sie mich in ihre Reihen auf. In der Schule konnte man die Kinder aus dem Waisenhaus leicht an ihren schäbigen Kleidern und dem besonderen Haarschnitt erkennen. An einem bestimmten Tag wurde ein Stuhl auf einen niedrigen Tisch gestellt. Nacheinander krabbelten wir auf den Tisch und schließlich auf den Stuhl. Fräulein Gabriel stülpte einen Topf über unseren Kopf. Das Gefäß war so riesig, dass ich an einen Schirm 
erinnert wurde. Wir hätten uns darunter verstecken können. Dann schnitt sie unser Haar rundherum ab.

Wenn wir zur Schule marschierten, sahen wir alle gleich aus. Fuhren Autos an uns vorbei, verlangsamten sie ihre Fahrt. Eltern zeigten uns ihren Kindern. Wir sind alle komische Käuze, und ich bin außerdem auch noch hässlich, dachte ich.
Zwei Interessen erhielten mich in jenen Jahren bei gesundem Menschenverstand. Eines davon war meine Liebe zu Büchern, das zweite mein Zeichentalent. Nicht einmal der »Engel Gabriel« konnte meinen Hunger nach Lesestoff verhindern. Ich schlich mich in den Aufenthaltsraum und schaute prüfend über die lange Reihe von Büchern, die auf den Regalen standen. Dort fand ich Huckleberry Finn, Tom Sawyer oder Black Beauty und las sie in Raten durch. Über den Seiten brütend, entfloh 
ich in eine Welt der Abenteuer und herrlicher Erlebnisse. Heidi und die Pollyanna-Bücher verschlang ich.

Doch meine Lieblingsbücher waren die »Old Mother West Wind«-Bände. Als ich von den kleinen Tieren las, die so frei im Wald herumliefen, träumte ich davon, genauso niedlich und bewundernswert zu sein wie die Eichhörnchen.

Manchmal erwischte mich »Engel Gabriel« beim Lesen, wenn ich hätte arbeiten sollen, oder sie fand mich zu verbotener Stunde lesend. Doch die Schläge, die ich bekam, konnten mich nicht von jenen Büchern fernhalten. Sie waren die einzigen Freunde, auf die ich zählen konnte, und sie hoben mich aus der eintönigen und deprimierenden Welt des Waisenhauses heraus.
Neben Lesen war Zeichnen meine Lieblingsbeschäftigung. Ich schaute mir ein Bild an und skizzierte es mit der linken Hand. In der Schule gab es jedoch eine Anordnung, dass alle Kinder die rechte Hand gebrauchen mussten. Mir war das fast unmöglich. Ich schrieb schlecht und begann zu stottern. So sehr ich mich auch anstrengte – die Worte kamen nur bruchstückweise aus meinem Mund.

Eines Tages, als die Lehrerin nicht hinschaute, skizzierte ich ein Bild von Kindern auf einem Hügel, die einen Drachen steigen lassen. »Doris, das hast du doch nicht gemacht!«, schnauzte mich die Lehrerin an, als sie an meinem Pult vorbeiging.
»D-doch.«
»Nein. Das hast du nicht gemacht!«
»Aber s-sicher. D-doch!«
Sie nahm ein Lineal und schlug mir damit über die Fingerknöchel. In dem Moment blickte sie dem Mädchen in der anderen Bankreihe in die Augen. »Hat Doris 
das gezeichnet?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte das Mädchen schüchtern.
»Wie hast du das nur gemacht, Doris?«, fragte sie ein wenig einlenkend.
»I-ich h-habe es n-nicht mit die-ser Hand, s-sondern 
mit der g-gemacht«, stammelte ich, indem ich auf meine linke Hand zeigte.

Damit riss sie mir das Bild aus der Hand und ging zum Büro des Direktors. Etwas später brachte mir die Lehrerin eine gute Nachricht: Der Direktor hatte mir erlaubt, meine linke Hand zu gebrauchen!
Es dauerte nicht lange, da bekam ich Freude an der Schule, und schließlich verlor ich auch meinen 
Sprachfehler wieder. Ich fing tatsächlich an, für meine Leistungen anerkannt und nicht nur nach meinem Aussehen beurteilt zu werden.
Als wir älter wurden, bekamen wir vom Waisenhaus die Erlaubnis, lange Spaziergänge zu machen. Jeden Samstagabend ging ich direkt zum Drugstore an der Ecke, um die Saturday Evening Post anzuschauen. Auf der ersten Seite war meistens eine große Zeichnung von Norman Rockwell abgebildet. Ich studierte sie, analysierte sie und beneidete den Künstler. Insgeheim stieg ein großes Verlangen in mir auf. 

Eines Tages werden meine Zeichnungen dort prangen, sagte ich mir. Ich pflegte zu warten, bis es dunkel wurde, um meinen Spaziergang zu machen. Dann ging ich so nahe wie möglich an die Häuser heran und schaute durch die Fenster. Ich sah Kinder auf dem Fußboden zusammen spielen oder Familien zusammen essen. Mütter standen in der Küche und kochten. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das sein würde.
Wenn ich dann ins Waisenhaus zurückkehrte, träumte ich davon, wie es sein würde, draußen zu wohnen, wo niemand mich ausschimpfte und wo ich alles zu essen bekam, was ich wollte. Ich könnte sagen, was ich wollte, und niemand würde mir gebieten, den Mund zu halten. 
Ich könnte jeden Abend saubere Bettwäsche haben und wenn ich wollte, mich zweimal täglich umziehen. 

Manchmal, wenn die Aufseherin schlief, schlüpfte ich aus meinem Bett und tappte auf Fußspitzen den Flur entlang, um mich vor dem langen Spiegel in unserem gemeinsamen Ankleidezimmer aufzubauen. Dann nahm ich meinen Metallkamm, ließ ein paar Tropfen Wasser vom Wasserhahn darauf fallen und machte mir eine andere Frisur. Zuerst machte ich auf der linken Seite einen Scheitel, dann auf der rechten und schließlich in der Mitte. Zuletzt kämmte ich es ganz zurück. Mein krauses schwarzes Haar ließ sich einfach nicht frisieren. 

Die widerspenstigen Locken legten sich immer wieder anders, als ich wollte. Ich beneidete andere Mädchen, die tatsächlich ihre Frisur ändern konnten. Mit meinem schwarzen Wuschelkopf aber konnte ich nichts anfangen. Da diese Versuche sich in keiner Weise positiv auf meine Erscheinung auswirkten, arbeitete ich an meinem Gesichtsausdruck. Ich zwang mich zu einem Lächeln und beobachtete mich genau – Mund offen, Mund zu, Zähne zeigen, Zähne nicht zeigen. Nachdem ich alle Möglichkeiten ausprobiert hatte, stieg ich wieder ins Bett, um mich wieder in den Schlaf zu weinen.

Auf der Suche nach Liebe

Meine Mutter hatte versprochen, dass sie uns im Waisenhaus besuchen würde, und das tat sie – zweimal in sieben Jahren! Bei ihrem ersten Besuch rannte ich instinktiv auf sie zu. »Mutter! Mutter!«, schrie ich und vergaß ganz ihre Anordnung, sie »Laura« zu nennen. Doch sie stieß 
mich beiseite, öffnete eine Einkaufstasche und gab Maria ein Geschenk. Nichts hatte sich geändert.

Das Wort »Vater« bedeutete mir wenig. Meine Erinnerung an meinen Vater war nur schwach und verworren. Wenn andere Kinder von ihren Vätern sprachen, hatte ich nur ein Achselzucken. Doch von den Empfindungen, die ich für Laura hatte, konnte ich mich nicht lösen. Ich 
klammerte mich an die Hoffnung, dass sie mich eines Tages doch noch lieben würde.
In der Weihnachtszeit hoffte ich besonders, dass Mutter uns mit einem Besuch überraschen würde. Weihnachten im Waisenhaus mag Außenstehenden öde vorgekommen sein, doch für mich war es etwas Besonderes. 
Ich hatte noch nie zuvor Weihnachten gefeiert. Jedes Jahr bekamen wir die gleichen Geschenke: dunkelbraune Strümpfe mit Strumpfhaltern, eine Orange oder einen Apfel und einen Lutscher. Ein großer Baum wurde in eine Ecke des Aufenthaltsraums gestellt und mit 
Lichtern und Kugeln geschmückt. Dann wurden Weihnachtslieder gesungen.
Auch ein Weihnachtsspiel wurde aufgeführt. Die Ge­­­­­schichte war genauso vorprogrammiert wie die Geschenke: Ein zerlumptes Mädchen wird vom Weihnachtsmann überrascht, 

1. Auflage 2011 (CLV)
This book was first published in the United States 
by Moody Publishers, 820 N. LaSalle Blvd., Chicago, Illinois, 60610 
with the title Dorie: The Girl Nobody Loved.
© 1979 by The Moody Bible Institute of Chicago. 
Translated by permission.
© der deutschen Ausgabe 
2011 by CLV · Christliche Literatur-Verbreitung
Postfach 11 01 35 · 33661 Bielefeld
CLV im Internet: www.clv.de
(früher erschienen bei Schulte & Gerth, Aßlar)
Übersetzung: Inge Bürklin
Satz: CLV
Umschlag: typtop, Andreas Fett, Meinerzhagen
ISBN 978-3-86699-138-5