Ein bestürzendes Phänomen Nach 40 Jahren seelsorgerlicher Arbeit bin ich entsetzt darüber, welches Ausmaß von Leiden durch Machtmenschen einzelnen Christinnen und Christen und christlichen Gruppen und Gemeinden zugefügt wird. Ich bin zugleich bestürzt darüber, daß in christlichen Kreisen und selbst unter sachkundigen Fachleuten über diese Dinge nicht offen und ehrlich geredet wird. Was sagen christliche Psychiater und Therapeuten? Wie verhalten sich Seelsorger? Was weiß man bei kirchlichen Beratungsstellen? Welche Antworten bekommt man bei der Telefonseelsorge?
So weit ich Einblick habe, scheinen die Opfer von Machtmenschen selten ernst genommen zu werden. Vielfach werden sie - wenn sie es endlich wagen, Hilfe zu suchen - schon beim ersten Anlauf abgewiesen; und ihre Unterdrücker wissen das! Im 2. Korintherbrief erwähnt Paulus „falsche Apostel"; er beschreibt, wie gelähmt die Gemeinde und ihre Leiter im Verhältnis zu diesen Menschen sind: „Ihr nehmt es hin, wenn euch jemand versklavt, ausbeutet, gefangenhält, auf euch herabsieht und euch ins Gesicht schlägt" (2. Kor. 11,20). Genau dies geschieht auch heute mit vielen unserer Brüder und Schwestern in Christus in Familien, christlichen Gruppen und Gemeinden.
Immer wieder habe ich mich gefragt: Müssen sich die Pastoren und „Hirten" der Gemeinde nicht ganz besonders der Opfer dieser Machtmenschen annehmen? Es steht ja geschrieben: „Weidet die Herde Gottes, die euch anvertraut ist, und habt auf sie acht!" (1. Petr. 5,2). Es steht auch geschrieben, daß wir uns der Schwachen annehmen sollen (1. Thess. 5,14) und daß wir, „die wir stark sind, das Unvermögen der Schwachen tragen" sollen (Röm. 15,1). Mir scheint, daß dieses sehr ernste Problem in einem diffusen Nebel liegt. Die Träger von Leitungsverantwortung reagieren an diesem Punkt meist wie gelähmt. Ich vermute, daß die Hirten mitunter genausoviel Angst haben wie die Herde. Sollte das zutreffen, will ich niemandem Vorwürfe machen; denn nichts - außer Satan selbst - ist so angsterregend wie die Situation, die entsteht, wenn irgendwo solche „reißenden Wölfe" (Apg. 20,29) eindringen.
Das Innenleben eines Machtmenschen
Der Einstellung, das Menschenbild und die Haltung des Machtmenschen werden in erster Linie davon bestimmt, daß er auf Macht aus ist. Er kennt nichts Schöneres als zu herrschen. Machtmenschen haben den unbändigen Drang, die Herzen und Gedanken anderer zu lenken. Christliche Gemeinden und Kreise sind Bereiche, wo sie diesem Bedürfnis meist ungehindert nachgehen können.
Machtmenschen sind in der Regel intelligent und gewinnend; ihren ganzen Einfluß und ihre ganze Energie stecken sie in den Machtkampf. Sie suchen von früh bis spät nach Methoden und Argumenten, die ihnen helfen, ihre Position auszubauen.
Sind diese Menschen krank? Ich bin mir nicht ganz sicher. Es ist möglich, daß ihre Seele einem Auto mit verbogenem Rahmen gleicht. Meiner Ansicht nach geht es aber in erster Linie um eine eingefahrene Handlungsorientierung, eine „Kontinuierlichkeit der Sünde" (Kierkegaard). Jakobus 1,14-16 ist von der „Versuchung zur Sünde" die Rede. Da heißt es: „Wer versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. Wenn die Begierde geschwängert ist, gebiert sie die Sünde; wenn aber die Sünde reif ist, gebiert sie den Tod" (Vers 15).
Um welche Art von Sünde geht es bei Machtmenschen? Wenn wir Jakobus 3,16 und 4,1-2 nachlesen, werden dort Neid, Selbstbehauptung und Machtlüsternheit genannt; ihre Folge sind Streit und Unfriede. Hier sind wir am Kern der Sache. Gewisse Menschen sind zur Machtbegierde disponiert, so wie andere Menschen für andere Sünden besonders anfällig sind. Alle Menschen sind solchen Neigungen ausgesetzt. Deswegen steht im 1. Petrusbrief:„Haltet euch frei von selbstsüchtigen Begierden, die gegen die Seele streiten!" (1. Petr. 2,11). Hat jemand eine latente Machtbegierde und gibt er ihr in seiner Phantasie und in seinen Gefühlen Raum, wird die Begierde „geschwängert" und gebiert die Sünde. In diesem Fall bedeutet das, daß sich ein Mensch dem schlimmsten aller Rauschzustände ausliefert: dem Machtrausch. Wer dem Machtrausch fortgesetzt nachgibt, wird nach und nach sein Sklave, „denn von wem jemand überwunden ist, dessen Sklave ist er geworden" (2. Petr. 2,19). So weit ich es als Christ und Seelsorger beurteilen kann, wird ein Mensch gewöhnlich auf diese Weise zum Machtmen-sehen.
Kann solch ein Mensch Christ sein? Ich will mich mit meinem Urteil. zurückhalten, zumal es Menschen gibt, die keine Vollblut-Machtmenschen sind, aber machtlüsterne Tendenzen erkennen lassen. Ihre Lebensführung und ihre Haltung weisen eine Reihe von Zügen auf, die zum Gesamtbild des Machtmenschen passen.
Dennoch ist es sehr ernst zu nehmen, wenn Jakobus den zitierten Worten hinzufügt: „Wenn die Sünde reif ist, gebiert sie den Tod." Das entspricht dem, was 1. Johannes 5,16-17 steht: „Es gibt Sünde, die zum Tode führt... Alles Unrecht ist Sünde; aber es gibt Sünde, die nicht zum Tode führt." 2. Petrus 2,12 ist von Menschen die Rede, die an ihrer eigenen Verdorbenheit zugrunde gehen.
Es kann geschehen, daß sich der Machtmensch so lange dem Machtrausch hingibt, bis dieser die Steuerung seiner gesamten Persönlichkeit übernimmt. Dann besteht die Gefahr, daß es zum geistlichen Tod kommt.
Immer im Mittelpunkt
Machtmenschen müssen immer im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sie lieben Situationen, in denen ihre Umwelt über sie redet. Sie genießen es, wenn die Leute die Köpfe zusammenstecken oder in den Ecken über sie tuscheln. Es macht ihnen wenig aus, ob gut oder schlecht über sie geredet wird, solange sie das allgemeine Interesse auf sich konzentrieren können.
Sobald sich die Situation beruhigt hat und sie aus irgendeinem Grund nicht mehr im Rampenlicht stehen, ärgert sie das. Dann bemühen sie sich, irgend etwas Dramatisches zu tun, damit sich die Lichtkegel auf sie richten und sie wieder in-aller Munde sind. Handelt es sich um einen Gemeindeleiter, kann er zum Beispiel Intrigen und Klatsch inszenieren. Es kann zu einer Fülle von Anschuldigungen kommen. Solch ein Leiter kann sich aus heiterem Himmel mitten in einer Gemeindeversammlung erheben und verkünden, daß er gewissen Leuten die Masken vom Gesicht reißen oder gewisse Mißstände entlarven werde. Er sieht den Splitter im Auge der anderen, aber nicht den Balken im eigenen Auge.
Machtmenschen können aber auch die genau entgegengesetzte Methode verfolgen. Sie können mit einer solchen
„Geistlichkeit" auftreten und sich als große Propheten
und Helden aufspielen, so daß sie bei den Leuten deswegen ins Gerede kommen. Jesus hat etwas über die Phari-
säer gesagt, was - mit zeitbedingten Abwandlungen - auf alle Machtmenschen zutrifft: „Alle ihre Werke tun sie, um von den Leuten gesehen zu werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern-groß. Sie sitzen gern obenan bei Tisch und in den Synagogen und haben es gerne, auf dem Markt gegrüßt und von den Leuten Rabbi genannt zu werden" (Matth. 23, 5-7). Jesus wollte damit nicht sagen, der beste Christ sei der, der am unauffälligsten ist. Aber er unterstrich nachdrücklich, daß das Motiv für die Handlung eines Christen niemals darin bestehen darf, das Interesse auf sich selbst zu ziehen, um anerkannt zu werden.
Als Paulus und Bar-nabas in Lystra als Götter verehrt wurden und die Leute ihnen opfern wollten, erschraken die beiden derart, daß sie - nach damaliger Sitte - ihre Kleider zerrissen, der Menschenmenge entgegenliefen und riefen: „Was macht ihr da? Auch wir sind sterbliche Menschen wie ihr!" (Apg. 14,15). Hauptziel ihres Lebens und Tuns war es, Christus zu verherrlichen und sein Evangelium zu verkündigen. Wir dürfen nie vergessen, daß wir Menschen immer nur „Mondlicht" ausstrahlen können. Das Sonnenlicht kommt von Christus. Ein Machtmensch hätte niemals so reagiert, wie Paulus und Barnabas es getan haben. Er hätte sich statt dessen pudelwohl gefühlt und die Erregung bis zuletzt ausgekostet. Er möchte ja vor allem, daß man ihm dient und sein Wort wie einen göttlichen Befehl befolgt.
Allzeit kampfbereit
Um die Aufmerksamkeit der Leute aufrechtzuerhalten und um sich in immer bessere Machtpositionen hochzuarbeiten, befinden sich Machtmenschen dauernd in Angriffshaltung. Das strengt sie nicht an. Es ist ja ihr Lebenselexier.
Selbstverständlich gibt es auch gesunde Kämpfernaturen. Sie tauchen im Alten und Neuen Testament und in der Kirchengeschichte immer wieder auf. In den Kirchen, Glaubensgemeinschaften und christlichen Institutionen sind Menschen wichtig, die den Mut haben, voranzugehen und etwas durchzusetzen. Es ist auch natürlich, daß solche Naturen auffallen. Wir lesen von ihnen in den Zeitungen, hören von ihnen im Radio und sehen sie im Fernsehen. Manche von ihnen schlagen beim Kampf für die gute Sache und für das, was sie für die rechte Lehre halten, gelegentlich über die Stränge. Manchmal sind ihre Ansichten einseitig und unausgewogen. Sie neigen auch dazu, ihre Gegner ziemlich rücksichtslos zu behandeln. Taktische Schachzüge gehören durchaus zu dem Repertoire von Mitteln, die sie einsetzen, um ihr Ziel zu erreichen.
Dennoch handelt es sich hier um etwas ganz anderes als beim Kampf und bei der Aggressivität der Machtmenschen. Auf, den ersten Blick kann es so aussehen, als ginge es auch ihnen um die „Sache"; aber kratzt man ein bißchen an der Oberfläche- ihrer „Sache" oder „Lehre", merkt man sofort, daß es dem Machtmenschen um ganz andere Dinge geht, als es bei den gesunden Kämpfern
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MITMENSCHEN IN DER GEMEINDE - bestürzendes Phänomen - Innenleben eines Machtmenschen - immer im Mittelpunkt - allzeit kampfbereit - mit Schuldgefühlen operieren - Vernichtung des Selbstwertgefühls - kein Blick für fremde Bedürfnisse - immer gelangweilt - ungereimte Erwartungen - Erfolgsrezept - hierarchische Systeme - willkommen in christlichen Kreisen - Angriff auf die Schwächsten - Machtrausch - der Begriff Machtmensch und seine Gefahr - Besserung: nicht zu erwarten - Enttarnung - Verbindungen kappen - Urteil: Ihr Wert als Menschen - Dienst statt Herrschaft - eigenmächtige Werkzeuge Gottes