M Schriftsteller 

Meldau J. Der Messias in beiden Testamenten

08/31/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Einleitung: „Das erstaunlichste Drama, das sich je dem Sinn des Menschen darstellte - ein in der Prophetie des Alten Testamentes und in der Biographie der vier Evangelien beschriebenes Drama -, ist die Geschichte von Jesus, dem Christus. Eine hervorstechende Tatsache unter vielen läßt ihn als einzigartig dastehen. Es ist diese: nur von einem Menschen in der gesamten Weltgeschichte gibt es ausdrückliche, genau vorhergesagte Einzelheiten über seine Geburt, sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung. 

Diese Ausführungen sind in Dokumenten aufgezeichnet, die der Öffentlichkeit Jahrhunderte vor seinem Erscheinen gegeben wurden. Keiner stellt es in Frage oder kann es in Frage stellen, daß diese Dokumente lange vor seiner Geburt in weitverbreitetem Umlauf waren. Jeder einzelne vermag für sich die tatsächlichen Berichte über sein Leben mit jenen alten Dokumenten zu vergleichen. Er wird feststellen, daß sie genauestens übereinstimmen. Das Herausfordernde an diesem Wunder ist, daß es in der gesamten Weltgeschichte nur mit einem einzigen Menschen so geschah" (D. M. Panton)(1)
.
(1) Zahlreiche andere Bibelkenner machten auf dieselbe erstaunliche Tatsache aufmerksam. Wir zitieren noch einen, Canon Dyson  Hague. Er sagt: „Jahrhunderte bevor Christus geboren wurde, waren seine Geburt und sein Lebenslauf, sein Leiden und seine Herrlichkeit im Umriß und in Einzelheiten alle im Alten Testament beschrieben worden. Wer könnte das Bild eines noch nicht geborenen Menschen zeichnen? Doch nur Gott und Gott allein.
Niemand wußte vor 500 Jahren, daß Shakespeare geboren werden würde; oder vor 250 Jahren, daß Napoleon geboren werden würde. Hier in der Bibel jedoch wird uns das eindrucksvollste
und unverkennbare Ebenbild eines Menschen porträtiert, nicht  von einem, sondern von zwanzig oder fünfundzwanzig Künstlern, von denen keiner jemals den Mann gesehen hatte, den er malte."

Um einmal die Aufmerksamkeit auf dieses literarische Wunder ohnegleichen zu lenken, denken Sie bitte nach: Wer wäre je imstande gewesen, im voraus das Leben von George Washington oder Abraham Lincoln oder irgendeines anderen Menschen niederzuschreiben, fünfhundert Jahre vor ihrer Geburt? 

Nirgends finden wir in irgendeiner Literatur der Welt, ob säkular oder religiös, ein Zweitstück zu diesem erstaunlichen Wunder des im voraus geschriebenen Lebens Christi. „Die Inspirierung zu diesem Porträt kam von der himmlischen Galerie und nicht aus dem Studio eines irdischen Künstlers" (A. T. Pierson). 

Das Wunder des im voraus niedergeschriebenen Lebens Christi und seiner vollkommenen Erfüllung in Jesus von Nazareth ist dermaßen bemerkenswert: „Nichts als göttliche Vorauskenntnis konnte es voraussehen, und nichts als göttliche Allmacht konnte
es vollbringen." Im Hinblick auf die völlige Beweisführung muß jeder nachdenkliche Leser zustimmen: „Es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht; sondern von dem Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Namen Gottes geredet"  (2.Petr. 1,21).


Diese Tatsache deutet auf vier große Wahrheiten hin
Ohne Variationen oder Änderungen zwischen den alttestamentlichen Weissagungen über den kommenden Messias und der neutestamentlichen Erfüllung in Jesus von Nazareth kommt man unwillkürlich zu dem Schluß, daß „die Hand, die das Bild in der Prophetie gezeichnet hat, auch das Porträt in der Geschichte furnierte". Die unausbleibliche Folgerung aus diesem Wunder
ist vierfach:
1. Es beweist, daß die Bibel das inspirierte Wort Gottes ist; denn der auf sich gestellte Mensch ist weder fähig, ein solches literarisches Wunder zu verfassen, noch zu erfüllen.

2. Es beweist, daß der Gott der Bibel, der einzige, der das Ende von Anfang an weiß und der allein die Macht hat, sein gesamtes Wort zu erfüllen, der wahre und lebendige Gott ist.

3. Es zeigt, daß der Gott der Bibel allwissend ist; denn er ist fähig, die Zukunft vorauszusagen, die doch mit zahllosen Menschen zu tun hat, die freihandelnde und moralische Geschöpfe sind. Er ist allmächtig, da er fähig ist, die vollkommene Erfüllung seines Wortes zu bewirken, inmitten weitverbreiteten Unglaubens, Gleichgültigkeit und Auflehnung seitens der Menschen.

4. Es zeigt, daß Jesus von Nazareth, der so vollkommen und gänzlich alle alttestamentlichen Weissagungen erfüllte, in der Tat der Messias ist, der Erretter der Welt, der Sohn des lebendigen Gottes. 

Christus ist der Mittelpunkt der Geschichte 

So sieht man also Christus als Mittelpunkt aller Geschichte sowie als zentrales Thema der Bibel. „Der Christus des Neuen Testaments in die Frucht des Baumes der Prophetie, und das Christentum ist die Verwirklichung eines Planes, dessen erste Umrisse mehr als 1500 Jahre zuvor skizziert wurden(2)
(2) David Baron, »Rays of Messiah's Glory", S. 14.


Erfüllte Prophetie gibt es nur in der Bibel
Die Tatsache erfüllter Prophetie findet sich allein in der Bibel; daher erbringt sie den Beweis göttlicher Inspiration, der positiv, endgültig und überwältigend ist. Kurz gesagt geht es um folgendes Argument: Kein Mensch, ohne die Hilfe göttlicher Eingebung, weiß die Zukunft im voraus; denn sie ist eine undurchdringliche Wand, ein wahrer „Eiserner Vorhang" für die gesamte Menschheit. Allein ein allmächtiger und allwissender Gott vermag die Zukunft unfehlbar vorauszusagen. Wenn man also wahre Prophetie finden kann (wie in der Bibel), mit sicherer Erfüllung, mit genügend Zeit zwischen der Voraussage und der Erfüllung und mit ausdrücklichen Einzelheiten in der Voraussage, um sicherzustellen, daß es sich bei den Prophezeiungen nicht
um schlaue Mutmaßung handelt, dann ist der Fall perfekt und unwiderlegbar. 

Denken Sie daran, 400 Jahre lagen zwischen der letzten messianischen Prophezeiung des Alten Testaments und ihrer Erfüllung im Christus der Evangelien(3)
Viele Prophezeiungen sind natürlich viel älter als 400 v. Chr.


(3) Den vollkommenen Beweis der langen Zeitperiode, die zwischen dem letzten Buch des Alten Testaments und dem ersten Buch des Neuen Testaments verstrich, liefert die Existenz der Septuaginta, einer Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische von ca. 200 v. Chr. Diese Übersetzung wurde während der Regierungszeit des Ptolemäus Philadelphus (ca. 280 v. Chr.) begonnen und nicht lange danach beendet. Mit einer Übersetzung des gesamten Alten Testaments, so wie wir es jetzt kennen, hergestellt vor mehr als 200 Jahren vor Christus, ist es ganz offensichtlich, daß die Bücher des Alten Testaments, von denen ja die Übersetzung gemacht wurde, noch älter sein müssen. Es ist auch zu bedenken, daß es in den 400 Jahren der zwischentestamentlichen Zeit keine Propheten gab. Im l.Makkabäer 9,27 heißt es: „Und war in Israel solche Trübsal und Jammer, desgleichen nicht gewesen ist, seitdem man keine Propheten gehabt hat.* Tiefes Bedauern über den Mangel an Propheten ging über in eine tiefe Sehnsucht nach dem Wiedererscheinen von Propheten, so daß die Menschen sogar in ihrer öffentlichen Tätigkeit dafür Sorge trugen, ihr gesetzgebendes Amt nur so lange als gültig zu erklären, bis wiederum ein treuer Prophet aufkommen würde (s. 1. Makk. 14, 41; 4, 46).

Während der 11OOjährigen Periode, vom Zeitalter Moses (1500 v. Chr.) bis zu Maleadii (400 v. Chr.), gab es eine Folge von Propheten, messianische Weissagungen wurden geformt, und alle von diesen zeugten von dem kommenden Messias.

Diese alttestamentlichen Weissagungen gingen bis ins kleinste und waren so umfangreich, und ihre Erfüllung im Neuen Testament ist so vollkommen, daß DR. A. T.
Pierson sagt: „Es gäbe keinen ehrlichen Ungläubigen in der Welt, wenn messianische Prophetie studiert würde .. . es gäbe auch keine zweifelnden Jünger, wenn diese Tatsache der Weissagung und Erfüllung im vollen Umfang erkannt würde." 

„Und", so fügt er hinzu, „leider ist es eine Tatsache, daß wir noch immer dem ersten ehrlichen Skeptiker oder Kritiker zu begegnen haben, der die in Christus zentrierenden Prophezeiungen sorgfältig studiert hätte" (aus dem Buch „Many Infallible Proofs"). Hier ist wahrhaftig „Gottes Fels der Ewigkeiten, der unerschütterliche Standort des Glaubens".
„Prophetie" ist Gottes eigene Methode zum Beweis seiner Wahrheit Die Lehren der Bibel sind einzigartig und von allen anderen Religionen verschieden. Sie sind so wichtig - indem sie uns sagen, daß das ewige Schicksal des Menschen, zu seinem Wohl oder Wehe, von seiner Annahme
des Christus der Bibel abhängt -, daß wir ein Recht darauf haben zu wissen, ob die Bibel ein himmlischer Ratschluss ist oder nicht, das absolute und endgültige Wort Gottes, ob ihre Botschaft von Gott voll autorisiert ist. 

Wenn Gott in der Bibel eine Offenbarung seines Willens gegeben hat, so wird er unzweifelhaft auf unverkennbare Weise den Menschen zeigen, daß die Bibel wahrhaftig sein offenbarter Wille ist. Die von ihm erwählte Weise, den Menschen zu zeigen, daß die Bibel sein Wort ist, kann von allen Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz verstanden werden. 

Und zwar geschieht es durch das Geben und die Erfüllung deutlicher, detaillierter Prophezeiungen. Es ist das göttliche Siegel, das alle Menschen wissen läßt, daß er gesprochen
hat. Dieses Siegel kann niemals nachgemacht werden.
Es ist der von ihm bescheinigten Wahrheit angeheftet. Denn sein Vorher wissen des Handelns freier und intelligenter Wesen, der Menschen, ist eines der „unbegreiflichsten Attribute der Gottheit und gehört ausschließlich zur göttlichen Vollkommenheit(4)

Die falschen Götter zu Zeiten Jesajas herausfordernd, sagte der wahre Gott: „Bringt eure Sache vor... sagt an, womit ihr euch verteidigen wollt .. . Sie sollen herzutreten und uns verkündigen, was kommen wird . . . damit wir merken, daß es eintrifft! Verkündigt uns, was hernach kommen wird, damit wir erkennen, daß ihr Götter seid!" (Jes. 41,21-23).
Es gibt die falschen Religionen, wie der Islam und Buddhismus, wo man mit angeblichen Wundern ihre Rechtmäßigkeit aufrechtzuerhalten versuchte. Doch weder diese noch irgendwelche anderen Religionen in der Weltgeschichte, außer der Bibel, wagten jemals, Prophezeiungen aufzustellen.
4 „Evidences of Prophecy", Alexander Keith, S. 8.

Es gehört zur einzigartigen „Herrlichkeit" des Allmächtigen, des allwissenden Gottes, der „der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat", ist (Jes. 40, 28). Neues zu verkündigen, „ehe denn es aufgeht" (Jes. 42, 9). Diese Herrlichkeit oder Ehre wird er keinem anderen geben (Jes. 42, 8). Allein der wahre Gott weiß und sagt die Zukunft im voraus. Und
er hat es erwählt, seine Weissagungen in den Seiten der Heiligen Schrift festzuhalten(5)
. Obgleich es viele andere Themen göttlicher Prophetie in der Bibel gibt - wie z. B. die Juden, die Heidenvölker um Israel her, Altertumsstädte, die Gemeinde, die letzten Tage usw. -, kann man die göttliche Vollkommenheit von Vorher wissen und Erfüllung doch besser auf dem Gebiet
der Prophezeiungen über Christus sehen, als in sonst einem anderen Bereich.

(5) Viele haben sich angestrengt, die Zukunft vorauszusagen — nicht einer, außerhalb der Bibel, hat je Erfolg gehabt. »Die extreme Schwierigkeit, eine Prophezeiung aufzustellen, die sich als genau erweisen soll, kann aus dem bekannten, aber ungehobelten Reim ,Mother Shipton's Prophecy' ersehen werden. Vor einigen Jahren erschien er als angebliche Reliquie vergangener Tage und behauptete, die Erfindung der Dampflokomotive, den Aufstieg D'Israelis in der englischen Politik usw. usf. vorausgesagt zu haben . . . Jahrelang versuchte ich, diesen, wie mir schien, gewaltigen Betrug aufzudecken und bloßzustellen, und es gelang mir .. . Ich
konnte die ganze Sache auf einen gewissen Charles Hindley (in England) zurückführen, der zugab, der Verfasser dieses prophetischen Schwindels zu sein, der im Jahre 1862 anstatt 1448 geschrieben worden war und einer leichtgläubigen Öffentlichkeit untergeschoben wurde. Es ist ein erschreckender Beweis menschlicher Verderbtheit, daß dieselben Leute, die nicht davor zurückscheuen, 2000 Jahre alte Prophezeiungen in Verdacht zu bringen, mühelos eine Verfälschung herunterschlucken, die erst nach den von ihr .vorausgesagten* Begebenheiten veröffentlicht wurde, und sich nicht einmal die Mühe geben, ihre Altersangabe nachzuprüfen" (Dr. A. T. Pierson, S. 44 und 45 in „Many Infallible Proofs").

Hier ist die klare Aussage, daß Gott allein und allein in der Bibel wahre Prophezeiungen gegeben hat: „Ich bin Gott, und sonst keiner mehr, ein Gott, dem nichts gleicht. Ich habe von Anfang an verkündigt, was hernach kommen soll, und vorzeiten, was noch nicht geschehen ist. Ich sage: Was ich beschlossen habe, geschieht, und alles, was ich mir vorgenommen habe, das tue ich" (Jes. 46, 9-10).

 (Gottes Berufung darauf, daß er allein Prophetie geben und erfüllen kann, und daß sie allein in der Bibel zu finden ist, wird an vielen Stellen der Bibel wiederholt. Siehe 2. Timotheus 3, 16; 2. Petrus 1, 19-21; 5. Mose 18, 21-22; Jesaja 41,21-23; Jeremia 28,9; Johannes 13,19 etc.) Unter dem Eindruck der gewaltigen Macht dieser Tatsache, sagte Kirchenvater Justin: „Zu erklären, daß etwas geschehen wird, lange bevor es überhaupt existiert, und es dann auch geschehen lassen: dieses oder nichts ist das Werk Gottes."
„Zufällige Erfüllung" von Prophetie ist ausgeschlossen Verzweifelte Atheisten und andere Ungläubige trachteten danach, die Tatsache erfüllter Prophetie und deren Bedeutung zu umgehen. So argumentierten sie, diese Erfüllungen seien „zufällig", „Glücksfälle" oder „Ergebnisse von Nebenumständen". 

Wenn jedoch eine Anzahl Einzelheiten gegeben wurde, so ist eine „zufällige" Erfüllung von Prophetie völlig ausgeschlossen. Ein Autor sagt: „Es liegt auf der Hand, daß eine Voraussage,
die als ein Wagnis gemacht wurde und etwas zum Ausdruck bringt, was sich im allgemeinen sowieso als Resultat ergeben könnte, wie eine echte Prophezeiung scheinen mag. Verlangt man aber von der Prophezeiung mehrere Einzelheiten in Bezug auf Zeit, Ort und Begleitumstände, so ist es offensichtlich, daß die Möglichkeit einer Zufallserfüllung durch .glückliches Zusammentreffen von Geschehnissen' äußerst zweifelhaft wird —,ja, überhaupt unmöglich.

Daher trugen die Prophezeiungen des heidnischen Altertums stets große Sorge, ihre Weissagungen auf eine oder zwei Einzelheiten zu beschränken und diese aufs allgemeinste und zweideutige auszudrücken. Deshalb gibt es im gesamten Bereich der Geschichte, ausgenommen die Prophezeiungen der Schrift, keinen einzigen Fall einer Weissagung,
ausgedrückt in unzweideutiger Sprache, die sich irgendwie auf Genauigkeit festlegen läßt, die auch nur den leichtesten Anspruch auf Erfüllung trägt. .

Nehmen wir an', sagt Dr. Olinthus Gregory, ,daß es nur 50 Prophezeiungen im Alten Testament gäbe (anstatt 333) über das erste Kommen Christi, die uns Einzelheiten über den kommenden Messias geben und die alle auf die Person Jesu zutreffen .. . so wäre die Wahrscheinlichkeit einer Zufallserfüllung - wie sie von Mathematikern gemäß der Wahrscheinlichkeitstheorie kalkuliert wird - geringer als 1:1125 000 000 000 000. Fügen wir nun nur noch zwei Elemente zu diesen 50 Prophezeiungen hinzu, und zwar die Zeit und Ort ihres Geschehens, so übersteigt die gewaltige Unwahrscheinlichkeit eines zufälligen Stattfindens alle.durch Zahlen ausdrückbare
Potenzen (somit auch das Begriffsvermögen des Menschen). Dies ist genug, sollte man meinen, um für immer jede Berufung auf Zufall zum Schweigen zu bringen, die einem Ungläubigen auch nur die geringste Fluchtgelegenheit vom Beweis der Prophetie bietet' (»Gregory's Letters')6
."
6 »Evidences of Prophecy", Alexander Keith, S. 8.

Ferner beachte man, daß viele dieser Prophezeiungen über den Messias von solchem Wesen sind, daß allein Gott sie erfüllen konnte, wie seine Jungfrauengeburt, sein sündloser und heiliger Charakter, seine Auferstehung und Himmelfahrt. Nur Gott konnte Jesus „von einer Jungfrau geboren werden oder von den Toten auferstehen" lassen (David Baron).

Der kommende Messias

Im Alten Testament wird auf bestimmte, klare und fortgesetzte Weise gelehrt, daß der „Messias kommen wird". Dutzendmal lesen wir solche Verheißungen wie „Siehe dein König kommt zu dir" (Sach. 9, 9)j „Gott der Herr! Er kommt" (Jes. 40,10); „Bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht" (Mal. 3, 1); „Einen Propheten .. . wird dir der Herr, dein Gott, erwecken aus dir" (5. Mose 18, 15-19), der des Herrn „Nächster" (Gleichgestellter) ist (Sach. 13, 7). Daniel
weissagte das Kommen des Messiasprinzen, „ein Gesalbter, ein Fürst", zu einer bestimmten Zeit (Dan. 9, 25-26), und Jesaja weissagte vom „Reis aus dem Stamm Isais" (Jes. 11, 1), auf den „der Herr warf unser aller Sünde" (Jes. 53). Propheten und Weise der damaligen Zeit sprachen oft von der Zukunft, wenn „das Ersehnte aller Nationen wird kommen" (Hag. 2,7 / Elb. Obers.).
(Siehe auch Jes. 35, 4; 1. Mose 49,10; 4. Mose 24, 17; Ps. 118,26; Ps. 2,5-6; Jer. 23,5-6; Jes. 62,11; 1. Mose 3,15 etc.).
Christi Kommen ist das Zentralthema der Bibel Das Kommen Christi, verheißen im Alten Testament und erfüllt im Neuen - seine Geburt, sein Wesen, sein Werk, sein Lehren, sein Leiden, sein Tod und seine Auferstehung - ist das große Zentralthema der Bibel.
Christus ist das Band, das die beiden Testamente verbindet. Das Alte Testament ist im Neuen offenbart, das Neue Testament ist im Alten aufbewahrt.
Der Durchschnittsleser der Bibel kann sie verstehen »Der allgemeinste Leser", sagt A. T. Pierson, „vermag die alten, bemerkenswerten Weissagungen über die Person und das Werk des Messias, wie sie im Alten Testament stehen, zu prüfen, den allmählichen Aufbau dieser Offenbarungen vom 1. Mose an bis Maleachi zu verfolgen und die Prophezeiungen ausfindig zu machen, wie sie mehr und mehr in bestimmte und kleinste Einzelheiten gehen, bis schließlich die volle Gestalt des Kommenden hervorsticht. Mit diesem Bild klar und fest vor dem geistigen Auge, vermag er sich dann dem Neuen Testament zuzuwenden, und mit Matthäus
beginnend kann er sehen, wie die geschichtliche Persönlichkeit, Jesu von Nazareth, mit der von den Propheten
dargestellten prophetischen Persönlichkeit in jeder gesonderten Einzelheit übereinstimmt und harmoniert...
Es gibt da keinen Unterschied und keine Abweichung. Dennoch konnte es zwischen den Propheten des Alten Testaments und den Schreibern des Neuen Testaments kein heimliches Verabreden und keinen Kontakt gegeben haben. Man beachte, daß der Leser den Boden der
Bibel nicht verlassen hat. Er hat einfach zwei Porträts verglichen: eines im Alten Testament, von einem geheimnisvollen Kommenden, ein weiteres im Neuen, von einem, der wahrhaftig gekommen ist. Und er kommt unweigerlich zu dem Schluß, daß beide eine absolute Einheit bilden."



Kurze Zusammenfassung der Prophezeiungen Wir wollen kurz einige der hervorstechendsten
Vergleichspunkte alttestamentlidier Voraussagungen und neutestamentlicher Erfüllung betrachten. Das Erlösungswerk sollte von einer Person, der Zentralfigur in beiden Testamenten, vollbracht werden, und zwar von dem verheißenen Messias. Als „Same des Weibes" (1. Mose 3,15) sollte er Satan den Kopf zertreten (Gal. 4,4). Als „Same Abrahams" (1. Mose 22,18 mit Gal. 3, 16) und als „Same Davids" (Ps. 132, 11; Jer. 23, 5 mit Apg. 13, 23) sollte er aus dem Stamme Judas kommen (1. Mose 49,10 mit Hebr. 7,14).
Er mußte zu einer bestimmten Zeit kommen (1. Mose 49, 10; Dan. 9, 24-25 mit Luk. 2, 1), sollte von einer Jungfrau geboren werden (Jes. 7,14 mit Matth. 1, 18-23), zu Bethlehem in Judäa (Micha 5,1 mit Matth. 2, 1; Luk. 2, 5-6). Hohe Persönlichkeiten sollten ihn aufsuchen und anbeten (Ps. 72, 10 mit Matth. 2, 1-11). Aus Wut eines eifersüchtigen Königs würden unschuldige Kinder umgebracht werden (Jer. 31,15 mit Matth. 2,16-18).

Er sollte einen wegbereitenden Vorgänger haben, Johannes den Täufer, ehe er sein öffentliches Dienen begann (Jes. 40, 3; Mal. 3, 1 mit Luk. 1, 17; Matth. 3,1-3). Er sollte ein Prophet sein wie Mose (5. Mose 18, 18 mit Apg. 3, 20-22); sollte eine besondere Salbung des Heiligen Geistes empfangen (Ps. 45, 7; Jes. 11, 2; 61, 1-2 mit Matth. 3, 16; Luk. 4, 15-21. 43). Er sollte ein Priester nach der Weise Melchisedeks sein (Ps. 110, 4 mit Hebr. 5, 5-6). Als „Knecht des Herrn" sollte er ein treuer und geduldiger Erlöser sein, für die Nationen wie auch für die Juden (Jes. 42,1-4 mit Matth. 12, 18-21).

Sein Dienen sollte in Galiläa beginnen (Jes. 9, 1. 2 mit Matth. 4, 12.16-23); später sollte er in Jerusalem einkehren (Sach. 9, 9 mit Matth. 21, 1-5), um Rettung zu bringen. Er sollte zum Tempel kommen (Hag. 2, 7-9; Mal. 3,1 mit Matth. 21,12).
Sein Eifer für den Herrn wird berichtet (Ps. 69, 10 mit Joh. 2, 17). Seine Lehrweise sollte in Gleichnissen sein (Ps. 78, 2 mit Matth. 13, 34-35) und sein Dienst sollte von Wundern geprägt sein (Jes. 35,5-6 mit Matth. 11,4-6; Joh. 11,47). Seine Brüder würden ihn ablehnen
(Ps. 69,9; Jes. 53,3 mit Joh. 1,11; 7,5) und er sollte ein „Stein des Anstoßes" sein für die Juden sowie ein »Fels des Ärgernisses" (Jes. 8, 14 mit Rom. 9, 32; 1 Petr. 2,8).

Ohne Ursache würde er gehaßt werden (Ps. 69, 5; Jes. 49, 7 mit Joh. 7, 48; 15, 25), von den Herrschern abgelehnt (Ps. 118, 22 mit Matth. 21, 42; Joh. 7, 48), von einem Freund verraten (Ps. 41, 10; Ps. 55, 12. 14 mit Joh. 13, 18.21), von seinen Jüngern verlassen (Sach. 13, 7 mit Matth. 26, 31-56), für 30 Silberstücke verkauft (Sach. 11, 12 mit Matth. 26, 15), sein Preis sollte für den Acker des Töpfers gegeben werden (Sach. 11, 13 mit Matth. 27, 7), man würde ihm auf
die Backe schlagen (Mich. 4, 14 mit Matth. 27, 30), ihn anspeien (Jes. 50, 6 mit Matth. 27, 30), ihn verspotten (Ps. 22, 7. 8 mit Matth. 27, 31, 39-44) und schlagen (Jes. 50,6 mit Matth. 26,67; 27,26,30)7
.
7 Es in sehr eindrucksvoll, in parallelen Aussagen die Prophezeiung mit ihrer Erfüllung zu lesen. Vergleichen Sie z.B. Jesaja 50,6 mit der neutestamentlichen Erfüllung: Prophetic: .Ich bot
meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel." Erfüllung: Da spien sie aus in sein Angesicht und schlugen ihn mit Fäusten. Etliche aber schlugen ihn ins Angesicht" (Matth. 26, 67).

Sein Kreuzigungstod wird im 22. Psalm bis ins einzelne beschrieben. Die Bedeutung seines Todes als ein stellvertretendes Sühnopfer wird in Jesaja 53 gegeben. Seine Hände und Füße sollten durchgraben werden (Ps. 22,17; Sach. 12, 10 mit Joh. 19, 18. 37; 20, 25); doch sollte ihm kein Glied gebrochen werden (2. Mose 12, 46; Ps. 34, 21 mit Joh. 19, 33-36). Er sollte Durst leiden
(Ps. 22,16 mit Joh. 19, 28) und Essig zu trinken bekommen (Ps. 69, 22 mit Matth. 27, 34); und er sollte unter die Übeltäter gerechnet werden (Jes. 53, 12 mit Matth. 27,38).

Es war ihm bestimmt, bei seinem Tode mit den Reichen begraben zu sein (Jes. 53, 9 / Elb. Übers, mit Matth. 27, 57-60), ohne jedoch die Verwesung zu sehen (Ps. 16, 10 / Elb. Übers, mit Apg. 2, 31). 
Er sollte von den Toten auferweckt werden (Ps. 2, 7; 16, 10 mit Apg. 13, 33), zur Rechten Gottes auffahren (Ps. 68, 19 mit Luk. 24, 51; Apg. 1, 9; ebenso Ps. 110,1 mit Hebr. 1,3).

Diese flüchtige Skizze alttestamentlicher Prophetie über den Messias mit ihrer neutestamentlichen Erfüllung ist selbstverständlich kaum hinreichend; sie soll nur der Anregung dienen, obgleich wir viele der hauptsächlichen Punkte erwähnt haben. Denken Sie daran, daß es in Wirklichkeit 333 Vorhersagen über den kommenden Messias im Alten Testament gibt(8).

(8) Es ist jedoch von großem Nutzen, wie in einem großen Museum wenigstens einige der prophetischen Meisterstücke zusammenzustellen, die im Bereich der gesamten 39 Bücher des Alten Testaments verstreut sind, so daß der Leser einen Oberblick gewinnt, ohne erst mühsam Hunderte von Seiten der Heiligen Schrift durchblättern zu müssen.

Der gekommene Messias
Christi Zeugnis über die Tatsache, daß er die Erfüllung der Prophetie des Alten Testaments ist
Der goldene Meilenstein in der alten Stadt Rom bezeichnete jenen Punkt in der alten Welt, bei dem sich viele Wege aus allen Richtungen des römischen Reiches trafen und zusammenliefen. Ebenso kommen alle Linien alttestamentlicher messianischer Prophetie in Jesus, dem Christus, im Neuen Testament zusammen.

Das Leben Christi war nicht nur im Alten Testament vorhergeschrieben, sondern Jesus, der Christus des Neuen Testaments, wußte dies und legte volles Zeugnis über diese Tatsache im Neuen Testament ab. Dies ist an sich schon ein Wunder und findet keine Parallele in
der weltlichen Literatur. Keine andere Persönlichkeit der Geschichte - ob Cäsar, Bismarck, Goethe oder sonst wer - dachte je im Traum daran, wie unser Herr von der Bibel oder einem anderen Buch zu sagen: „Suchet in der Schrift... sie ist es, die von mir zeuget" (Joh.
5, 39). Auch hat sich niemals ein falscher Christus auf erfüllte Prophetie zur Rechtfertigung seiner Ansprüche berufen können(9)
.
9 In seinem Buch »Ray of Messiah's Glory", S. 46, macht David Baron darauf aufmerksam, daß' .mehr als vierzig falsche Messiasse in der Geschichte des jüdischen Volkes aufgetreten sind", und nicht einer von ihnen berief sich jemals zur Begründung seiner Ansprüche auf erfüllte Prophetie. Sie versuchten vielmehr, ihre vorgetäuschten Ansprüche künstlich aufrechtzuerhalten, und zwar „durch Racheverheißungen und Schmeicheleien zur Befriedigung
nationaler Eitelkeit. 

Und jetzt ist die Erinnerung an ihre Namen — außer für einige wenige Geschichtsstudenten — von der Erde verschwunden, während Jesus von Nazareth, der wahre Messias, der alle Prophezeiung..

Die Bibelstellen in diesem Buch sind meistenteils dem revidierten Luthertext entnommen; andere sind dementsprechend vermerkt (Elberfelder Übersetzung, Menge). Für den Namen „Jehova" wurde die korrekte
Bezeichnung „Jahve" gewählt (außer beim Zitieren der Elberfelder Übersetzung).
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Meldau, Fred John:
Der Messias in beiden Testamenten / F.J. Meldau. [Dt. Übers.von Hartmut Sünderwald].
Neuhausen-Stuttgart: Hänssler, 1991
(TELOS-Bücher; 7: Telos-Taschenbuch)
Einheitssacht.: The Messiah in both testaments <dt.>
ISBN 3-7751-0073-3
© Copyright 1956 by Fred John Meldau
Erschienen im Verlag The Christian Victory Company,
2909 Umatilla Street, Denver, CO 80211, U.S.A.
Originaltitel: The Messiah in Both Testaments
Deutsche Übersetzung von Hartmut Sünderwald.
THE MESSIAH IN BOTH TESTAMENTS is produced in this
German edition, by special arrangement with Christian Victory
Publishing Company, 2909 Umatilla Street, Denver,
Colorado USA 80211 - ALL RIGHTS RESERVED.
Diese deutsche Ausgabe von DER MESSIAS IN BEIDEN
TESTAMENTEN wurde durch eine Sondervereinbarung mit
The Christian Victory Company, 2909 Umatilla Street, Denver,
Colorado USA 80211 veröffentlicht.
ALLE RECHTE SIND VORBEHALTEN.

Inhalt
Einleitung 7
I. Der Beglaubigungsnachweis des Messias . . 32
II. Prophezeiungen über das Leben und Dienen des Messias 58
III. Prophetische Paradoxe in den Prophezeiungen über Christus 74
IV. Prophezeiungen über das Leiden, Sterben, Auferstehen des Messias 97
V. Prophezeiungen über das Messiasamt Christi. 128
VI. Die Gottheit des Messias in beiden Testamenten 143
VII. Typbilder und indirekte Prophezeiungen über den Messias

Musser Elizabeth, Der Garten meiner Großmutter

07/25/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Prolog

Suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit ...
29. Januar 1983, Nashville, Tennessee
Auf
NBC laufen die Abendnachrichten. Ich bin allein, müde und hungrig von der Arbeit, kaue lustlos auf der kalten Pizza von gestern herum und wünsche mir, es wäre blanquette de veau. Die
Story kommt gegen Ende.
Jessica Savitch steht auf einem Marktplatz und berichtet aufgeregt über den Tumult, der um sie herum herrscht. „Offenbar wurde Klaus Barbie, der berüchtigte Schlächter von Lyon, hier im bolivischen La Paz ausfindig gemacht. Der unter dem Decknamen Klaus Altmann
lebende ehemalige Gestapochef war für Tausende von Hinrichtungen und Deportationen während des Zweiten Weltkriegs verantwortlich. 
Fast vierzig Jahre nach seinem Untertauchen wurde er nun
aufgespürt ...“
Ich versuche mich auf ihren Bericht zu konzentrieren, aber mein Puls rast und ich atme schwer. Ich rutsche näher an die Mattscheibe, erhasche einen Blick auf das Monster und erschauere. Vielleicht ist es bald vorbei. Endlich vorbei, für so viele von ihnen. Für uns. Für mich.


Ohne den Blick vom Fernseher zu wenden, wähle ich die Telefonnummer in Atlanta. „Mama, mach den Fernseher an. Schnell!“
„Wir sehen es, Emile“, flüstert sie.
„Vielleicht bekommen wir jetzt endlich Antworten.“
„Mag sein. Die Zeit wird es zeigen.“
Ich möchte ihr am liebsten entgegnen, dass die Zeit es nicht zeigen wird. In dieser Sache behält sie alle Geheimnisse hartnäckig für sich. Zwanzig Jahre Geheimniskrämerei. Ich höre Grandma Bridgemans Stimme von vor zwanzig Jahren: „Emile, das Leben beantwortet dir nicht jede Frage. Manche Antworten bekommst du nie. Aber wenn du die wichtigste Frage geklärt hast, kannst du damit leben, es aushalten, dass andere unbeantwortet bleiben.“
Natürlich denke ich über ihn nach, aber gleichzeitig denke ich auch an sie. Ob sie in Bolivien ist? Ob sie geholfen hat, den Schlächter zu finden? „Wir sehen uns vielleicht nie wieder, Emile, aber diese eine Sache werde ich für dich tun. Versprochen.“

Ich kann die kalte Pizza jetzt nicht weiteressen oder Klausuren korrigieren oder sonst irgendwas machen. Ich sitze da wie hypnotisiert, obwohl im Fernsehen längst Werbung läuft.
Grandma, ich bin deinem Rat gefolgt. Habe die Sache auf sich beruhen lassen. Jahrelang. Aber sie ist wieder da. Und ich kann sie nicht einfach ignorieren.

Ich springe auf, greife nach meiner Regenjacke und gehe zur Tür, als könnte ich einfach zum Flughafen fahren und das nächste Flugzeug nach Bolivien nehmen. Was soll das? Bin ich jetzt völlig verrückt geworden? Aber irgendwas muss ich tun. Rastlos gehe ich ins Schlafzimmer und krame das dünne Comicbuch hervor. Tim und Struppi, mein Held aus Kindertagen. Ich schlage das Buch wahllos in der Mitte auf, starre auf die verstümmelten Seiten, auf das Loch, das wie ein Messer geformt ist, kneife die Augen zu und sage laut, als würde ich beten: „Lass es vorbei sein. Bitte, lass es endlich vorbei sein!“

Aber es ist nicht vorbei. Am nächsten Abend sind die Gräueltaten von Klaus Barbie wieder Thema der Nachrichten: „Nach einem Anschlag auf Barbies Lieblingsrestaurant ließ er fünf Häftlinge erschießen und stellte ihre Leichen zur Abschreckung öffentlich zur Schau. Als in der Nähe Soldaten der deutschen Luftwaffe überfallen wurden, ließ er einen ganzen Zellenblock öffnen, um einen Ausbruch zu provozieren. Den vierundzwanzig Häftlingen wurde bei
der Flucht in den Rücken geschossen.“

Irgendwie fühlt es sich falsch an, dass die abscheulichen Taten dieses Mannes im Fernsehen thematisiert werden. Als wäre der Schmerz, der meine Familie auseinandergerissen hat, nur ein zwei dimensionales Bild, das kurz auf der Mattscheibe auffackert. Keine Reportage vermag es, die Tiefe der Wunden wiederzugeben. „Als die Niederlage Deutschlands sich abzuzeichnen begann, ließ Barbie ganze Dörfer seine Wut spüren. Hauptsächlich hatte er es auf Lyons Juden abgesehen, die nach der Besetzung von Paris in Scharen aufs Land geflohen waren. Barbies Helfer konfiszierten beim Verhör Schmuck und andere Wertgegenstände. Viele Juden schafften
es noch nicht einmal zur Rampe von Auschwitz, weil Barbie sie ohne Nahrung und Wasser in Viehwagen sperren ließ. Da die Irrfahrt Wochen dauerte, starben sie einen jämmerlichen Tod.

 Die deutschen Soldaten mussten die Leichen mit Gasmasken entsorgen.“
Mir reicht’s. Ich schalte den Fernseher aus und suche mein Tim- und-Struppi-Buch – ein Fluchtmechanismus. Vielleicht bräuchte ich jetzt eine der Spionagegeschichten meines Vaters. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie er in mein Zimmer kommt, das Comicbuch in der Hand, in dem das Messer versteckt ist. Aber so eine Geschichte wird es nicht mehr geben, da bin ich mir sicher.
Es sei denn, ich erzähle sie.
Ich setze mich an meinen Schreibtisch, schlage das Comicbuch auf und fahre mit den Fingern über die Ränder der zerschnittenen Seiten. Dann lege ich ein Blatt Papier in meine alte Smith Corona und drehe an der Walze, bis der weiße Rand erscheint. Wie die Geschichte anfängt, weiß ich, aber nicht, wie sie endet. Also fange ich an zu tippen. Klack, klack, klack schlagen die schwarzen Buchstaben aufs Papier und beschmutzen es mit den Worten:

Der Garten meiner Großmutter.
Teil 1
Pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit ...

Kapitel 1 „Amerika
wird dir gefallen“, hatte meine Mutter schon immer gesagt. „Eines Tages fahren wir dorthin, und es wird dir bestimmt gefallen.“
Meine französische Großmutter, die ich Mamie Madeleine nannte, war nicht so begeistert. „Das ist ein Land ohne Geschichte, stolz und jung, dabei muss es noch so viel lernen. Hüte dich vor Amerika, Emile.“ Aber am Tag, bevor ich mein Heimatland verließ, stand sie da, den Kopf hoch erhoben, mit ihrem stolzen und strengen Blick, den ich so gut kannte, und flüsterte mir mit zugeschnürter Kehle zu: „Alles wird gut, Emile. Sei tapfer.“ Dann gab sie mir auf jede
Wange ein Küsschen und weigerte sich, auch nur eine Träne zu vergießen.

Am nächsten Tag stiegen meine Mutter Janie Bridgeman de Bonnery und ich am Flughafen Orly in die Delta-Maschine. Niemand war da, um uns zu verabschieden. Der Flug dauerte acht Stunden
und ich sagte die ganze Zeit kein Wort, versuchte nicht, den Zorn zu besänftigen, der meine Schläfen zum Pulsieren brachte, und verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, wie meine Mutter sich wohl fühlen mochte.

Sie war erleichtert, da war ich mir sicher. Sie konnte Frankreich endlich hinter sich lassen und aus einer Lebenssituation flüchten, die ihr fünfzehn Jahre lang die Luft abgeschnürt hatte. Aber sie tat
mir kein bisschen leid. Ich kochte innerlich und wusste, wenn ich den Mund aufmachte, würde ich explodieren. Die Landung in Atlanta an jenem späten Septembertag passte perfekt zu den nächsten neun Monaten meines Lebens: holprig – so holprig, dass ich in die Sitztasche vor mir griff, weil ich die Papiertüte brauchte, die darin steckte.

„Emile, du bist ja ganz grün!“, verkündete meine Mutter den ganzen Passagieren um uns herum.
„Iih, ist das eklig“, sagte ein Junge von der anderen Seite des Ganges. Wütend starrte ich meine Mutter an und zischte auf Französisch:
„Das ist deine Schuld! Das ist alles deine Schuld!“
Sie wusste, dass ich nicht nur die volle Papiertüte meinte, sagte aber nichts zu ihrer Verteidigung. Unentwegt drehte sie ein weißes Taschentuch auf ihrem Schoß hin und her, als könne sie die Spannung auswringen, die sich in den letzten Tagen aufgebaut hatte.

Ich wünschte, eine Stimme wäre vom Himmel gekommen und hätte mir mitten in den Turbulenzen zugeflüstert: „Nun wird sich alles ändern, Emile. Nichts wird mehr so sein, wie es war.“
Es waren noch zwei Monate bis zu meinem vierzehnten Geburtstag, als ich mit meiner Mutter von Frankreich in die USA zog. Ich hatte mich das ganze Jahr auf eine Veränderung gefreut, ja sogar
danach gesehnt – größer zu werden, Muskeln zu bekommen, Flaum im Gesicht und unter den Achseln. Aber als wir auf dem Flughafen von Atlanta standen, umgeben von Gepäckbergen, wollte ich sie nicht mehr. Ich wollte wieder in meine alte Welt zurück, die ich kannte und in der ich sicher war. „Himmel noch mal, Emile, jetzt hilf dem Mann mit dem Gepäck!“, sagte meine Mutter entnervt. Ich warf ihr einen bösen Blick zu und begann halbherzig, gemeinsam mit einem Schwarzen in blauer Uniform Koffer und Taschen vom Gepäckband zu ziehen.

Mama half so gut sie konnte. Trotz ihrer Statur und ihrem Auftreten – mit ihrem blassgelben Kostüm und den hochhackigen Schuhen sah sie aus wie aus einer Parfümwerbung – war meine Mutter eine Frau mit starkem Willen. Sie schob die schweren Koffer, die zum Teil halb so groß waren wie sie, vor sich her zu einem Wägelchen, auf dem der Gepäckträger gefährliche Stapel errichtete. Irgendwann
schafften wir es bis hinaus zum Taxistand.

„Das passt auf keinen Fall alles rein, Ma’am“, stellte der Gepäckträger entschieden fest.
Mamas Wangen wurden hellrot und ihre Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. „Dann nehmen wir eben zwei. Bekommen Sie das in zwei Taxis?“
„Ich kann’s versuchen, Ma’am.“ Der Gepäckträger winkte noch ein Taxi herbei. Zu dritt machten sich die Männer daran, die Koffer und Taschen zu verstauen.

Ich stand mit verschränkten Armen daneben und sah zu. Immer wenn meine Mutter besonders verärgert war, bellte sie ihre Befehle jedem entgegen, der zuhörte. Gleichzeitig zupfte sie dann an
ihrer perfekt gestylten blonden Augenbraue herum. An diesem Tag zupfte sie, was das Zeug hielt, und rang zwischendurch die Hände. Ihre Sonnenbrille sah aus wie die von Mrs Kennedy, die man seit der Ermordung ihres Mannes vor einem Jahr im texanischen Dallas gar nicht mehr ohne sah. Mama trug die Sonnenbrille, damit nicht die ganze Welt merkte, dass sie geweint hatte – sich die Augen ausgeheult hatte, um ehrlich zu sein –, obwohl man das trotzdem sehen konnte. Ihre Nase war etwas rosiger als die Wangen und ihre Lippen bebten die ganze Zeit.

Ich stand neben ihr, schwitzte und fragte mich, was um alles in der Welt ich mir da bloß eingehandelt hatte. „Tut mir leid. Ich fürchte, du wirst deinem Frankreich Lebewohl sagen müssen.“ Diese Worte hatte Mamie Madeleine gestern gesagt, mit hoher und erregter Stimme, grimmigem Blick und zugleich feuchten Augen. Ihre Hände hatten gezittert, als ich die Koffer im Innenhof
unseres kleinen Châteaus aus dem dreizehnten Jahrhundert aufeinandergestapelt hatte. Unser Château, das im Laufe der Jahre aufwendig restauriert und von Generation zu Generation weitervererbt worden war.

Mein Vater war verschwunden und wir gingen nach Amerika, meine Mutter und ich. Mama versuchte sich zu rechtfertigen. „Emile, ich halte das nicht mehr aus. Das schaffe ich nicht. Dein Vater ...
dein Vater hat eine andere, und ...“
Es war einfach so passiert. Zwei Tage später saßen wir im Flugzeug, mit dreiunddreißig Taschen und Koffern. Das Gesicht meiner Mutter war vom Weinen und von meinen Wutausbrüchen rot und
geschwollen. „Ich will hier nicht weg! Ich bleibe hier. Papa kommt bald zurück. Er kommt immer zurück. Ich bleibe hier!“

Ich hörte nicht auf. „Man kann nicht von heute auf morgen einfach aus seinem Land vertrieben werden. Ich komme nicht mit! Ich bleibe bei Mamie Madeleine. Geh doch alleine!“ Aber es nützte nichts. Obwohl sie sonst Erzfeinde waren, waren die beiden Bestimmerinnen meines Lebens sich ausnahmsweise einig: Meine Mutter und ich sollten Lyon sofort verlassen.

Bei meinem Vater, Jean-Baptiste de Bonnery, war es schon Tradition, dass er plötzlich für ein, zwei Wochen verschwand. Mama hatte zwar immer irgendeine Geschäftsreise als Ausrede parat, aber ich
glaubte ihr kein Wort. Papa war ein Spion. Er arbeite für die Regierung, sagte er immer, und leite Leute an, die wichtige Entscheidungen träfen. Aber ich hatte genug Detektivgeschichten gelesen um zu wissen, dass das nur Tarnung war.

„Papa ist bei der Spionageabwehr, oder, Mama?“, hatte ich ihr vor sechs Monaten die Pistole auf die Brust gesetzt. „Ich bin kein kleines Kind mehr. Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen.“ Sie hatte mich verwirrt angesehen und dann schnell gelacht. „Emile, wo hast du nur immer diese Ideen her! Hör auf, diese Bücher zu lesen und mach was Vernünftiges, hörst du? Dein Vater ist auf Geschäftsreise und kommt in zehn Tagen wieder.“
Bis vor Kurzem hatte sie immer recht behalten. Der Gepäckträger stopfte Koffer und Taschen in den Kofferraum und auf den Rücksitz.
„Wir hätten auf ihn warten sollen, Mama. Er kommt doch immer wieder. Warum soll es dieses Mal anders sein? Los, sag mir das!“ Ich hätte nicht in diesem Ton mit ihr reden dürfen. Wenn Papa da
gewesen wäre, hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Aber das war es ja gerade. Papa war nicht da, und dieses Mal war es anders. Trotzdem gab ich mich mit Mamas Erklärung nicht zufrieden. Mein ganzes Leben hatte ich ihr geglaubt. Ironischerweise konnte ich es gerade jetzt nicht, wo die Beweislage erdrückend war. Jede Wette, dass sie mehr wusste, als sie sagte.

Aber ich wusste auch mehr, als ich sagte. Ich wusste mehr, als ich irgendwem anvertrauen konnte. Dass es scheinheilig war, mein Geheimnis für mich zu behalten und gleichzeitig zu erwarten, dass sie ihres preisgab, fiel mir nicht auf. Meine Mission lautete, die Wahrheit über meinen Vater herauszubekommen, und für eine noble Sache musste man eben manchmal kleine Unstimmigkeiten in Kauf nehmen. Ich ging zum Taxi, während Mama dem Fahrer einen Umschlag gab, auf dessen Rückseite die Adresse stand. „Wissen Sie, wo das ist? 
Das müsste im Nordteil der Stadt liegen.“ Der schwarze Fahrer legte die Hand an den Hut. „Ja, Ma’am. Ich fahre Sie hin.“

Sie hatte es betont beiläufig gefragt, aber ich merkte, wie erleichtert Mama war. Großmutter war nämlich umgezogen, seit Mama nach Frankreich ausgewandert war.
„Und außerdem möchten wir im Varsity etwas zu Mittag essen“, fügte Mama resolut hinzu. „Kostet das extra, wenn Sie eine Viertelstunde auf dem Parkplatz warten?“
Der Fahrer sah Mama an, als hätte sie ihn um einen Gutschein für den Rückflug gebeten. Aber bevor er etwas erwidern konnte, sagte sie schnell: „Ich gebe auch einen kalten Orangensaft und Pommes
frites aus. Die können Sie beide sich draußen bestellen.“
„Dann sind wir uns einig, Ma’am“, antwortete er lächelnd, sah seinen Kollegen an und zuckte mit den Schultern. Unsere zwei Taxis fuhren auf die Stadtautobahn und allmählich kam die Skyline von Atlanta in Sicht. Sie war ganz anders als die von Lyon, wo sich im Süden die zwei Flüsse trafen, die Hand reichten und gemeinsam weiterreisten. Hier gab es überhaupt kein Wasser, nur vierspurige Autobahnen, moderne Wolkenkratzer und Autos.

Große, dicke Autos.
Meine Mutter schien die gewaltige Stadt nicht zu beeindrucken. „Wir werden erst noch eine Kleinigkeit essen, Emile“, verkündete sie, als der Taxifahrer auf den Restaurantparkplatz fuhr. Das Restaurant war rot und gelb und auf einem großen vertikalen Schild stand The Varsity. In Amerika war es früher Nachmittag, aber für meinen Magen war es Mitternacht, und mir war überhaupt nicht nach Essen zumute.

„Jetzt hupen Sie schon, um Himmels willen“, herrschte Mama den Fahrer an, damit das andere Taxi merkte, wie sie es wild gestikulierend auch auf den Parkplatz lotsen wollte. Wir stiegen aus und
gingen ins Restaurant. „Das hier ist das größte Drive-In-Restaurant der Welt“, erklärte Mama. „Eigentlich konnte man immer nur vom Auto aus bestellen, aber inzwischen geht das auch hier drin.“ Im Restaurant – wenn man es so nennen wollte – war es laut, voll, und stank nach altem Fett. Ich war noch nie in einem Restaurant gewesen, wo man sich für sein Essen anstellen musste, aber Mama tat so, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht. Obwohl ich keinen Hunger hatte, reizte mich das amerikanische Essen.

Eine füllige schwarze Frau mit einem roten The-Varsity-Hütchen aus Papier auf dem Kopf beugte sich über die hohe Theke und sagte: „Sdarfsnsein?“
Ich riss die Augen auf und dachte zuerst, sie spreche eine völlig fremde Sprache. „Verzeihung“, murmelte ich auf Englisch, wurde rot, und sie wiederholte dieselbe unverständliche Frage.
Verzweifelt sah ich Mama an und erwartete, dass sie genauso verwirrt sein würde wie ich. Aber sie lachte zum ersten Mal seit Tagen, sah die Frau freundlich an und sagte: „Sie möchte wissen, was du
essen willst.“
Als ich noch immer keinen Ton herausbrachte, zeigte meine Mutter auf eine Tafel hinter der Theke, auf der das Menü stand. „Es ist anders als in Frankreich, Emile“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Aber du
gewöhnst dich dran.“ Dann bestellte sie für mich. „Ein Hamburger, Zwiebelringe und eine Coca-Cola.“

Sie sagte die Worte betont langsam – als hätte sie schon den leckeren Geschmack auf der Zunge –, was mir zeigte, dass sie trotz ihrer Tränen und bebenden Lippen froh war, wieder in ihrer Heimatstadt
zu sein.
„Ich hab sie überhaupt nicht verstanden“, beschwerte ich mich, als wir auf zwei Barhockern mit schwarzem Vinylbezug Platz genommen hatten.
„Keine Angst. Das dauert eben ein bisschen.“
Das Essen schmeckte anders als alles, was ich kannte. Mein Vater machte sich oft über amerikanisches Essen lustig, aber wenn er auf Reisen war, machte Mama gebratenes Hühnchen oder sonst irgendwas in der Pfanne, damit ich lernte, was man in den Südstaaten aß. Aber das hier war so fettig, dass meine Hände wie nass geschwitzt aussahen, obwohl ich nur ein paar Zwiebelringe angefasst hatte.

Ich knabberte an meinem Hamburger, schluckte einen Zwiebelring unzerkaut hinunter und spülte mit Cola nach. Augenblicklich meldete sich dasselbe flaue Gefühl in meinem Magen wie im Flugzeug.
Also entschuldigte ich mich und folgte dem Zeichen am Ende des Restaurants, auf dem Restrooms stand. Auf der Tür stand fett Whites Only. Das wunderte mich, weil einige der Kellner schwarz
waren.

Als ich wieder an unserem Tisch war, fragte ich: „Wo gehen denn die schwarzen Leute auf Toilette?“

Mama wirkte einen Moment, als hätte sie die Frage aus der Fassung gebracht, dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: „Hier sind die Dinge anders, Emile. Ich erkläre dir das später. Und jetzt
iss auf. Ich will nicht, dass du nachher halb verhungert vor deiner Großmutter stehst.“

Sie musste mir nichts erklären. Es war offensichtlich: In Amerika hielten sich Weiße für etwas Besseres als Schwarze. „Komm, es ist Zeit“, sagte meine Mutter einen kurzen Moment später und wir standen auf und liefen quer durchs Restaurant nach draußen. Die Taxifahrer standen neben ihren Autos, aßen Pommes frites und unterhielten sich. Sie schienen zufrieden zu sein.

Sobald wir den Parkplatz verlassen hatten, fing Mama an, in ihrer Handtasche zu kramen. Sie zog ein kleines Rougekästchen heraus und besah sich im winzigen Spiegel.
„Bist du aufgeregt?“
Sie lachte gequält. „Ja Emile, ich glaube schon. Ich habe deine Oma seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen.“ Und nun war es so weit. Nach fünfzehn Jahren Funkstille stand meine Mutter mit einem dreizehnjährigen Sohn und dreiunddreißig Gepäckstücken bei ihrer Mutter vor der Tür, ohne jede Vorwarnung. Das Haus von Großmutter stand ein gutes Stück von der breiten Allee entfernt auf einem kleinen Hügel und war umgeben von grünem Gras und hohen Bäumen. Durch den Wind sah es aus, als würden mich die Baumwipfel herbeiwinken und willkommen heißen.

Das passte zu Großmutters Haus: Es machte einen gemütlichen und entspannten Eindruck, wie jemand, den man gern näher kennenlernen möchte und der einen zum gemeinsamen Spielen einlädt. Außen war es mit grauen Schindeln bedeckt. Die Häuser in Frankreich waren aus Backsteinen mit Gipsstuck oder aus Feldsteinen aus dem Mittelalter. Auf der linken Seite von Großmutters Haus war ein Anbau, den Mama Veranda nannte. Er sah wie ein fröhlicher,
luftiger Ort aus, ein Zwischending zwischen drinnen und draußen. Unsere beiden Taxis fuhren auf das Grundstück und die Motoren verstummten. Mama bewegte sich kein Stück.

Geschieht ihr ganz recht, dachte ich. Erst als der Fahrer sich umdrehte und sie ansah, seufzte sie und sagte: „Na dann gucken wir mal, ob sie zu Hause ist. Komm, Emile.“ Ich folgte ihr auf dem Plattenweg, der sich von der Einfahrt zum Hauseingang schlängelte. Dort angekommen blieb Mama kurz stehen, zog eine Tür mit Moskitonetz auf, wie ich sie in Frankreich noch nie gesehen hatte, und klopfte an die Tür dahinter. Sie lächelte mich flüchtig an, wischte mit einem Finger unter ihrer Sonnenbrille entlang und wartete.

Die Frau, die die Tür öffnete, war angenehm pummelig – eins von Mamas Wörtern – und hatte hochgesteckte graue Haare. Ich fand sie nicht nur angenehm pummelig, sondern insgesamt angenehm. Sie wischte sich gerade die Hände an ihrer verblichenen Schürze ab und war noch gar nicht richtig bei der Sache, als Mama sagte: „Hallo, Mutter.“
Großmutter schrie leise auf. „Janie! Was um alles in der Welt ...!“
Dann brach sie in Tränen aus und drückte ihre verlorene Tochter an sich.

Für mich sah es so aus, als würde Mama direkt vor der weißen Tür in sich zusammenfallen. Sie ließ sich widerstandslos von ihrer Mutter in den Arm nehmen. Ich hatte damit gerechnet, dass sie stolz und aufrecht bleiben würde, so, wie sie sich immer als Teenager beschrieben hatte, voller Wut auf ihre Mutter. Aber sie stand einfach da und weinte mit der fremden Frau in der Schürze, wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen und achtete nicht im Geringsten darauf, dass ihr Mascara auf dem Taschentuch und ihrem Gesicht schwarze Streifen hinterließ.

Immer wieder sagte sie: „Es tut mir leid, Mutter. Es tut mir so leid. Ich hätte dir viel öfter schreiben sollen. Aber ich habe alle deine Briefe gelesen und aufgehoben. Bitte entschuldige. Und jetzt stehen
wir auch noch plötzlich hier vor deiner Tür.“
Großmutter nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Und du musst Emile sein. Oh Janie. Dein Sohn“, sagte sie ergriffen. „Dein hübsches Kind.“
Meine französische Großmutter war eine Frau, die ich respektierte, aber meine amerikanische Großmutter war eine Frau, die ich lieb haben konnte, das sagte mir mein Buchgefühl sofort. Sie hätte mich auf den Schoß genommen, als ich noch klein war, mir Kekse gebacken und Geschichten vorgelesen. Ich mochte sie vom ersten Augenblick an und mir war klar: Wenn ich den Kulturwechsel überleben würde, dann nur wegen ihr.

Mama schniefte, rieb sich die Augen und klappte die Sonnenbrille
zusammen. „Es gibt so viel zu erklären, Mutter ...“, setzte sie an.
„Das kann warten, Janie. Lass uns erst einmal deine Sachen reinholen.“
„Dann ist es in Ordnung, wenn wir ein paar Tage bei dir bleiben?
Nur, bis wir uns hier zurechtgefunden haben.“
„Natürlich, Janie. Ihr könnt selbstverständlich hierbleiben.“
Bald darauf stand der ganze Flur mit unseren Taschen und Koffern
voll und Mama gab den Taxifahrern ein Bündel Scheine, die ich
als Dollar erkannte.
Wir liefen durch den Flur in ein Zimmer, das Großmutter das
Familienzimmer nannte. Es stand voller abgewohnter, gemütlicher
Möbel, hatte einen Kamin, und das Beste von allem: jede Menge
Bücher, die unsortiert in Regalen standen – Taschenbuchromane
neben antiken, in Leder gebundenen Bänden. Die Bücher füllten
rechts und links vom Kamin die Regale.
„Setzt euch doch“, sagte Großmutter.
Ich konnte sehen, dass ihr tausend Fragen ins Gesicht geschrieben
standen, aber sie stellte keine davon.
„Emile, du hast sicher großen Hunger. Soll ich dir ein Glas Milch
und ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade holen? Genau
das Richtige für einen Jungen, der noch wachsen muss.“
Ich sah Mama unsicher an, aber sie lächelte und zwinkerte mir zu.
„Hört sich gut an, Mutter. Aber du solltest wissen, dass Emile
Erdnussbutter mit Marmelade überhaupt nicht kennt.“
Großmutter sah schockiert aus und tat so, als würde sie die Welt
nicht mehr verstehen. „Tatsächlich? Das gibt’s doch nicht!“
„In Frankreich gibt es keine Erdnussbutter. Die Kinder essen zwischendurch
Baguette mit Schokolade.“
„Ich befürchte, Baguette und Schokolade sind gerade aus“, sagte
Großmutter mit einem Augenzwinkern.
Meine Mundwinkel gingen ganz von selbst nach oben, und obwohl
mein Magen immer noch mit den Zwiebelringen kämpfte,
20
sagte ich: „Macht nichts. Darf ich bitte so ein Sandwich probieren?“
Ich folgte ihr in die Küche und setzte mich an einen kleinen, weißen
Tisch. Bald darauf stand das Sandwich auf einem blauweißen
Teller vor mir. Ich untersuchte es und zog die zwei schlaffen Brothälften
auseinander, um die Füllung zu sehen. Die Erdnussbutter sah
aus wie eine etwas dunklere Gänseleber-Paté, die meine französische
Großmutter jede Woche auf dem Markt kaufte. Sie war beschmiert
mit etwas Tiefviolettem, Glattem, Glänzendem und Glibberigem,
das aus einem Glas kam, auf dem Welch’s Grape Jelly stand. Das war
mir suspekt. In Frankreich machte man aus Trauben Wein. Die Substanz
auf dem Brot sah überhaupt nicht aus wie die Konfitüre und
Marmelade, die Mamie Madeleine aus frischen Früchten und Beeren
aus ihrem Garten machte.
„Die Amerikaner essen industriell verarbeitetes Zeug, Emile. Du weißt
nie, was du dir da in den Mund steckst.“ Mamie Madeleines Warnung
klang mir noch im Ohr, als ich die Hälften wieder zusammenklappte
und vorsichtig abbiss. In Frankreich war es eine Sünde, süß und
salzig zu mischen. Aber in dem Augenblick, als meine Geschmacksknospen
Erdnussbutter mit Marmelade kennenlernten, war ich
plötzlich froh, in Amerika zu sein.
„Kommt, ich zeige euch eure Zimmer“, sagte Großmutter.
Mama und ich folgten ihr die geschwungene Holztreppe hinauf.
Oben war ein breiter Flur, der auf jeder Seite zwei Türen hatte.
„Hier, Emile. Du kannst hier schlafen.“
Ich war verblüfft, dass meine Großmutter einfach so ein Zimmer
bezugsfertig hatte. In Lyon war es immer ein halber Staatsakt, wenn
man des invités hatte, selbst wenn es nur für ein gemeinsames Essen
war. Man brauchte die halbe Woche, um sich darauf vorzubereiten.
Aber hier bot mir meine Großmutter ein komplett fertiges Zimmer
an und meinte nur: „Ich hoffe, du fühlst dich wohl. Entschuldige die
grässliche Tapete.“
Ich fragte mich, ob Großmutter fünfzehn Jahre darauf gewartet
hatte, dass ihre Tochter nach Hause kommt. Vielleicht war das Zimmer
genau für diesen Augenblick eingerichtet worden?
Auf der Tapete waren kleine gelbe Blümchen. Ansonsten hingen
21
eingerahmte Drucke von den großen französischen Malern an der
Wand, die ich in der Schule gehabt hatte – Monet und Pissarro und
Toulouse-Lautrec –, und außerdem Fotos von meiner Mutter als
Kind. Das Bett sah aus, als wäre es für ein Mädchen gemacht: ein
weißes Himmelbett mit Rüschen und gelber Bettwäsche.
„Du kannst deine Sachen hier in die Schränke tun“, sagte meine
Großmutter und deutete auf die Türen links und rechts vom Bett.
Als ich einen meiner Koffer abstellte, fügte sie hinzu: „Und neben
dem Mansardenfenster ist noch eine kleine Abstellfläche. Die kannst
du natürlich auch benutzen.“
„Danke, Madame“, sagte ich, als sie das Zimmer wieder verlassen
wollte.
Sie drehte sich um. „Nenn mich doch einfach Grandma.“
„Danke, Grandma“, wiederholte ich. Das Wort schmeckte gut –
vielleicht sogar noch besser als das Sandwich mit Erdnussbutter und
Marmelade.
Das Mansardenfenster war ein senkrechtes Fenster, das aus der
Dachschräge hervorragte. Das Ergebnis im Inneren war eine kleine
Nische, in der ein schmaler Schreibtisch stand. Ich betrachtete
das Grün vorm Haus durch die Scheibe, die hohen Bäume und
die breite Straße, wo eine junge Frau gerade einen Kinderwagen
vorbeischob.
Plötzlich wurde ich sehr müde und setzte mich aufs Bett. Ich lege
mich nur ganz kurz hin, sagte ich mir und lauschte den Stimmen von
Mama und Grandma, die immer leiser wurden. Aber meine Augen
fielen von ganz allein zu und bevor ich es merkte, träumte ich von einem
alten Château, meiner anderen Großmutter und meinem Vater,
der davonging und mir über die Schulter zurief: „Emile, hüte dich
vor diesen Sandwiches!“
Als ich aufwachte, schien die Spätnachmittagssonne durch das
Mansardenfenster. Es war stickig im Raum. Müde öffnete ich die
Augen, stand auf und ging über den Flur in das Zimmer meiner
Mutter. Ich fand sie in der gleichen Position, in der ich vor wenigen
Augenblicken noch gewesen war: komplett angezogen und schlafend.
Auf Zehenspitzen ging ich zur Treppe und suchte unten im
Gepäckberg, den der Taxifahrer aufgeschichtet hatte, meine restli
22
chen Koffer. Grandma war nirgendwo zu sehen, also schleppte ich
die Gepäckstücke nach oben und beschloss, sie auszupacken.
Sorgfältig nahm ich die sauber zusammengelegten Kleiderstapel
aus dem größten Koffer, bis meine Tim-und-Struppi-Sammlung
zum Vorschein kam. Neun Stück hatte ich, alle mit festem Einband.
Ich tat immer so, als hätte ich viel mit Tim, dem jungen Helden
gemeinsam: klein, mit tausend Ideen im Kopf und jederzeit bereit,
Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Fehlte nur noch ein Hund
wie Tims treuer Begleiter Struppi und alles wäre perfekt.
Ich stellte die Bücher in ein kleines Regal neben dem Fenster.
Dann schloss ich die Tür und machte mich an den zweiten Koffer.
Neben den Anziehsachen wickelte ich vorsichtig meine „Schätze“
aus. Jedes Teil legte ich einzeln aufs Bett. Zuerst kamen die vergilbten
Zeitungen, dann die Dose für Reißzwecken, der Stift und die
Luftpumpe. Als Nächstes nahm ich die kleine Ölkanne, die hölzerne
Haarbürste und das letzte Comicbuch aus dem Koffer.
Ich untersuchte das gelbe Zimmer nach einem guten Ort, wo ich
all das verstecken konnte. Mama durfte nicht wissen, dass ich meine
Sammlung mitgebracht hatte. Sie hatte sowieso etwas dagegen.
W
Papa und ich saßen gerade auf meinem Bett, als Mama hereinkam
und mir die Ölkanne wegnahm.
„Ich dachte, wir seien uns einig gewesen, dass der Junge keine
solchen Geschenke mehr zum Geburtstag kriegt! Bist du verrückt,
Jean-Baptiste? Ich will nicht, dass Emile mit diesen Dingen spielt.
Du wirst aus ihm nicht einen dieser Revoluzzer machen!“
„Janie, bitte. Er ist ein Junge. Jungs brauchen ein bisschen Abenteuer.“
„Er ist neun. Neun Jahre, hast du gehört? Er ist noch ein Kind.
Ich will nicht, dass du ihn mit deinen Schauergeschichten aus dem
Krieg beeinflusst. Das verbiete ich!“
Mit großen Augen sah ich zu, wie sie hitzig miteinander stritten,
mein Vater auf Französisch, meine Mutter wie immer unter Tränen
und mit bebenden Lippen auf Englisch. Ich war wütend auf sie, dass
sie einen der wenigen Momente, die mein Vater und ich nur für
23
uns hatten, stören musste. Irgendwann schaffte er es, sie zu beruhigen
und ihr zu versichern, dass er ihren liebsten Sohn schon nicht
verderben würde, aber sogar ich konnte die Herablassung und die
Belustigung in seiner Stimme hören.
Von da an versteckte ich die Ölkanne und die anderen seltsamen
Geburtstagsgeschenke, die Papa mir seit meinem fünften Geburtstag
jährlich machte, vor Mama. Ich glaube, sie hat sie nie gefunden
und erst recht nicht die Geschichten dazu gehört, die Papa mir
heimlich erzählte.
W
Ich ging zum Mansardenfenster, bückte mich und zog an einem
kleinen Messingknopf. Eine kleine Tür in der Wand ging auf und
gab den Blick in einen Stauraum frei, der offensichtlich über die
ganze Hausfront reichte und im Schlafzimmer auf der anderen Seite
des Flurs endete. Ich nahm jedes Teil einzeln, legte es vorsichtig in
einen kleinen leeren Koffer und trug diesen waagerecht zum Fenster.
Dort schob ich ihn in den Stauraum und war beruhigt, dass es meine
größten Schätze bis nach Amerika geschafft hatten und hier gut
versteckt waren. Mama wusste nichts davon, aber ich war mir sicher,
dass diese kleine Sammlung uns zu meinem Vater führen würde.
Aus meiner Hosentasche zog ich eine Armbanduhr. Es war ein
billiges, altes Zeiteisen, das aber trotzdem noch tickte. Ich drehte sie
auf die Rückseite, umklammerte sie einen Moment und ließ sie dann
traurig aufs Bett plumpsen. Er konnte es mir noch nicht mal erklären.
Nur drei Tage zuvor war Papa abends in mein Zimmer gekommen,
hatte mir die Haare verwuschelt und gesagt: „Alles Gute zum
Geburtstag, mon grand.“
„Aber ich habe doch erst in zwei Monaten Geburtstag, Papa.“
Er hatte mich mit seinen braunen Augen angesehen und seine
dicken schwarzen Haare waren ihm in die Stirn gefallen. Sein Blick
hatte etwas Gequältes gehabt. „Ja, ich weiß“, flüsterte er und holte
eine kleine Schachtel aus seiner Anzugtasche. „Dieses Jahr sind wir
früh dran.“
Ich riss begeistert und gespannt das Geschenkpapier auf. In der
Schachtel lag eine einfache Uhr mit einem Lederarmband.
24
„Danke, Papa. Danke.“
„Sie funktioniert, Emile. Verkündet immer noch treu die Zeit wie
damals 1943.“
„Und darf ich sie behalten?“
„Natürlich. Du darfst sie dir auch ummachen.“ Er zwang sich zu
einem Lächeln.
Ich wartete gespannt auf die Geschichte. Jedes Jahr, wenn Papa
mir mein „echtes“ Geschenk gab, von dem ich schon wochenlang
geträumt hatte, weihte er mich in einen neuen Teil seiner traurigen
Vergangenheit ein.
Ich weiß nicht, warum es ihm guttat, mir diese schrecklichen Geschichten
vom Krieg zu erzählen, aber an diesen Abenden war er
anders. Er durchlebte seine Vergangenheit wie ein Teenager, der aufgeregt
und stolz vor seinen Freunden angibt.
An diesem Abend sagte Papa lange nichts. Er spielte am Armband
herum und streichelte mir über die Wange. Seine Lippen waren nur
noch ein einziger Strich und der Schmerz in seinen Augen war wieder
da.
Ich drehte die Uhr hin und her und versuchte den Mut aufzubringen,
ihn danach zu fragen. Plötzlich klopfte es. Reflexartig drückte
ich Papa die Uhr wieder in die Hand, und er ließ sie in seiner Tasche
verschwinden.
„Jean-Baptiste“, sagte meine Mutter durch die leicht geöffnete
Tür. „Tut mir leid, dass ich euch unterbrechen muss, aber da ist ein
Anruf für dich ...“
„Sag, ich rufe zurück.“
Ich seufzte erleichtert. Meine besondere Zeit mit Papa war wichtiger
als der Anruf.
Aber meine Mutter ging nicht weg. Sie kam an mein Bett und
flüsterte: „Liebling, ich glaube, es ist wichtig. Da ist ein Mann, der
sagt, er heiße Rémi und es gehe um eine Lieferung ...“
Noch bevor meine Mutter den Satz beenden konnte, war Papa auf
den Beinen. „Janie, sag ihm, dass ich auf dem Weg bin.“
Alles, was ich herausbrachte, war: „Aber Papa!“
Er schloss die Tür, kniete sich vor mein Bett und ich konnte sehen,
wie leid es ihm tat.
„Erzählst du mir gar nicht die Geschichte?“
25
„Heute nicht, mein Großer.“ Seine Stimme war belegt, als würde
er gleich anfangen zu weinen.
In mir löste seine emotionale Reaktion Stolz und Angst zugleich
aus.
Dann tat er etwas, was er noch nie getan hatte. Er zog mich zu sich
heran und umarmte mich mit seinen kräftigen Armen. „Emile, ich
muss wieder los.“
„Aber du bist doch gerade erst wiedergekommen.“
„Ich weiß, aber ich muss wieder los.“
„Wann denn?“
„Morgen früh, bevor du wach wirst.“
„Na gut. Dann erzählst du mir die Geschichte, wenn du wieder
da bist.“
„Ja.“ Seine Stimme klang gepresst, als würde er ersticken. „Du bist
fast vierzehn, Emile. Fast schon ein Mann. Pass gut auf deine Mutter
auf, solange ich weg bin, hörst du?“
„Na klar, Papa.“
Er drückte mich noch einmal an sich, küsste mich auf den Kopf und ging.
Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass er mir die Uhr nicht wiedergegeben
hatte.
Ich musste eingeschlafen sein, denn plötzlich wurde ich von gedämpften
Geräuschen geweckt. Ich hörte jemanden weinen und jemanden
wütend schimpfen. Draußen war es stockdunkel. Ich stieg
aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Das Zimmer meiner Eltern war am andern Ende des Flurs. Meine Mutter weinte und mein Vater schimpfte. „Janie, jetzt beruhige dich! Das ist besser für uns alle. Lass dich doch nicht so gehen.
Bitte.“
Es ging immer so weiter, aber ich konnte nichts mehr verstehen.
Schließlich krabbelte ich zurück ins Bett und schlief ein. Am Morgen
war mein Vater fort.
Ich ging zur Schule und war froh, dass heute ein Schulausflug
nach Vieux Lyon ins Museum und zu den römischen Ruinen anstand.
Die Sonne schien, es war ein perfekter Herbsttag und ich und
meine Freunde alberten herum und neckten die Mädchen. In den
Straßencafés saßen überall Leute.
26
Als wir an einem Café vorbeiliefen, blieb ich plötzlich wie angewurzelt
stehen. Keine zehn Meter vor mir saß mein Vater. Ich
erkannte sein Profil sofort. Er trug denselben Anzug wie am Abend
zuvor, aber der besorgte Gesichtsausdruck war wie weggeblasen. Er
lächelte, beugte sich vor und genoss es offensichtlich, mit einer jungen
Frau zu reden, die ihm gegenübersaß. Seine Hand lag auf ihrer.
Sein Verhalten hatte etwas Schreckliches und etwas Intimes an sich.
So hatte ich meinen Vater schon lange nicht mehr gesehen: sorgenfrei
und glücklich. Ich fühlte mich, als würde ich fallen und
dachte, ich müsste mich jeden Moment übergeben. Mein Körper
gehorchte mir nicht. Ich wollte zu ihm gehen, ihn wenigstens begrüßen,
aber die Angst lähmte mich.
Einen kurzen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Großes Erstaunen
blitzte in seinen Augen auf, aber nur einen Augenblick später
war nur noch einstudierte Gleichgültigkeit zu sehen, als ob ich
nicht existierte, als ob er mich noch nie zuvor gesehen hatte. Dieser
kalkulierte Blick schrie mir Verschwinde! Verschwinde! entgegen und
ich rannte meinen Freunden hinterher.
Ich wusste genau, was eine Geliebte war. Frankreichs Geschichte
war voll mit pikanten Geschichten davon. Alle Könige hatten welche.
Aber ich konnte nicht begreifen, dass mein Vater auch eine Geliebte
hatte und dass ich ihn gerade mit ihr erwischt hatte.
Ich spürte den stechenden Schmerz, den Verrat mit sich bringt.
Gestern Abend hatte er mich noch fest umarmt und liebevoll angesehen,
und heute dieser gleichgültige, desinteressierte Blick.
Trotzdem war ich mir sicher, dass er am Abend in mein Zimmer
kommen und mir alles erklären würde. Er war nicht auf Geschäftsreise
gegangen, sondern hatte eine alte Freundin getroffen, nur eine
Freundin, und sie waren gemeinsam essen gegangen. Er würde es
mir erklären, ganz bestimmt.
Aber mein Vater kam nicht. Am nächsten Tag packte meine Mutter
unsere Sachen und einen Tag später standen wir schon auf dem
Bahnhof in Lyon und waren auf dem Weg nach Paris und anschließend
nach Amerika.
Mamie Madeleine stand mit geröteten Augen und angespanntem
Gesicht auf dem Bahnsteig, gab mir noch einmal Küsschen auf die
Wangen und steckte mir eine kleine Schachtel zu. „Das ist für dich.“

Als der Zug in Richtung Paris durch die Landschaft flog, öffnete ich sie und entdeckte darin die Uhr meines Vaters. Und nun lag ich auf dem Bett, hielt die Uhr in der Hand und weinte bittere Tränen. Man musste kein Hellseher sein um zu wissen, warum wir in Amerika waren. Das konnte man sich an drei Fingern abzählen. Mein Vater hatte eine Geliebte, meine Mutter hatte das herausgefunden und hielt es nicht aus. Oder sie wusste schon länger von der Affäre und hatte nun endgültig genug. Arme Mama. Sie hätte mir leidtun sollen, aber ich wollte nur wieder
zurück nach Lyon, meinen Vater ausfindig machen, seine spannende Geschichte vom Krieg hören und herausfinden, warum er mir seine Armbanduhr zwei Monate zu früh geschenkt hatte.

Verlag:     Francke Buchhandlung GmbH
Jahr:     2014
Einband:     Taschenbuch
Seitenzahl:     480
Format:     20,5x13,5cm
Autor/in: Elizabeth Musser
Titel: Der Garten meiner Großmutter
ISBN: 9783868273908
Format: 20,5 x 13,5 cm
Seiten: 448
Gewicht: 525 g

Mackintosh C.H. Der große Auftrag,

12/02/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

DER GROSSE AUFTRAG 

„Er sprach aber zu ihnen: Dies sind die Worte, die ich zu euch redete, als ich noch bei euch war, daß alles erfüllt werden muß, was von mir geschrieben steht in dem Gesetz Moses und den Propheten und Psalmen. Dann öffnete er ihnen das Verständnis, um die Schriften zu verstehen und sprach zu ihnen: Also steht geschrieben und also mußte der Christus leiden und am dritten Tage auferstehen aus den Toten, und in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden gepredigt werden allen Nationen, anfangend von Jerusalem. Ihr aber seid Zeugen hiervon; und siehe, ich sende die Verheißung meines Vaters auf euch. Ihr aber bleibet in der Stadt, bis ihr an» getan werdet mit Kraft aus der Höhe. Lukas 24, 44—49. 

Diese inhaltsreichen Worte der Heiligen Schrift stellen den großen Auftrag vor uns hin, den der auferstandene Herr Seinen Jüngern anvertraute, als Er im Begriff war, in den Himmel aufzufahren, nach der glorreichen Vollendung Seines ganzen gesegneten Werks auf Erden. Es ist fürwahr ein ganz wunderbarer Auftrag und er eröffnet uns ein sehr weites Feld von Wahrheiten, das wir mit viel geistlicher Freude und Nutzen durchgehen können. Ob wir den Auftrag selbst erwägen, seine Grundlage, seine Autorität, seine Kraft oder seinen Bereich, wir finden ihn voll der kostbarsten Belehrung. Möge der Heilige Geist unsere Gedanken leiten, während wir zuerst den Auftrag selbst betrachten. 


 
Erster Teil 
Die Apostel unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi waren im besonderen beauftragt, „Buße und Vergebung der Sünden" zu predigen. Laßt uns alle daran uns erinnern. Wir sind geneigt, es zu vergessen, zum großen Schaden von uns selbst und der Seelen unserer Zuhörer. Vielfach wird der erste Teil des Auftrags übersehen, es mag sein aus Eifer, den zweiten zur Ausführung zu bringen. Dies ist ein sehr ernster Mißgriff. Wir mögen versichert bleiben, daß es unsere wahre Weisheit ist, streng an dem Wortlaut festzuhalten, in dem unser teurer Herr jenen Auftrag seinen ersten Herolden Übermächte. Wir können nicht einen einzigen Punkt, geschweige denn einen Hauptteil des Auftrags weglassen ohne schweren Verlust nach jeder Richtung. Unser Herr ist unendlich weiser und gnädiger als wir, und wir brauchen uns nicht zu fürchten, mit aller möglichen Fülle zu predigen, was Er Seinen Aposteln zu predigen befahl, nämlich „Buße und Vergebung der Sünden". 

Nun ist die Frage: ist es unser aller Sorge, diese so wichtige Verbindung zwischen Buße und Vergebung der Sünden aufrechtzuerhalten? Legen wir genügendes Gewicht auf den ersten Teil des großen Auftrags? Predigen wir „Buße"? Wir untersuchen jetzt nicht, was Buße ist; wir werden es tun, so Gott will. Aber, was sie auch sei, predigen wir sie? Daß unser Herr die Apostel Buße predigen hieß, ist klar; und nicht nur dies, sondern Er Selbst predigte sie, wie wir in Mark. l lesen: „Nachdem aber Johannes überliefert war, kam Jesus nach Galiläa, predigte die gute Botschaft des Reiches Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Tut Buße und glaubet dem Evangelium". Laßt uns sorgfältig auf diese Urkunde merken! Mögen besonders alle Prediger es tun. Unser göttlicher Meister rief Sünder zur Buße und zum Glauben an die frohe Botschaft. 

Einige möchten uns bewegen, zu glauben, daß es ein Fehler sei, Leute, die tot in Sünden und Übertretungen sind, zu irgend etwas aufzufordern. Wie, lautet ihr Beweis, können jene, die tot sind, Buße tun? Sie sind unfähig zu irgend einer geistlichen Regung. Sie müssen vorher die Kraft bekommen, bevor sie entweder Buße tun oder glauben können. Für dieses alles haben wir nur eine fürwahr sehr einfache Erwiderung. Unser Herr weiß besser als alle Theologen in der Welt, was gepredigt werden soll. Er weiß alles, bezüglich der Lage des Menschen, seiner Schuld, seines Elends, seines geistlichen Todes, seiner gänzlichen Hilflosigkeit, seiner völligen Unfähigkeit für einen einzigen richtigen Gedanken, ein einziges richtiges Wort, eine einzige richtige Haltung; und dennoch rief Er Menschen zur Buße. 

Dies genügt vollkommen für uns. Es ist nicht unsere Sache, zu versuchen, wie wir scheinbare Widersprüche ausgleichen können. Es mag uns schwierig erscheinen, die gänzliche Kraftlosigkeit des Menschen mit seiner Verantwortlichkeit in Einklang zu bringen; aber Gott ist sein eigener Ausleger und Er wird es klar machen. Es ist unser glückliches Vorrecht und unsere unumgängliche Pflicht, zu glauben, was Er sagt, und zu tun, was Er uns aufträgt. Dies ist wahre Weisheit und dies bewahrt festen Frieden. 
Unser Herr predigte Buße und Er befahl Seinen Aposteln, sie zu predigen. Sie taten es auch beständig. Hören wir Petrus am Tage der Pfingsten: „Aber Petrus sprach zu ihnen: Tut Buße und ein jeder von euch werde getauft auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfangen" (Apg. 2, 38). Und wieder, in Kap. 3 19: „So tut nun Buße und bekehret euch, daß eure Sünden ausgetilgt werden, damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des Herrn". Hören wir auch Paulus auf dem Areopag in Athen: „Nachdem nun Gott die Zeiten der Unwissenheit übersehen hat, gebietet er jetzt den Menschen, daß sie alle allenthalben Buße tun sollen, weil er einen Tag gesetzt hat, an welchem er den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat allen den Beweis davon gegeben, indem er ihn auferweckt hat aus den Toten" (Apg. 17, 30f). So sagt er auch in seiner ergreifenden Ansprache an die Ältesten von Ephesus: „Ich habe nichts zurückgehalten von dem, was nützlich ist" — treuer Diener — „daß ich es euch nicht verkündigt und euch gelehrt hätte, öffentlich und in den Häusern, bezeugend sowohl Juden als Griechen die B u ß e zu G o 11 und den Glauben an unseren Herrn Jesum Christum" (Apg. 20, 21 f). 

Und wieder in seiner Rede vor dem König Agrippa: „Daher, König Agrippa, war ich nicht ungehorsam dem himmlischen Gesicht, sondern verkündigte denen in Damaskus zuerst und Jerusalem und in der ganzen Landschaft von Judäa und den Nationen, Buße zu tun und sich zu Gott zu bekehren, indem sie der Buße würdige Werke vollbrächten" (Apg 26, 19 f). Nun, angesichts dieser Sammlung von Beweisen, mit dem so voll und klar vor uns liegenden Beispiel unseres Herrn und Seiner Apostel, dürfen wir da nicht ganz berechtigterweise untersuchen, ob nicht ein ernster Mangel in vielen unserer heutigen Predigten sei? Predigen wir Buße wie wir sollten? Räumen wir ihr den Platz ein, den sie in der Predigt unseres Herrn und Seiner ersten Herolde hat? Eitelkeit und Torheit oder noch Schlechteres ist die Behauptung, es sei gesetzlich, Buße zu predigen, die Behauptung, es verdunkle den Glanz der frohen Botschaft von der Gnade Gottes, wenn man Menschen, die tot sind in Sünden und Übertretungen, auffordere, Buße und der Buße würdige Werke zu tun. 

War Paulus gesetzlich in seiner Predigt? Predigte er nicht ein klares, volles, reiches und göttliches Evangelium? Haben wir Paulus überholt? Predigen wir ein klareres Evangelium als er? Wie ganz abgeschmackt, sagt man, ist der Begriff Buße. Wohl, aber Paulus predigte Buße. Er sagte seinen Zuhörern, daß Gott jetzt allen Menschen überall befiehlt, Buße zu tun. Schmälert dies das Evangelium der Gnade Gottes? Nimmt es ihm etwas von seiner himmlischen Fülle und Frische? Ebensogut könntet ihr einem Landmann sagen, daß er die Qualität seines Korns verschlechtere, wenn er den Boden vor der Aussaat pflüge. Ohne Zweifel ist es von der äußersten Wichtigkeit, das Evangelium der Gnade Gottes oder, wenn ihr wollt, das Evangelium der Herrlichkeit in all seiner Fülle, Klarheit und Macht zu predigen. Wir sollen die unausforschlichen Reichtümer Christi verkündigen, den ganzen Ratschluß Gottes auseinandersetzen, die Gerechtigkeit Gottes und Sein Heil anbieten, und das ohne Begrenzung, Bedingung oder Hindernis irgend welcher Art, sollen die gute Botschaft jedem Geschöpf unter dem Himmel verkünden und mit der größten Entschiedenheit auf diesem allem bestehen. 

Aber zu gleicher Zeit müssen wir eifersüchtig an dem Wortlaut des „großen Auftrags" festhalten. Wir können nicht ein Haar breit davon abgehen ohne ernste Gefahr für unser Zeugnis und für die Seelen unserer Zuhörer. Lassen wir es an der Predigt der Buße fehlen, so „halten wir etwas Nützliches zurück". Was würden wir zu einem Landmann sagen, wenn wir sähen, daß er sein kostbares Saatkorn längs der befahrenen Heerstraße ausstreute? Wir würden ihn sicher als unnormal bezeichnen. Die Pflugschar muß erst ihr Werk tun. Der Boden muß aufgebrochen werden, bevor die Saat gesät wird. Und wir können versichert sein, daß wie im Reich der Natur die Pflugschar dem Säen vorangehen muß, so auch im Reich der Gnade der Grund für die Saat gehörig bereitet werden muß, sonst wird die Arbeit sich als ganz verfehlt erweisen. 

Predigen wir das Evangelium wie Gott es uns gegeben hat in Seinem Wort, schneiden wir ihm keine seiner inneren Herrlichkeiten weg, lassen wir's hervorfließen wie es kommt auf der tiefen Quelle des Herzens Gottes, die erschlossen wurde durch das vollendete Werk Christi, in der Autorität des Heiligen Geistes. All diesem stimmen wir nicht nur vollständig zu, sondern dringen unbedingt darauf. Aber zu gleicher Zeit dürfen wir nicht vergessen, daß unser Herr und Meister die Menschen aufforderte, Buße zu tun und dem Evangelium zu glauben; daß Er Seinen heiligen Aposteln streng einschärfte, Buße zu predigen, und daß der reich begnadete Apostel Paulus, das Haupt der Apostel, der tiefgehendste Lehrer, den die Kirche je kannte, Buße predigte und die Menschen überall aufforderte, Buße und der Buße würdige Werke zu tun.

 Und hier mag es gut sein zu untersuchen, was diese Buße ist, die einen so hervorragenden Platz in dem „großen Auftrag" einnimmt und in der Predigt unseres Herrn und Seiner Apostel. Wenn sie, was gewiß der Fall ist, eine bleibende und allgemeine Notwendigkeit für die Menschen ist, wenn Gott allen Menschen überall befiehlt, Buße zu tun, wenn Buße unzertrennlich verbunden ist mit Vergebung der Sünden; wie nötig ist es dann, daß wir ihr wahres Wesen zu verstehen suchen. Was ist denn Buße? Möge der Heilige Geist selbst uns durch das Wort Gottes unterweisen! 

Er allein kann es. Wir alle sind fähig, in unseren Gedanken über diesen höchst wichtigen Gegenstand zu irren, und einige haben geirrt. Wir sind in Gefahr, während wir Irrtum auf der einen Seite zu vermeiden suchen, in Irrtum auf der anderen zu fallen. Wir sind arme, schwache, unwissende, irrende Geschöpfe, deren einzige Sicherheit darin besteht, daß wir beständig zu den Füßen unseres hochgelobten Herrn Jesu sitzen. Er allein kann uns lehren, was Buße ist, ebensogut wie was sie nicht ist. Wir sind ganz gewiß, daß es dem Feind der Seelen und der Wahrheit gelungen ist, der Buße einen falschen Platz in den Bekenntnissen und öffentlichen Lehren der Christenheit zu geben, und weil wir von dem allen überzeugt sind, ist es für uns umso nötiger, uns eng den lebendigen Lehren der Heiligen Schrift anzuschließen.

Wir fürchten nicht, daß der Heilige Geist uns irgend einen toten Begriff von Buße gebe. Er sagt uns nicht in vielen Worten, was Buße ist. Aber je mehr wir das Wort Gottes in Beziehung auf diese Frage untersuchen, umso tiefer fühlen wir uns überzeugt, daß wahre Buße das feierliche Gericht über uns selbst, unseren Zustand und unsere Wege in der Gegenwart Gottes in sich schließt; und ferner, daß dieses Gericht nicht ein vorübergehendes Gefühl ist, sondern ein bleibender Zustand — nicht eine gewisse durchzumachende Übung, um gleichsam ein Anrecht auf Sündenvergebung zu bekommen, sondern der eigentliche und abgeklärte Zustand der Seele, der Ernst verleiht. Würde, Zartheit, Gebrochenheit und tiefe Niedriggesinntheit (Demut), die unseren ganzen Wandel beherrschen und ihm zu Grunde liegen soll. Wir fragen ernstlich, ob diese Auffassung des Gegenstandes genugsam verstanden wird. Möge der Leser uns nicht mißverstehen. Wir möchten keinen Augenblick behaupten, daß die Seele immer unter dem Gefühl unvergebener Sünden gebeugt sein sollte. Bei weitem nicht! Wir denken, man wird finden, daß unsere Lehre in den Spalten unserer Schriften gerade vom Gegenteil zeugt. 

Aber wir fürchten sehr, daß einige, indem sie in der Frage der Buße der Gesetzlichkeit aus dem Wege gingen, in Leichtfertigkeit verfallen sind. Dies ist ein ernster Irrtum. Wir dürfen überzeugt sein, daß das Heilmittel weit schlimmer als die Krankheit ist. Gott sei Dank: wir haben Sein eigenes, unfehlbares Heilmittel für Leichtfertigkeit einerseits und Gesetzlichkeit andererseits. Wahrheit, die auf Buße dringt, ist das Heilmittel für Leichtfertigkeit; Gnade, die Vergebung der Sünden verkündet, ist das Heilmittel für Gesetzlichkeit. Und glauben wir nur, je tiefer unsere Buße ist, umso voller wird unsere Freude über die Vergebung sein. Wir neigen zu dem Urteil, daß ein trauriger Mangel an Tiefe und Ernst in vielen unserer modernen Predigten da ist. 

Indem wir ängstlich besorgt sind, das Evangelium recht einfach darzustellen und die Errettung nicht zu erschweren, lassen wir es vielfach daran fehlen, an die Gewissen der Zuhörer den heiligen Ruf der Wahrheit dringen zu lassen. Wenn ein Prediger heutzutage seine Zuhörer aufforderte, Buße zu tun und sich zu Gott zu bekehren und der Buße würdige Werke zu tun, so würde er in gewissen Kreisen als gesetzlich bezeichnet, unwissend, nicht auf der Höhe stehend u. dergl. Und doch war es dies gerade, was Paulus tat, wie er selbst uns erzählt. Will einer unserer heutigen Evangelisten so kühn sein zu sagen, daß Paulus ein gesetzlicher oder ein unwissender Prediger war? Wir denken nicht. Paulus brachte das volle, klare, kostbare Evangelium Gottes, das Evangelium der Gnade und das Evangelium der Herrlichkeit.

Er predigte das Reich Gottes (Apg. 20, 25), er entfaltete das glorreiche Geheimnis der Kirche, ja dies Geheimnis war in besonderer Weise ihm anvertraut. Aber mögen alle Prediger sich erinnern, daß Paulus Buße verkündete. Er forderte Sünder zum Selbstgericht auf, zur Buße in Staub und Asche, und das billig und recht. Er selbst hatte die wahre Art von Buße gelernt. Er hatte nicht bloß einmal bei Gelegenheit sich selbst gerichtet, sondern er lebte in dem Geist des Selbstgerichts. Dies war der Zustand seiner Seele, die Stellung seines Herzens, und dies gab seiner Predigt Tiefe, Festigkeit, Ernst und Feierlichkeit, wovon wir modernen Prediger nur wenig wissen. Er blieb sein ganzes Leben lang ein Mensch, der sich selbst verurteilte. Schmälerte dies seinen Genuß der Gnade Gottes, oder der Köstlichkeit Christ? Im Gegenteil, es verlieh diesem Genuß Tiefe und nachhaltige Kraft. 

Alles dieses erfordert unsere ernste Aufmerksamkeit. Wir fürchten sehr die oberflächliche Art vieler unserer heutigen Predigten. Es scheint uns oft, als ob das Evangelium ganz verächtlich gemacht und der Mensch zu dem Gedanken gebracht würde, als ob er Gott einen großen Gefallen erweise, wenn er die Errettung aus Seinen Händen annehme. Feierlich müssen wir gegen solche Predigt protestieren. Sie entehrt Gott und erniedrigt das Evangelium, und, wie man nicht anders erwarten kann, ist die sittliche Wirkung solcher Predigt bei denen, die bekehrt zu sein bekennen, sehr beklagenswert. Sie führt Leichtfertigkeit ein, Nachsicht gegen sich selbst. Weltlichkeit, Eitelkeit und Torheit. 

Die Sünde wird nicht gefühlt als die schreckliche Sache, die sie in den Augen Gottes ist. Das Ich wird nicht gerichtet, die Welt wird nicht aufgegeben. Das Evangelium in solcher Weise zu verkünden, heißt die Errettung dem Fleische leicht machen, das Schrecklichste, was wir uns denken können, schrecklich in seiner Wirkung auf die Seele und in seinen Resultaten im Leben. Gottes Urteil über das Fleisch und die Welt erhält keinen Platz in der Predigt, die wir im Auge haben. Den Leuten wird eine Errettung angeboten, die das Ich und die Welt praktisch ungerichtet läßt, und die Folge davon ist, daß diejenigen, die durch dieses Evangelium bekehrt zu sein bekennen, eine Leichtfertigkeit und Unbotmäßigkeit an den Tag legen, die für Leute von ernster Frömmigkeit wahrhaft zum Anstoß sind.

Man wird vielleicht sagen, daß diese traurigen Resultate, von denen wir sprechen, dem Umstand zuzuschreiben sind, daß die himmlische Seite des Evangeliums weggelassen wird, daß ein verherrlichter Christus, ein volles Evangelium der Auferstehung nicht verkündet wird, daß mehr der Mensch und seine Bedürfnisse in den Vordergrund gestellt werden als Gott und Seine Herrlichkeit, daß Christus eher in unsere Umstände herabgebracht wird, als daß wir hinauf in Gottes Gegenwart gebracht werden, in Gemeinschaft mit einem auferstandenen und verherrlichten Christus. Wohl, es mag zum guten Teil daran liegen, und wir sind ganz geneigt, allem, was über diese Seite der Frage gesagt werden mag, einen weiten Platz einzuräumen. Aber wir müssen wieder auf die wichtige Tatsache zurückkommen, daß der gesegnete Apostel Paulus, der ganz gewiß das Evangelium in seiner ganzen Fülle und in all seiner Macht predigte, auf Buße drang. Dies kann nicht beiseite gesetzt werden.

 Der Mensch muß seinen wahren Platz vor Gott einnehmen, und dies geschieht durch das Selbstgericht, in Herzenszerknirschung, wahrem Kummer über die Sünde, und in aufrichtigem Bekenntnis. Hier ist es, wo das Evangelium ihm begegnet. Die Fülle Gottes wartet immer auf ein leeres Gefäß, und eine wahrhaft reuige Seele ist das leere Gefäß, in das die ganze Fülle der Gnade Gottes fließen kann in errettender Macht. Der Heilige Geist will den Sünder seine wirkliche Lage fühlen und eingestehen lassen. Er allein kann es tun, aber Er gebraucht zu diesem Zweck die Predigt. Er bringt das Wort Gottes, um es dem Gewissen des Menschen nahezulegen. Das Wort ist Sein Hammer, womit Er den Felsen in Stücke zerschlägt. Seine Pflugschar, womit Er den Erdboden aufbricht. 

Es zieht die Furche für die Aufnahme des unverweslichen Samens, damit er keime und Frucht bringe zur Herrlichkeit Gottes. Es ist wahr, daß die Furche, wie tief sie immer sein mag, keine Frucht bringen kann. Das tut der Same und nicht die Furche, aber die Furche muß da sein für dieses alles. Es liegt — brauchen wir es zu sagen? — nicht irgend etwas Verdienstliches in der Buße des Sünders. Sie so zu betrachten, könnte nur als maßlose Frechheit betrachtet werden. Buße ist kein gutes Werk, wodurch der Sünder die Gunst Gottes verdient. Jede solche Ansicht der Sache ist unheilbringend und falsch. Wahre Buße ist, wenn wir unser gänzliches Verderben und unsere Schuld entdecken und herzlich bekennen. 

Wenn ich erkenne, daß mein ganzes Leben eine Lüge gewesen ist, und daß ich selbst ein Lügner bin. Dies ist ein ernstes Werk. Da findet sich keine Geschwätzigkeit oder Leichtfertigkeit, wenn eine Seele dahin gebracht wird. Eine reuige Seele in der Gegenwart Gottes ist eine feierliche Wirklichkeit, und wir können nicht umhin, das Gefühl zu haben, daß, wenn wir mehr durch den Wortlaut des „großen Auftrags" uns leiten ließen, wir feierlicher, ernstlicher und beständiger, die Menschen auffordern würden, Buße zu tun und sich zu Gott zu bekehren und der Buße würdige Werke zu tun. Wir würden Buße predigen, ebensowohl wie Vergebung der Sünden. 
 
Zweiter Teil 
Während wir mit dem vorliegenden Gegenstand beschäftigt sind, richten sich unsere Gedanken im besonderen auf die Art und Weise, in der in jenen unnachahmlichen Gleichnissen von Lukas 15 die Buße dargestellt ist. Dort lernen wir in rührender und überzeugender Weise nicht nur die bleibende und allgemeine Notwendigkeit wahrer Buße, sondern auch, daß sie dem Herzen Gottes angenehm ist. Unser Herr in Seiner wunderbaren Antwort an die Schriftgelehrten und Pharisäer erklärt, „daß Freude im Himmel ist über einen Sünder, der Buße tut" (Vers 7). Und wieder: „Also sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut" (Vers 10). 

Es ist nicht alles, zu sehen, daß dem Menschen Buße obliegt; etwas anderes und viel höheres ist es, zu sehen, daß Gott Wohlgefallen daran hat. „Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit wohnt, und dessen Name der Heilige ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum, und bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes .ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen" (Jes. 57, 15). Ein zerbrochenes Herz, ein betrübter Geist, eine reuige Gesinnung erfreuen Gott. Laßt uns diese Tatsache erwägen. Die Schriftgelehrten und Pharisäer murrten, weil Jesus Sünder aufnahm. Wie wenig verstanden sie Ihn. Wie wenig wußten sie von dem Gegenstand, der Ihn in diese finstere und sündenvolle Welt herab brachte. Wie wenig kannten sie sich selbst. Es war das „Verlorene", das Jesus zu suchen kam.
 
Aber Schriftgelehrte und Pharisäer hielten sich selbst nicht für verloren. Sie hielten sich für ganz gerecht. Sie wünschten keinen Heiland. Sie waren ungebrochen, unbußfertig, selbstvertrauend, und daher hatten sie nie Freude im Himmel hervorgebracht. Alle Gelehrsamkeit der Schriftgelehrten und alle Gerechtigkeit der Pharisäer konnte nicht ein einziges Zeichen von Freude in der Gegenwart der Engel Gottes hervorrufen. Sie waren wie der ältere Sohn im Gleichnis, der sagte: „Siehe, so viele Jahre diene ich dir, und niemals habe ich ein Gebot von dir übertreten; und mir hast du niemals ein Böcklein gegeben, auf daß ich mit meinen Freunden fröhlich wäre". Hier haben wir ein wahres Bild von einem ungebrochenen Herzen und einem unbußfertigen Geist, einen Menschen, der völlig mit sich selbst zufrieden ist. Elender Mensch! Er hatte nie eine Saite in dem Herzen des Vaters berührt, nie Seine Liebe hervorgelockt, nie Seine Umarmung gefühlt, nie Sein Willkommen empfangen. 

Wie konnte er es auch? Er hatte sich nie verloren gefühlt. Er war erfüllt von sich selbst und deshalb hatte er keinen Raum für die Liebe des Vaters. Er fühlte nicht, daß er etwas schuldig wäre, und daher hatte er nichts, was ihm vergeben werden mußte. Es schien ihm eher, daß der Vater sein Schuldner sei. „Siehe, so viele Jahre diene ich dir, und mir hast du niemals ein Böcklein gegeben". Er hatte seinen Lohn nicht empfangen. Welche erschreckende Torheit! und doch ist es ganz das gleiche mit jeder unbußfertigen Seele, mit jedem, der auf seine eigene Gerechtigkeit baut. Er macht in der Tat Gott zu seinem Schuldner: „Ich habe dir gedient aber ich habe nie erhalten, was ich verdiente". Armseliger Begriff! Der Mensch, der selbstgefällig von seinen Pflichten spricht, von seinem Tun, seinem Reden, seinem Geben, höhnt in Wahrheit Gott. Aber andererseits: der Mensch, der mit einem gebrochenen Herzen, einem betrübten Geist kommt, reuig, sich selbst verurteilend, dies ist der Mensch, der das Herz Gottes erfreut.
 
Und warum? einfach darum, weil ein solcher fühlt, daß er Gott nötig hat. Hier liegt das große geistliche Geheimnis der ganzen. Sache. Dies begreifen, heißt die volle Wahrheit von der großen Frage der Buße erfassen. Ein Gott der Liebe wünscht Seinen Weg zum Herzen des Sünders zu nehmen, aber da ist kein Raum für Ihn, so lange das Herz hart und unbußfertig ist. Aber wenn der Sünder dahin gebracht wird, daß er mit sich selbst am Ende ist, wenn er sich selbst als ein hilfloses und hoffnungsloses Wrack vorkommt, wenn er die gänzliche Leere, Hohlheit und Eitelkeit aller irdischen Dinge sieht, wenn er gleich dem verlorenen Sohn zu sich selbst kommt und tiefe und wirkliche Bedürfnisse in seiner Seele erwacht sind: dann ist Raum in seinem Herzen für Gott, und — wunderbare Wahrheit — Gott hat Seine Freude daran, zu kommen und es zu füllen: „Auf diesen will ich blikken,, (Jes. 66, 2). 

Auf wen? Auf den, der seine Pflicht tut, das Gesetz hält, sein Bestes tut, seiner Erkenntnis gemäß lebt? Nein, sondern „auf den, der zerschlagenen Geistes ist". Man wird vielleicht sagen, daß die eben angeführten Worte sich auf Israel beziehen. In erster Linie wohl; aber dem Grundsatz nach lassen sie sich auf jedes zerschlagene Herz auf Erden anwenden. Auch kann nicht gesagt werden, daß Lukas 15 sich speziell auf Israel bezieht. Es bezieht sich auf alle. „Es ist Freude im Himmel vor den Engeln Gottes über einen Sünder", der — was? Seine Pflicht tut? Nein, er sagt das ebenfalls nicht. 

Der glaubt? Ohne Zweifel ist Glauben in jedem Fall nötig; aber hier ist der bemerkenswerte, alles Interesse erheischende Punkt, daß ein wahrhaft reuiger Sünder Freude im Himmel bereitet. Es mag jemand sagen: Ich fürchte, ich glaube nicht. Wohl, aber tust du Buße? Sind deine Augen geöffnet worden, deine wahre Lage vor Gott zu sehen? Hast du deinen wahren Platz vor Gott als gänzlich verloren eingenommen? Wenn ja, so bist du einer von jenen, über die Freude im Himmel ist. Was machte dem Hirten Freude? Wären es die neunundneunzig, die nicht weggelaufen waren? Nein, sondern, daß er das verlorene Schaf wiederfand. Was machte dem Weibe Freude? Waren es die neun sicher in ihrem Besitz geblichenen Geldstücke?
 
Nein, sondern, daß sie das eine verlorene Stück wiederfand. Was machte dem Vater Freude? Etwa der Dienst und der Gehorsam des älteren Sohnes? Nein, sondern daß er den verlorenen Sohn wiederfand. Ein reuiger, im Herzen zerschlagener, heimkehrender Sünder erweckt Freude im Himmel. „Lasset uns essen und fröhlich sein". Warum? Weil der ältere Sohn auf dem Felde arbeitete und seine Pflicht tat? Nein, sondern: dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden.

 Alles dies ist vollkommen wunderbar, und zwar so sehr, daß, wenn wir es nicht von den Lippen Dessen hätten, der die Wahrheit ist, und es nicht geschrieben stände auf den Blättern des ewigen, göttlich eingegebenen Wortes, wir es nicht glauben könnten. Aber gepriesen sei Gott! Dort steht es, und niemand kann es bestreiten. Dort glänzt die herrliche Wahrheit, daß ein armer, unwürdiger, im Herzen zerschlagener und reuiger Sünder, der sich selbst zu Grunde gerichtet und die Hölle verdient hat, das Herz Gottes erfreut. Die Leute mögen darüber, daß man das Gesetz halten und seine Pflicht erfüllen müsse, sagen was sie wollen.
 
Es mag gelten was es wert ist; aber ich erinnere daran, daß es weder einen Lehrsatz gibt im Buch des Wortes Gottes noch je ein Ausspruch von den Lippen unseres Herrn Jesu kam, der lautet: Es ist Freude im Himmel über einen Sünder, der seine Pflicht tut. Die Pflicht eines Sünders! Was ist sie? „Gott befiehlt allen Menschen überall „Buße zu tun". Was kann in der Tat unsere Pflicht bestimmen? Gewiß der göttliche Befehl. Gut, hier ist er, und da gibt es kein Darüberhinauskommen. Gottes Gebot an alle Menschen, an jedem Ort ist, Buße zu tun. Sein Gebot verpflichtet, seine Güte leitet. Sein Gericht ermahnt sie dazu; und Höchstes und Wunderbarstes von allem: Er versichert uns in Seinem Wort, daß unsere Buße Seinem Herzen Freude macht. 

Ein reuiger Sünder ist ein Gegenstand tiefsten Interesses für das Herz Gottes, weil ein solcher zubereitet ist, das anzunehmen, was zu schenken Gott Sich freut, nämlich Vergebung der Sünden, ja all die Fülle göttlicher Liebe. Ein Mensch könnte Millionen spenden in Sachen der Religion und der Menschenliebe und selbst nicht die geringste Freude im Himmel erwecken. Was sind Millionen für Gott? Eine Träne der Reue ist Ihm kostbarer als aller Reichtum der ganzen Welt. 

Alle Opfer eines ungebrochenen Herzens sind ein tatsächlicher Hohn auf Gott; 
aber ein Seufzer aus den Tiefen eines zerbrochenen Geistes dringt zu Seinem Thron und zu Seinem Herzen. Kein Mensch kann Gott auf dem Boden der Pflicht begegnen; aber Gott kann jedem Menschen, dem vornehmsten aller Sünder sogar, auf dem Boden der Buße begegnen, denn dies ist des Menschen wahrer Platz, und wir dürfen mit voller Zuversicht sagen, daß, wenn der Sünder, wie er ist, mit Gott, so wie Er ist, zusammentrifft, die ganze Frage ein für allemal geordnet ist. „Ich sagte: Ich will Jehova meine Übertretungen bekennen, und du, du hast vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünde" (Psalm 32, 5).
 
Im Augenblick, wo der Mensch seinen wahren Platz einnimmt, den Platz der Buße, begegnet ihm Gott mit einer vollen Vergebung, einer göttlichen und ewigen Gerechtigkeit. Es ist Seine Freude, so zu handeln. Es befriedigt Sein Herz und verherrlicht Seinen Namen, einer reuigen Seele, die einfach an Jesum glaubt, zu vergeben, sie zu rechtfertigen und anzunehmen. Im demselben Augenblick, wo der Prophet ausrief: „Wehe mir, denn ich bin verloren" — flog einer der Seraphim mit einer glühenden Kohle vom Altar zu ihm herzu, berührte damit seinen Mund und sprach: „Siehe, dieses hat deine Lippen berührt, und so ist deine Ungerechtigkeit gewichen und deine Sünde gesühnt" (Jesaja 6,7). So ist es immer. 

Die Fülle Gottes wartet immer auf ein leeres Gefäß. Wenn ich erfüllt bin von mir selbst, voll von meiner eigenen eingebildeten Güte, meiner eigenen Ehrbarkeit, meiner eigenen Gerechtigkeit, habe ich keinen Raum für Gott, keinen Raum für Christum. „Er hat Hungrige mit Gütern erfüllt und Reiche leer fortgeschickt" (Lukas l, 5). Eine Seele, die von sich selbst entleert ist, kann mit der Fülle Gottes gefüllt werden; aber wenn Gott einen Menschen leer wegschickt, wohin kann er gehen, um sich füllen zu lassen? Alle Schrift, von dem l. Buch Moses bis zur Offenbarung, beweist den tiefen Segen ebenso wie die Notwendigkeit der Buße. 

Dies ist der große Wendepunkt in der Geschichte der Seele, eine große, geistige Epoche, die ihren Einfluß auf das ganze nachherige Leben eines Menschen ausübt. Es ist nicht, wir wiederholen es, eine vorübergehende Übung, sondern ein bleibender innerer Zustand. Wir sprechen jetzt nicht davon, wie Buße bewirkt wird; sondern davon, was sie ist gemäß der Schrift, und von ihrer unbedingten Notwendigkeit für jeden Menschen unter dem Himmel. Dies ist der wahre Platz des Sünders, und wenn er ihn durch Gnade einnimmt, so trifft er mit der Vollkommenheit der Errettung Gottes zusammen. Und hier sehen wir den lieblichen Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des „großen Auftrags", nämlich zwischen „Buße" und „Vergebung der Sünden". Sie sind unzertrennlich miteinander verbunden.
 
Nicht als ob selbst tiefe und echte Buße etwa einen verdienstlichen Grund für Vergebung der Sünden bilde. So zu reden und zu denken hieße die Versöhnung unseres Herrn Jesu Christi beiseite setzen, denn in dieser und in dieser allein haben wir den göttlichen Grund, auf dem Gott uns rechtmäßig unsere Sünden vergeben kann. Dies werden wir völliger sehen, wenn wir zur Betrachtung der Grundlage des großen Auftrages kommen werden. Wir sind jetzt mit dem Auftrag selbst beschäftigt und in ihm sehen wir diese beiden göttlich festgesetzten Dinge: Buße und Vergebung der Sünden. 

Die heiligen Apostel unseres Herrn und Heilandes wurden beauftragt, unter allen Nationen vor den Ohren der ganzen Schöpfung unter dem Himmel Buße und Vergebung der Sünden zu verkünden. Jedem Menschen, sei er Jude oder Heide, wird von Gott unbedingt befohlen, Buße zu tun, und jede reuige Seele hat das Vorrecht, auf der Stelle die volle und ewige Vergebung der Sünden zu empfangen. Und wir können hinzufügen: je tiefer und bleibender das Werk der Büße sein wird, umso tiefer und bleibender wird die Freude über die Vergebung der Sünden sein. Die zerschlagene Seele lebt in der wahren Atmosphäre göttlicher Vergebung, und so wie sie diese Atmosphäre einatmet, schreckt sie, mit immer wachsendem Abscheu, von der Sünde in jeder Gestalt und Form zurück. 

Wenden wir uns wieder zur Apostelgeschichte und sehen wir, wie die Gesandten Christi den zweiten Teil jenes gesegneten Auftrags ausführten. Hören wir, wie der Apostel der Beschneidung sich am Tage der Pfingsten an die Juden richtet. Wir müssen darauf verzichten, seine ganze wundervolle Anrede anzuführen, und geben nur die wenigen Worte des Schlusses: „Das ganze Haus Israel wisse denn zuverlässig, daß Gott ihn sowohl zum Herrn als auch zum Christus gemacht hat, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt" (Apg. 2, 36). Hier belastet der Prediger die Gewissen seiner Zuhörer mit der hochernsten Tatsache, daß sie mit Gott Selbst bezüglich Seines Gesalbten in Widerstreit gekommen waren.
 
Nicht bloß hatten sie das Gesetz gebrochen, die Propheten verworfen, das Zeugnis Johannes des Täufers zurückgewiesen, sondern sie hatten in der Tat den Herrn der Herrlichkeit, den Sohn Gottes, gekreuzigt. Welche erschütternde Tatsache! „Als sie aber das hörten, drang es ihnen durchs Herz, und sie sprachen zu Petrus und den anderen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder? Petrus aber sprach zu ihnen: Tut Buße, und ein jeglicher von euch werde getauft auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfangen" (Apg. 2, 36-38). Hier sind die beiden Teile des großen Auftrags in ihrer ganzen Deutlichkeit und Macht ans Licht gestellt. 

Das Volk wird belastet mit der schrecklichsten Sünde. die begangen werden konnte, nämlich dem Mord an dem Sohne Gottes; sie werden zur Buße aufgefordert und der vollen Vergebung der Sünden sowie der Gabe des Heiligen Geistes versichert. Welche wunderbare Gnade leuchtet in allem diesem hervor! Die Menschen, die den Sohn Gottes verspottet und verhöhnt, verspien und gekreuzigt hatten, eben diese, wenn sie wahrhaft bußfertig waren, wurden der vollständigen Vergebung aller ihrer Sünden und der Hauptsünde unter diesen allen versichert. So ist die wunderbare Gnade Gottes, so ist die mächtige Wirkung des Blutes Christi, so das klare, autoritätsvolle Zeugnis des Heiligen Geistes in den herrlichen Worten des „großen Auftrags". Gehen wir weiter zu Apg. 3. 

Hier fügt der Prediger, nachdem er seinen Zuhörern dieselbe furchtbare Tat der Gottlosigkeit, Feindschaft und Empörung gegen Gott in der Verwerfung und Ermordung Seines Sohnes zur Last gelegt hat, die bemerkenswerten Worte hinzu: „Und jetzt, Brüder, ich weiß, daß ihr in Unwissenheit gehandelt habt, gleichwie auch eure Obersten. Gott aber hat also erfüllt, was er zuvor verkündigt hat durch den Mund aller Propheten, daß sein Christus leiden sollte.
 
So tut nun Buße und bekehret euch, daß eure Sünden ausgetilgt werden". Es ist nicht möglich, etwas Höheres oder Größeres auszudenken als die Gnade, die hier hervorstrahlt. Es ist ein Teil der göttlichen Antwort auf das Gebet Christi am Kreuze: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun". Dies ist wahrhaft königliche Gnade, siegreiche Gnade, Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht. Es war unmöglich, daß ein solches Gebet zur Erde fallen konnte. Es wurde zum Teil erhört am Tage der Pfingsten. 

Es wird in Vollkommenheit erhört werden an einem künftigen Tage. Denn „ganz Israel wird errettet werden; es wird aus Zion der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden" (Jes. 59, 20; Rom. 11, 26) Aber merken wir besonders die Worte: „Gott aber hat also erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten zuvor verkündigt hat" (Apg. 3, 18). Hier bringt der Prediger den Anteil Gottes an der Sache herein, und dieser ist Errettung. Sehen wir nur auf den Anteil des Menschen am Kreuz, so erblicken wir nichts als ewige Verdammnis; den Anteil Gottes zu sehen und in ihm zu ruhen, ist ewiges Leben, völlige Vergebung der Sünden, göttliche Gerechtigkeit, ewige Herrlichkeit. Der Leser wird sich ohne Zweifel hier erinnern an den rührenden Vorgang zwischen Joseph und seinen Brüdern. Es besteht eine auffallende Übereinstimmung zwischen Apg. 3 und l. Mose 45. „
 
Und nun", sagt Joseph, „betrübet euch nicht, und es entbrenne nicht in euren Augen, daß ihr mich hierher verkauft habt, denn zur Erhaltung des Lebens hat Gott mich vor euch hergesandt ... So hat Gott mich vor euch hergesandt, euch einen Überrest zu lassen auf Erden, und euch am Leben zu erhalten durch eine große Errettung. Und nun, nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott". Aber wann wurden diese Worte gebraucht? Nicht eher, als bis die Brüder ihre Schuld gefühlt und bekannt hatten. Buße ging der Vergebung voran. „Da sprachen sie einer zu dem anderen: Fürwahr, wir sind schuldig wegen unseres Bruders, dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns flehte, und wir hörten nicht; darum ist diese Drangsal über uns gekommen" (l. Mose 42, 21). Joseph „redete hart" mit ihnen am Anfang. 

Er brachte sie durch tiefe Wasser und ließ sie ihre Schuld fühlen und bekennen. Aber im Augenblick, wo sie sich auf den Boden der Buße stellten, nahm er den Boden der Vergebung ein. Die reuigen Brüder begegneten einem vergebenden Joseph, und das ganze Haus Pharaos hörte von der Freude, die das Herz Josephs füllte, da er die Männer an seine Brust drückte, die ihn in die Grube geworfen hatten. Welch eine Illustration zu „Buße und Vergebung der Sünden". So ist es immer. 

Es ist die Freude des Herzens Gottes, uns unsere Sünden zu vergeben. Er findet Seine Wonne daran, den vollen Strom Seiner vergebenden Liebe in das zerbrochene und zerschlagene Herz fließen zu lassen. Ja, geliebter Leser, wenn du dahin gebracht bist, die Bürde deiner Schuld zu fühlen, dann sei versichert, daß es in demselben Augenblick dein Vorrecht ist, eine göttliche und ewige Vergebung aller deiner Sünden zu empfangen — ja deiner Sünden wird nie mehr gedacht werden. Das Blut Jesu Christi hat die Frage deiner Schuld vollkommen erledigt, und du bist nun eingeladen, dich in dem Gott deiner Rettung zu erfreuen. 
 
Dritter Teil 
Wir wollen uns jetzt zu dem Dienst des Apostels der Nationen wenden und sehen, wie er den großen Auftrag ausführte. Wir haben ihn schon über den Gegenstand der „Buße" gehört und wollen ihn nun auch über die große Frage der „Vergebung der Sünden" hören. Paulus war nicht von den Zwölfen. Er empfing seinen Auftrag nicht von Christo auf Erden, sondern, wie er uns selbst deutlich und wiederholt sagt, von Christo in der himmlischen Herrlichkeit. Einige haben keine geringe Zeit und Mühe auf den Beweis verwendet, daß er von den Zwölfen war, und daß die Erwählung des Matthias in Apg.1 als Mißgriff anzusehen sei. Aber das ist eine durchaus verlorene Arbeit und zeigt bloß ein gänzliches Mißverständnis der Stellung und des Dienstes des Paulus. Er wurde zu einem besonderen Zweck erwählt und zum Träger einer besonderen Wahrheit gemacht, die vorher keinem je bekannt gemacht worden war, nämlich: der Wahrheit von der Kirche, des einen Leibes, zusammengesetzt aus Juden und Heiden, in Eins gebildet durch den Heiligen Geist, und verbunden durch Dessen persönliche Innewohnung, mit dem auferstandenen und verherrlichten Haupt im Himmel. Paulus empfing seinen eigenen besonderen Auftrag, wovon er eine sehr schöne Darstellung gibt in seiner Rede vor Agrippa (Apg. 26): „Und als ich, damit beschäftigt, mit Gewalt und Vollmacht von den Hohenpriestern nach Damaskus reiste", — welch einen anderen Auftrag empfing er, bevor er in Damaskus eintrat — „sah ich mitten am Tage auf dem Wege, o König, vom Himmel her ein Licht, das den Glanz der Sonne übertraf, welches mich, und die mit mir reisten, umstrahlte.

 Als wir aber alle zur Erde niedergefallen waren, hörte ich eine Stimme in hebräischer Mundart zu mir sagen: Saul/ Saul was verfolgst du mich? Es ist hart für dich, wider den Stachel auszuschlagen. Ich aber sprach: Wer bist du Herr? Der Herr aber sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst"; — hier ist die herrliche Wahrheit von der innigen Vereinigung aller Gläubigen mit dem verherrlichten Menschen im Himmel, zwar nicht festgestellt, aber doch in lieblicher und nachdrücklicher Weise mit eingeschlossen — „aber richte dich auf und stelle dich auf deine Füße, denn hierzu bin ich dir erschienen, dich zu einem Diener und Zeugen zu verordnen sowohl dessen, was du gesehen hast, als auch worin ich dir erscheinen werde, indem ich dich herausnehme aus dem Volke und den Nationen, zu welchen ich dich sende, ihre Augen aufzutun, auf daß sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans zu Gott, auf daß sie Vergebung der Sünden empfangen" — dasselbe Wort wie in dem Auftrag an die Zwölf in Lukas 24 — „und ein Erbe unter denen, die durch den Glauben an mich geheiligt sind". Welche Tiefe und Fülle liegt in diesen Worten! Welche umfassende Beschreibung von dem Zustand des Menschen. Welche gesegnete Darlegung der Hilfsquellen göttlicher Gnade. Es besteht eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen diesem Auftrag an Paulus und dem an die Zwölf in Lukas 24.
 
Man wird vielleicht sagen, daß hier nichts von Buße gesagt sei. In direkter Weise nicht, das ist wahr, aber wir haben die lebendige, geistige Wirklichkeit, und das mit besonderer Kraft und Fülle. Was meinen die Worte: ihre Augen aufzutun? Schließen sie nicht unzweifelhaft die Enthüllung unseres Zustandes in sich? Gewiß. Ein Mensch, dessen Augen geöffnet sind, ist zur Erkenntnis seiner selbst gebracht, zur Erkenntnis seines Zustandes, seiner Wege; und dies ist wahre Buße. Es ist ein wunderbarer Augenblick in der Geschichte eines Menschen, wenn seine Augen geöffnet sind. Es ist die große Krisis, die folgenwichtige Epoche, der entscheidende Wendepunkt. Zuvor ist er geistlich blind. Er kann nicht einen einzigen göttlichen Gegenstand sehen. Er hat kein Verständnis für irgend etwas, das auf Gott, Christum, oder den Himmel Bezug hat. Dies ist wahrhaft demütigend für die stolze menschliche Natur. Stelle man sich einen klar denkenden, hocherzogenen, hochgelehrten, einsichtsvollen Mann vor, einen tiefen Denker, einen gewaltigen Kritiker, einen Philosophen durch und durch, der alle die Ehren, Diplome und Titel erlangt hat, welche die Universitäten dieser Welt gewähren können; alles dieses läßt ihn blind für das Geistliche, Himmlische, Göttliche.
 

Im 4. Teil, der die Wahrheit in Bezug auf die Grundlage entfaltet, auf der „Buße und Vergebung der Sünden" gepredigt werden muß, wird der Unterschied deutlich zwischen „den einseitigen Predigten, die gefahrdrohend für das gesamte Zeugnis werden, und der Verkündigung des Apostels, der nicht nur die Seele der völligen Befreiung von den gerechten Folgen der Sünde versicherte, sondern auch den vollständigen Bruch jeder Verbindung mit der Welt und gänzliche Befreiung von der gegenwärtigen Macht und dem Gesetz der Sünde entwickelte" (S. 47-49).

 „Christus gestorben für unsere Sünden, begraben und auferweckt nach den Schriften", das umfaßt in kurzen Worten das göttliche Werk der Liebe und Gerechtigkeit für den Sünder (l. Kor. 15, 3—4; Rom. 4, 25). Daß Gott das vollkommene Opfer wohlgefällig angenommen hat, bewies Er, indem Er den Vorhang des Tempels von oben bis unten zerriß; und dadurch öffnete Er den Zugang für den ärgsten Sünder, so daß dieser — abgewaschen, gereinigt und errettet — nunmehr in Seine unmittelbare Gegenwart treten konnte. Der Vorhang ist zerrissen, die Sund' hinweggetan — befreit ist das Gewissen, anbetend wir jetzt nah`n. Auf diese wesentlichen Tatsachen müssen wir in Verbindung mit dem Evangelium immer wieder nachdrücklich hinweisen und wir dürfen niemals den Tod und die Auferstehung unseres Herrn von dieser unverdienten Liebe, deren Ergebnisse sie sind, trennen wollen (S. 55-67).

 Ach, daß wir doch die Liebe Gottes verkündigen möchten, so wie der Herr es tat, eine Liebe, die den Sünder umarmt, aber die Sünde verabscheut — eine volle, freie und doch heilige und gerechte Liebe! Das ist keine wahre Liebe, die dem Schuldigen Zugeständnisse macht, die auch nur ein Jota von den gerechten Forderungen der göttlichen Heiligkeit fallen lassen würde. Die Liebe Gottes ist die .Zuflucht der Seele; wenn sie auch die Sünde bloßstellt, so gewinnt sie dennoch das arme Herz und macht daraus einen freiwilligen Sklaven für alle Zeiten. Das Evangelium ist die Enthüllung der Liebe und des Werkes Gottes für den verlorenen Menschen. Die Größe und die ganze Fülle der Liebe Gottes, die in Seinem Herzen war, konnte nur im Sohne Gottes geoffenbart werden. Niemand anders konnte sie enthüllen als nur Er, „der ein- 
geborene Sohn, der in des Vaters Schoß i s t". Er allein kannte sie und nur durch Ihn konnte sie kundgemacht werden (Joh. l, 14—18). „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns" in der Fülle der Gnade und Wahrheit. Das ist das große Ereignis, die Quelle aller Segnung für uns, der volle Ausdruck von dem, was Gott ist, angepaßt - indem Er die menschliche Natur annimmt — auf alles, was im Menschen ist, um jedem menschlichen Bedürfnis zu entsprechen. Jedoch der Zustand des Menschen war ein solcher, daß ohne den Tod des Herrn niemand an der Segnung teilgehabt haben würde (Joh. 12, 24). 

Die Wahrheit: „Also hat Gott die Welt geliebt" (Joh. 3, 16) ist so groß, so gewaltig und so überwältigend ihrer go.nz.en Bedeutung nach, daß der ganze Ruhm, sie zu verkündigen, dem Sohne vorbehalten bleiben mußte, der sie in Seinem Leben und am Kreuz zum Ausdruck gebracht hat. — Doch übersehen wir auch hier nicht, daß der Herr Jesus in den Versen vorher (Joh. 3, 14—15) zunächst Seine Erhöhung ans Kreuz, die Notwendigkeit Seines Kreuzestodes wegen des Zustandes der Feindschaft und Straffälligkeit des Menschen vorstellt, und dann die Offenbarung der Liehe Gottes in der Dahingabe des Sohnes. Das „Denn" in V. 16 nimmt Bezug auf die in V. 14 verkündete Wahrheit: „Also muß der Sohn des Menschen erhöht werden". „Auf dem Kreuz sieht man moralisch die Notwendigkeit von dem Tode des Sohnes des Menschen, und man sieht die unaussprechliche Gabe des Sohnes Gottes. „Diese beiden Wahrheiten vereinigen sich in dem gemeinsamen Zweck der Gabe des ewigen Lebens an alle Glaubenden. — Das Kreuz und die absolute Absonderung (Trennung) zwischen dem Menschen auf der Erde und Gott — das ist der Punkt, wo der Glaube mit Gott zusammentrifft; denn dort befinden sich zugleich die Wahrheit seines Zustandes und die Liebe, die dem Zustand begegnet" (J. N. D.). 0, daß doch dieser helle Schein in und durch uns leuchte und wir, die ernste Ermahnung des Apostels in 2. Kor. 6 beachtend, den teuren Seelen, die aus der Finsternis nach Licht rufen, keinen Anstoß geben, sondern ihnen in der rechten Weise dienen möchten, daß sie heute am Tage des Heils, dem die Nacht folgt, zu Jesu kommen möchten, daß ihnen „ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus, welcher das Bild Gottes ist" und noch viele Herzen erleuchtet werden „mit dem Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Chri sti", indem sie im Glauben an den gekreuzigten, auferstandenen, verherrlichten und bald kommenden Herrn „das Zeugnis, welches Gott gezeugt hat über seinen Sohn" annehmen (2. Kor. 4, 4—6; l. Joh. 5, 10—13). 

„Diese aber sind geschrieben, auf daß ihr glaubet, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und auf daß ihr glaubend Leben habet in seinem Namen" (Joh. 20, 31). Indem wir diesen gesegneten Namen erwähnen, drängt es uns, noch hervorzuheben, daß gemäß dem großen Auftrag „Buße und Vergebung der Sünden gepredigt werden mußte in seinem Name n!" In Ergänzung der Erklärungen des Verfassers über die Autorität und Kraft, in welcher der Auftrag auszuführen war, möchten wir noch auf Apg. 10, 42. 43 hinweisen (s. a. Apg. 4, 12; 8, 12 und die Anführung von Joel 2, 32 in Apg. 2, 21 u. Rom. 10, 9—13), indem wir es dem Leser überlassen, über den Wert, die Kostbarkeit, Vortrefflichkeit und Herrlichkeit des Namens Jesu und die errettende Kraft „in Seinem Namen" betend nachzusinnen! Wir schließen mit der Empfehlung im Vorwort zur l. Auflage: „Der große Ernst, mit dem der Verfasser auf die Buße und ihre Notwendigkeit dringt, scheint uns durch Den gewirkt zu sein, dessen „Augen die ganze Erde durchlaufen". 

Und was die anderen Gegenstände dieses Aufsatzes betrifft, so haben wir gewiß ebenso nötig, an sie erinnert zu werden und Ermunterung zu empfangen für unseren weiteren Lauf und Dienst. — Darum begrüßen wir diesen Aufsatz als ein Wort zu seiner Zeit und hoffen und flehen, daß er unter dem Segen des Herrn gute Frucht tragen möge, besonders auch für unsere jungen Mitchristen und die Prediger des Evangeliums". 

1. Mose 32, 28-32 Er sprach: Wie heißest: du? Er antwortete: Jakob, Modersohn Ernst

07/18/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

13.Mai Er sprach: Wie heißest: du? Er antwortete: Jakob Er sprach: .DusoHst nicht -mehr Jakob heißen, sondern israel; denn du hast. mit Gott und mit Menscheii gekämpft und. bist- obgelegen.' .

1. Mose 32, 28.29
Der Apostel Johannes schreibt: »So wir aber die Sünden bekennen, so ist er'treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller.
Ungerechtig~eit.« --Nicht wahr, Empfindlichkeit und Heftigkeit, Unreinheit und Geiz, Rechthaberei und Neid sind Ungerechtigkeiten? Nun, 'dann. zeigt uns hier der Apostel den Weg, wiewir davon loskommen können. 'Er. sagt wir müssen unsre Sünden bekennen. Das hat aber eine Voraussetzung.. Und
das ist die, daß. wirsie erkennen. Daran fehlt es aber bei vielen. Bei: einer
Konferenz war mir einmal der Auftrag zuteil geworden, mit einem Bruder zu sprechen, der unangenehm auffiel. Ich tat das. Aber. der Bruderfuhr gleich auf: »Wer bat Sie geschickt? Lassen Sie die Leute selber kommen, die etwas von mir wollen!« Ich sagte zu ihm: »Aber Bruder; regen Sie sich doch nicht so auf!« »Ich bin gar nicht aufgeregt«, schrie er. geradezu. Ich sagte ihm: »Bruder, Sie sollten sich jetzt nur mal im Spiegel sehen, was Sie für 'Augen machen.' 

Dann würden Sie es mir glauben, daß 'Sie sehr aufgeregt sind!«'— Siehe, das ist das erste, daß wir unsre Sünden erkennen, daß wir unsre Eigenart im Lichte Gottes sehen. Wenn es daran fehlt, dann fehlt es natürlich auch am Bekennen. Und wenn es auch daran mangelt, kommt man natürlich 'nicht los davon. 'Darum ist das erste, daß wir erkennen, wie wir. wirklich, sind. Und dann'.ist das zweite, daß wir alle ‚Bemühungen, uns selber zu .ändern und' zu bessern, aufgeben und bankrott 'mit aller eigenen Kraft zu Christus'. kommen und ihm sagen »Herr, ich bin so wie'Jakob, ich bin so heftig und empfindlich«, und was wir nun gerade ihm zu sagen und von uns zu bekennen haben.. »Ich habe schon oft versucht, ein andrer zu werden, es gelingt mir nicht. 

Hilf du mir!« Und dann zeigt uns 'der Heilige Geist das Kreuz 'von Golgatha, an dem die Erlösung vollbracht ist, die auch eine Lösung von unserm alten' Menschen. 'ist, von der Jakobsart unsres' Wesens. 'Der Apostel schreibt Römer 6, 6: »Wir wissen ja, daß unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet wurde, so daß wir hinfort der Sünde nicht dienen.« Es gilt zunächst einen Glaubensschritt zu tun und es im Glauben zu ergreifen; daßunser alter Mensch gekreuzigt ist. Manche sagen: Wie kann ich das glauben, wenn er mir 'doch noch. Beweise gibt, daß .er lebt? Die so sprechen, machen een Fehler, daß sie erst erfahren wollen und dann glauben. Das ist falsch. Wimüssen erst'glauben, was geschrieben steht, und dann werden wir. es erfahren-.,Anders. geht es nicht. Haben-wir-diesen
aben 'wirdiesen Glaubensschritt getan, dann sind wir nicht fertig, sondern dann muß. ein Glaubensweg. folgen, auf dem wir nach dem ii. .Vers in Römer 6 damit rechnen, daß wir der Sünde gestorben sind; Es gilt, dem Herrn zu sagen: »Ich danke dir,, daß du mich erlöst hast, daß ich nicht mehr unter der Herrschaft, meiner sündhaften Art stehe!«

14; Mai Und Jakob hieß die Stätte Pniel; denn ich habe Gott vön' Angesicht gese hen, und meine Seele ist'genesen. 'Und 'als er an Pniet vortiberkam,. ging ihm.die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.
1. Mose 32, 31.32.
»Meine 'Seele 'ist genesen«,' ruft 'Jakob aus. Ja, solange uns das' eigene Ich regiert, ist unsre Seele krank. Empfindlichkeit und Heftigkeit, das sind Krankheiten der Seele. Und solange wir' daran leiden, sind wir nicht wahrhaft glücklich; Aber auf Golgatha, unter dem Kreuz, da lernt man jubeln und singen: »Lobe den 'Herrn,'meine'Seele, und 'vergiß nicht, 'was er dir Gutes getan hat! Der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen!«
Genesen! Was ist das 'für ein GefühL wenn man lange krank gewesen ist und man ist nun wieder gesund, dem Leben wiedergeschenkt! Sö ähnlich ist es .:auch, wenn man es erfährt: Meine Seele ist genesen. Ich brauche all das nicht mehr, was mir so oft das Leben,verleidet hat!. Ich darf in der Stunde der Versuchung durch den Blick auf den Gekreuzigten Kraft 'und Sieg erfahren. -- Genesen!.: Da wird das Leben erst schön, wenn die Tyrannei der alten Wesensart ein Ende 'hat, wenn endlich Jesus die Herrschaft angetreten 'hat! Da wird 'es Tag, sowie ja auch dem Jaköb die Sonne bei 'Pniel aufging. Da fängt. ein ganz Neues an in' unserm Leben, wenn die Sonne der Gerechtigkeit aufgeht mit Heil unter ihren Flügeln, wie der Prophet gesagt hat.
Bis dahin war Jakob ein Nachtwandler gewesen. 

Er war in der Nacht seiner Sünde: und seines 'Eigenlebens dahingegangen. Nun fing 'ein Wandel im Licht an. Aber - eins' nahm er mit sich aus dieser Nacht. Eine. Erinnerung blieb ihm: Er hinkte an seiner Hüfte. Die. alte eigene Kraft war zerbrochen und blieb 'zerbrochen. Er wurde nie wieder ein Mann, der sich' auf seine eigene' Kraft verlassen konnte. Mit seiner Kraft war es vorbei. Er hinkte an seiner Hüfte...
.Ich';wünschte, daß wir auch in unserem Leben ein Zeichen von dem Eingreifen Gottes behielten! Als ich einmal über Jakob gesprochen hatte in einer Versammlung, fragte 'mich 'nachher ein Bruder: »Was sind Sie denn nun, ein Jakob 'öder ein Israel?« Nach Autblick zum Herrn gab .ich die Antwort: »Gott sei Dank, 'ich heiße Israel! ‚Aber ich muß es aussprechen: Jakob und Israel sind zwei Namen für dieselbe Person. Es, sind nichtzwei verschiedene Personen. Wer ein Israel geworden ist, der kann sofort wieder ein Jakob werden, wenn er nicht im Glauben mit der vollbrachten' Erlösung rechnet.«
Was für ein Schmerz für Petrus, wenn ihn der- Herr manchmal wieder »Simon« anredet! So ist es auch ein Schmerz für ein Kind Gottes, wenn es wieder in die 'Art Jakobs zurückgefallen ist. Darum wollen wir uns eng und dicht an Christus, den Herrn, anschließen, dann kommt die alte Jakobsart nicht wieder durch. Dann erfüllt es sich: »Daß',in Wort und Werk und allem Wesen. sei Jesus und sonst nichts zu lesen.« Nicht mehr Jakob, sondern Israel!
@1992 VLM Verlag

Matthäus 2, 1-3, Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, zur Zeit des Königs Herodes Modersohn Ernst

07/16/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

2. Januar Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jüdischen Lande, zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen die Weisen vom Morgenland gen Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland Und sind gekommen, ihn anzubeten.

Matthäus 2, 1.2
Wie war es wohl gekommen, daß diese Morgenländer suchende Menschen geworden waren? Die Messiashoffnung Israels hatte sich durch Handelsbezie-
hungen und Reiseverbindungen sowie durch den Aufenthalt Israels in Babel
auch unter den Heiden verbreitet. Vielleicht war auch die Weissagung aus dem Mund des Propheten Bileam, der erst ein gesegneter Knecht Gottes war
und nachher ein so trauriges Ende nahm, zur Kenntnis dieser Orientalen gekommen. Bileam hatte einst die Weissagung ausgesprochen: »Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen.« Auf diesen Stern warteten nun diese Sternkundigen im Fernen Osten.


Gott vergißt niemanden. Wo nur ein Suchen und Fragen und Verlangen ist, knüpft Gott an, da führt er weiter. Da gibt er mehr Licht. So war's auch
mit diesen Weisen. Als ein neuer Stern an ihrem Himmel erstrahlte, da wurde es ihnen gewiß, das sei das Zeichen, daß der erwartete König und Heiland nun gekommen sei. Und alsbald machten sie sich auf, ihn zu begrüßen, ihn anzubeten.
Nur ein Strahl göttlichen Lichtes war in ihr Herz gefallen; aber dieser eine Strahl trieb sie, die Heimat zu verlassen und Jesus zu suchen. Vor uns aber
liegt das ganze Leben Jesu wie ein aufgeschlagenes Buch. Wir sehen das
Kindlein in der Krippe; wir ziehen mit dem Jesusknaben hinauf nach Jerusalem zum Osterfest. Wir begleiten den Herrn auf seinen Wanderungen hin
und her durchs Land. Wir gehen mit ihm nach Gethsemane und nach Gol-
gatha. Wir sehen, wie er leidet und blutet und stirbt zur Erlösung der Welt. Das alles finden wir aufgeschrieben in unserer Bibel. Die Tatsachen unseres
Heils sind uns so klar und bekannt. Und doch, wo sind heutzutage die Men-
schen, die ihn mit Ernst suchen? - In gewissem Sinne ist jeder Mensch ein Suchender. Irgend etwas sucht jeder Mensch, um darin seine Befriedigung
zu finden. Man sucht das Glück in der Welt im ästhetischen Genuß oder im gemeinen. Aber nichts, was dieser Welt angehört, kann ein Menschenherz wirklich befriedigen. Goethe läßt einen Faust sagen: »In der Begierde schmacht' ich nach Genuß—und im Genuß verschmacht' ich vor Begierde.« Ja, so geht es.
Den Abgrund eines Menschenherzens kann nichts und niemand ausfüllen, als nur Jesus allein. Er ist gekommen, daß wirdas Leben und volle Genüge haben sollen. Er ist imstande, ein Menschenherz wirklich völlig, dauernd zu befriedigen. Was alle Genüsse der Welt nicht vermögen, das vermag Jesus. Damm mahnt Georg Weissel: »Ach, sucht doch den, laßt alles stehn, die ihr das Heil begehret: Er ist der Herr und keiner mehr, der euch das Heil gewähret.« Ja, wir haben alles in ihm und für immer!

3. Januar Die Weisen sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen - Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten. Da das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm das ganze Jerusalem.
Matthäus 2, 1-3
Warum erschrak Herodes denn? Er dachte: Wenn da ein neuer König aufkommt, dann erwächst mir und meinen Nachkommen ein Nebenbuhler, der
uns den Thron streitig macht. Und Jerusalem erschrak auch bei der Kunde von dem neugeborenen König der Juden. Man dachte an Revolution und Aufruhr, an Krieg und Blutvergießen. Natürlich würde dieser neugeborene König nach dem Thron streben und dann gab's wieder schwere Zeiten. Dann kamen die Römer und erstickten den Aufstand in einem Strom von Blut.
So brachte die Kunde von der Geburt Jesu eine Krisis hervor. Herodes nahm sofort gegen ihn Stellung. Er beschloß alsbald in seinem Herzen, den Nebenbuhler aus dem Wege zu räumen.
So geht es noch heute. Wenn die Botschaft von Jesus bestellt wird, dann gibt es eine Krise. Da scheiden sich die Geister. Leute, die bisher für ganz
fromm galten, werden erbitterte Feinde. Wie kommt das? Man weiß, Jesus ist ein Herrscher. Er begehrt den Platz auf dem Thron des Herzens. Und dieser Platz ist schon besetzt. Darauf sitzt groß und breit das eigene Ich. Bisher hat man ein • bequemes Selbstleben geführt. Das soll nun ein Ende haben? Nein! Da wehrt sich der alte Mensch. Jesus soll nicht auf den Thron!
Aber ist das eigene Ich nicht ein Tyrann? Wen hätte es denn nicht schon in allerlei Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten hineingetrieben? Wen hätte es noch nicht in allerlei Unrecht hineingestürzt?
Das wird ganz anders, wenn Jesus den Platz auf dem Thron bekommt. Noch keiner, der ihm den ersten Platz in seinem Leben eingeräumt hat, hat das jemals bereut. Ist das nicht auffällig? Gibt das nicht zu denken?
Ich wünschte, daß jeder, der dieses Buch liest, sich entschließen möge, der Tyrannei des eigenen Ichs aufzusagen und Jesus an diese Stelle zu setzen.
Das gäbe fürwahr ein gesegnetes Jahr. Denn »wo Jesus Christus ist der Herr,
wird's alle Tage herrlicher«. Aber freilich, die Voraussetzung ist, daß man das Ich entthront, daß man sich selbst drangibt, so daß Jesus die Regierung
des Herzens und Lebens bekommt. Hast du ihm schon die Herrschaft gegeben
über das ganze Herz und über das ganze Leben? Wenn noch nicht, dann schieb es keinen Tag mehr auf! Es ist schade um jeden Tag ohne Jesus, denn
jeder Tag ohne ihn ist ein verlorener Tag. Aber »ein Tag in seinen Vorhöfen«, so hat schon der Psalmist gesagt, »ist besser, als sonst tausend«. Wieviel mehr ist das der Fall, wenn es Tage sind in der Gemeinschaft des Herrn Jesus. Es kostet eine Entscheidung. Es ist eine Krise, die aber zu einem glücklichen Leben führt.
9

Matthäus 2, 11 Und sie gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter. Modersohn Ernst

07/16/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Und sie gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter. Und sie fielen nieder und beteten es an. Matthäus 2, 11


Endlich am Ziel! Nach der langen, weiten Reise endlich am Ziel! Aber was fanden sie denn? Ein kleines Kind armer Leute! Ein Kind der Armut! Und
deswegen hatten sie die weite Reise gemacht? Waren sie nun nicht sehr enttäuscht? Nein, denn sie schauten verborgen unter der Niedrigkeit und Armseligkeit die göttliche Herrlichkeit. Sie erkannten in diesem Kind mit Augen, die Gottes Geist geöffnet hatte, den ersehnten Heiland und Retter der Welt.
Sie fanden den Gesuchten. Sie stießen sich nicht an der Niedrigkeit und Armut des Heilandes, wie das so viele tun. Das ist eine Tatsache, es ist in
keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir selig werden! Dieses Kindlein von Bethlehem ist zu dem Manne von Golgatha geworden, zu dem König in der Dornenkrone, in dem unser Heil beschlossen liegt.
Wer zu Jesus kommt in Buße und Glauben, der findet zuerst Vergebung der Sünden. Wer hätte die nicht nötig? Hinter uns allen liegt eine Vergangenheit mit Sünde und Schuld. Wer kann das in Abrede stellen? Aber wer zu Jesus kommt, er sei, wer er wolle, dem vergibt er Missetat, Übertretung und Schuld.


Und wenn die Scheidewand der Sünde beseitigt ist, wenn nichts mehr zwischen uns und Gott steht, dann zieht ein tiefer Friede ins Herz, ein Friede,
wie ihn die Welt nicht geben, aber auch nicht nehmen kann. Frieden mit Gott! Und in Verbindung damit steht eine tiefe, reine, heilige Freude, ein völliges, dauerndes Glück.
Und man findet noch mehr, wenn man Jesus gefunden hat: einen Freund, an den man sich wenden kann in jeder Lage des Lebens. Er will unser Vertrauter und Berater sein. Wir dürfen ihm unsre Nöte klagen und unsre Verlegenheiten mitteilen. Er ist ein Hörer des Gebets. Es ist ihm nichts nebensächlich und geringfügig, was die Seinen angeht. Mit mehr als Mutterliebe
kümmert er sich um die Seinen und sorgt für sie. Man kann es gar nicht in wenigen Worten aussprechen, was Jesus alles den Seinen ist, was wir alles in ihm haben und finden. Es gibt keine Schwierigkeit im Leben, in der man es nicht erfahren könnte: Er kann helfen!
Und wie seine Gnade und Liebe mitgeht durchs Leben, so geht sie auch mit durchs Sterben. Er hat gesagt - und er hält sein Wort: »Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, mitä sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.« Geborgen für Zeit und Ewigkeit ist der, der Jesus als seinen Heiland und Erretter gefunden hat.

Den König der Juden hatten die Weisen gesucht. Nun fanden sie ein armes, Meines Kind. Aber in diesem Kind erkannten sie den Heiland, den Erretter der Welt. Und darum beugten sie die Knie vor ihm und beteten zu ihm als ihrem König und Herrn.
Sie schauten mit Augen des Glaubens durch seine Niedrigkeit und Armut in sein göttliches Wesen hinein.
Haben wir es nicht viel leichter als die Weisen, nun, nachdem Jesus nach seiner Himmelfahrt sitzt zur Rechten der Kraft Gottes? Ist es uns nicht viel leichter, ihn als den König zu erkennen, von dem fort und fort wunderbare Segenswirkungen ausgehen? Und doch gibt es so viele, die sich Christen nennen, die ihn noch nicht zu ihrem Herrn gemacht haben. Es ist aber so nötig, das zu tun! So wie die Weisen vor dem Kindlein in der Krippe niederfielen und es anbeteten, so müssen wir auch uns vor ihm beugen. Niemand kann diese Anerkennung Jesu umgehen, niemand. Das steht geschrieben. Es heißt ja, daß alle Knie im Himmel und auf Erden und unter der Erde sich vor ihm beugen werden, und daß alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters. Wer sich hier nicht vor dem Herrn beugt, der muß es einmal nach dem Tode tun, in der Ewigkeit. Aber dann geschieht es :mit Heulen und Wehklagen. Dann hat die Huldigung keinen Wert mehr. Dann kommt sie zu spät.
Es hat einst einen römischen Kaiser gegeben zur Zeit, als das Christentum schon zur Staatsreligion gemacht worden war, der versuchte, den Glauben an die Götter wieder einzuführen. Er setzte seine ganze Kraft daran, das Heidentum wieder zur Herrschaft zu bringen. Er wurde in einen Krieg verwickelt. In der Schlacht an einer tödlichen Wunde zusammenbrechend, rief er aus: »Tandem vicisti, Galilaee«, d.h.: »Du hast doch gesiegt, Galiläer«. Sterbend erkannte er, wie töricht sein Kampf gegen Jesus gewesen war. Aber nun kam seine Einsicht zu spät. - Und wie viele werden am Ort der Qual beklagen, daß sie die Gnadenzeit haben verstreichen lassen, ohne Jesus Christus als ihren Herrn anzuerkennen! Wie werden sie da in die Klage ausbrechen: »Ach, wenn ich es doch getan hätte!«
Ist es nicht töricht, wenn man die Huldigung verschiebt, bis sie keinen Zweck mehr für uns hat? Wer Jesus Christus die Herrschaft übergibt, der hat es gut unter seinem Regiment. Das ist besser, als unter der Tyrannei des eigenen Ichs zu stehen! Darum, weil ich das aus Erfahrung weiß, daß das Leben ganz anders wird, wenn man Jesus zum König macht, bitte ich einen jeden, der ihn noch nicht anerkannt hat: Schieb es doch nicht mehr auf! Laß den heutigen Tag die Stunde der Anbetung bringen! Mach Jesus heute zu deinem König! Er ist es wahrlich wert.

Maier Paul L Pontius Pilatus

07/03/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Erstes Kapitel

Trompetengeschmetter hallte durch Rom und grüßte den Sonnenaufgang am 1. April des Jahres 26. Es war das tägliche Signal, die Wasseruhren zu stellen— eine Freundlichkeit der Männer der Präto-rianergarde, die in ihrem neuen Lager am Rande der Stadt Quartier bezogen hatte. Der Tag hatte schon eine Stunde früher mit dem ersten Schimmer der Morgenröte begonnen, als die Kaufleute ihre Läden öffneten; doch jetzt, als die Sonne über den östlichen Hügeln von Rom erschien, hörte man in der Stadt eine lärmende Sinfonie von Wagengeklapper, Hammerschlägen und Kindergeschrei; und nur in den wohlhabenden Gesellschaftsschichten gestattete sich mancher den Luxus, bis sieben Uhr weiterzuschlummern; die späten Zecher freilich schliefen noch länger. Im übrigen nutzten die Bürger Roms jede Stunde, da es hell war, denn die Nächte waren dunkel und die Beleuchtung kärglich.
Von den Kommandohöhen seiner Palastterrasse auf dem Pa-latin blickte Tiberius Cäsar Augustus gelangweilt über seine laute Hauptstadt, halb hoffend, daß Rom mit dem Morgennebel verschwinde, daß alle vierzehn Bezirke der Stadt sich allmählich im Tiber auflösten und wie so viel anderer Unrat vom Mittelmeer verschluckt würden. Tiberius war jetzt gut zwölf Jahre Princeps, »erster Bürger«, Kaiser Roms, ein hohes Amt, das er seiner Anforderungen wegen weder genießen noch ohne Gefahr niederlegen konnte.
Sachlich und unbefangen Urteilende waren sich darin einig, daß Tiberius überraschend gut regiere, da er doch als Nachfolger seines Stiefvaters, des jetzt göttlichen Augustus, dessen Regierungszeit so glanzvoll gewesen war, einen alles andere als beneidenswerten Stand hatte. Zudem war Tiberius nicht gerade unter schmeichelhaften Umständen an die Macht gekommen, denn Augustus hatte sich erst für Tiberius entschieden, als die ursprünglich vorgesehenen Thronanwärter gestorben waren. Tiberius nährte in sich den dunklen Groll, nur ein »Ersatz-Kaiser« zu sein; er hörte zuviel auf das unvermeidliche Geflüster derer, die ihn mit Augustus oder den anderen Prätendenten verglichen, und brütete zuviel über den an ihm nagenden bitteren Erinnerungen. 

Der Princeps -trotz seiner sechsundsechzig Jahre eine immer noch aufrechte Gestalt - ging in den Palast zurück, um das Frühstück einzunehmen, ohne dis kein Römer den Tag beginnen konnte: in Wein getauchtes Brot, Eier und die bis an den Rand gefüllte Tasse mu/sum, eine Mischung aus Wein und Honig. Tiberius aß allein, das Schicksal hatte es nicht anders gewollt. Die Freuden des Familienlebens waren ihm versagt. Als Vierjähriger hatte er die erste Tragödie erlebt: seine Mutter Livia hatte sich von seinem Vater scheiden lassen, um Augustus zu heiraten, ein ehrgeiziger gesellschaftlicher Aufstieg, wie er zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches war. Rom empörte es jedoch, daß Livia am Tage ihrer zweiten Hochzeit von ihrem ersten Manne im sechsten Monat schwanger war. An jenem Abend soll die Statue der Tugend im Forum von ihrem Sockel gefallen sein. Erst in seiner glücklichen Ehe mit Vipsania konnte Tiberius seine verworrene Kindheit vergessen.
Aber Augustus machte auch diese Ehe zunichte. Er bestand darauf, daß sich Tiberius als sein künftiger Nachfolger von der geliebten Vipsania scheiden ließ und statt ihrer Julia, das einzige Kind des Kaisers, heiratete. Denn Augustus wollte um jeden Preis seinen eigenen Stamm erhalten. Julia wurde indessen bald das personifizierte Laster Roms; sie brach so oft die Ehe und war so verrufen, daß Augustus selbst sie lebenslang auf eine Insel im Mittelmeer verbannte.
Tiberius war nur noch Drusus geblieben, sein vielversprechender Sohn; aber vor drei Jahren starb dieser an einer rätselhaften Krankheit. Tiberius Cäsar, Herrscher über siebzig Millionen Menschen in einem Reich, das sich vom englischen Kanal bis zu den Toren Mesopotamiens erstreckte, war nun ein einsamer Mensch.
Er winkte einem Diener, überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Laß Sejanus ausrichten, daß ich ihn heute abend sprechen will!« Der Diener gab das an einen der Prätorianerleibwächter weiter, und der eilte zu dem Hause des Sejanus an den Hängen des Esquilin.
L. Aelius Sejanus war Präfekt der Prätorianer, jener Elitetruppe, die als Staatliche Polizei auch die Leibwache des Kaisers stellte. Sejanus, ein muskulöser, breit gebauter Mann von dunkler Hautfarbe, trug an diesem Tage eine makellose Toga aus weißer
Wolle. Der Präfekt war mittleren Alters - in den Augen der Frauen Roms aber alterslos; seine Züge verrieten etruskische Abstammung und unterschieden sich sehr von denen der Römer mit ihren hoheit Stirnen. Das Wesen des Sejanus jedoch, seine Treue und seine wahren politischen Motive, waren ein Zentrum widerstreitender Impulse. Viele behaupteten, Rom habe nie einen selbstloseren, mehr auf das Gemeinwohl bedachten, tüchtigeren Beamten gehabt; aber seine Gegner meinten, Sejanus sei ein echter Etrusker aus alter vorrepubli-kanischer Sippe und als solcher Roms Todfeind.
Wie ein Meteor war er am politischen Himmel Roms aufgestiegen. Obwohl er nur Angehöriger des Ritterstands war, besaß Sejanus jetzt eine Macht, die patrizische Senatoren veranlaßte, sich ihm eiligst anzuschließen oder ihn schmollend und eifersüchtig zu meiden. Einen Teil dessen, was er erreicht hatte, hatte er geerbt; denn schon Augustus hatte seinen Vater, Sejus Strabo, zum Präfekten der Prätorianergarde gemacht, und dann hatte Tiberius Sejanus auf den gleichen Posten berufen und Strabo als Gouverneur nach Ägypten geschickt.
In den vergangenen zehn Jahren hatte Sejanus sein Amt allmählich ausgebaut; es war nicht mehr nur ein Sprungbrett zur Macht - es war Macht. Er hatte das mit seiner glänzenden Reorganisierung der Prätorianergarde geschafft. Seinem Vorschlag, die neun in ganz Italien verstreuten Prätorianerkohorten zusammenzuziehen und in großen Kasernen in der Nähe Roms unterzubringen, von wo aus diese Elitetruppe dem Kaiser in jeder Notlage schnell zu Hilfe eilen konnte, hatte Tiberius zugestimmt. Auf dem Viminalhügel, unmittelbar vor der nordöstlichen Stadtmauer Roms, war dann ein ausgedehntes neues Castra Prätoria errichtet worden. Die hier stationierte Truppe hielt zu ihrem Präfekten, und wenn Sejanus sprach, hörten neuntausend Gardisten zu und gehorchten.
Zuviel Macht in den Händen eines Mannes? Tiberius fand das nicht. Er brauchte diesen unmittelbaren Schutz, und er hatte in Seja-nus nie auch nur die geringste Illoyalität ihm oder »dem Senat und dem römischen Volk« gegenüber, wie das Reich offiziell sich selbst bezeichnete, entdeckt. Tiberius hielt einen Mann wie Sejanus im augenblicklichen Stadium der Herrschaft über Rom für unentbehrlich. Rom war keine Republik mehr, aber auch noch kein voll entwickeltes Kaiserreich und brauchte dringend eine starke Verwaltung anstelle eines Mischmaschs von Ämtern. Tiberius dachte daran, als er Sejanus drängte, auch den Ausbau der zivilen Verwaltung des Reiches zu überwachen.

Die Botschaft vom Palatin erhielt Sejanus gerade, als die beiden Konsule für das Jahr 26 sein Haus verließen. Sie waren gekommen, um zu hören, ob die Gerüchte stimmten, daß Tiberius einen ausgedehnten Urlaub fern von Rom plane. Es war typisch für Sejanus, daß er das weder bestätigte noch bestritt. Als die Ehrengarde von zehn Liktoren die Rutenbündel auf die Schulter nahm, um die Konsule durch die Straßen Roms zu eskortieren, konnte man hören, wie die beiden letzteren sich über Sejanus unterhielten. Calvisius hatte viel gegen ihn einzuwenden, während Gaetulicus ihn standhaft verteidigte, und beides spiegelte wider, was ganz Rom empfand.
Von der Bibliothek, wo er seine Amtsgeschäfte führte, blickte Sejanus in das Atrium seines Hauses und sah den Boten des Kaisers sich durch die Menge von Beamten und Funktionären drängen, die alle darauf warteten, bei ihm vorgelassen zu werden. Nachdem Sejanus die Botschaft von Tiberius vernommen hatte, erhob er sich schnell und tat ein paar Schritte; er kehrte der lauten Menge im Atrium den Rücken, um in Ruhe einige Augenblicke nachdenken zu können. Ja, sagte er sich dann, es war jetzt der richtige Zeitpunkt, mit dem Kaiser zu sprechen, aber zuvor war zumindest ein Schritt notwendig. Er nahm einen Griffel und schrieb auf eine Wachstafel:
»L. Aelius Sejanus an Pontius Pilatus. Ich möchte Sie heute gegen vierzehn Uhr sprechen. Hätte ich mich nicht mit Domitius Afer verabredet, hätten wir zusammen essen können. Nun, ein andermal. Leben Sie wohl.«
Nachdem er dies geschrieben hatte, drehte er sich hastig um, am seinen nächsten Besucher hereinzubitten.
Ein Gardist brachte die Botschaft dem Tribun der ersten Präto-rianerkohorte, Pontius Pilatus, der in Abwesenheit des Sejanus sein Vertreter als Kommandant der Castra Praetoria war. Als Pilatus die an ihn gerichteten Zeilen las, verfinsterte sich ein wenig sein Gesicht. Nicht daß er Sejanus nicht mochte - ganz im Gegenteil -‚ aber er war sehr beunruhigt über das, was am Abend zuvor geschehen war. Auf einer Gesellschaft zu Ehren des Offiziersstabs der Prätorianer btatte Pilatus, als alle dem Wein reichlich zugesprochen hatten, einen roast auf »Tiberius flldius Mero« statt auf Tiberius Claudius Nero ausgesprochen, ein allzu durchsichtiges Wortspiel mit dem Namen des Kaisers, das »Trinker heißen Weins« bedeutete. Alle wieherten vor Vergnügen, außer Sejanus, der Pilatus nur stumm ansah ein Blick sehr von oben herab, den zu vergessen der Tribun sich fast den ganzen Vormittag bemüht hatte.
Wenn Tiberius etwas von seiner Indiskretion erfuhr, konnte er mehr als seinen Posten verlieren. Erst vor einem Jahr - er erinnerte sich mit Schaudern daran - hatte der Senator Cremutius Cordus in einem von ihm veröffentlichten Geschichtswerk die Cäsarmörder Brutus und Cassius als die letzten Römer zu preisen gewagt. Cordus wurde des Verrats bezichtigt und nahm sich das Leben, und alles, was er geschrieben hatte, wurde verbrannt. Man konnte nicht mehr so offen sprechen, wie es zur Zeit der Römischen Republik möglich gewesen war. Beunruhigt sah Pilatus der Begegnung mit Sejanus entgegen.
Sejanus' Botschaft war ziemlich höflich gewesen, aber die für das Treffen festgesetzte Zeit - kurz nach dem Mittagsmahl, wenn die meisten Römer eine kurze Siesta hielten - war ungewöhnlich. Es mußte sich: um etwas Wichtiges handeln. Nach einem schnellen Essen - den Wein versagte er sich - kleidete sich Pilatus um. Er hatte beschlossen, Zivil anzulegen. Seine Tunika prunkte mit dem angustus davus, einem schmalen, von oben nach unten verlaufenden Purpur-saum, der den Träger als dem Ritterstand angehörend auswies, über dem nur noch die Senatoren standen, welche den latus ciavus, den breiteren Purpurstreifen, trugen. Außerhalb des Hauses war die Tunika von einer Toga bedeckt, und dis Drapieren der Toga war geradezu eine Kunst; jede Falte mußte richtig und anmutig fallen, und vom Purpur der Tunika durfte nicht zuviel sichtbar sein, denn das wäre großtuerisch gewesen; zu wenig freilich hätte falsche Bescheidenheit verraten.
Pilatus ließ sich von einem Gehilfen begleiten, als er die Patrizi-erstraße hinabging, eine größere Verkehrsader, die von den Castra l+aeto,it im Südwesten ins Zentrum Roms führte. Bis auf seine Kleidung unterschied er sich in nichts von den Scharen von Römern aller Stände, die diese Durchgangsstraße benutzten. Pilatus, noch ein Mann in der Blüte seiner Jahre, war mittelgroß, hatte ein kantiges Gesicht und lockeres dunkles, mit Olivenöl eingeriebenes Haar. 

Obwohl er dem Typ des Römers näher kam als Sejanus, mangelte ihm doch ebenso wie seinem Vorgesetzten das reine römische Blut. Seine Familie, die Pontii, waren ursprünglich Samniter, ein Bergvolk, das mit den lateinischen Römern verwandt war und weiter südlich in den Apenninen lebte und in mehreren blutigen Kriegen einmal Rom fast erobert hätte. Die Pontii gehörten zum Senatorenstand; als Rom sich schließlich die Samniter einverleibte, wurden sie in den Ritterstand degradiert. Dennoch war den Pontii der Trost verblieben, im Rang der equites illustriores, der vornehmeren Ritter, zu stehen; sie hauen Rom als Beamte und Militärs gedient. Einige allerdings waren Kaufleute geworden, hauen große Vermögen erworben und schließ-[ich doch noch die Würde der Senatoren im Kaiserreich erlangt.
Auf zwei sich in östlicher Richtung den Esquilin hinaufwindenden Straßen kamen sie zum großen Hause Sejanus'. Während Pilatus in das Atrium geleitet wurde, verkündete der Diener den Wartenden, daß Sejanus an diesem Nachmittag sonst niemanden empfangen könne. Eine Schar enttäuschter Klienten, Stellungsuchender und anderer lästiger Leute verließ das Haus.
»Kommen Sie herein, Pilatus«, sagte Sejanus mit unvermuteter Wärme. Die beiden gingen durch einen Säulengang in die Bibliothek. 4ch bin in einer Stunde mit dem Princeps verabredet. Wir werden darum nicht so viel Zeit haben, wie mir lieb wäre.«
»Was den gestrigen Abend betrifft«, stammelte Pilatus, räus-erte sich und fuhr dann fort: »Ich bedauere, daß der Wein mich ein wenig benebelt hatte. Mein kleiner Scherz war..
'>Ach, das«, fiel Sejanus ein, »ja, klug, aber gefährlich klug Vergessen wir lieber das Wortspiel. Da wir jedoch unter Freunden waren, können wir es auf sich beruhen lassen. Wäre es öffentlich ewesen, hätten die Dinge vielleicht eine andere Wendung genom-nen.
Sehr erleichtert versprach Pilatus, in Zukunft seine Zunge im iaum zu halten, als Sejanus ihn von neuem unterbrach: »Sie sind vlitglied unseres Ritterordens, haben eine ausgezeichnete Bildung, ?ilatus, und haben sich militärisch hervorragend bewährt. Was würden Sie gern tun, nachdem Ihr Dienst bei den Prätorianern beendet .st? Bedenken Sie, in welchen Ämtern Sie als Ritter Karriere machen önnten - so könnten Sie zum Beispiel ein hoher Beamter werden, ;agen wir, Präfekt in einer Provinz, oder vielleicht möchten Sie bei 1er Garde bleiben und mich eines Tages als Prätorianerpräfekt ab lösen.« Das Schmunzeln, das Sejanus' letzte Bemerkung begleitete, beruhigte Pilatus nicht. Der gönnerhafte Ton in der Frage war ihm nicht geheuer.
»Nein, Ihren Posten nicht - ich glaube, ich würde unter dem, was dieses Amt fordert, zusammenbrechen«, antwortete er pflichtschuldig, »aber obwohl ich noch keine endgültigen Pläne habe, ziehe ich die Verwaltung vor und hoffe darum, in irgendeinem öffentlichen Amt dienen zu können.«
»Gut. Zu viele vielversprechende Mitglieder unserer Schicht kehren der Politik den Rücken, um Kaufleute zu werden— aber das Reich braucht jetzt hohe Verwaltungsbeamte und nicht Händler.«
Die beiden Männer saßen bequem zurückgelehnt in ihren Sesseln, und wer sie so sah, hätte glauben können, sie genössen es, sich zwanglos zu unterhalten; aber Pilatus wußte es besser und blieb auf der Hut, da er aus Erfahrung wußte, daß Sejanus sein Thema eine ganze Weile zu umkreisen verstand, wobei er diese und jene Information bekam, die ihm nützlich erschien, ehe er schließlich zu dem eigentlichen Thema des Gespräches kam. Pilatus, dem gar nicht so viel daran lag, so schnell zur Sache zukommen, gab bedächtige Antworten.
Sejanus lenkte dann die Unterhaltung in eine ergiebigere Richtung: »Ich möchte Ihnen jetzt mehrere Fragen stellen, und versuchen Sie bitte nicht zu ergründen, was sie bedeuten könnten. Jedenfalls nicht im Augenblick. Erstens, was sagt die Stadt über Sejanus?«
»Die Prätorianer sind Ihnen alle treu ergeben, und ebenso sind es die meisten Römer. Tiberius wirkt in letzter Zeit etwas zerstreut, wenn Sie mir diese Bemerkung verzeihen. Er wird eben älter, und seit dem Tode des Drusus scheint er ein ganz anderer Mensch geworden zu sein —mißgestimmt, argwöhnisch, mürrisch. Man sieht ihn selten in der Öffentlichkeit. Er hat große Schwierigkeiten mit dem Senat. Es herrscht allgemein die Ansicht, daß er für Roms Wohlergehen einen starken Vertreter braucht, der für ihn regiert, jetzt mehr denn je. Und Sie sind ... «
»Genug der Diplomatie, Pontius Pilatus. Seien Sie ehrlich, und zeigen Sie die Kehrseite der Medaille!«

»Darauf wollte ich gerade kommen«, antwortete Pilatus schnell, der spürte, daß Sejanus ebenso seine Integrität wie seinen Takt testete, »aber Sie wissen am besten, wer Ihre Gegner sind. Agrippina und ihre
Anhänger, vielleicht ein Drittel des Senats - Patrizier, die jedem Ritter, der an der Macht ist, grollen - und ein paar eigensinnige Republikaner, die spüren, daß Sie eine Regierung zusammenhalten, die man nach ihrer Meinung zusammenbrechen lassen sollte.«
Agrippina, die Witwe von Tiberius' beliebtem Neffen Germa-nicus, war Sejanus spinnefeind. Sie ärgerte sich über seinen wachsenden Einfluß auf den Princeps in einer Zeit, da ihre Söhne in der Thronfolge an erster Stelle standen, während Tiberius ebenso ärgerlich darüber war, daß sie sich so leidenschaftlich für die beiden einsetzte. Agrippina und Sejanus bildeten damals Gegenpole in der hohen Politik Roms.
»Das ist ein adäquater Katalog der Opposition«, sagte Sejanus, »aber was ist mit dem Mann auf der Straße?«
»Den Plebejern ist es noch nie besser ergangen. In Rom herrscht Frieden. Die Wirtschaft gedeiht, und vieles davon schreibt man Ihnen zugute. Aber ehrlich gesagt, es ist ebenso bekannt, daß Sie kürzlich an Tiberius schrieben, ihn um die Hand Livillas gebeten haben, und daß er Ihnen nicht gestattet hat ...
Sejanus machte große Augen: »Das ist in der Öffentlichkeit be-kannt?«
»Ein paar Gardinen haben im Forum diesen Klatsch aufgeschnappt. Aber man glaubt, daß Sie schließlich Ihren Willen doch durchsetzen werden, und die Leute sehen in Ihnen jemanden, der geduldig ist.«
Livilla war die Witwe von Yiberius' Sohn Drusus. Ihre Verliebtheit in Sejanus recht bald nach dem Tode ihres Mannes wurde nicht ohne Kritik bemerkt, und da diese Ehe Agrippina vor Eifersucht wahnsinnig gemacht hätte, hatte Tiberius klugerweise seine Einwilligung vorerst nicht gegeben.
»Ja, es war ein bißchen verfrüht. Ein Fehler von mir. Die Liebe gerät manchmal in Konflikt mit dem Verstand, wie Sie gewiß wissen ... Aber jetzt zu etwas anderem. Sind Sie ein religiöser Mann, Tribun?«
Diese Frage überraschte Pilatus sichtlich. Er nahm eine andere Haltung ein und räusperte sich: »Nun ... ich verehre natürlich die offiziellen Götter des Staates.«
»Ja, natürlich, und zwar fanatisch, wie ich wetten möchte«, sagte Sejanus mit einem spöttischen Lächeln, da keiner von beiden
Jupiter oder Juno oder eine der anderen griechischen Gottheiten, denen man lateinische Namen gegeben hatte, ernst nahm. In letzter Zeit, schien es, rief man die Götter nur an, wenn man fluchte. »Nun, wie ist es dann mit der Philosophie«, forschte Sejanus, »dem Ersatz des Intellektuellen für Religion? Welche Schule bevorzugen Sie?«
Pilatus dachte einen Augenblick nach. »Ich würde sagen, ich stehe in der Mitte zwischen Skeptizismus und Stoh'dsmus. Die Suche nach der letzten Wahrheit ist eine gute Übung, aber hat jemand sie je gefunden? Und wenn ja, was ist Wahrheit? Eine Wahrheit, wie sie die Platoniker oder die Epikuräer lehren? Oder Aristoteles oder die Zyniker? In dieser Hinsicht bin ich wohl ein Skeptiker. Andererseits wäre Skeptizismus allein wohl kaum als Richtschnur für das Leben geeignet. Hier, glaube ich, haben die Stoiker mit ihrer wunderbaren Betonung der Pflicht und ihrem Glauben an eine Vorsehung den römischen Staat etwas zu lehren.«
»Nun, wie ist es dann mit dem jüdischen Monotheismus?« »Die Juden sollen zwar an einen Gott glauben, aber sie sind kaum Stoiker.«
»Was halten Sie sonst von den Juden als Volk?«
»Ich glaube, jeder Römer würde mir zustimmen, daß sie ein sehr fleißiges, aber Inzucht treibendes und stolzes Volk sind. Doch sie begraben ihre Differenzen, wenn es darum geht, mit unseren Geschäftsleuten in Wettbewerb zu treten. Nein, ich glaube nicht, daß die Juden gute Römer sind, und Sie erinnern sich natürlich an den Fulvia- Skandal. «
Vor mehreren Jahren hatten vier vernichte Juden eine römische Matrone namens Fulvia d7u überredet, als Opfergabe für den Tempel in Jerusalem ein purpumes Gewand und einiges Gold zu spenden, was sie sich dann prompt selber aneigneten. Als Tiberius von dem Schwindel erfuhr, verbannte er in seiner Wut die Juden, zusammen mit einigen weiteren Anhängern fremder Kulte und Astrologen - es war die erste derartige Verfolgung durch den römischen Staat.
»Ich muß gleich zu dem Kaiser«, fuhr Sejanus fort, »darum erlauben Sie mir, daß ich mich kurz fasse. Valerius Gratus, der Präfekt von Judäa, ist dort elf Jahre im Amt gewesen, und der Princeps und ich halten einen Wechsel für an der Zeit. 

Eine Ansicht, die, wie ich zu meiner Freude sagen darf, Gratis ebenfalls teilt. Kurz gesagt,
ich habe vor, Sie als Praefrctus Judacac und Nachfolger des Gratus vorzuschlagen - wenn Sie damit einverstanden sind!« Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Aber ehe Sie sich entscheiden, will ich Einen noch einige Einzelheiten nennen. Im Augenblick ist Judäa ein besonders wichtiger Posten, da die Provinz Syrien während der augenblicklichen Interimszeit ohne Statthalter ist.«
»Wie steht es mit Aelius Lamia?« warf Pilatus ein.
»Lamia!« lachte Sejanus, »er ist Legat von Syrien, das stimmt. Aber nur dem Titel nach und nicht in der Praxis. Der Princeps mißtraut ihm, und er muß seine Amtszeit hier in Rom ab dienen. Darum ist im Augenblick jenseits der Grenze, in Syrien, kein Statthalter, der dem judäischen Präfekten beisteht, wenn er in Schwierigkeiten gerät. Und deswegen brauchen wir einen unserer besten Männer auf diesem Posten. Aus zwei Gründen habe ich an Sie gedacht.«
»Ich danke Ihnen Es ehrt mich, daß Sie in diesem Zusammenhang an mich gedacht haben«, kam es Pilatus glatt von der Zunge.
Und tatsächlich, er war überwältigt. Die Stellung eines Präfekten in der Provinz war eine dramatische Beförderung für ihn, eines der höchsten Ämter in der Ritterlaufbahn. Im Gedanken an seine Zukunft hatte Pilatus wohl schon gehofft, einmal Präfekt zu werden, aber nie war ihm der Gedanke gekommen, daß es Judäa sein könnte.
»Es würde mich aber interessieren, warum Sie gerade mich für diesen Posten vorgesehen haben«, fügte Pilatus hinzu.
»Weil Sie jenen Teil der Welt kennen. Sie sind, meine ich mich zu erinnern, administrativer Militärtribun bei der 12. Legion gewesen. Stimmt das?«
»Ja. Aber das war in Syrien.«
»Und Syrien ist der direkte Nachbar Judäas«, sagte Sejanus, »aber vielleicht sind Sie nicht daran interessiert, eine Provinz zu regieren.«
»Ganz im Gegenteil. Wann soll ich mich aufmachen?« Lächelnd gestand sich Pilatus schnell ein, daß das Bedürfnis, Zeit zu gewinnen, nur seiner großen Uberraschung zuzuschreiben war.
»Wie Sie sicher wissen«, fuhr Sejanus fort, »wird Ihr Einkommen hunderttausend Sesterzen sein, die Nebeneinkünfte nicht mitgerechnet. Und wenn Ihre Tätigkeit erfolgreich ist, kann es entsprechend erhöht werden. Die Juden sind natürlich schwer zu regieren, und darum ist das Gehalt nicht zu hoch; aber nach Ihrer Zeit in Judäa werden vielleicht noch größere Ehren Sie hier in der Regierung erwarten, zumal wenn Sie Rom im Ausland gut dienen.«
Pilatus wollte ein paar weitere Fragen stellen, als er von neuem unterbrochen wurde. Gespräche mit dem Prätorianerpräfekten wurden, wie nur all7u bekannt war, nur von einer Seite bestritten. »Aber das alles ist im Augenblick noch nicht entschieden. Tiberius muß natürlich erst seine Zustimmung geben, und heute nachmittag werde ich um Sie zu kämpfen beginnen. Ich werde zunächst sagen, wie notwendig Judäa einen Präfekten braucht, und dann beiläufig Ihren Namen erwähnen und schildern, was Sie bis jetzt gemacht haben. Im Laufe des Gesprächs werde ich auf Sie zurückkommen und Sie zum Schluß noch einmal erwähnen. Dann werden Sie so etwas wie ein alter Freund des Princeps sein. Das bedeutet natürlich nicht, daß er schon heute seine Zustimmung zu Ihrer Ernennung gibt. Er würde das niemals tun. Denn das würde so aussehen, als ob er sich von mir beeinflussen ließe, und er ist in dieser Hinsicht sehr empfindlich. Tiberius wird sich in etwa einem Monat für Sie entscheiden, und dann ist es geschafft.«
»Meinen. Sie, ich sollte mich jetzt schon auf das Amt vorbereiten oder erst Tiberius' Zustimmung abwarten?«
»Sie können sich jetzt schon vorbereiten. Ich werde keinen anderen Kandidaten vorschlagen, und ich glaube auch nicht, daß der Kaiser an einen anderen denkt.«
Mit diesen Worten geleitete er Pilatus in das Atrium hinaus und rüstete sich für seinen Besuch auf dem Palatin.
Draußen war es für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Ein Südwestwind wehte vom Aventin herunter und brachte den frischen Weizengeruch von den großen stattlichen Kornspeichern am Tiber mit. Am späten Nachmittag sollte es regnen.
Auf seinem Rückweg in die Castra berauschte sich Pilatus an den ganz neuen Aussichten, die sich ihm boten. Er hatte einen Tadel erwartet, nein, Entlassung. Statt dessen sollte er nun eine römische Provinz regieren. Die Herrschaft über Ju&ia würde natürlich mehr als eine Herausforderung sein. Nach allen Berichten war es eine äußerst komplizierte Aufgabe, die Juden unter römischer Herrschaft zufriedenzustellen. Er wußte, daß Palästina, seit Pompejus es vor fast neunzig Jahren erobert hatte, stets ein Unruheherd gewesen war. 

Rom hatte es mit einer indirekten Regierung unter König Herodes und einer direkten unter seinem Präfekten versucht. Aber die wachsende Feindschaft zwischen Römern und Juden und diesem in der Sonne schmorenden Land hatte zu Aufruhr und Rebellion geführt, die alle in Blut erstickt worden waren.
Diese Aussicht beunruhigte Pilatus. Er versuchte, die Gründe für seine Wahl herauszufinden. Und schon bald wurden sie ihm nur allzu klar. Pilatus stand im Ruf, ein zäher Befehlshaber zu sein, seit er geholfen hatte, durch eine geschickte Kombination von Beredsamkeit und Gewalt eine Meuterei in der 12. Legion zu unterdrücken. Sejanus hatte davon gehört und ihm daraufhin ein Anerkennungsschreiben gesandt. Die Soldaten in der Gewalt zu behalten, war für Sejanus das oberste Gebot.
Plötzlich fragte sich Pilatus, ob Sejanus noch einen anderen Grund hatte. Wie war es mit Lamia, dem Präfekten ohne Provinz? Traute nur Tiberiu.s ihm nicht und verhinderte er es, daß Lamia nach Syrien ging? Und Sejanus? Vor mehreren Jahren hatte Lamia mit Sejanus in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung gestritten und war danach zu der Partei Agrippinas übergegangen. Und obwohl er in Rom gleichsam in Quarantäne saß, gingen östliche Angelegenheiten äber seinen Schreibtisch. Darum mußte jetzt, da Sejanus' Vater, der Statthalter in Ägypten, tot war, jemand Sejanus' Interessen im Osten vertreten. Jemand? Er!
Nun gut. Vor mehreren Jahren hatte er auf die Karte des Seja-rius, seines Rittergenossen, gesetzt, der jetzt gleich nach dem Kaiser kam, und dieser Entschluß hatte sich bezahlt gemacht. Judai war eine äußerst schwierige Aufgabe. Aber wenn er erfolgreich war, würden ihn nach Sejanus' Worten in der hiesigen Regierung größere Ehren erwarten.
Es war ein typischer »Sejanismus*c, eine Übertreibung mit einem Schuß Satire, aber er vergoldete Pilatus' Aussichten.

Zweites Kapitel
Ein paar Tage später, als Sejanus die Garde inspizierte, berichtete er Pilatus, daß der Princeps seine Ernennung positiv aufgenommen habe. Und riet ihm, sich auf die ihn erwartenden Aufgaben in Judäa dadurch vorzubereiten, daß er Kenner des östlichen Mittelmeerraums konsultierte, die in Rom lehrten. Pilatus, der ein sehr vorsichtiger Mensch war, hatte seiner Braut Procula gegenüber noch nichts von seiner zu erwartenden Ernennung erwähnt; er wollte erst wissen, wie Tiberius auf seine Kandidatur reagierte. Für einen Militär, der gelernt hatte, schnelle, unumstößliche Entscheidungen zu fällen, war Pilatus überraschend sanft und geduldig mit dem jungen Mädchen. Und er wollte es vermeiden, Hoffnungen in ihr zu wecken, die durch eine negative Entscheidung des Kaisers zunichte gemacht werden konnten. Heute nun konnte er sie mit der Nachricht von seiner Berufung überraschen, und er sah diesem Abend freudig entgegen. Sie waren noch nicht offiziell verlobt, weil Pilatus erst die militärische Dienstzeit haut beenden wollen, aber er begann sich zu fragen, ob das nicht ein Vorwand gewesen war; denn wie viele seiner Zeitgenossen war Pilatus mit Leib und Seele Junggeselle gewesen, ein leidenschaftlicher Anhänger jener Freiheit und Ungebundenheit, die die Männer Roms so sehr entzückte, daß die Heirats- und Geburtsziffern beunruhigend sanken. Pilatus war von seiner Familie schon mit Procula verlobt worden, als das Mädchen noch ein halbes Kind war. So hatte er eine Reihe von Jahren bis zur Eheschließung gewonnen und das hohe Maß an Freiheit genossen. Im letzten Jahr aber hatte er sich mehr und mehr zu Procula hingezogen gefühlt, und sie hatten sich wirklich ineinander verliebt, eine unerwartete und nach den in Rom geltenden Begriffen unnötige Entwicklung. Procula war jetzt etwas mehr als halb so alt wie er. Er war Ende dreißig, sie noch nicht zwanzig - der übliche Altersunterschied, wenn auch seine Freunde Procula schon fast zu alt für ihn fanden. Pilatus machte sich jedoch selber nichts vor und glaubte, das Gegenteil komme der Wahrheit näher; er war entschlossen, so bald wie möglich zu heiraten, damit Procula und er sich eines langen gemeinsamen Lebens
@1996 Hänsseler Verlag

Mücher Werner, Das Lied der Lieder

06/30/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Bibel auszulegen, und das gilt auch für das Buch, über das wir nun nachdenken wollen, das Hohelied. Die erste Möglichkeit ist die, dass man sich fragt,

wie das Buch geschichtlich oder buchstäblich zu verstehen ist. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass man der Frage nachgeht, was die geistliche Bedeutung dieses Buches ist und was
dann die Anwendungen für unser Leben sind, die sich daraus ergeben. Und schließlich haben viele Bücher oder Abschnitte der Bibel auch eine prophetische Bedeutung, was insbesondere
für das Hohelied gilt. Ich möchte in diesem Buch vor allem auf die prophetische Bedeutung des Hohenliedes für Israel eingehen und von daher auch Anwendungen auf unser Leben als Christen
machen.
Es geht im Hohenlied um einen Bräutigam und die Liebesbeziehung zu seiner Braut. In den Propheten des Alten Testaments finden wir öfter, dass Gott sich selbst mit einem Ehemann und das Volk Israel mit einer Ehefrau vergleicht (Jes 54,6; Jer 2,2; 3,1.20; Hes 23,2ff.; Hos 2,21). Gott gebrauchte das Bild der Ehe, wenn Er durch die Propheten zum Volk sprach, um das Volk an seine Liebe zu Ihm zu erinnern und daran, was für eine enge Beziehung Gott zu seinem Volk eingegangen war. In diesem Sinn hat das Hohelied eine tiefe prophetische Bedeutung im Blick auf Christus und das Volk Israel.


Als der Herr Jesus vor etwas mehr als 2000 Jahren auf die Erde kam, war das Volk Israel alles andere als eine Braut. Und obwohl Er kam und starb, um sich vor allem die Gemeinde zu erwerben
(Eph 5,25), hat Er das Werk auf dem Kreuz doch auch deshalb vollbracht, damit Er einmal unter dem Volk Israel eine Braut haben würde. Das bedeutet, wie wir auch aus vielen Stellen der
Heiligen Schrift wissen, dass es in Zukunft unter dem Volk Israel einen Überrest geben wird, dem der Herr Jesus sich zuwenden und bei dem Er Liebe wecken wird.

Wir werden also, wie gesagt, immer wieder Gelegenheit haben, Stellen im Hohenlied auch auf uns persönlich im Blick auf unser Verhältnis als Gläubige zum Herrn Jesus anzuwenden. Insofern
ist das Hohelied alles andere als ein trockenes Buch. Es geht nicht nur um Prophetie, so interessant und wichtig sie ist, wir wollen aus diesem Buch auch etwas für uns selbst lernen.
Man kann das Buch in vier Abschnitte einteilen. Dabei hilft uns der Refrain in Kapitel 2,7; 3,5 und 8,4, der jeweils einen Abschnitt abschließt:
1. Die gegenseitige Zuneigung der Liebenden (Kap. 1,1–2,7)
2. Das erneute Suchen und Finden der Liebenden (Kap. 2,8–3,5)
3. Hauptteil (Kap. 3,6–8,4)
a) Die gegenseitige Liebe ist an Erfahrungen reicher geworden und tritt in eine tiefere Phase ein (Kap. 3,6–5,1)
b) Die Liebe wird verschmäht und wiedergewonnen (Kap. ,2–6,9)
c) Die Schönheit Sulamiths und ihre geistliche Reife (Kap. 6,10–8,4)
4. Schlussteil: die Vollkommenheit der Liebe (Kap. 8,5–14)
1. Die gegenseitige Zuneigung der Liebenden (Kapitel 1,1–2,7)

1 Das Lied der Lieder, von Salomo.
2 Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist besser als Wein. 3 Lieblich an Duft sind deine Salben, ein ausgegossenes Salböl ist dein Name; darum lieben dich die
Jungfrauen. 4 Zieh mich: Wir werden dir nachlaufen. Der König hat mich in seine Gemächer geführt: Wir wollen frohlocken und uns an dir freuen, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein! Sie lieben dich in Aufrichtigkeit.
5 Ich bin schwarz, aber anmutig, Töchter Jerusalems, wie die Zelte Kedars, wie die Zeltbehänge Salomos.
6 Seht mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat: Die Söhne meiner Mutter zürnten mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge; meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet.
7 Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag? Denn warum sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner Genossen?
8 Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus, den Spuren der Herde nach, und weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten.
9 Einer Stute an des Pharaos Prachtwagen vergleiche ich dich, meine Freundin. 10 Anmutig sind deine Wangen in den Kettchen, dein Hals in den Schnüren.
11 Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit Punkten aus Silber.
12 Während der König an seiner Tafel war, gab meine Narde ihren Duft. 13 Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das zwischen meinen Brüsten ruht. 14 Eine Zypertraube ist mir mein Geliebter, in den Weinbergen von En-Gedi.
15 Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben.
Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig; ja, unser Lager ist frisches Grün. 17 Die Balken unseres Hauses sind Zedern, unser Getäfel Zypressen.

Vers 1
„Das Lied der Lieder, von Salomo.“ Das ist die Überschrift dieses Buches. In 1. Könige 5,12 finden wir einen Hinweis, dass Salomo insgesamt 3000 Sprüche verfasst und 1005 Lieder gedichtet hat. Das Lied der Lieder ist zweifellos das bedeutendste dieser Lieder. Vielleicht stammt auch Psalm 72 aus der Feder Salomos. Das Hohelied ist ein ganz besonderes Lied, es ist das Lied der Lieder. Man kann eine Analogie zum Heiligen der Heiligen sehen, zum Allerheiligsten. Das Heilige der Heiligen – das Lied der Lieder. Das Allerheiligste führte in die Gegenwart Gottes. Allein der Hohepriester durfte das Allerheiligste betreten, und das nur einmal im Jahr. In gewisser Weise führt uns das Hohelied in die unmittelbare Nähe des Herrn Jesus, in das Heiligtum der Liebe. Die Juden hatten festgelegt, dass man das Hohelied erst lesen durfte, wenn man 30 Jahre alt war.1 Wir sollten beim Studium dieses Buches darauf achten, dass wir unserer Phantasie nicht freien Lauf lassen, sondern unsere Gedanken unter den Gehorsam des Christus gefangen nehmen (2Kor 10,5).

Vers 2
„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist besser als Wein“. Es ist nicht der Bräutigam, der die ersten Worte in diesem Buch spricht, sondern die Braut. Würde man
nicht erwarten, dass der Bräutigam als Erster spricht, da er ja bei der Braut die Liebe weckt? Nein, er wartet darauf, dass die Braut als Erste spricht. Er kann warten, manchmal sogar sehr lange. Interessant ist, dass die Braut auch die letzten Worte dieses Buches spricht. Sie hat das erste und das letzte Wort.
1 „Origenes und Hieronymus berichten uns, dass die Juden es verboten, dass es [das Hohelied] von jemandem gelesen wurde, bis er dreißig Jahre alt war”. In Jamieson-Fausset-Brown Bible Commentary. Warum wartet der Herr Jesus, bis seine irdische Braut spricht? Wir lesen in Matthäus 23,38.39, dass Er, nachdem Er den geistlichen Führern des Volkes ein siebenfaches Wehe zugerufen hatte, sagte: „Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: ,Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!‘“ Als das Volk Israel den Messias damals zu Tode brachte, zeigte sich, dass es für Ihn, ja, für Gott, keinen Platz in seiner Mitte gab. Nun wartet Er darauf, dass das Volk Ihn willkommen heißt, vorher kann Er nicht kommen. 

Der Augenblick wird kommen, wo das Volk – jetzt ist es noch nicht dazu bereit, auch wenn Gott in seiner Vorsehung großartige Dinge mit dem Volk Israel geschehen lässt – geistlich wiederhergestellt wird und wo es seinen Messias mit den Worten willkommen heißt: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!“
In diesem Sinn verlangt der Überrest des Volkes Israel in Zukunft nach der Liebe des Messias: „Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes.“ Dann werden sie sich nach dem Ausdruck,
dem Beweis seiner Liebe sehnen. Dasselbe Volk, das Ihn damals ans Kreuz geschlagen hat, wird Ihn dann willkommen heißen. Für sie ist es zuerst eine Frage, ob der Messias überhaupt
noch etwas mit ihnen zu tun haben will. Das Hohelied zeigt uns, wie Er es sogar ist, der die Liebe der Seinen zu sich vertieft. Wir wollen das auch auf uns selbst anwenden: Hast
du schon einmal zu dem Herrn Jesus gesagt: „Herr, zeig mir einmal in besonderer Weise Deine Liebe, erweise sie mir, lass sie mich spüren“?

„Denn deine Liebe ist besser als Wein.“ Der Wein ist oft in der Bibel ein Bild der Freude: „... damit Wein das Herz des Menschen erfreut“ (Ps 104,15; vgl. Rich 9,13). Wer die Liebe des Herrn Jesus kennengelernt hat, weiß, dass sie unendlich größer und besser ist als jede irdische Freude. Warum verlangen Gläubige manchmal so sehr nach irdischen Dingen? Liegt es nicht daran, dass sie die Liebe des Herrn Jesus zu ihnen zu wenig verstanden haben und sich daran erfreuen?
2 Denken wir nur an die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 und die vielen
Kriege, die Israel gewonnen hat.

Vers 3
„Lieblich an Duft sind deine Salben.“ Alles, was vom Herrn Jesus ausgeht, was von Ihm ausströmt, ist ein Wohlgeruch. Alles, was Er gesagt und getan hat, war eine Freude für Gott und für die Menschen, deren Augen dafür geöffnet waren. Öfter hat sich der Himmel über Ihm geöffnet und hat Gott sein Wohlgefallen an Ihm ausgesprochen (Mt 3,17; 17,5). Menschen haben bezeugt, dass Er Worte der Gnade gesprochen hat (Lk 4,22; Joh 7,46).
Was der natürliche Mensch von sich gibt, ist kein angenehmer Geruch, weil alles von der Sünde durchsetzt ist. Eine einzige Fliege reicht aus, um das Öl des Salbenmischers stinkend zu machen
(Pred 10,1). Manchmal reicht ein Wort, das wir sagen, oder eine Tat, die wir tun, um die Atmosphäre zu verderben. Die eine Übertretung von Adam und Eva hat ausgereicht, um die Erde
zu einem schmutzigen Ort zu machen, einem Ort des üblen Geruchs. Die Sünde hat den Geruch des Todes. Wie ganz anders verbreitete der Herr Jesus einen wunderbaren Wohlgeruch für
Gott und Menschen.
„... ein ausgegossenes Salböl ist dein Name“. Welche Herrlichkeiten sind im Namen des Herrn Jesus verborgen. Ein Liederdichter hat das sehr schön ausgedrückt in dem Lied „O Jesu Name
ohnegleichen“. Darin besingt er eine Reihe der verschiedenen Herrlichkeiten des Herrn; sie sind tatsächlich ein ausgegossenes Salböl. Kann man diesen Geruch jemals vollkommen genießen?
Jeder einzelne Name spiegelt eine Seite seiner unfassbar großen Herrlichkeit wider. Der Name des Herrn Jesus war nicht nur ein Salböl für die Menschen, er war es vor allem für Gott, seinen Vater. Einmal wird auch der Überrest aus dem Volk Israel, die irdische Braut des Messias, erkennen, dass der Herr solch einen Wohlgeruch verbreitete und auch jetzt noch verbreitet.
Weiter sagt die Braut: „... darum lieben dich die Jungfrauen“. Nicht nur die Braut liebt Ihn, sondern es gibt noch viele andere, die den Herrn Jesus lieb haben. Wenn jemand verstehen lernt,
dass der Herr Jesus ihn liebt, möchte er gern andere einschließen, und freut sich, wenn auch sie Ihn lieben. Ja, es gibt noch viele andere Jungfrauen, und auch sie lieben den Bräutigam.

Was ist nun der Unterschied zwischen der Braut des Hohenliedes und denen, die hier Jungfrauen genannt werden? Die Braut ist genau genommen nicht ein Bild der Menschen, die in Zukunft
aus dem Volk Israel zum Glauben kommen – also des Überrestes –, sondern eigentlich ein Bild von der Stadt Jerusalem. Übrigens wird ja auch die Braut des Lammes im Neuen Testament, die Gemeinde, mit einer Stadt verglichen: dem neuen Jerusalem (Offb 3,12; 21,2).
Die irdische Stadt Jerusalem hat Tochterstädte, das sind die Städte Judäas (vgl. V. 5). Die Jungfrauen sind hier ganz allgemein Städte. Die Frage ist nun, ob alle diese Städte sich in Zukunft dem Herrn Jesus als König ergeben werden. Es ist gleichsam so, als
würde der Herr bei seinem Kommen durch das Land ziehen, und eine Stadt nach der anderen würde sich Ihm ergeben und Ihn freudig aufnehmen und als König anerkennen.
Ich möchte eine Anwendung machen: Wie großartig wäre es, wenn Berlin sich dem Herrn Jesus ergeben würde. Was wäre es für ein Segen für Deutschland, wenn die führenden Leute in Berlin,
in der Hauptstadt, anfingen, sich zum Herrn zu bekehren. Die Bibel fordert uns auf, für die Menschen in Hoheit zu beten (1Tim 2,1–4). Tun wir es? Beten wir dafür, dass die Menschen, die
Gott als Regierung eingesetzt hat, sich bekehren? Ich kenne einen jungen Mann, der sich vor einiger Zeit bekehrt hat. Wenn wir zusammen beten, betet er hin und wieder für die Bundeskanzlerin, besonders dafür, dass sie sich bekehrt. Hat er nicht schon viel aus
der Bibel gelernt?Jungfrauen sind Frauen, die sich rein erhalten haben und keine
unerlaubte Beziehung zu einem Mann eingegangen sind.
Im Buch der Offenbarung werden sogar Männer Jungfrauen genannt (Kap. 14,1–5). Das klingt auf den ersten Blick merkwürdig, doch wenn man die übertragene Bedeutung kennt,
ist das gut verständlich. Müssen sich Gläubige, Männer wie Frauen, nicht von der Welt rein erhalten? Alle, die den Herrn Jesus lieben, sind Jungfrauen. Paulus schreibt den Korinthern:
„Denn ich eifere um euch mit Gottes Eifer; denn ich habe euch einem Mann verlobt, um euch als eine keusche Jungfrau dem Christus darzustellen“ (2Kor 11,2). Und Jakobus schreibt in seinem Brief: „Ihr Ehebrecherinnen, wisst ihr nicht, dass die Freundschaft der Welt Feindschaft gegen Gott ist?“ (Kap. 4,4).

Vers 4
„Zieh mich: Wir werden dir nachlaufen.“ Wer den Herrn Jesus von Herzen liebt, hat den Wunsch, dass auch andere Ihn kennen und lieben möchten, dass sie sich Ihm hingeben, in der Nachfolge
wachsen und geistlich reifen. Manchmal ermahnen wir einander, dieses und jenes zu tun oder nicht zu tun. Doch macht das einen guten Christen aus? Sicher ist es nötig, dass wir falsche Dinge beim Namen nennen, aber das Wirkungsvollste ist, dass wir uns
selbst vom Herrn ziehen lassen und dadurch ein gutes Vorbild für andere werden, damit wir gemeinsam dem Herrn nachfolgen, ja, Ihm nachlaufen. Viele Ermahnungen könnten wir uns sparen, wenn wir gute Vorbilder wären.
„Der König hat mich in seine Gemächer geführt“. Die Braut hat eine ganz besondere Beziehung zum König3, wenn sie auch noch nicht im Königspalast ist. Das, was wir in Hohelied
1 und 2 finden, spielt sich mehr oder weniger im Freien ab. Wer den Herrn Jesus kennenlernt, wie das auch bei dem Überrest der Fall sein wird, lernt Ihn zuerst einmal als
den kennen, der sich im Freien aufhält. Als Menschen Ihm in Matthäus 8 nachfolgen wollten, sagte Er ihnen, dass Er als der Sohn des Menschen auf der Erde keinen Platz habe, wo
Er sein Haupt hinlegen könne (V. 20). In dieser Verbindung nennt Er sich zum ersten Mal „Sohn des Menschen“. Dieser Titel des Herrn ist ein Hinweis darauf, dass Er der von der
Welt Verworfene war. Unser Herr hatte auf der Erde keinen Platz, wohin Er sein Haupt
legen konnte. So haben auch wir als Christen Ihn als den kennengelernt und angenommen, der von der Welt abgelehnt wurde.  Was die historische Auslegung des Hohenliedes angeht, so ist deutlich, dass Salomo und Sulamith verheiratet waren und nicht mehr verlobt. Das hebr. Wort
für „Braut“ (kallah) bedeutet sowohl „Verlobte“ als auch „frisch Verheiratete“ und sogar „Schwiegertochter“. und wird. Das macht es den Menschen oft so schwer, an Ihn zu
glauben, weil sie wissen, dass auch sie dann von der Welt abgelehnt werden, häufig von den nächsten Familienangehörigen. Würden sich Ihm, wenn Er in seiner Herrlichkeit erschiene, nicht
weitaus mehr Menschen unterordnen? „Wir wollen frohlocken und uns an dir freuen, wollen deine Liebepreisen mehr als Wein! Sie lieben dich in Aufrichtigkeit.“ Obwohl die Braut dem Bräutigam viel näher steht als jeder andere, schließt sie doch andere erneut mit ein, wenn sie sagt: „Wir wollen frohlocken und uns an dir freuen.“ Es ist ein Zeichen geistlicher Reife, wenn man sich der Liebe des Herrn Jesus bewusst ist und danach verlangt, dass auch andere diese Freude an Ihm erfahren und seine Liebe preisen, die viel herrlicher ist als alles, was es auf der Erde gibt. Die Braut versichert dem Bräutigam sogar, dass auch die Jungfrauen Ihn in Aufrichtigkeit lieben.

Vers 5
Nun sagt die Braut etwas über sich selbst, und zwar zu den Jungfrauen, die sie jetzt Töchter Jerusalems nennt: „Ich bin schwarz, aber anmutig, Töchter Jerusalems“. Ist das nun ein Kompliment? Wohl kaum. Warum ist sie denn schwarz? Sie ist so schwarz, wie
ein Sünder von Natur aus schwarz ist. Von Natur aus gehören wir alle zum Bereich der Finsternis. Wir waren Finsternis (Eph 5,8). Wir hatten ein verfinstertes Herz (Röm 1,21) und waren verfinstert am Verstand (Eph 4,18); wir waren völlig durch die Sünde verdorben. Die Gläubigen aus dem Volk Israel werden einmal anerkennen, dass sie schwarz sind und dass sie durch die Hitze der großen Drangsal noch schwärzer geworden sind. Wenn dieGerichte Gottes über das Volk Israel hereinbrechen, wird es ganz schwarz werden. Einmal wird Israel von sich aus anerkennen, dass es durch und durch schwarz ist. Wie gut, wenn auch wir uns
bewusst sind, wie schwarz wir einmal waren. Doch die Braut sagt nicht nur, dass sie schwarz ist, sondern auch, dass sie anmutig ist. Wenn der Überrest seine Sünde bekennt,
wird er Vergebung erfahren. Gott wird den Geist der Gnade und des Flehens auf das Volk ausgießen, so dass es bitterlich über den Tod des Messias wehklagen wird. Dann wird Gott ihnen eine Quelle der Reinigung für Sünde und Unreinheit öffnen (Sach 12,10; 13,1). Gott wird das Volk wohlgefällig annehmen und es mit einer unbeschreiblichen Herrlichkeit bekleiden. So wissen
auch wir als Christen, dass wir durch das Werk des Herrn Jesus gerechtfertigt und in dem Geliebten begnadigt oder angenehm gemacht sind (Eph 1,6)4. Vom neuen Jerusalem heißt es in der Offenbarung,Kapitel 21,11, dass diese Stadt die Herrlichkeit Gottes hat. Die Braut vergleicht ihre Schwärze mit den Zelten Kedars, die mit schwarzen Ziegenhaardecken bedeckt waren, und ihre Anmut mit den Zeltbehängen Salomos, die wunderschön bunt und wertvoll waren.

Vers 6
Weiter sagt sie zu den Jungfrauen: „Seht mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat: die Söhne meiner Mutter zürnten mir, bestellten mich zur Hüterin der
Weinberge“. Die Braut hatte Brüder, die Söhne ihrer Mutter. Sie hatten ihr gezürnt. Es ist keine seltene Erscheinung in Familien, dass Geschwister nicht gut miteinander auskommen. In der
Familie Isais fand David wenig Beachtung von seinen Brüdern. Als Samuel nach Bethlehem zur Familie Isais kam, um einen der Söhne Isais zum König zu salben, führte der Vater nacheinander
sieben seiner Söhne vor, doch jedes Mal sagte der HERR zu Samuel, dass es nicht der Richtige war. Keiner von der Familie dachte nur im Geringsten an David.
Für die Brüder der Braut rangierte sie unter „ferner liefen“. Sie hatten ihr gezürnt und sie zur Hüterin der Weinberge bestellt. Waren die Brüder denn dazu berechtigt? Sie hatten einfach über
sie bestimmt und ihr eine niedrige Arbeit zugewiesen. Sie scheint fremdbestimmt gewesen zu sein. Ist das nicht genau das, was die Sünde mit dem nicht wiedergeborenen Menschen tut? Er glaubt, frei zu sein, und in Wirklichkeit zürnen ihm andere, steht er unter, einer anderen Macht, und das, was er eigentlich tun sollte, kann er nicht tun. Der Mensch ist geschaffen, um Gott zu dienen. Doch der gefallene Mensch ist ein Sklave der Sünde. Israel befindet sich heutzutage noch im Zustand eines Sklaven und ist durchaus nicht fähig, den Willen Gottes zu tun. Jede Begeisterung für das Volk Israel, die das nicht berücksichtigt, ist fehl am Platz.
Einmal wird das Volk zu der Erkenntnis kommen: „... meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet.“ War es nicht die ihnen von Gott gegebene Aufgabe, sich Gott zu unterwerfen und der
ganzen Welt zu zeigen, was es bedeutet, gottesfürchtig zu sein und nach den Geboten Gottes zu leben? Wie hat das Volk diese Gebote missachtet, und wie hat es schließlich die ausgestreckte
Hand Gottes im Messias ausgeschlagen!
Wir können die Vernachlässigung des eigenen Weinbergs auch auf uns als Gläubige anwenden. Es kann geschehen, dass andere uns fragen: „Kannst du nicht einmal dies und das machen?“
Es ist sicher gut, wenn man einander zu einer Aufgabe ermutigt, aber dabei dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass jeder Gläubige das tun muss, was der Herr von ihm möchte und wozu Er
ihm eine Gabe gegeben hat. Es kann auch sein, dass wir vor lauter Arbeit keine Zeit für die persönliche Gemeinschaft mit dem Herrn haben. Wenn wir ehrlich sind, geben wir zu, wie schwierig es manchmal ist, die Gemeinschaft mit dem Herrn zu pflegen. Es gibt so viele schöne Dinge, die man tun kann, auch im Dienst für den Herrn. Doch es sollte erste Priorität für uns haben, dass wir uns Zeit nehmen – vielleicht müssen wir dazu früher aufstehen
oder unsere Prioritäten neu ordnen – für die Gemeinschaft mit dem Herrn, also für das Lesen seines Wortes und für das Gebet. Ist das vielleicht im Augenblick auch dein Problem? Musst auch du sagen: „... meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet“?
Wie schade wäre das. Doch das muss nicht so bleiben!

Vers 7
Gut ist, dass die Braut ehrlich ist und sieht, dass sich etwas in ihrem Leben ändern muss. So sagt sie nun zum Bräutigam: „Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo weidest du, wo lässt du
lagern am Mittag?“ Die Braut sucht seine Nähe. Vielleicht wundern wir uns, dass sie mittags bei ihm Ruhe sucht. Dabei sollte man bedenken, dass sie und der Bräutigam auf dem Feld sind
und sich beide um das Kleinvieh kümmern. Hirten müssen früh aufstehen, nämlich wenn die Tiere anfangen zu weiden. Für die Tiere kommt mittags, wenn die Sonne heiß scheint, eine Zeit der
Ruhe, und damit auch für die Hirten. Diese Zeit der Ruhe braucht das Kleinvieh, um wiederzukäuen. Auch wir brauchen Zeiten der Ruhe. Vielleicht haben wir bis jetzt Ruhe, Entspannung und Erholung gesucht, aber ohne den Bräutigam. Jetzt möchte die Braut
die Zeit der Ruhe in seiner Nähe verbringen.
„Warum sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner Genossen?“ Würde die Braut weiterhin nur bei den Genossen des Bräutigams sein, müsste sie einen Schleier tragen,
um ihre Schönheit zu verbergen. In der Nähe des Bräutigams ist das anders: Da kann sie den Schleier abnehmen, damit er ihre Schönheit sieht. Ist ein Gläubiger jemals schöner für den
Herrn als in den Augenblicken, wo er im Gebet mit Ihm spricht und sein Wort liest? Dadurch wird er in das Bild seines Herrn verwandelt (2Kor 3,18).

Vers 8
„Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus, den Spuren der Herde nach, und weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten.“ Der Bräutigam beantwortet sofort
die Frage der Braut. Doch liegt in den Worten „Wenn du es nicht weißt“ nicht ein Vorwurf? Ja, sie hätte es schon lange wissen können. Dennoch nennt er sie die „Schönste unter den Frauen“. Er
sagt ihr, was ihm ihre Schönheit bedeutet. Was ist das für ein Kompliment für eine Frau! Muss sie da nicht errötet sein? Man merkt förmlich, wie die Braut aufblüht. Habt ihr es auch schon
beobachtet, dass eine Frau, die geliebt wird, sehr schön ist? Wissen wir eigentlich, was wir als erlöste Gläubige heutzutage für den Bräutigam bedeuten? Sind nicht alle seine Bemühungen
darauf gerichtet, dass die Schönheit seiner Braut, die Er auf sie gelegt hat, zur vollen Entfaltung kommt? Vom Bräutigam lesen wir in Psalm 45, dass Er schöner ist als die Menschensöhne (V. 3). Darum tut Er alles, dass seine Braut zu Ihm passt: „... damit er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das Wort, damit er die Versammlung sich selbst verherrlicht darstellte,die nicht Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe,
sondern dass sie heilig und untadelig sei“ (Eph 5,26.27). Das ist ihre Schönheit. Wenn das neue Jerusalem – ein Bild der Gesamtheit aller Gläubigen der Gnadenzeit – im ewigen Zustand vom
Himmel herabkommt, ist sie wie eine für ihren Mann geschmückte Braut (Offb 21,2). Ihre Schönheit wird niemals verblassen. Wer sind die Hirten in diesem Vers? Es sind Hirten unter Salomo, Menschen, die sich um sein Kleinvieh kümmern. Nicht von ungefähr vergleicht der Herr Jesus die Seinen im Neuen Testament mit Schafen (Joh 10,3.4.11.26.27; 21,17), die Pflege, gute Nahrung und Zuwendung brauchen. Wie dankbar dürfen wir sein, dass der Herr Jesus Hirten unter seinem Volk gegeben hat. Wie glücklich kann sich eine örtliche Gemeinde schätzen, wenn sie Brüder und Schwestern hat, die Hirten- bzw. Seelsorgedienste tun.
Solche Dienste tun nicht nur Brüder, sondern auch Schwestern, denn es gibt gerade Dienste, für die Brüder nicht so sehr geeignet sind. Paulus schreibt davon, dass bestimmte Aufgaben von Frauen getan werden sollen: „... die alten Frauen ... Lehrerinnen des Guten; damit sie die jungen Frauen unterweisen“ (Tit 2,3–5).
Manche Schwestern scheinen zu denken, dass sie dazu 70 Jahre alt sein müssten. Doch eine Frau ist alt, wenn sie Enkel hat oder haben könnte und von daher in der Lage ist, ihre Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Wichtig ist bei alledem, dass ein Bruder oder eine Schwester wirklich Interesse an den Gläubigen und Liebe zu ihnen hat.
Die Braut war eine Hirtin. Große Männer Gottes in der Bibel waren Hirten: David, Mose und auch Salomo hatten Freude an Schafen. Der Herr Jesus ist der große Hirte; und wer Ihn liebt, interessiert sich auch für seine Schafe. Das kann gar nicht anders sein. Für Ihn sind sie das Wertvollste auf der Erde. Es ist seine Gemeinde. Für sie gibt Er sich völlig hin. Viele andere Dinge interessieren Ihn überhaupt nicht, höchstens in dem Sinn, dass Er alles lenkt und regiert und dass Er über alles herrscht,
wenn auch in seiner Vorsehung. Aber das, was Er liebt, wofür Er sich hingegeben hat (Eph 5,2) und sich immer noch hingibt (Eph 5,25.26), das sind die Seinen. Bräutigam und Braut teilen das Interesse an den Schafen. Dazu sucht die Braut die Nähe des Bräutigams.

Vers 9
„Einer Stute an des Pharaos Prachtwagen vergleiche ich dich, meine Freundin.“ Wir können davon ausgehen, dass der Pharao außergewöhnlich schöne Prachtwagen hatte. Seine Prachtwagen waren ein Spiegelbild seines Reichtums, und die Pferde waren vom Feinsten, prächtig geschmückt. Sicher waren die Pferde hervorragend trainiert und fein aufeinander abgestimmt.
Doch was bedeutet dieser Vergleich, eine Stute am Wagen eines bedeutenden Herrschers zu sein? Abgesehen davon, dass eine Stute ein weibliches Pferd ist, bedeutet es, dass das Pferd
gebändigt und zum Dienst bereit ist, um den Herrscher dorthin zu bringen, wohin er will. Genau das war Israel in der Vergangenheit nicht, und es ist es auch heute noch nicht. Wie sehnt der Herr sich nach dem Augenblick, wo Er den Überrest – insbesondere die Stadt Jerusalem – mit einer solch schönen „Stute“ vergleichen kann. Sacharja sagte vom Haus Juda, dass Gott es zu einem Prachtross im Kampf machen würde (Kap. 10,3). Wenn es so weit ist, wird das Volk endlich im Kampf gegen die Feinde Gottes brauchbar sein.

Nun nennt der Bräutigam seine Braut zum ersten Mal „meine Freundin“. Was ist das für eine schöne Bezeichnung für die Braut. Freundin bedeutet, dass sie eine Braut ist, mit der der
Bräutigam sich vertraulich austauschen kann. In diesem Sinn nennt die Schrift Abraham einen Freund Gottes (Jak 2,23). Ein Freund ist jemand, vor dem man seine Gedanken frei ausbreiten kann, jemand, dem man sein Herz öffnet. Es ist durchaus nicht unbiblisch, Gläubige zu Freunden zu haben. Wenn du bisher gedacht hast, dass du alle Gläubigen gleich behandeln solltest, dann ist das in gewisser Hinsicht natürlich richtig.

 Das heißt aber nicht, dass man unter den Gläubigen nicht Freunde haben könnte. Gott sagt auch nicht von jedem, dass Er sein Freund sei. Und so ist das auch bei dem Herrn Jesus. Kann Er heutzutage zu allen seinen Jüngern sagen, dass sie seine Freunde sind (vgl. Joh 15,14; vgl. Lk 12,4)? Er nennt diejenigen seine Freunde, die das tun, was Er ihnen gebietet. Wie erfreut uns daher, dass die Zeit kommen wird, wo der Messias die Stadt Jerusalem seine Freundin nennen kann.

Vers 10
„Anmutig sind deine Wangen in den Kettchen, dein Hals in den Schnüren.“ An anderen Stellen kommt die Wange in Verbindung mit Feindschaft oder Trauer vor (Klgl 1,2). Vom Herrn lesen wir prophetisch: „Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden“ (Jes 50,6). In den Evangelien heißt es, dass man Ihn ins Gesicht schlug. Seinen Jüngern hatte Er in der Bergpredigt gesagt: „... wer dich auf deine rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin“ (Mt 5,39). Wenn man jemand auf
die rechte Wange schlägt – in der Regel schlägt man mit der rechten Hand –, so muss man das von hinten tun. Es ist also auch noch zusätzlich eine hinterhältige und feige Handlung. Wenn das geschieht, soll man dem Schläger auch die linke Wange hinhalten.

Das hat Israel in der Vergangenheit nicht getan, und das tun sie auch heute noch nicht. Sie sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, zurückzuschlagen. Wenn Israel in Zukunft seine Sache Gott anheimstellt, sind seine Wangen für den Bräutigam sehr schön; dann schmückt Er sie mit Kettchen. Wer anfängt, sich nicht mehr selbst zu verteidigen, dessen Sache nimmt Gott in die Hand. Außerdem sammelt er feurige Kohlen auf das Haupt seiner Feinde (Röm 12,20). Wenn die Braut da angekommen ist, ähnelt sie dem
Bräutigam, der „leidend nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet“ (1Pet 2,23). Und wer war es, der Ihm solches Leid zugefügt hat? Das Volk Israel.

Der Hals ist mit Schnüren geschmückt. Früher war Israel halsstarrig (vgl. Apg 7,51). Sie haben ihren Hals, ihren Nacken nicht gebeugt, sondern hart gemacht (5Mo 31,27; 2Kön 17,14;
Neh 9,16.17 u. a.). Nun beugen sie ihren Hals willig unter den Dienst des Messias.

Vers 11
„Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit Punkten aus Silber.“ Nun sagt der Bräutigam „wir“ und bezieht andere mit ein.
Wen wohl? Im Vorbild können wir an den Sohn Gottes und die anderen Personen der Gottheit denken, den Vater und den Heiligen Geist. Der dreieine Gott will die Wangen mit Kettchen aus
Gold schmücken und sie mit Punkten aus Silber verschönern. Gold ist in der Bibel ein Bild göttlicher Herrlichkeit, Pracht und Majestät. Wer die Stiftshütte in 2. Mose 25–40 studiert, wird finden, dass sehr viele Gegenstände aus Gold oder mit Gold überzogen waren. Silber ist ein Bild der Erlösung. Wenn jemand erlöst oder gelöst wurde, indem er beispielsweise zum Kriegsdienst gemustert wurde, musste ein Preis bezahlt werden, der aus Silber war (2Mo 38,25). So weisen uns Gold und Silber darauf hin, dass Gott den künftigen Überrest mit göttlicher Herrlichkeit bekleiden und mit den Zeichen der Erlösung verzieren wird.

Vers 12
„Während der König an seiner Tafel war, gab meine Narde ihren Duft.“ Jetzt finden wir die Braut am Tisch des Königs; ihre Narde, ja, sie selbst, verbreitet einen wunderbaren Wohlgeruch. Dabei denkt man unwillkürlich an die letzten Erdentage des Herrn Jesus, als Maria im Haus Simons des Aussätzigen war und dort ein Alabasterfläschchen mit kostbarem Salböl hatte, das sie für 300 Denare gekauft hatte (Mt 26,6–13). Sie empfand, dass dies die letzte Möglichkeit war, dem Herrn ihre Wertschätzung zu erweisen. Sie zerbrach das Fläschchen, goss den Inhalt auf sein Haupt aus und salbte damit seine Füße. So wurde das ganze Haus von dem Wohlgeruch erfüllt. Als die Jünger sich
darüber mokierten, sagte der Herr zu ihnen: „... indem sie dieses Salböl über meinen Leib gegossen hat, hat sie es zu meinem Begräbnis getan. Wo irgend dieses Evangelium gepredigt werden wird, wird auch davon geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis“ (V. 12.13). Es hat dem Herrn sehr viel bedeutet, dass Maria solch ein Mitempfinden für Ihn hatte.
Möglicherweise wusste sie selbst nicht um das ganze Ausmaß ihres Tuns. Was wird es sein, wenn es in Zukunft Menschen unter dem Volk
Israel gibt, die dem Messias mit einer derartigen Wertschätzung begegnen. Damals wollte das Volk nicht, dass Er über sie herrschte. Weg mit Ihm: „Er werde gekreuzigt!“ Sie haben Ihn geschlagen und angespien, gelästert und verhöhnt!

Vers 13
„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das zwischen meinen Brüsten ruht.“ Das Wort Myrrhe ist verwandt mit dem arabischen Wort „mo“, das bitter bedeutet. Die Myrrhe ist ein Harz,
das durch Anritzen des Myrrhenbaums gewonnen wird. Nachdem es ausgeflossen ist, wird es getrocknet und zu Pulver zerrieben. Legt man es ins Feuer, kommt ein wunderbarer Wohlgeruch
hervor. Die Myrrhe ist ein Bild von den bitteren Leiden unseres Herrn.
Indem die Braut ein Bündel Myrrhe zwischen ihre Brüste steckt, sagt sie gleichsam: „Der leidende Messias hat einen Platz auf meinem Herzen.“ J. N. Darby übersetzt: „... der zwischen meinen Brüsten ruht.“ Das ist eine sehr schöne Umschreibung der Liebe der Braut zu ihrem Bräutigam: „Herr Jesus, Du sollst für immer einen Platz auf meinem Herzen haben. Dort sollst Du ruhen.“ So werden auch wir sprechen, wenn wir uns mit den Leiden des Herrn beschäftigen. Dann können wir gar nicht anders, als zu sagen: „Herr Jesus, meine Liebe und Wertschätzung gehören nur Dir. Du hast einen ganz festen Platz in meinem Herzen, ich gehöre Dir.“ Kannst du dir vorstellen, was es für den Herrn bedeutet, wenn du so etwas sagst und das echt von Herzen kommt? Merkst du, wie viel auch wir aus diesem Buch für unsere persönliche Beziehung
mit dem Herrn lernen können? Wir sollten das Hohelied zur Hand nehmen, vor uns hinlegen und uns hinknien, solch eine Stelle lesen und darüber beten. Ich habe von Georg Müller gelesen,
dass er seine Bibel sehr oft durchgelesen hat, indem er sie kniend las und über das, was er las, mit dem Herrn redete. So wurde die Bibel das Mittel, wodurch er innige Gemeinschaft mit
dem Herrn hatte.

Vers 14
„Eine Zypertraube ist mir mein Geliebter, in den Weinbergen von En-Gedi.“ Blumen sind in der Bibel manchmal ein Bild der Auferstehung. Wir sehen das beim Leuchter in der Stiftshütte. Der
Leuchter hatte Blütenknospen, aus denen die Seitenarme hervorkamen (2Mo 25,31–40). Der Leuchter ist ein Bild vom auferstandenen Herrn. Als in 4. Mose 16 Männer gegen Mose und Aaron auftraten und das Hohepriesteramt Aarons in Frage stellten, ordnete Gott an, dass jeder Stamm Israels einen Mandelstab vor Ihm niederlegen sollte; der Stamm, dessen Stab in der Nacht sprossen würde, wäre der Stamm, der von Gott zum Priesterdienst ausersehen war. Und was geschah? Am nächsten Morgen hatte der Mandelstab Aarons Blüten hervorgebracht und sogar reife Früchte. Das ist ein Hinweis darauf, dass der Herr Jesus durch die Auferstehung ein ewiges Priestertum erlangt hat. Deshalb können wir hier in der Zypertraube den Herrn Jesus als den Auferstandenen sehen. So finden wir einerseits einen Hinweis auf die Leiden Christi (Myrrhe)und andererseits einen Hinweis auf seine Auferstehung. Sein Tod und seine Auferstehung gehören untrennbar zusammen.

Vers 15
Nachdem die Braut so von ihrem Bräutigam gesprochen hat, kann Er nicht anders, als zu ihr zu sagen: „Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben.“ Er muss ihr wieder sagen, was sie für ihn bedeutet. Sie ist seine Vertraute. Nun vergleicht er ihre Augen mit Tauben, dem Symbol der positiven Einfalt (Mt 10,16). Von Taubenpärchen ist bekannt, dass sie sehr aneinander hängen. Diese Einfalt der Braut gegenüber dem Bräutigam ist es, um die der Apostel Paulus sich
bei den Korinthern bemühte (2Kor 11,2.3).

Verse 16 und 17
Nun sagt die Braut ihrerseits: „Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig; ja, unser Lager ist frisches Grün. Die Balken unseres Hauses sind Zedern, unser Getäfel Zypressen.“ Immer wieder bezeugen sie sich gegenseitig, was sie füreinander empfinden. Die Braut spricht vom Ruhelager und vom gemeinsamen Haus. Sie möchte bei ihrem Bräutigam zur Ruhe kommen. Noch
ist es nicht so weit, dass sie mit ihm im Königspalast einzieht, wenn sie auch an anderen Stellen im Glauben die Zukunft bereits vorwegnimmt (1,4). Bräutigam und Braut befinden sich noch im Freien. Sicher gehen wir nicht zu weit, wenn wir hier vorbildlich den Wunsch des Überrestes sehen, sich mit dem (zu der Zeit von der Welt noch) verworfenen Messias einszumachen. Ist es
nicht auch für uns sehr wichtig, dass wir gegenüber der Welt ganz deutlich zeigen, dass wir zu dem verworfenen Christus gehören? Muss unser Reden und Handeln gegenüber der Welt
nicht eindeutig klarmachen: Ich gehöre dem Herrn Jesus an? Wie schade ist es, wenn sich jemand des Herrn Jesus schämt (vgl. Mt 10,32.33). Wenn wir uns so auf seine Seite stellen, wird Er uns einen besonderen Beweis seiner Liebe schenken...

Ähnliche Bücher:

Mahmoody Betty, Nicht ohne meine Tochter

06/20/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Meine Tochter war auf ihrem Fensterplatz an Bord der Maschine der British Airways eingenickt. Ihre rotbraunen Locken umrahmten ihr Gesicht und fielen ungebändigt bis zu ihren Schultern herunter. Sie, waren noch nie geschnitten worden.

Wir schrieben den 3 August 1984
:Mein geliebtes Kind war von unserer langen Reise erschöpft. Am Mittwochmorgen hatten wir Detroit verlassen, und als wir uns dem Ende dieses letzten Reiseabschnitts näherten, ging die Sonne bereits zum Freitag auf.
Moody, mein Mann, blickte von den Seiten seines Buches, das auf seinem Schoß ruhte, auf. Er schob die Brille auf seine höher werdende Stir( »Du machst dich jetzt besser fertig«, sagte er.
Ich öffnete meinen Sicherheitsgurt, nahm meine Handtasche und machte mich auf den Weg durch den schmalen Gang zur Toilette im Heck des Flugzeugs. Das Personal war schon dabei, die Abfalle einzusammeln und die Landung vorzubereiten
Es ist ein Fehler, sagte ich mir. Wenn ich bloß auf der Stelle aus diesem Flugzeug aussteigen konnte Ich schloß mich in der Toilette ein und sah im Spiegel eine Frau an der Grenze zur Panik Ich war gerade neununddreißig geworden, und in dem Alter sollte eine Frau ihr Leben im Griff haben Wie, fragte ich mich, hatte ich die Kontrolle verloren?
Ich frischte mein Makerup auf,  um möglichst gutauszusehen und um mich abzulenken Ich wollte nicht hier sein, aber ich war hier, also mußte, ich das Beste daraus machen. Vielleicht wurden diese zwei Wochen ja schnell vorübergehen. Wenn wir wieder zu Hause in Detroit waren, wurde Mahtab in die Vorschulklasse einer Montessori-Schule in der Vorstadt kommen Moody wurde sich wieder in seine Arbeit vertiefen Wir wurden den Bau unseres Traumhauses in Angriff nehmen Du mußt nur diese beiden Wochen durchstehen, sagte ich mir. 


Ich suchte in meiner Handtasche nach der dicken schwarzenStrumpfhose, die ich auf Moodys Anweisung. hin gekauft hatte Ich zog sie an und strich den Rock meines konservativen dunkelgrünen Kostüms glatt Noch einmal betrachtete ich mein Spiegelbild und verwarf den Gedanken, mir mit der Bürste durch mein braunes Haar zu fahren Wozu der Aufwand fragte ich mich Ich band das dicke grüne: Kopftuch um, ‚das ich, wie Moody' gesagt, hatte; immer tragen mußte, wenn wir aus dem Haus gingen Mit dem Knoten unter dem Kinn sah ich aus wie eine alte
Bauersfrau. 
Prüfend betrachtete ich meine Brille Ich fand mich ohne sie attraktiver. Es war die Frage, wie sehr ich Moodys Familie beeindrucken oder wieviel ich von diesem problembeladenen Land sehen wollte. Ich ließ die Brille auf', da ich einsah, daß das Kopftuch schon irreparablen Schaden'angerichtet hatte.
Schließlich kehrte ich zu meinem Platz zurück.
»Ich habe mir überlegt, daß wir unsere amerikanischen Passe besser verstecken sollten«, sagte Moody. »Wenn sie die finden, werden sie sie uns wegnehmen.«
»Was sollen wir denn tun« fragte ich Moody zögerte. »Deine Handtasche werden sie durchsuchen, weil du. :Amerikanerin bist«, sagte er., »Gib ‚mir 'die Pässe. Mich werden sie kaum visitieren.«

Das war vermutlich richtig; denn 'mein: Mann gehörte in seiner Heimat zu einer berühmten Familie, eine Tatsache, die sich schon aus seinem Namen ersehen ließ Persische Namen haben - jeder für sich - eine besondere Bedeutung, und jeder Iraner konnte aus Moodys vollem Namen  Sayyed Bozorg Mahmoody - eine Menge schließen »Sayyed« ist ein religiöser Titel, der auf einen direkten Nachkommen des Propheten Mohammed auf beiden Seiten der Familie hinweist, und Moody besaß einen komplizierten, in Farsi geschriebenen Stammbaum, um dies zu untermauern Seine Eltern hatten ihm den Namen »Bozorg« gegeben, in der Hoffnung, er werde die Große, Wurde und Ehre eines Tages erlangen, die der Name verheißt Der Familienname hatte eigentlich Hakim gelautet, aber Moody wurde um die Zeit geboren, als der Schah ein Edikt erließ, das islamische Namen wie diesen verbot, so daß Moodys Vater den Familiennamen in Mahmoody änderte, was eher persisch als islamisch ist Er ist von Mahmud, was soviel wie »der Gepriesene« bedeutet, abgeleitet
Zum Glanz seines Namens kam noch das Prestige der Ausbildung Obgleich Moodys Landsleute offiziell alles Amerikanische hassen, genießt das amerikanische Erziehungssystem bei ihnen hohes Ansehen Als ein in Amerika ausgebildeter Arzt wurde Moody ganz sicher zur privilegierten Elite seiner Heimat zählen.
Ich stöberte in meiner Handtasche, fand die Passe und gab sie Moody. Er ließ sie in die Innentasche seiner Anzugjacke gleiten
Bald darauf befand sich das Flugzeug im Anflug auf Teheran Die Motoren wurden merklich gedrosselt, und die Nase des Flugzeugs neigte sich ungewöhnlich tief nach unten, so daß wir steil und schnell abstiegen »Wir müssen so schnell hinunter wegen der Berge, die die Stadt umgeben', sagte Moody. ‚:'Die ganze Maschine bebte unter :der
Belastung. Plötzlich aufgeschreckt erwachte Mähtab und umklammerte meine Hand. Beunruhigt sah sie zu mir auf.
»Alles in Ordnung<, erklärte ich ihr. »Wir landen gleich-.«
Wie kam ich als Amerikanerin dazu, in ein Land Zu fliegen, das sich von allen Ländern der Welt den Amerikanern gegenüber so unverhüllt feindselig verhielt? Warum brachte ich meine Tochter in ein Land, das in einen erbitterten Krieg mit Irak verwickelt war?
So sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, die unbestimmbare Furcht zu verdrängen, die mich verfolgte, seit Moodys Neffe Mammal Ghodsi diese Reise vorgeschlagen hatte. Ein zweiwöchiger Urlaub war überall zu ertragen, wenn man sich darauf freuen konnte, danach in die gewohnte Normalität zurückzukehren Ich aber war, von einer Ahnung besessen, die, wie mir alle meine Freunde versicherten, grundlos war: daß Moody, wenn er Mal ab und mich einmal in den Iran gebracht hätte versuchen würde, uns für, immer dort festzuhalten.
Das würde er niemals tun, hatten mir meine Freunde versichert. Moody war durch und durch amerikanisiert. Zwei Jahrzehnte lang hatte er in den Vereinigten Staaten gelebt. Sein gesamter Besitz, seine Arztpraxis - die Summe seiner Gegenwart und seiner Zukunft-, befanden sich in Amerika. Warum sollte er erwägen, sein vergangenes Leben wieder aufzunehmen?
Auf einer rationalen Ebene waren die Argumente überzeugend, aber keiner kannte Moodys widersprüchliche Persönlichkeit so gut wie ich. Moody war ein liebevoller Ehemann und Vater und neigte dennoch dazu, mit dumpfer. Gleichgültigkeit die Bedürfnisse und Wünsche seiner eigenen Familie zu übergehen. In seinem Kopf saß brillante Intelligenz neben düsterer Verwirrung. Kulturell gesehen war er eine Mischung aus Ost und West; nicht einmal er selbst wußte, welcher der Einflüsse in seinem Leben vorherrschend war.
;Moody hatte allenGruiid, uns nach unserem zweiwöchi gen Urlaub wieder nach Amerika zu bringen, und er hatte jedes Recht, uns zum Verbleib im Iran zu zwingen
Warum hatte ich angesichts dieser erschreckenden Möglichkeit in die Reise eingewilligt? :Mahtab;H . ..
-in den .ersten viei-. Lebensjahren war sie ein glückliches,. aufgewecktes Kind gewesen; voller Lebensfreude und :mit einer herzlichen Beziehung zu mir, zu ihrem. Vater und. Zu. ihrem Hasen; einem billigen, plattgedrückten . Stofftier, ungefähr ein Meter zwanzig groß, mit weißen Pünktchen auf grünem Grund. Anden Pf oten.hatt& der Hase Gummis,. so daß sie ihn auf ihren Füßen befestigen und mit ihm tanzen konnte».
Mahtab.
In r Farsi, der offiziellen Sprache der Islamischen Republik. Iran, bedeutet das Wort »Mondschein«....
Für mich aber heißt Mahtab »Sonnenschein«........
Als die Räder der Maschine auf der Landebahn aufsetzten, sah ich;zuerstMähtab und dann Moody an,.und mir war klarw.arum.ich in den Iran gekommen: war.
Wir traten aus: dem Flugzeug in die: erdrückende schwüle. Sommerhitze von Teheran eine Hitze, die uns physisch. fertigzumachen schien, als wir über das Stück Asphalt vom Flugzeug . zu, ..einem wartenden Bus gingen, der uns zum Terminal, brachte. .Und es war erst sieben Uhr morgens..: -:Mähtäb klammerte sich fest an meine Hand und nahm mit ihren großen braunen Augen diese fremde Welt auf.
Mammy«:flüsterte sie,: »ichmußi'naI;< »Gut, dann suchen wir eine Toilette.«, Als wir in den Terminal kamen und: eine große Empfangshalle betraten,. wurden unsere Sinne von einer weiteren unangenehmen Wahrnehmung überschwemmt- demt überwältigenden Gestank von Körperausdünstungen, der durch die Hitze
noch verstärkt wurde Ich hoffte nur, daß wir da bald wieder rauskamen, aber in dem Raum waren Passagiere von verschiedenen Flügen zusammengepfercht, und alle drängelten und schubsten zu dem einzigen Paßkontrollschalter, der
auch der einzige Ausgang aus dieser Halle war.
Wir waren gezwungen, uns durchzudrängeln, uns wie die anderen unseren Weg nach vorne zu bahnen Ich nahm
Mahtab auf den Arm, um sie vor den Menschenmassen zu. schützen. Um uns herum war schrilles Stimmengewirr.
Mahtab und ich waren naß geschwitzt.
Ich wußte zwar, daß die Frauen im Iran ihre Arme, Beine und ihre Stirn verhüllen mußten, aber ich war überrascht zu sehen, daß alle weiblichen Flughafenangestellten ebenso wie die meisten weiblichen. Passagiere fast .vollständig in etwas eingehullt waren, was Moody als Tschador bezeichnete Ein Tschador ist ein großes halbmondförmiges Tuch, das um Schultern, Stirn und Kinn gewunden wird und nur Augen, Nase und Mund freilaßt Das Resultat erinnert an die Tracht einer Nonne: aus vergangener Zeit. Die strenggläubigeren Iranerinnen ließen nur ein Auge hervorlugen Frauen, die mehrere schwere Gepäckstücke in einer Hand trugen, weil sie die andere dazu brauchten, das Tuch unter dem Kinn zusammenzuhalten, huschten durch den Flughafen Die langen, fließenden, schwarzen Stoffbahnen ihrer Tschadors bauschten sich weit Am meisten faszinierte mich die Tatsache, daß der Tschador freiwillig getragen wurde Es gab andere Gewänder, die die strengen Kleidungsvorschriften erfüllten, aber diese moslemischen Frauen hatten beschlossen, den Tschador trotz der erdruckenden Hitze noch über allen anderen Sachen zu tragen Ich staunte über die Macht, die ihre Gesellschaft und ihre Religion auf sie ausübten.
Wir brauchten eine halbe Stunde, um uns unseren Weg durch die Menge bis zur Paßkontrolle zu bahnen, wo sich ein finster dreinblickender Beamter den iranischen Paß ansah, der uns alle drei auswies, ihn stempelte und uns durchwinkte. Dann, folgten .Mahtab und., ich Moody eine Treppe hoher um eine Ecke in die Gepäckausgabe, einem anderen großen, mit Passagieren vollgestopften Raum »Mommy,..ich muß mal«, sagte Mahtab wieder und trat'
unruhig von einem Bein auf das andere. . . . .
Auf Farsi fragte Moody . eine Tschador-verhüllte Frau nach dem Weg. Sie deutete auf das entgegengesetzte ‚Ende .des Raums und . eilte geschäftig .weiter. Mahtab und ich, ließen Moody zurück, um auf unser Gepäck zu warten, und machten die Toilette ausfindig. Als wir- uns dm Eingang näherten, zögerten wiri abgeschreckt durch. den Gestank. Widerstrebend gingen wir hinein. Auf der Suche nach einer Toilette blickten wir in dem verdunkelten Raum umhej,.. aber alles, was .wir fanden, war ein Loch im Zementboden
;: inmitten einer flachen, ovalen Porzellanschussel Überall auf dem Boden lagen mit Fliegen übersäte Haufen, weil die Leute das Loch ‚entweder nicht getroffen oder einfach nicht beachtet hatten »Das stinkt ja widerlich'« stieß Mahtab hervor und zog mich weg. Wir liefen schnell zu Moody zurück. 
Mahtabs Nöte waren offensichtlich, aber sie hatte keinen Antrieb, nach einer anderen öffentlichen Toilette zu suchen. Sie wollte lieber warten, «bis wir im Haus ihrer Tante„ Moodys. Schwester, angekommen waren, einer, Frau, von der er immer in. ehrfürchtigem Ton sprach. SaralMahrnoody Ghodsi war die Matriarchin der Familie, die von jedem voll Respekt .mit Ameh Bozorg, »ehrwürdige Tante«., angespro-chen wurde. .Es wird: alles: besser *erden, wenn wir erst bei Arneh Bozorg zu Hause sind, dachte ich.
Mahtab war erschöpft, aber .sie konnte sich nirgendwo hinsetzen, so daß wir schließlich den Kinderwagen auseinander klappten, den wir, als Geschenk für einen von Moodys neugeborenen Verwandten mitgebracht, hatten. 'Erleichtert. setzte sich Mahtab hinein.
Während wir, auf unser Gepäck warteten, für . dessen..
Auftauchen es keinerlei Anzeichen gab, hörten wir einen schrillen Schrei, der in unsere Richtung kam< »Da'idschant/« kreischte die Stimme. »Da'idschan!«
Als er die Worte »1 eher Onkel« auf Farsi hörte, drehte sich Moody um und fef einem Mann, der in unsere Richtung eilte, einen freudigen Gruß entgegen. Die beiden Männer-umarmten sich mehrmals, und als ich Tränen auf Moo-dys Gesicht sah, hatte ich plötzlich einschlechtes Gewissen, weil ich nur so zögernd in diese Reise eingewilligt hatte. Hier war seine Familie. Hier waren seine Wurzeln. Natürlich wollte, mußte er seine Verwandten sehen. Er würde sich zwei Wochen an ihnen freuen, und dann würden wir wieder, nach Hause fahren.
»Das ist Zia«, sagte mir Moody.
Zia Hakim schüttelte mir herzlich die Hand.
Er war einer von den unzähligen jungen männlichen Verwandten, die Moody unter dem praktischen Begriff »Neffe« zusammenfaßte. Zias Schwester Malouk war mit Mostafa verheiratet, dem dritten Sohn von Moodys ehren'-werter älteren Schwester. Zias Mutter war die Schwester, von Moodys Mutter, und sein Vater war der Bruder von.-Moo-dys Vater oder umgekehrt: die Verwandtschaftsverhältnisse wurden mir nie ganz klar. »Neffe« war die einfachste Bezeichnung.
Zia war sehr gespannt auf die erste Begegnung mit Moo-dys amerikanischer Ehefrau. In geschliffenem Englisch hieß er, mich im Iran willkommen. »Ich bin so froh, däßz ihr gekommen seid<c, sagte er. »Wie lange haben wir, darauf gewartet!« Dann riß er Mahtab an sich und überhäufte sie mit Umarmungen und Küssen.
Er war ein gutaussehender Mann mit edlen arabischen Gesichtszügen und einem gewinnenden Lächeln. Er war größer als die meist kleinwüchsigen Iraner um uns herum, und sein Charme und seine Kultiviertheit waren offensichtlich. So, hatte ich gehofft, würde Moodys Familie sein. Zias
rotbraunes Haar war modisch geschnitten. Er trug einen ordentlichen, maßgeschneiderten Anzug und ein frischgebügelts Hemd mit offenem Kragen. Und das Beste von allem; er war sauber.
»Draußen warten so viele Leute, um euch zu sehen«, sagte er strahlend. »Sie sind schon seit Stunden hier.« -
»Wie bist du durch den Zoll gekommen?« fragte Moody. »Ein Freund von mir arbeitet hier.
Moodys Miene heiterte sich auf. Verstohlen zog er unsere amerikanischen Pässe aus seiner Jackentasche. »Was sollen wir mit denen machen?« fragte er. »Wir, wollen nicht, daß sie konfisziert werden.«
»Ich werde sie für euch aufbewahren«, sagte Zia. »Hast du Geld?«
»Ja.« Moody zählte mehrere Banknoten ab und übergab sie Zia zusammen mit unseren amerikanischen Pässen.
Ich war beeindruckt. Zias Erscheinung und der Eindruck von Macht, den er ausstrahlte, bestätigte das, was Moody mir über seine Familie erzählt hatte. Die meisten waren gebildet, viele hatten einen Universitätsabschluß. Sie waren Mediziner wie Moody oder arbeiteten in der Wirtschaft. Ich hatte mehrere seiner »Neffen«, die uns in den Vereinigten Staaten besucht hatten, kennengelernt, und sie alle schienen ein gewisses gesellschaftliches Ansehen bei ihren Landsleuten.
-
Aber es sah so aus, als ob nicht einmal Zia das Tempo der, Gepäckarbeiter beschleunigen konnte. Alle bewegten sich hektisch und redeten fortwährend, aber das schien wenig zu bewirken. Schließlich standen wir über drei Stunden lang in der Hitze, zuerst, um auf unser Gepäck zu warten, und dann in einer, schier endlosen Schlange vor dem Zoll. Mahtab blieb still und geduldig, obwohl ich wußte, daß sie Höllenqualen - ausstehen mußte. Endlich erreichten wir schiebend und drängend den Anfang der Schlange; Moody voran, ich, Mahtab, den Kinderwagen im Gefolge.
@1990 gustav Lübbe

Der Messias in beiden Testamenten, J. Meldau (1)

05/05/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

WAS IST DAS BESONDERE AN CHRISTUS? 

Mehrere Antworten sind auf diese Frage möglich. Eines hebt ihn jedoch unter allen anderen Persönlichkeiten der Weltgeschichte besonders heraus: Nur von ihm gibt es genaue Vorhersagen über seine Geburt, sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung.
Lange bevor Christus lebte, waren Dokumente im Umlauf, aus denen diese Aussagen hervorgehen. Jeder kann heute sein im Neuen Testament geschildertes Leben mit diesen Vorhersagen des Alten Testaments vergleichen. Sie stimmen in ungewöhnlicher Weise genau überein. 
Meldau nimmt den Leser mit auf die Spur des Messias in bei den Testamenten. Dabei entdecken Sie, dass er bereits vom Alten Testament her als Sohn Gottes, als Messias, als Retter der Welt angekündigt wurde.
 


Einleitung
„Von diesem zeugen alle Propheten" (Apg. 10) 43). 
„Im Buch ist Von mir geschrieben" (Ps. 40, 8; Hebr. 10, 7).
„Das erstaunlichste Drama, das sich je dem Sinn des Menschen darstellte - ein in der Prophetie des Alten Testamentes und in der Biographie der vier Evangelien beschriebenes Drama -‚ ist die Geschichte von Jesus, dem Christus. Eine hervorstechcnde Tatsache unter vielen läßt ihn als einzigartig dastehen. Es ist diese: nur von einem Menschen in der gesamten Weltgeschichte gibt es ausdrückliche, genau vorhergesagte Einzelheiten über seine Geburt, sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung. Diese Ausführungen sind in Dokumenten aufgezeichnet, die der Offentlichkeit Jahrhunderte vor seinem Erscheinen gegeben wurden. Keiner stellt es in Frage oder kann es in Frage stellen, daß diese Dokumente lange vor seiner Geburt in weitverbreitetem Umlauf waren. Jeder einzelne vermag für sich die tatsächlichen Berichte über sein Leben mit jenen alten Dokumenten zu vergleichen. Er wird feststellen, daß sie genauestens übereinstimmen. Das Herausfordernde an diesem Wunder ist, daß es in der gesamten Weltgeschichte nur mit einem einzigen Menschen so geschah" (D. M. Panton)1.
1 Zahlreiche andere Bibelkenner machten auf dieselbe erstaunliche Tatsache aufmerksam. Wir zitieren noch einen, Canon Dyson Hague. Er sagt: „Jahrhunderte bevor Christus geboren wurde, waren seine Geburt und sein Lebenslauf, sein Leiden und seine Herrlichkeit im Umriß und in Einzelheiten alle im Alten Testament beschrieben worden. Wer könnte das Bild eines noch nicht geborenen Menschen zeichnen? Doch nur Gott und Gott allein. Niemand wußte vor 500 Jahren, daß Shakespeare geboren werden würde; oder vor 250 Jahren, daß Napoleon geboren werden würde. Hier in der Bibel jedoch wird uns das eindrucksvollste und unverkennbare Ebenbild eines Menschen porträtiert, nicht
 
Um einmal die Aufmerksamkeit auf dieses literarische Wunder ohnegleichen zu lenken, denken Sie bitte nach: Wer wäre je imstande gewesen, im voraus das Leben von George Washington oder Abraham Lincoln oder irgendeines anderen Menschen niederzuschreiben, fünfhundert Jahre vor ihrer Geburt? Nirgends finden wir in irgendeiner Literatur der Welt, ob säkular oder religiös, ein Zweitstück zu diesem erstaunlichen Wunder des im voraus geschriebenen Lebens Christi. „Die Inspirierung zu diesem Porträt kam von der himmlischen Galerie und nicht aus dem Studio eines irdischen Künstlers" (A. T. Pierson). Das Wunder des im voraus niedergeschriebenen Lebens Christi und seiner vollkommenen Erfüllung in Jesus von Nazareth ist dermaßen bemerkenswert: „Nichts als göttliche Vorauskenntnis konnte es voraussehen, und nichts als göttliche Allmacht konnte es vollbringen." Im Hinblick auf die völlige Beweisführung muß jeder nachdenkliche Leser zustimmen: „Es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht; sondern von dem Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Namen Gottes geredet" (2. Petr. 1,21).
Diese Tatsache deutet auf vier große Wahrheiten hin
Ohne Variationen oder Anderungen zwischen den alttestamentlichen Weissagungen über den kommenden Messias und der neutestamentlichen Erfüllung in Jesus von Nazareth kommt man unwillkürlich zu dem Schluß, daß „die Hand, die das Bild in der Prophetie gezeichnet hat, auch das Porträt in der Geschichte form-
nur von einem, sondern von zwanzig oder fünfundzwanzig Künstlern, von denen keiner jemals den Mann gesehen hatte, den er maltete". Die unausbleibliche Folgerung aus diesem Wunder ist vierfach:
1. Es beweist, daß die Bibel das inspirierte Wort Gottes ist; denn der auf sich gestellte Mensch ist weder fähig, ein solches literarisches Wunder zu verfassen, noch zu erfüllen.
2. Es beweist, daß der Gott der Bibel, der einzige, der das Ende von Anfang an weiß und der allein die Macht hat, sein gesamtes Wort zu erfüllen, der wahre und lebendige Gott ist.
3. Es zeigt, daß der Gott der Bibel allwissend ist; denn er ist fähig, die Zukunft vorauszusagen, die doch mit zahllosen Menschen zu tun hat, die freihandelnde und moralische Geschöpfe sind. Er ist allmächtig, da er fähig ist, die vollkommene Erfüllung seines Wortes zu bewirken, inmitten weitverbreiteten Unglaubens, Gleichgültigkeit und Auflehnung seitens der Menschen.
4. Es zeigt, daß Jesus von Nazareth, der so vollkommen und gänzlich alle alttestamentlichen Weissagungen erfüllte, in der Tat der Messias ist, der Erretter der Welt, der Sohn des lebendigen Gottes.
 

Haschen nach Wind - Betrachtung des Buches Prediger, William MacDonald

03/29/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

EinleitungBN2630.jpg?1680108399231

Irgendwann einmal begann Salomo mit der Suche nach dem Sinn des Lebens, der Bedeutung der menschlichen Existenz. Er nahm sich vor, die Fülle des Lebens zu entdecken. Ausgestattet mit großer Weisheit und einem nicht unerheblichen Vermögen, dachte Salomo, daß er (wenn überhaupt jemand) die richtige Person wäre, um diese Aufgabe zu lösen.
Wie so viele unserer Zeitgenossen suchte auch er eine Antwort auf die Frage: »Was ist wirkliches Leben?« Salo-mo belastete seine Suche jedoch mit einer großen Hypothek. Er war im Begriff, sich allein auf den Weg zu machen, und er hoffte, daß seine überdurchschnittliche Intelligenz genügen würde, den wahren Sinn des Lebens zu entdecken. So wird seine Suche zur Reise eines Mannes ohne die Hilfe Gottes. Auf der Suche-nach den größten Werten des Lebens bewegt er sich ausschließlichim Bereich irdischer Maßstäbe, or nennt es »unter der Sonne«.
Unter der Sonne
In der Formulierung »unter der Sonne« besitzen wir den wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des Buches des Predigers. 29 mal lesen wir diesen Ausspruch, und er gibt uns einen Hinweis auf die Sicht des Autors.
Er durchstöbert die Welt, um dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen, und zwar will er diese Aufgabe nur mit seinem Verstand, d.h. ohne göttliche Hilfe bewältigen.
Ohne diesen Schlüssel »unter der Sonne«, ergäben sieh gewaltige Probleme im Verständnis des Predigers. Es hätte den Anschein, als widerspräche dieses Buch den restlichen Heiligen Schriften, indem befremdenden Lehren und -einer zumindest eigenartigen Ethik das Wort geredet wird.
Erinnern wir uns jedoch daran, daß wir im Prediger eine Zusammenfassung menschlicher und nicht göttlicher Weisheit haben, dann sind wir auch nicht überrascht, Schlußfolgerungen von Salomo zu hören die wahr, halbwahr, oder aus Gottes Sicht sogar völlig falsch sind.

Dazu einige Beispiele:
- Pred. 12,1 ist wahr und ein ausgezeichneter Rat an alle jungen Leute. Es ist gut, wenn sie ihres Schöpfers in ihrer Jugend gedenken.
- Pred. 1,4 ist nur halb wahr. Es ist wahr, daß eine Generation der anderen folgt. Es ist aber nicht wahr, daß die Erde ewig besteht (siehe Ps. 102,25-26 und 2. Petr. 3,7. 10).
- Die folgenden Aussagen sind dagegen überhaupt nicht wahr: »Es gibt nichts Besseres unter den Menschen, als daß man esse und trinke und seine Seele Gutes sehen lasse bei seiner Mühe« 2,24 »Denn was das Geschick der Menschenkinder und das Geschick der Tiere betrifft, so haben sie einerlei Geschick« 3,19 »Die Toten aber wissen gar nichts.« 9,5

Hätte Gott uns nicht seine Gedanken kundgetan, möglicherweise wären wir zu ähnlichen Resultaten gekommen wie Salomo.
Ein anderer Autor sieht den Sinn des Buches: »Der Prediger« so: »Wir finden im Prediger also die Überlegungen des natürlichen Menschen über das, was »unter der Sonne« vor sich geht, die Schlußfolgerungen eines Menschen, dessen Erfahrung notwendigerweise ungläubig ist, da er keine Offenbarung besitzt, oder eines Menschen, der - wie es heute so häufig ist - sich weigert, von ihr Kenntnis zu nehmen. Wo mag er hinkommen, wenn er sich nur auf seine eigenen Fähigkeiten stützt? Das ist also der vom »Prediger« unter der Eingebung des Geistes Gottes absichtlich gewählte Rahmen seines Buches. Nicht als ob es sich ausdrücklich um ein »Bekenntnis«, d.h. um eine persönliche Erfahrung handelte, die er in allen Teilen selber erlebt hätte, sondern eher um die absichtlich

begrenzte Schilderung eines in die oben beschriebenen Verhältnisse hineingestellten Menschen.« (Auszug aus dem Vorwort zum Buch: Der Prediger von G.Andre, Beröa-Verlag, Zürich)

Ist das Buch des Predigers vom Geist Gottes Inspiriert?
Wie paßt das zusammen, Halbwahres und Falsches mit göttlicher Inspiration? Selbstverständlich wird die Inspiration auch dieses Buches durch diese Tatsache nicht berührt. Der Prediger ist Teil des inspirierten Wortes Göttes. Es ist göttlich eingehaucht, und der Herr wachte darüber, daß es in den Kanon der Schriften aufgenommen wurde.
Wie bei allen anderen Büchern der Heiligen Schrift bekennen wir uns auch beim Prediger zur verbalen, völligen Inspiration. Die inspirierten Bücher der Bibel enthalten oft unwahre Aussagen Satans oder von Menschen Z B sagte der Teufel zur Eva in 1 Mo 3,4, daß sie nicht sterben wurde, wenn sie von der Frucht des Baumes in der Mitte des Gartens äße. Es war eine Luge, und dennoch wird sie in der Heiligen Schrift festgehalten, um uns zu zeigen, daß Satan der Lügner von Anfang an ist
Inspiration kann zwar die Unwahrheiten des Teufels oder :8er Menschen festhalten, sie heißt sie aber keinesfalls gut oder beschönigt etwas Inspiration gewährleistet die ge--tteue Aufzeichnung guter oder schlechter Dinge
Deshalb sollten wir uns nicht wundern, Halbwahrheiten tuader Unwahrheiten in einem Buch zu finden, welches ilensehliche Weisheit »unter der Sonne« wiedergibt. Auf 'er keinen Fall sollte es unser Vertrauen in die Glaubwür-igkeit der Bibel beeinträchtigen.
u welchem Ergebnis kam Salomo?
Salomos Suche endete mit der Feststellung, daß das Le-en Eitelkeit und Verdruß ist, oder wie er es ausdrückt, ein Haschen nach Wind«.

Soweit er die Sache beurteilen konnte, war ein Leben »unter der Sonne« der Mühe nicht wert. Trotz seiner Intelligenz und seines Reichtums war er nicht in der Lage, auf Erden die Fülle des Lebens oder eine dauerhafte Befriedigung zu finden. Und in der Tat, sein Fazit ist richtig. Jeder, der nicht »über« die Sonne hinauskommt, emp--findet das Leben als eine leere, nutzlose Übung. Es ist bedeutungslos. Was immer die Welt zu bieten hat, kann niemals das Herz eines Menschen befriedigen.
Pascal drückt es so aus: »Da ist ein Gott-geformtes Vakuum im menschlichen Herzen.« Und Augustin stellte schon fest: »Du hast uns für Dich gemacht, o Herr, und unser Herz wird niemals Ruhe finden, bis es ruht in Dir.«
Salomos Erfahrung unterstreicht die Worte des Herrn Jesus: »Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten.« (Joh. 4,13) Das Wasser dieser Welt kann keine anhaltende Erfüllung geben. Wir glauben, daß Salomos Suche nach der Wirklichkeit nur ein Kapitel in seiner Biographie war. Wir wissen nicht genau, wie alt er war, als er auf diese philosophische Suche nach der Wahrheit ging; vermutlich war er aber bereits ein älterer Mann. Letztendlich tat er einen Blick über die Sonne und wurde ein wahrhaft Gläubiger; diesen Schluß darf man aus der Tatsache ziehen, daß der größere Teil von 3 Büchern von einem gläubigen Salomo stammt.
Wie dem aber auch sei, Sünden und Versäumnisse am Ende seines Lebens mahnen uns eindringlich, nicht abzugleiten und zeigen uns, wie unvollkommen selbst die schönsten Vorbilder im Verhältnis zum Herrn Jesus sind.

Glaubte Salomo denn nicht an Gott?
Ganz gewiß glaubte Salomo an die Existenz Gottes, selbst in der Zeit seiner Suche nach wahrer Erfüllung. Er bezieht sich nicht weniger als 40 mal auf Gott im Buch des Predigers. Daraus dürfen wir jedoch nicht schließen, daß er zu dieser Zeit ein ergebener Gläubiger war. Er benutzt
usschließlich den Namen »Elohim« für Gott, welcher Ihn s den Schöpfergott offenbart. Nicht ein einziges Mal ver-'endet er den Namen Jehova, oder Herr - Namen, die ött als den Gott des Bundes, der Gemeinschaft mit dem enschen offenbar machen. Das ist eine sehr wichtige eobachtung.
er Mensch unter der Sonne kann sehr wohl erkennen, aß es einen Gott gibt, wie es auch von Paulus unterstri-en wird: »Denn sein unsichtbares Wesen, sowohl seine 'wige Kraft als auch seine Göttlichkeit, wird von Erschaf-fng der Welt an in dem Gemachten wahrgenommen und leschaut, damit sie ohne Entschuldigung seien.« (Röm. 1,20) Atheismus ist durchaus kein Zeichen von Weisheit, er ist vielmehr eine bewußte Blindheit Salomo, der wei-tute Mensch der je gelebt hat, zweifelte zu keiner Zeit seiner Suche die Existenz Gottes an
Während aber Elohim vom Menschen unter der Sonne irkannt werden kann, muß sich Jehova oder der HERR dürch spezielle Offenbarung bekannt machen. Das bedeu-et, daß wir die wiederholte Erwähnung des Namens Gotts im Prediger nicht irrtümlicherweise für rettenden lauben halten dürfen. Diese Stellen sagen nichts ande-'es aus, als daß die Schöpfung die Existenz Gottes belegt md daß jeder Mensch, der dies leugnet, ein Narr ist (Ps. .14,1; 53,1)

Schrleb Salomo das Buch selbst?
bwohl sich der Schreiber selbst als Sohn Davids und König über Israel mit Regierungssitz in Jerusalem bezeichnet (1,1,12), gibt es viele Theologen, die die Autorenschaft Salomos anzweifeln. Es gibt noch mehr interne Beweise, die wunderbar auf Salomo als den Autor hinweisen: Er bezeichnet sich als weise, reich und als jemand, der grenzenlose Möglichkeiten des Genusses besitzt. Außerdem spricht er von seinem großen Bauvorhaben All diese Beschreibungen passen eigentlich genau auf Salomo.
Die Theologen erwidern darauf, daß viele grammatische Konstruktionen des Buches nicht zur Zeit Salomos benutzt wurden, sondern erst viel später nach der babylonischen Gefangenschaft.

Als Entgegnung der internen Beweise wird erklärt, daß es eine oft gebrauchte Methode späterer Schreiber war, ihre Worte in Salomos Mund zu legen.
Viel gäbe es zu diesem Thema noch zu sagen, jedoch nur noch eines soll Erwähnung finden: Keiner der Einwände gegen eine Autorenschaft Salomos ist unüberwindlich und viele ernstzunehmende, bibelgläubige Gelehrte, wie z.B. Gleason Archer, halten an Salomo als Autor des Predigers fest. So wollen wir es auch tun.

Warum wurde dieses Buch geschrieben?
Das ist eine Frage, die sich eigentlich zwangsläufig stellt: »Warum hat Gottes für gut befunden, ein Buch, das sich nie über die Sonne erhob, in die Heilige Schrift aufzunehmen?« Die Antwort ist diese: Das Buch wurde aufgenommen, damit niemand auf der Suche nach Erfüllung die gleichen traurigen Erfahrungen machen muß wie Salomo, der etwas da suchte, wo es nicht zu finden war.
Der natürliche Mensch denkt ganz instinktiv, daß er durch Besitz, Vergnügen, oder Reisen auf der einen, und durch Drogen, Alkohol, oder sexuelle Ausschweifungen auf der anderen Seite glücklich werden kann. Die Botschaft dieses Buches ist, daß jemand, der intelligenter und reicher war als die meisten von uns jemals sein werden, es versucht hat - und gescheitert ist.
So können wir uns die Kosten, den Kummer, die Frustriertheit und die Enttäuschung ersparen, wenn wir »über« die Sonne hinaus schauen, oder besser gesagt zu dem, der allein zufriedenstellen kann - zum Herrn Jesus Christus.
Kris Kristofferson brachte den Inhalt des Predigers zum Ausdruck als er sagte: »Herr, vielleicht kann ich jemandem zeigen, was ich durchgemacht habe auf dem Weg zu Dir.«

Irrlehrer lieben das Buch des Predigers.
Der Prediger ist ein bevorzugtes Buch bei falschen Lehrern und Sekten. Um ihre falschen Lehren »biblisch« zu untermauern, zitieren sie voller Enthusiasmus aus dem Prediger, vor 'allem im Hinblick auf Themen wie den Tod und die Dinge danach. Z.B. werden Verse dieses Buches benutzt, um zu belegen, daß die Seele nach dem Tod schläft und daß die Gottlosen völlig vernichtet werden.
Dabei werden Verse aus dem Zusammenhang gerissen, um die Unsterblichkeit der Seele und die ewige Verdammnis zu leugnen.
Leider benutzen solche Leute nie den Schlüssel. Sie weisen nie darauf hin, daß der Prediger die menschliche Weisheit »unter der Sonne« erklärt und von daher keine untrügliche Quelle zur Untermauerung christlicher Glaubenslehren darstellt.

Komm mit!
Wenn auch du den Prediger schwer verstehst, komm doch mit. Manchmal erscheinen Salomos Rückschlüsse widersprüchlich und viele seiner Beobachtungen sind augenscheinlich ohne logischen Zusammenhang. Einige seiner Bemerkungen sind unklar und deshalb ein Rätsel für viele Ausleger. Überhaupt sind viele seiner Belehrungen manchmal so irritierend, daß wir fast verzweifeln könnten. Aber gerade das ist Teil des großartigen Entwurfs dieses Buches.
Wir wollen nicht vergessen: Es ist der Bericht eines Mannes auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Es ist ein Buch menschlicher Weisheit, nicht Offenbarung. Menschliche Philosophien lassen sich selten leicht lesen. jemand, der die Wahrheit unter der Sonne sucht, kann nicht mit der Klarheit und Bestimmtheit schreiben wie einer, der die Wahrheit gefunden hat. Wenn wir jetzt also Vers für Vers des Buches betrachten.

Eine Betrachtung des Buches: Prediger
1. Sinnlosigkeit allen Lebens
2. sinnloses Jagen nach Vergnügen und Ansehen
3. Alles hat seine Zeit
4. das Leben ist nicht ehrlich
5. Empfehlung an Religiöse und Reiche
6. grausame Ironie
7. das Gute und das Bessere
8. die Weisheit der Weisheit
9. genieße alles, bevor du stirbst
10. Portrait eines Weisen und eines Narren
11. verbreite das Gute
12. Aufstieg und Fall des menschlichen Lebens
- wie finde ich, was Salomo suchte
- der Prediger in meinem Leben 

Zerbrich mich Herr, William MacDonald

03/29/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Dreißig Jahre, nachdem Andrew Murray das Buch »Bleibe in Jesus« geschrieben hatte, sagte er einmal: Sie sollen wissen, dass ein Prediger oder ein christlicher Autor oft so geführt werden kann, mehr zu sagen, als er selbst nachvollzogen hat. 

Damals, als ich »Bleibe in Jesus« schrieb, hatte ich nicht alles erfahren, wovon ich geschrieben habe. 

Und ich kann nicht sagen, dass ich jetzt alles völlig nachvollzogen habe. Es war dieselbe Geisteshaltung, aus der heraus der Apostel Paulus folgende Worte schrieb: Nicht, dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollendet sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch 
ergreifen möge, indem ich auch von Christus Jesus ergriffen bin. Philipper 3,12

Dasselbe Empfinden habe ich im Hinblick auf den folgenden Artikel, »Zerbrich mich, Herr!«. Der Herr hat es mir aufs Herz gelegt, diesen Artikel zu schreiben. Die Wahrheit ist zu erhaben und zu dringlich, als dass ich sie zurückhalten dürfte, nur weil ich selbst sie nicht bis ins Letzte nachvollzogen habe. Wie sehr ich auch versagt haben mag, ist es doch mein Herzensanliegen, was ich hier niedergeschrieben habe.

Zerbrochenes ist wertvoll in Gottes Augen
Wenn etwas zerbrochen ist, verliert es im Allgemeinen entweder ganz oder teilweise seinen Wert. Zerbrochenes Geschirr, zerbrochene Flaschen und zerbrochene Spiegel werden meist weggeworfen. Schon ein Kratzer an einem Möbelstück oder ein Riss im Stoff mindert dessen Verkaufswert ganz erheblich. Im geistlichen Bereich verhält es sich ganz anders. Zerbrochenes hat in Gottes Augen einen besonderen Wert – insbesondere zerbrochene Menschen. Darum lesen wir auch solche Verse wie: Nahe ist der HERR denen, die zerbrochenen Herzens sind, und die zerschlagenen Geistes sind, rettet er. Psalm 34,19
Die Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten. Psalm 51,19
Gott weiß den Stolzen und Überheblichen zu widerstehen, aber einem demütigen und zerschlagenen Menschen kann er nicht widerstehen. Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade. Jakobus ,6 Etwas in unserer Zerbrochenheit appelliert an 
Gottes Mitleid und seine Macht.
Und so ist es ein Teil seines wunderbaren Planes für unser Leben, dass wir zerbrochen werden sollen – zerbrochen im Herzen, zerbrochen im Geist und selbst zerbrochen in unserem Leib (vgl. 2. Korinther 4,6-18).

Bekehrung – eine Form der Zerbrochenheit
In diesen Prozess des Zerbrochenwerdens werden wir schon vor unserer Bekehrung hineingestellt, wenn der Heilige Geist beginnt, uns von der Sünde zu überführen. Er muss uns an den Punkt bringen, wo wir bereit sind zuzugeben, dass wir verloren und unwürdig sind und nur die Hölle verdienen. Wir kämpfen bei jedem Schritt auf diesem Weg. Doch der Heilige Geist ringt mit uns so lange weiter, bis unser Stolz gebrochen, unser Prahlen verstummt und jeglicher Widerstand aufgegeben ist. 
Dann liegen wir unter dem Kreuz und bringen nur noch heraus: »Ach, Herr Jesus, rette mich doch!« Der Widerspenstige ist nun gezähmt, der Sünder ist überwunden, das junge Pferd ist zugeritten. Von Natur aus ist das junge Pferd ein wildes, unfügsames Geschöpf. Sobald es das Zaumzeug oder den Sattel spürt, bäumt es sich sofort auf, es geht durch, buckelt und schlägt aus. Es kann ein wunderschönes, gut gebautes Tier sein, aber so­lange es noch nicht gebändigt ist, bleibt es für die Arbeit wertlos. Aber dann beginnt der lange und schmerzvolle Prozess, den Willen des jungen Pferdes zu bändigen, sodass es sich schließlich das Geschirr anlegen lässt. Wurde sein Wille erst einmal von einem höheren Willen überwunden, dann entdeckt das Tier den wahren Grund für sein Dasein.

In diesem Zusammenhang sollten wir uns daran erinnern, dass der Herr Jesus in Nazareth wahr
scheinlich Zimmermann war und wohl auch Holzjoche angefertigt hat. Jemand hat einmal trefflich bemerkt, dass falls über Jesu Ladentür ein Schild hing, dieses wahrscheinlich die Aufschrift getragen hätte: »Meine sind Maßarbeit.« Wichtig für uns ist, dass unser göttlicher Herr noch immer ein Jochmacher ist. 

Er sagt: Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Matthäus 11,29-30 Ein Joch ist aber nur etwas für den, der zerbrochen und gefügig gemacht worden ist. Unser Wille muss erst unterworfen und gefügig gemacht werden, bevor wir von Jesus lernen können. Er war sanftmütig und von Herzen demütig. Wir müssen so werden wie er, denn nur so werden wir Ruhe finden für unsere Seelen.

Was zum Zerbrochensein gehört
Was bedeutet wahre Zerbrochenheit? Wie äußert sie sich im Leben eines Gläubigen? Welches sind ihre Wesensmerkmale? Umkehr, Schuldbekenntnis, Bitte um Vergebung Vielleicht fällt uns hierzu als Erstes die Bereitschaft ein, Sünde vor Gott und vor den Menschen, denen wir Unrecht getan haben, zu bekennen. Der zerbrochene Mensch ist schnell zur Umkehr bereit. Er versucht nicht, die Sünde unter den Teppich zu kehren. Er versucht nicht, sie mit der Entschuldigung 
»Zeit heilt alle Wunden« zu vergessen. Er begibt sich unverzüglich in die Gegenwart Gottes und ruft aus: »Ich habe gesündigt.« Dann geht er zu demjenigen, den er durch seine Handlungsweise verletzt hat, und sagt: »Ich war im Unrecht. Es tut mir leid. 

Vergib mir bitte!« Einerseits kennt er die tiefe Be­schämung, um Vergebung bitten zu müssen, doch erfährt er andererseits auch die große Erleichterung, ein reines Gewissen zu haben und im Licht zu wandeln. Ein aufrichtiges Schuldbekenntnis geht weder über Sünde hinweg noch verharmlost es sie. Es ist nicht so wie bei jener ungebrochenen älteren Dame, die hochmütig meinte: »Falls ich irgendetwas falsch gemacht habe, bin ich bereit, mir vergeben zu las­sen.« Echte Reue sagt: »Ich habe Unrecht getan und bin gekommen, um zu sagen, dass es mir leidtut.«
Sünde und Versagen haben Davids Leben überschattet, aber es war seine tiefe Buße, die ihn zu 
einem Mann nach dem Herzen Gottes machte. In den Psalmen 32 und 51 lesen wir von seinen Vergehen, seiner Sünde und seiner Ungerechtigkeit. Wir sehen, wie er sich zunächst weigerte, Buße zu tun. Damals war sein Leben ein einziges körperliches, seelisches und geistliches Elend. Alles ging schief. Alles schien aus den Fugen geraten zu sein. 


Schließlich brach er zusammen. Er bekannte, und Gott vergab. Dann brach die Sonne wieder hervor, und David konnte wieder singen. Paulus gibt uns im Neuen Testament ein gutes 
Beispiel für Zerbrochenheit. Er wurde damals in Jerusalem vor die Hohenpriester und das Synedrium geführt. Als er seine Rede mit der Feststellung einleitete, er habe immer mit gutem Gewissen vor Gott gelebt, da wurde der Hohepriester zornig und befahl, dem Gefangenen auf den Mund zu schlagen. Der Apostel fuhr ihn an: »Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand! Und du sitzt da, um mich nach dem Gesetz zu richten, und gegen das Gesetz handelnd befiehlst du, mich zu schlagen?« (Apostelgeschichte 23,3).
Die Umstehenden waren über diese scharfe 
Zurechtweisung schockiert, die Paulus da aus­gesprochen hatte. Wusste er nicht, dass er mit dem Hohenpriester sprach? Der Apostel wusste es tatsächlich nicht. Möglicherweise trug Ananias nicht seine offizielle Priesterkleidung, oder er saß nicht auf seinem üblichen Platz. Vielleicht waren auch Paulus’ schlechte Augen daran schuld. Wie dem auch sei – jedenfalls hatte er nicht absichtlich die derzeitige Obrigkeit angegriffen. Deshalb entschuldigte er sich sofort mit den Worten aus 2.Mose 22,27: 

»Die Richter sollst du nicht lästern, und einem Fürsten deines Volkes sollst du nicht fluchen.« Der Apostel war schnell bereit, sich zu beugen. Seine geistliche Reife zeigte sich darin, dass er gleich bereit war, zu sagen: »Ich war im Unrecht. Es tut mir leid.« Zurückerstattung Eng verbunden mit diesem ersten Aspekt von Zerbrochenheit ist eine sofortige Zurückerstattung, 
wofür auch immer sie gefordert sein mag. Habe ich gestohlen, etwas beschädigt oder jemanden verletzt oder hat ein anderer aufgrund meines Fehlverhaltens einen Verlust erlitten, so genügt es nicht, um Vergebung zu bitten. Die Gerechtigkeit verlangt, dass der Verlust erstattet wird. Dies bezieht sich auf Geschehnisse sowohl vor als auch nach meiner Bekehrung.

Nachdem Zachäus den Herrn Jesus aufgenommen hatte, fielen ihm einige der krummen Dinge 
ein, die er als Oberzöllner gedreht hatte. Es war ein gottgegebener Impuls, der ihn sofort dazu anhielt, dieses Unrecht wiedergutzumachen. Deshalb sagte er zum Herrn: »Wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe, erstatte ich es vierfach« (Lukas 19,8).

Hier drückt das »wenn« keinerlei Zweifel oder Unsicherheit aus. Es bedeutet vielmehr: »Jedes Mal, wenn ich jemanden um etwas betrogen habe, werde ich es vierfach erstatten.« Seine feste Entschlossenheit, Erstattung zu bieten, war eine Frucht seiner Bekehrung. Das »vierfach« war ein Barometer für die Echtheit und Kraft seines neuen Lebens. Es gibt Fälle, in denen keine Erstattung mehr möglich ist. Vielleicht wurden Aufzeichnungen zerstört oder die genauen Beträge im Laufe der Zeit vergessen. Gott weiß das alles. Alles, was er will, ist, dass wir unsere Schuld begleichen, wo immer es möglich ist.

Und dies sollte immer im Namen des Herrn Jesus geschehen. Gott wird dadurch nicht verherrlicht, wenn wir nur sagen: »Ich habe gestohlen. Es tut mir leid. Ich möchte es jetzt zurückzahlen.« Diese Handlung sollte immer mit einem Zeugnis für Christus verbunden sein, etwa: »Durch den Glauben an Jesus Christus bin ich vor Kurzem Christ geworden. Der Herr hat zu mir wegen einiger Werkzeuge gesprochen, die ich Ihnen vor fünf Jahren gestohlen habe. Ich komme zu Ihnen, weil ich Sie um Vergebung bitten und die Werkzeuge zurückgeben möchte.« Jede gerechte oder freundliche Handlung eines Christen sollte mit einem Zeugnis für den Herrn Jesus verbunden sein, sodass er die Ehre erhält und nicht wir.

Vergebungsbereitschaft
Ein dritter Aspekt der Zerbrochenheit ist die Bereitschaft zu vergeben, wenn wir ungerecht behandelt wurden. In vielen Fällen bedarf dies einer ebenso großen Gnade wie die Bitte um Vergebung oder eine Zurückerstattung.Das Neue Testament gibt uns sogar genaue Anweisungen, wie wir anderen vergeben sollen. Zunächst sollten wir, wenn uns jemand Unrecht getan hat, diesem Menschen sofort in unserem Herzen vergeben (Epheser 4,32). Schon bevor wir zu 
ihm gehen und ihm Vergebung zusprechen, haben wir ihm in unserem Herzen bereits vergeben.

»In dem Augenblick, wo mir ein Mensch Unrecht tut, muss ich ihm vergeben. Dann ist meine Seele frei. Wenn ich ihm das Unrecht vorhalte, sündige ich gegen Gott und gegen ihn und bringe damit meine Vergebung bei Gott in Gefahr. Es ist egal, ob derjenige jetzt Reue zeigt, Schadenersatz leistet, mich um Vergebung bittet oder nicht. Ich habe ihm im selben Augenblick vergeben. Er muss sich für das begangene Unrecht vor Gott verantworten, aber das ist seine und Gottes Angelegenheit und nicht meine, außer dass ich ihm im Sinne von Matthäus 18,15ff. helfen sollte. Aber unabhängig davon, ob dies nun Erfolg hat oder nicht, und bevor ich in dieser Hinsicht überhaupt etwas unternehme, muss ich ihm vergeben« (Lenski).

Es gibt da eine Vielzahl kleinerer Ungerechtigkeiten, die augenblicklich vergeben und vergessen 
werden können. Es ist ein echter Sieg, wenn wir dazu in der Lage sind. »Die Liebe … rechnet Böses nicht zu und weidet sich auch nicht an der Schlechtigkeit anderer Leute« (1. Korinther 13,6 nach der englischen Übersetzung von J. B. Phillips).
Eine gläubige Frau wurde einmal gefragt: »Er­innern Sie sich nicht mehr an diese gemeine Be­merkung, die jene gehässige Frau zu Ihnen sagte?« Ihre Antwort war: »Nicht nur, dass ich mich nicht mehr daran erinnere – ich erinnere mich noch ganz deutlich daran, wie ich das vergaß.«
Ist die Sünde von einer ernsteren Art und meinen wir, dass es nicht richtig wäre, einfach darüber hinwegzugehen, dann ist der nächste Schritt der, zu demjenigen hinzugehen, der sich an uns versündigt hat, und mit ihm darüber zu sprechen (Matthäus 18,15). Zeigt er Reue, dann müssen wir ihm vergeben. »Und wenn er siebenmal am Tag gegen dich sündigt und siebenmal zu dir umkehrt und spricht: Ich bereue es, so sollst du ihm vergeben« (Lukas 17,4). 

Es ist nur recht und billig, dass wir gewillt sein sollten, unbegrenzt zu vergeben. Schließlich wurde und wird uns ja auch unzählige Male vergeben. Hüten Sie sich auch davor, das Vergehen dieser Person überall herumzuposaunen (und das tun wir ja gerade meistens). »Überführe ihn zwischen dir und ihm allein« (Matthäus 18,15). Wir sollten offensichtlich so vorgehen, dass wir Streitigkeiten nicht nach außen tragen. Sobald der Bruder (oder die Schwester), der (oder die) uns verletzt hat, seine Sünde bekennt, sagen wir, dass wir vergeben haben. Wir haben schon im Herzen vergeben, aber nun können wir Vergebung zusprechen.

Aber angenommen, er weigert sich nun, um­zukehren. Dann nimm, gemäß Matthäus 18,16, 
»noch einen oder zwei mit dir, damit durch den Mund von zwei oder drei Zeugen jede Sache be­stätigt werde«. Weigert er sich, auf diese zwei oder drei Zeugen zu hören, dann sollte die Angelegenheit vor die örtliche christliche Gemeinde gebracht werden. Der Zweck von alldem ist nicht, Vergeltung zu üben oder zu bestrafen, sondern den in Sünde gefallenen Bruder zurückzugewinnen.
Scheitert auch diese letzte Bemühung, so soll er wie ein Heide und Zöllner behandelt werden. Mit anderen Worten: Er soll nicht länger wie jemand behandelt werden, der zur örtlichen Gemeinde gehört. Da er sich nicht wie ein Christ verhält, begegnen wir ihm auf seiner selbst gewählten Basis. Wir behandeln ihn wie einen Ungläubigen. Aber sobald er umkehrt, sprechen wir ihm Vergebung zu, und die volle Gemeinschaft ist wiederhergestellt.

Gott hasst Unversöhnlichkeit, die Entschlossenheit, seinen Groll mit ins Grab zu nehmen, die Un­willigkeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Dies wird im Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht eindrücklich herausgestellt (Matthäus 18,23-35). Als der Knecht selbst nichts hatte, um zu bezahlen, da erließ ihm der König 10 000 Talente. Doch er war nicht bereit, einem Mitknecht ein paar lumpige Denare zu erlassen. Die Lektion ist eindeutig: Da Gott uns vergab, als wir noch bis über den Hals in Schulden steckten, sollten wir auch bereit sein, anderen zu vergeben, die uns Kleinigkeiten schulden.
Unrecht ertragen, ohne Vergeltung zu üben Aber es gibt noch weitere Aspekte der Zerbrochenheit, wie zum Beispiel die demütige Gesinnung, die dafür leidet, dass sie Gutes tut, und die keine Vergeltung übt. Hierfür ist natürlich unser Herr das beste Beispiel:
(Christus,) der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich (andere Lesart: es) dem übergab, der gerecht richtet. 1. Petrus 2,23

Inhalt
Vorwort 7
Zerbrochenes ist wertvoll in Gottes Augen 9
Bekehrung – eine Form der Zerbrochenheit 11
Was zum Zerbrochensein gehört 13
Was Zerbrochenheit nicht bedeutet 29
Der Generationskonflikt 31
Der Ehekonflikt 35
Gott will, dass wir alle zerbrechen 39
Die Auswirkungen 41
Zerbrich mich, Herr! 43
Wie ein Mensch denkt 45

Modersohn​ Ernst 1870-1948

01/18/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Ernst Modersohn, geboren 1870 in Soest, gestorben 1948 in Bad Blankenburg/Thüringen, war ein weit bekannter Evangelist, Prediger, Seelsorger und Schriftsteller. 
Allein der Autor Ernst Modersohn ist ein »Phänomen«; erschienen sind etwa 260 Bücher und Hefte in einer Gesamtauflage von bald vier Millionen.