Musser Elizabeth, Der Garten meiner Großmutter

07/25/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Prolog

Suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit ...
29. Januar 1983, Nashville, Tennessee
Auf
NBC laufen die Abendnachrichten. Ich bin allein, müde und hungrig von der Arbeit, kaue lustlos auf der kalten Pizza von gestern herum und wünsche mir, es wäre blanquette de veau. Die
Story kommt gegen Ende.
Jessica Savitch steht auf einem Marktplatz und berichtet aufgeregt über den Tumult, der um sie herum herrscht. „Offenbar wurde Klaus Barbie, der berüchtigte Schlächter von Lyon, hier im bolivischen La Paz ausfindig gemacht. Der unter dem Decknamen Klaus Altmann
lebende ehemalige Gestapochef war für Tausende von Hinrichtungen und Deportationen während des Zweiten Weltkriegs verantwortlich. 
Fast vierzig Jahre nach seinem Untertauchen wurde er nun
aufgespürt ...“
Ich versuche mich auf ihren Bericht zu konzentrieren, aber mein Puls rast und ich atme schwer. Ich rutsche näher an die Mattscheibe, erhasche einen Blick auf das Monster und erschauere. Vielleicht ist es bald vorbei. Endlich vorbei, für so viele von ihnen. Für uns. Für mich.


Ohne den Blick vom Fernseher zu wenden, wähle ich die Telefonnummer in Atlanta. „Mama, mach den Fernseher an. Schnell!“
„Wir sehen es, Emile“, flüstert sie.
„Vielleicht bekommen wir jetzt endlich Antworten.“
„Mag sein. Die Zeit wird es zeigen.“
Ich möchte ihr am liebsten entgegnen, dass die Zeit es nicht zeigen wird. In dieser Sache behält sie alle Geheimnisse hartnäckig für sich. Zwanzig Jahre Geheimniskrämerei. Ich höre Grandma Bridgemans Stimme von vor zwanzig Jahren: „Emile, das Leben beantwortet dir nicht jede Frage. Manche Antworten bekommst du nie. Aber wenn du die wichtigste Frage geklärt hast, kannst du damit leben, es aushalten, dass andere unbeantwortet bleiben.“
Natürlich denke ich über ihn nach, aber gleichzeitig denke ich auch an sie. Ob sie in Bolivien ist? Ob sie geholfen hat, den Schlächter zu finden? „Wir sehen uns vielleicht nie wieder, Emile, aber diese eine Sache werde ich für dich tun. Versprochen.“

Ich kann die kalte Pizza jetzt nicht weiteressen oder Klausuren korrigieren oder sonst irgendwas machen. Ich sitze da wie hypnotisiert, obwohl im Fernsehen längst Werbung läuft.
Grandma, ich bin deinem Rat gefolgt. Habe die Sache auf sich beruhen lassen. Jahrelang. Aber sie ist wieder da. Und ich kann sie nicht einfach ignorieren.

Ich springe auf, greife nach meiner Regenjacke und gehe zur Tür, als könnte ich einfach zum Flughafen fahren und das nächste Flugzeug nach Bolivien nehmen. Was soll das? Bin ich jetzt völlig verrückt geworden? Aber irgendwas muss ich tun. Rastlos gehe ich ins Schlafzimmer und krame das dünne Comicbuch hervor. Tim und Struppi, mein Held aus Kindertagen. Ich schlage das Buch wahllos in der Mitte auf, starre auf die verstümmelten Seiten, auf das Loch, das wie ein Messer geformt ist, kneife die Augen zu und sage laut, als würde ich beten: „Lass es vorbei sein. Bitte, lass es endlich vorbei sein!“

Aber es ist nicht vorbei. Am nächsten Abend sind die Gräueltaten von Klaus Barbie wieder Thema der Nachrichten: „Nach einem Anschlag auf Barbies Lieblingsrestaurant ließ er fünf Häftlinge erschießen und stellte ihre Leichen zur Abschreckung öffentlich zur Schau. Als in der Nähe Soldaten der deutschen Luftwaffe überfallen wurden, ließ er einen ganzen Zellenblock öffnen, um einen Ausbruch zu provozieren. Den vierundzwanzig Häftlingen wurde bei
der Flucht in den Rücken geschossen.“

Irgendwie fühlt es sich falsch an, dass die abscheulichen Taten dieses Mannes im Fernsehen thematisiert werden. Als wäre der Schmerz, der meine Familie auseinandergerissen hat, nur ein zwei dimensionales Bild, das kurz auf der Mattscheibe auffackert. Keine Reportage vermag es, die Tiefe der Wunden wiederzugeben. „Als die Niederlage Deutschlands sich abzuzeichnen begann, ließ Barbie ganze Dörfer seine Wut spüren. Hauptsächlich hatte er es auf Lyons Juden abgesehen, die nach der Besetzung von Paris in Scharen aufs Land geflohen waren. Barbies Helfer konfiszierten beim Verhör Schmuck und andere Wertgegenstände. Viele Juden schafften
es noch nicht einmal zur Rampe von Auschwitz, weil Barbie sie ohne Nahrung und Wasser in Viehwagen sperren ließ. Da die Irrfahrt Wochen dauerte, starben sie einen jämmerlichen Tod.

 Die deutschen Soldaten mussten die Leichen mit Gasmasken entsorgen.“
Mir reicht’s. Ich schalte den Fernseher aus und suche mein Tim- und-Struppi-Buch – ein Fluchtmechanismus. Vielleicht bräuchte ich jetzt eine der Spionagegeschichten meines Vaters. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie er in mein Zimmer kommt, das Comicbuch in der Hand, in dem das Messer versteckt ist. Aber so eine Geschichte wird es nicht mehr geben, da bin ich mir sicher.
Es sei denn, ich erzähle sie.
Ich setze mich an meinen Schreibtisch, schlage das Comicbuch auf und fahre mit den Fingern über die Ränder der zerschnittenen Seiten. Dann lege ich ein Blatt Papier in meine alte Smith Corona und drehe an der Walze, bis der weiße Rand erscheint. Wie die Geschichte anfängt, weiß ich, aber nicht, wie sie endet. Also fange ich an zu tippen. Klack, klack, klack schlagen die schwarzen Buchstaben aufs Papier und beschmutzen es mit den Worten:

Der Garten meiner Großmutter.
Teil 1
Pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit ...

Kapitel 1 „Amerika
wird dir gefallen“, hatte meine Mutter schon immer gesagt. „Eines Tages fahren wir dorthin, und es wird dir bestimmt gefallen.“
Meine französische Großmutter, die ich Mamie Madeleine nannte, war nicht so begeistert. „Das ist ein Land ohne Geschichte, stolz und jung, dabei muss es noch so viel lernen. Hüte dich vor Amerika, Emile.“ Aber am Tag, bevor ich mein Heimatland verließ, stand sie da, den Kopf hoch erhoben, mit ihrem stolzen und strengen Blick, den ich so gut kannte, und flüsterte mir mit zugeschnürter Kehle zu: „Alles wird gut, Emile. Sei tapfer.“ Dann gab sie mir auf jede
Wange ein Küsschen und weigerte sich, auch nur eine Träne zu vergießen.

Am nächsten Tag stiegen meine Mutter Janie Bridgeman de Bonnery und ich am Flughafen Orly in die Delta-Maschine. Niemand war da, um uns zu verabschieden. Der Flug dauerte acht Stunden
und ich sagte die ganze Zeit kein Wort, versuchte nicht, den Zorn zu besänftigen, der meine Schläfen zum Pulsieren brachte, und verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, wie meine Mutter sich wohl fühlen mochte.

Sie war erleichtert, da war ich mir sicher. Sie konnte Frankreich endlich hinter sich lassen und aus einer Lebenssituation flüchten, die ihr fünfzehn Jahre lang die Luft abgeschnürt hatte. Aber sie tat
mir kein bisschen leid. Ich kochte innerlich und wusste, wenn ich den Mund aufmachte, würde ich explodieren. Die Landung in Atlanta an jenem späten Septembertag passte perfekt zu den nächsten neun Monaten meines Lebens: holprig – so holprig, dass ich in die Sitztasche vor mir griff, weil ich die Papiertüte brauchte, die darin steckte.

„Emile, du bist ja ganz grün!“, verkündete meine Mutter den ganzen Passagieren um uns herum.
„Iih, ist das eklig“, sagte ein Junge von der anderen Seite des Ganges. Wütend starrte ich meine Mutter an und zischte auf Französisch:
„Das ist deine Schuld! Das ist alles deine Schuld!“
Sie wusste, dass ich nicht nur die volle Papiertüte meinte, sagte aber nichts zu ihrer Verteidigung. Unentwegt drehte sie ein weißes Taschentuch auf ihrem Schoß hin und her, als könne sie die Spannung auswringen, die sich in den letzten Tagen aufgebaut hatte.

Ich wünschte, eine Stimme wäre vom Himmel gekommen und hätte mir mitten in den Turbulenzen zugeflüstert: „Nun wird sich alles ändern, Emile. Nichts wird mehr so sein, wie es war.“
Es waren noch zwei Monate bis zu meinem vierzehnten Geburtstag, als ich mit meiner Mutter von Frankreich in die USA zog. Ich hatte mich das ganze Jahr auf eine Veränderung gefreut, ja sogar
danach gesehnt – größer zu werden, Muskeln zu bekommen, Flaum im Gesicht und unter den Achseln. Aber als wir auf dem Flughafen von Atlanta standen, umgeben von Gepäckbergen, wollte ich sie nicht mehr. Ich wollte wieder in meine alte Welt zurück, die ich kannte und in der ich sicher war. „Himmel noch mal, Emile, jetzt hilf dem Mann mit dem Gepäck!“, sagte meine Mutter entnervt. Ich warf ihr einen bösen Blick zu und begann halbherzig, gemeinsam mit einem Schwarzen in blauer Uniform Koffer und Taschen vom Gepäckband zu ziehen.

Mama half so gut sie konnte. Trotz ihrer Statur und ihrem Auftreten – mit ihrem blassgelben Kostüm und den hochhackigen Schuhen sah sie aus wie aus einer Parfümwerbung – war meine Mutter eine Frau mit starkem Willen. Sie schob die schweren Koffer, die zum Teil halb so groß waren wie sie, vor sich her zu einem Wägelchen, auf dem der Gepäckträger gefährliche Stapel errichtete. Irgendwann
schafften wir es bis hinaus zum Taxistand.

„Das passt auf keinen Fall alles rein, Ma’am“, stellte der Gepäckträger entschieden fest.
Mamas Wangen wurden hellrot und ihre Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. „Dann nehmen wir eben zwei. Bekommen Sie das in zwei Taxis?“
„Ich kann’s versuchen, Ma’am.“ Der Gepäckträger winkte noch ein Taxi herbei. Zu dritt machten sich die Männer daran, die Koffer und Taschen zu verstauen.

Ich stand mit verschränkten Armen daneben und sah zu. Immer wenn meine Mutter besonders verärgert war, bellte sie ihre Befehle jedem entgegen, der zuhörte. Gleichzeitig zupfte sie dann an
ihrer perfekt gestylten blonden Augenbraue herum. An diesem Tag zupfte sie, was das Zeug hielt, und rang zwischendurch die Hände. Ihre Sonnenbrille sah aus wie die von Mrs Kennedy, die man seit der Ermordung ihres Mannes vor einem Jahr im texanischen Dallas gar nicht mehr ohne sah. Mama trug die Sonnenbrille, damit nicht die ganze Welt merkte, dass sie geweint hatte – sich die Augen ausgeheult hatte, um ehrlich zu sein –, obwohl man das trotzdem sehen konnte. Ihre Nase war etwas rosiger als die Wangen und ihre Lippen bebten die ganze Zeit.

Ich stand neben ihr, schwitzte und fragte mich, was um alles in der Welt ich mir da bloß eingehandelt hatte. „Tut mir leid. Ich fürchte, du wirst deinem Frankreich Lebewohl sagen müssen.“ Diese Worte hatte Mamie Madeleine gestern gesagt, mit hoher und erregter Stimme, grimmigem Blick und zugleich feuchten Augen. Ihre Hände hatten gezittert, als ich die Koffer im Innenhof
unseres kleinen Châteaus aus dem dreizehnten Jahrhundert aufeinandergestapelt hatte. Unser Château, das im Laufe der Jahre aufwendig restauriert und von Generation zu Generation weitervererbt worden war.

Mein Vater war verschwunden und wir gingen nach Amerika, meine Mutter und ich. Mama versuchte sich zu rechtfertigen. „Emile, ich halte das nicht mehr aus. Das schaffe ich nicht. Dein Vater ...
dein Vater hat eine andere, und ...“
Es war einfach so passiert. Zwei Tage später saßen wir im Flugzeug, mit dreiunddreißig Taschen und Koffern. Das Gesicht meiner Mutter war vom Weinen und von meinen Wutausbrüchen rot und
geschwollen. „Ich will hier nicht weg! Ich bleibe hier. Papa kommt bald zurück. Er kommt immer zurück. Ich bleibe hier!“

Ich hörte nicht auf. „Man kann nicht von heute auf morgen einfach aus seinem Land vertrieben werden. Ich komme nicht mit! Ich bleibe bei Mamie Madeleine. Geh doch alleine!“ Aber es nützte nichts. Obwohl sie sonst Erzfeinde waren, waren die beiden Bestimmerinnen meines Lebens sich ausnahmsweise einig: Meine Mutter und ich sollten Lyon sofort verlassen.

Bei meinem Vater, Jean-Baptiste de Bonnery, war es schon Tradition, dass er plötzlich für ein, zwei Wochen verschwand. Mama hatte zwar immer irgendeine Geschäftsreise als Ausrede parat, aber ich
glaubte ihr kein Wort. Papa war ein Spion. Er arbeite für die Regierung, sagte er immer, und leite Leute an, die wichtige Entscheidungen träfen. Aber ich hatte genug Detektivgeschichten gelesen um zu wissen, dass das nur Tarnung war.

„Papa ist bei der Spionageabwehr, oder, Mama?“, hatte ich ihr vor sechs Monaten die Pistole auf die Brust gesetzt. „Ich bin kein kleines Kind mehr. Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen.“ Sie hatte mich verwirrt angesehen und dann schnell gelacht. „Emile, wo hast du nur immer diese Ideen her! Hör auf, diese Bücher zu lesen und mach was Vernünftiges, hörst du? Dein Vater ist auf Geschäftsreise und kommt in zehn Tagen wieder.“
Bis vor Kurzem hatte sie immer recht behalten. Der Gepäckträger stopfte Koffer und Taschen in den Kofferraum und auf den Rücksitz.
„Wir hätten auf ihn warten sollen, Mama. Er kommt doch immer wieder. Warum soll es dieses Mal anders sein? Los, sag mir das!“ Ich hätte nicht in diesem Ton mit ihr reden dürfen. Wenn Papa da
gewesen wäre, hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Aber das war es ja gerade. Papa war nicht da, und dieses Mal war es anders. Trotzdem gab ich mich mit Mamas Erklärung nicht zufrieden. Mein ganzes Leben hatte ich ihr geglaubt. Ironischerweise konnte ich es gerade jetzt nicht, wo die Beweislage erdrückend war. Jede Wette, dass sie mehr wusste, als sie sagte.

Aber ich wusste auch mehr, als ich sagte. Ich wusste mehr, als ich irgendwem anvertrauen konnte. Dass es scheinheilig war, mein Geheimnis für mich zu behalten und gleichzeitig zu erwarten, dass sie ihres preisgab, fiel mir nicht auf. Meine Mission lautete, die Wahrheit über meinen Vater herauszubekommen, und für eine noble Sache musste man eben manchmal kleine Unstimmigkeiten in Kauf nehmen. Ich ging zum Taxi, während Mama dem Fahrer einen Umschlag gab, auf dessen Rückseite die Adresse stand. „Wissen Sie, wo das ist? 
Das müsste im Nordteil der Stadt liegen.“ Der schwarze Fahrer legte die Hand an den Hut. „Ja, Ma’am. Ich fahre Sie hin.“

Sie hatte es betont beiläufig gefragt, aber ich merkte, wie erleichtert Mama war. Großmutter war nämlich umgezogen, seit Mama nach Frankreich ausgewandert war.
„Und außerdem möchten wir im Varsity etwas zu Mittag essen“, fügte Mama resolut hinzu. „Kostet das extra, wenn Sie eine Viertelstunde auf dem Parkplatz warten?“
Der Fahrer sah Mama an, als hätte sie ihn um einen Gutschein für den Rückflug gebeten. Aber bevor er etwas erwidern konnte, sagte sie schnell: „Ich gebe auch einen kalten Orangensaft und Pommes
frites aus. Die können Sie beide sich draußen bestellen.“
„Dann sind wir uns einig, Ma’am“, antwortete er lächelnd, sah seinen Kollegen an und zuckte mit den Schultern. Unsere zwei Taxis fuhren auf die Stadtautobahn und allmählich kam die Skyline von Atlanta in Sicht. Sie war ganz anders als die von Lyon, wo sich im Süden die zwei Flüsse trafen, die Hand reichten und gemeinsam weiterreisten. Hier gab es überhaupt kein Wasser, nur vierspurige Autobahnen, moderne Wolkenkratzer und Autos.

Große, dicke Autos.
Meine Mutter schien die gewaltige Stadt nicht zu beeindrucken. „Wir werden erst noch eine Kleinigkeit essen, Emile“, verkündete sie, als der Taxifahrer auf den Restaurantparkplatz fuhr. Das Restaurant war rot und gelb und auf einem großen vertikalen Schild stand The Varsity. In Amerika war es früher Nachmittag, aber für meinen Magen war es Mitternacht, und mir war überhaupt nicht nach Essen zumute.

„Jetzt hupen Sie schon, um Himmels willen“, herrschte Mama den Fahrer an, damit das andere Taxi merkte, wie sie es wild gestikulierend auch auf den Parkplatz lotsen wollte. Wir stiegen aus und
gingen ins Restaurant. „Das hier ist das größte Drive-In-Restaurant der Welt“, erklärte Mama. „Eigentlich konnte man immer nur vom Auto aus bestellen, aber inzwischen geht das auch hier drin.“ Im Restaurant – wenn man es so nennen wollte – war es laut, voll, und stank nach altem Fett. Ich war noch nie in einem Restaurant gewesen, wo man sich für sein Essen anstellen musste, aber Mama tat so, als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht. Obwohl ich keinen Hunger hatte, reizte mich das amerikanische Essen.

Eine füllige schwarze Frau mit einem roten The-Varsity-Hütchen aus Papier auf dem Kopf beugte sich über die hohe Theke und sagte: „Sdarfsnsein?“
Ich riss die Augen auf und dachte zuerst, sie spreche eine völlig fremde Sprache. „Verzeihung“, murmelte ich auf Englisch, wurde rot, und sie wiederholte dieselbe unverständliche Frage.
Verzweifelt sah ich Mama an und erwartete, dass sie genauso verwirrt sein würde wie ich. Aber sie lachte zum ersten Mal seit Tagen, sah die Frau freundlich an und sagte: „Sie möchte wissen, was du
essen willst.“
Als ich noch immer keinen Ton herausbrachte, zeigte meine Mutter auf eine Tafel hinter der Theke, auf der das Menü stand. „Es ist anders als in Frankreich, Emile“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Aber du
gewöhnst dich dran.“ Dann bestellte sie für mich. „Ein Hamburger, Zwiebelringe und eine Coca-Cola.“

Sie sagte die Worte betont langsam – als hätte sie schon den leckeren Geschmack auf der Zunge –, was mir zeigte, dass sie trotz ihrer Tränen und bebenden Lippen froh war, wieder in ihrer Heimatstadt
zu sein.
„Ich hab sie überhaupt nicht verstanden“, beschwerte ich mich, als wir auf zwei Barhockern mit schwarzem Vinylbezug Platz genommen hatten.
„Keine Angst. Das dauert eben ein bisschen.“
Das Essen schmeckte anders als alles, was ich kannte. Mein Vater machte sich oft über amerikanisches Essen lustig, aber wenn er auf Reisen war, machte Mama gebratenes Hühnchen oder sonst irgendwas in der Pfanne, damit ich lernte, was man in den Südstaaten aß. Aber das hier war so fettig, dass meine Hände wie nass geschwitzt aussahen, obwohl ich nur ein paar Zwiebelringe angefasst hatte.

Ich knabberte an meinem Hamburger, schluckte einen Zwiebelring unzerkaut hinunter und spülte mit Cola nach. Augenblicklich meldete sich dasselbe flaue Gefühl in meinem Magen wie im Flugzeug.
Also entschuldigte ich mich und folgte dem Zeichen am Ende des Restaurants, auf dem Restrooms stand. Auf der Tür stand fett Whites Only. Das wunderte mich, weil einige der Kellner schwarz
waren.

Als ich wieder an unserem Tisch war, fragte ich: „Wo gehen denn die schwarzen Leute auf Toilette?“

Mama wirkte einen Moment, als hätte sie die Frage aus der Fassung gebracht, dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: „Hier sind die Dinge anders, Emile. Ich erkläre dir das später. Und jetzt
iss auf. Ich will nicht, dass du nachher halb verhungert vor deiner Großmutter stehst.“

Sie musste mir nichts erklären. Es war offensichtlich: In Amerika hielten sich Weiße für etwas Besseres als Schwarze. „Komm, es ist Zeit“, sagte meine Mutter einen kurzen Moment später und wir standen auf und liefen quer durchs Restaurant nach draußen. Die Taxifahrer standen neben ihren Autos, aßen Pommes frites und unterhielten sich. Sie schienen zufrieden zu sein.

Sobald wir den Parkplatz verlassen hatten, fing Mama an, in ihrer Handtasche zu kramen. Sie zog ein kleines Rougekästchen heraus und besah sich im winzigen Spiegel.
„Bist du aufgeregt?“
Sie lachte gequält. „Ja Emile, ich glaube schon. Ich habe deine Oma seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen.“ Und nun war es so weit. Nach fünfzehn Jahren Funkstille stand meine Mutter mit einem dreizehnjährigen Sohn und dreiunddreißig Gepäckstücken bei ihrer Mutter vor der Tür, ohne jede Vorwarnung. Das Haus von Großmutter stand ein gutes Stück von der breiten Allee entfernt auf einem kleinen Hügel und war umgeben von grünem Gras und hohen Bäumen. Durch den Wind sah es aus, als würden mich die Baumwipfel herbeiwinken und willkommen heißen.

Das passte zu Großmutters Haus: Es machte einen gemütlichen und entspannten Eindruck, wie jemand, den man gern näher kennenlernen möchte und der einen zum gemeinsamen Spielen einlädt. Außen war es mit grauen Schindeln bedeckt. Die Häuser in Frankreich waren aus Backsteinen mit Gipsstuck oder aus Feldsteinen aus dem Mittelalter. Auf der linken Seite von Großmutters Haus war ein Anbau, den Mama Veranda nannte. Er sah wie ein fröhlicher,
luftiger Ort aus, ein Zwischending zwischen drinnen und draußen. Unsere beiden Taxis fuhren auf das Grundstück und die Motoren verstummten. Mama bewegte sich kein Stück.

Geschieht ihr ganz recht, dachte ich. Erst als der Fahrer sich umdrehte und sie ansah, seufzte sie und sagte: „Na dann gucken wir mal, ob sie zu Hause ist. Komm, Emile.“ Ich folgte ihr auf dem Plattenweg, der sich von der Einfahrt zum Hauseingang schlängelte. Dort angekommen blieb Mama kurz stehen, zog eine Tür mit Moskitonetz auf, wie ich sie in Frankreich noch nie gesehen hatte, und klopfte an die Tür dahinter. Sie lächelte mich flüchtig an, wischte mit einem Finger unter ihrer Sonnenbrille entlang und wartete.

Die Frau, die die Tür öffnete, war angenehm pummelig – eins von Mamas Wörtern – und hatte hochgesteckte graue Haare. Ich fand sie nicht nur angenehm pummelig, sondern insgesamt angenehm. Sie wischte sich gerade die Hände an ihrer verblichenen Schürze ab und war noch gar nicht richtig bei der Sache, als Mama sagte: „Hallo, Mutter.“
Großmutter schrie leise auf. „Janie! Was um alles in der Welt ...!“
Dann brach sie in Tränen aus und drückte ihre verlorene Tochter an sich.

Für mich sah es so aus, als würde Mama direkt vor der weißen Tür in sich zusammenfallen. Sie ließ sich widerstandslos von ihrer Mutter in den Arm nehmen. Ich hatte damit gerechnet, dass sie stolz und aufrecht bleiben würde, so, wie sie sich immer als Teenager beschrieben hatte, voller Wut auf ihre Mutter. Aber sie stand einfach da und weinte mit der fremden Frau in der Schürze, wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen und achtete nicht im Geringsten darauf, dass ihr Mascara auf dem Taschentuch und ihrem Gesicht schwarze Streifen hinterließ.

Immer wieder sagte sie: „Es tut mir leid, Mutter. Es tut mir so leid. Ich hätte dir viel öfter schreiben sollen. Aber ich habe alle deine Briefe gelesen und aufgehoben. Bitte entschuldige. Und jetzt stehen
wir auch noch plötzlich hier vor deiner Tür.“
Großmutter nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Und du musst Emile sein. Oh Janie. Dein Sohn“, sagte sie ergriffen. „Dein hübsches Kind.“
Meine französische Großmutter war eine Frau, die ich respektierte, aber meine amerikanische Großmutter war eine Frau, die ich lieb haben konnte, das sagte mir mein Buchgefühl sofort. Sie hätte mich auf den Schoß genommen, als ich noch klein war, mir Kekse gebacken und Geschichten vorgelesen. Ich mochte sie vom ersten Augenblick an und mir war klar: Wenn ich den Kulturwechsel überleben würde, dann nur wegen ihr.

Mama schniefte, rieb sich die Augen und klappte die Sonnenbrille
zusammen. „Es gibt so viel zu erklären, Mutter ...“, setzte sie an.
„Das kann warten, Janie. Lass uns erst einmal deine Sachen reinholen.“
„Dann ist es in Ordnung, wenn wir ein paar Tage bei dir bleiben?
Nur, bis wir uns hier zurechtgefunden haben.“
„Natürlich, Janie. Ihr könnt selbstverständlich hierbleiben.“
Bald darauf stand der ganze Flur mit unseren Taschen und Koffern
voll und Mama gab den Taxifahrern ein Bündel Scheine, die ich
als Dollar erkannte.
Wir liefen durch den Flur in ein Zimmer, das Großmutter das
Familienzimmer nannte. Es stand voller abgewohnter, gemütlicher
Möbel, hatte einen Kamin, und das Beste von allem: jede Menge
Bücher, die unsortiert in Regalen standen – Taschenbuchromane
neben antiken, in Leder gebundenen Bänden. Die Bücher füllten
rechts und links vom Kamin die Regale.
„Setzt euch doch“, sagte Großmutter.
Ich konnte sehen, dass ihr tausend Fragen ins Gesicht geschrieben
standen, aber sie stellte keine davon.
„Emile, du hast sicher großen Hunger. Soll ich dir ein Glas Milch
und ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade holen? Genau
das Richtige für einen Jungen, der noch wachsen muss.“
Ich sah Mama unsicher an, aber sie lächelte und zwinkerte mir zu.
„Hört sich gut an, Mutter. Aber du solltest wissen, dass Emile
Erdnussbutter mit Marmelade überhaupt nicht kennt.“
Großmutter sah schockiert aus und tat so, als würde sie die Welt
nicht mehr verstehen. „Tatsächlich? Das gibt’s doch nicht!“
„In Frankreich gibt es keine Erdnussbutter. Die Kinder essen zwischendurch
Baguette mit Schokolade.“
„Ich befürchte, Baguette und Schokolade sind gerade aus“, sagte
Großmutter mit einem Augenzwinkern.
Meine Mundwinkel gingen ganz von selbst nach oben, und obwohl
mein Magen immer noch mit den Zwiebelringen kämpfte,
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sagte ich: „Macht nichts. Darf ich bitte so ein Sandwich probieren?“
Ich folgte ihr in die Küche und setzte mich an einen kleinen, weißen
Tisch. Bald darauf stand das Sandwich auf einem blauweißen
Teller vor mir. Ich untersuchte es und zog die zwei schlaffen Brothälften
auseinander, um die Füllung zu sehen. Die Erdnussbutter sah
aus wie eine etwas dunklere Gänseleber-Paté, die meine französische
Großmutter jede Woche auf dem Markt kaufte. Sie war beschmiert
mit etwas Tiefviolettem, Glattem, Glänzendem und Glibberigem,
das aus einem Glas kam, auf dem Welch’s Grape Jelly stand. Das war
mir suspekt. In Frankreich machte man aus Trauben Wein. Die Substanz
auf dem Brot sah überhaupt nicht aus wie die Konfitüre und
Marmelade, die Mamie Madeleine aus frischen Früchten und Beeren
aus ihrem Garten machte.
„Die Amerikaner essen industriell verarbeitetes Zeug, Emile. Du weißt
nie, was du dir da in den Mund steckst.“ Mamie Madeleines Warnung
klang mir noch im Ohr, als ich die Hälften wieder zusammenklappte
und vorsichtig abbiss. In Frankreich war es eine Sünde, süß und
salzig zu mischen. Aber in dem Augenblick, als meine Geschmacksknospen
Erdnussbutter mit Marmelade kennenlernten, war ich
plötzlich froh, in Amerika zu sein.
„Kommt, ich zeige euch eure Zimmer“, sagte Großmutter.
Mama und ich folgten ihr die geschwungene Holztreppe hinauf.
Oben war ein breiter Flur, der auf jeder Seite zwei Türen hatte.
„Hier, Emile. Du kannst hier schlafen.“
Ich war verblüfft, dass meine Großmutter einfach so ein Zimmer
bezugsfertig hatte. In Lyon war es immer ein halber Staatsakt, wenn
man des invités hatte, selbst wenn es nur für ein gemeinsames Essen
war. Man brauchte die halbe Woche, um sich darauf vorzubereiten.
Aber hier bot mir meine Großmutter ein komplett fertiges Zimmer
an und meinte nur: „Ich hoffe, du fühlst dich wohl. Entschuldige die
grässliche Tapete.“
Ich fragte mich, ob Großmutter fünfzehn Jahre darauf gewartet
hatte, dass ihre Tochter nach Hause kommt. Vielleicht war das Zimmer
genau für diesen Augenblick eingerichtet worden?
Auf der Tapete waren kleine gelbe Blümchen. Ansonsten hingen
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eingerahmte Drucke von den großen französischen Malern an der
Wand, die ich in der Schule gehabt hatte – Monet und Pissarro und
Toulouse-Lautrec –, und außerdem Fotos von meiner Mutter als
Kind. Das Bett sah aus, als wäre es für ein Mädchen gemacht: ein
weißes Himmelbett mit Rüschen und gelber Bettwäsche.
„Du kannst deine Sachen hier in die Schränke tun“, sagte meine
Großmutter und deutete auf die Türen links und rechts vom Bett.
Als ich einen meiner Koffer abstellte, fügte sie hinzu: „Und neben
dem Mansardenfenster ist noch eine kleine Abstellfläche. Die kannst
du natürlich auch benutzen.“
„Danke, Madame“, sagte ich, als sie das Zimmer wieder verlassen
wollte.
Sie drehte sich um. „Nenn mich doch einfach Grandma.“
„Danke, Grandma“, wiederholte ich. Das Wort schmeckte gut –
vielleicht sogar noch besser als das Sandwich mit Erdnussbutter und
Marmelade.
Das Mansardenfenster war ein senkrechtes Fenster, das aus der
Dachschräge hervorragte. Das Ergebnis im Inneren war eine kleine
Nische, in der ein schmaler Schreibtisch stand. Ich betrachtete
das Grün vorm Haus durch die Scheibe, die hohen Bäume und
die breite Straße, wo eine junge Frau gerade einen Kinderwagen
vorbeischob.
Plötzlich wurde ich sehr müde und setzte mich aufs Bett. Ich lege
mich nur ganz kurz hin, sagte ich mir und lauschte den Stimmen von
Mama und Grandma, die immer leiser wurden. Aber meine Augen
fielen von ganz allein zu und bevor ich es merkte, träumte ich von einem
alten Château, meiner anderen Großmutter und meinem Vater,
der davonging und mir über die Schulter zurief: „Emile, hüte dich
vor diesen Sandwiches!“
Als ich aufwachte, schien die Spätnachmittagssonne durch das
Mansardenfenster. Es war stickig im Raum. Müde öffnete ich die
Augen, stand auf und ging über den Flur in das Zimmer meiner
Mutter. Ich fand sie in der gleichen Position, in der ich vor wenigen
Augenblicken noch gewesen war: komplett angezogen und schlafend.
Auf Zehenspitzen ging ich zur Treppe und suchte unten im
Gepäckberg, den der Taxifahrer aufgeschichtet hatte, meine restli
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chen Koffer. Grandma war nirgendwo zu sehen, also schleppte ich
die Gepäckstücke nach oben und beschloss, sie auszupacken.
Sorgfältig nahm ich die sauber zusammengelegten Kleiderstapel
aus dem größten Koffer, bis meine Tim-und-Struppi-Sammlung
zum Vorschein kam. Neun Stück hatte ich, alle mit festem Einband.
Ich tat immer so, als hätte ich viel mit Tim, dem jungen Helden
gemeinsam: klein, mit tausend Ideen im Kopf und jederzeit bereit,
Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Fehlte nur noch ein Hund
wie Tims treuer Begleiter Struppi und alles wäre perfekt.
Ich stellte die Bücher in ein kleines Regal neben dem Fenster.
Dann schloss ich die Tür und machte mich an den zweiten Koffer.
Neben den Anziehsachen wickelte ich vorsichtig meine „Schätze“
aus. Jedes Teil legte ich einzeln aufs Bett. Zuerst kamen die vergilbten
Zeitungen, dann die Dose für Reißzwecken, der Stift und die
Luftpumpe. Als Nächstes nahm ich die kleine Ölkanne, die hölzerne
Haarbürste und das letzte Comicbuch aus dem Koffer.
Ich untersuchte das gelbe Zimmer nach einem guten Ort, wo ich
all das verstecken konnte. Mama durfte nicht wissen, dass ich meine
Sammlung mitgebracht hatte. Sie hatte sowieso etwas dagegen.
W
Papa und ich saßen gerade auf meinem Bett, als Mama hereinkam
und mir die Ölkanne wegnahm.
„Ich dachte, wir seien uns einig gewesen, dass der Junge keine
solchen Geschenke mehr zum Geburtstag kriegt! Bist du verrückt,
Jean-Baptiste? Ich will nicht, dass Emile mit diesen Dingen spielt.
Du wirst aus ihm nicht einen dieser Revoluzzer machen!“
„Janie, bitte. Er ist ein Junge. Jungs brauchen ein bisschen Abenteuer.“
„Er ist neun. Neun Jahre, hast du gehört? Er ist noch ein Kind.
Ich will nicht, dass du ihn mit deinen Schauergeschichten aus dem
Krieg beeinflusst. Das verbiete ich!“
Mit großen Augen sah ich zu, wie sie hitzig miteinander stritten,
mein Vater auf Französisch, meine Mutter wie immer unter Tränen
und mit bebenden Lippen auf Englisch. Ich war wütend auf sie, dass
sie einen der wenigen Momente, die mein Vater und ich nur für
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uns hatten, stören musste. Irgendwann schaffte er es, sie zu beruhigen
und ihr zu versichern, dass er ihren liebsten Sohn schon nicht
verderben würde, aber sogar ich konnte die Herablassung und die
Belustigung in seiner Stimme hören.
Von da an versteckte ich die Ölkanne und die anderen seltsamen
Geburtstagsgeschenke, die Papa mir seit meinem fünften Geburtstag
jährlich machte, vor Mama. Ich glaube, sie hat sie nie gefunden
und erst recht nicht die Geschichten dazu gehört, die Papa mir
heimlich erzählte.
W
Ich ging zum Mansardenfenster, bückte mich und zog an einem
kleinen Messingknopf. Eine kleine Tür in der Wand ging auf und
gab den Blick in einen Stauraum frei, der offensichtlich über die
ganze Hausfront reichte und im Schlafzimmer auf der anderen Seite
des Flurs endete. Ich nahm jedes Teil einzeln, legte es vorsichtig in
einen kleinen leeren Koffer und trug diesen waagerecht zum Fenster.
Dort schob ich ihn in den Stauraum und war beruhigt, dass es meine
größten Schätze bis nach Amerika geschafft hatten und hier gut
versteckt waren. Mama wusste nichts davon, aber ich war mir sicher,
dass diese kleine Sammlung uns zu meinem Vater führen würde.
Aus meiner Hosentasche zog ich eine Armbanduhr. Es war ein
billiges, altes Zeiteisen, das aber trotzdem noch tickte. Ich drehte sie
auf die Rückseite, umklammerte sie einen Moment und ließ sie dann
traurig aufs Bett plumpsen. Er konnte es mir noch nicht mal erklären.
Nur drei Tage zuvor war Papa abends in mein Zimmer gekommen,
hatte mir die Haare verwuschelt und gesagt: „Alles Gute zum
Geburtstag, mon grand.“
„Aber ich habe doch erst in zwei Monaten Geburtstag, Papa.“
Er hatte mich mit seinen braunen Augen angesehen und seine
dicken schwarzen Haare waren ihm in die Stirn gefallen. Sein Blick
hatte etwas Gequältes gehabt. „Ja, ich weiß“, flüsterte er und holte
eine kleine Schachtel aus seiner Anzugtasche. „Dieses Jahr sind wir
früh dran.“
Ich riss begeistert und gespannt das Geschenkpapier auf. In der
Schachtel lag eine einfache Uhr mit einem Lederarmband.
24
„Danke, Papa. Danke.“
„Sie funktioniert, Emile. Verkündet immer noch treu die Zeit wie
damals 1943.“
„Und darf ich sie behalten?“
„Natürlich. Du darfst sie dir auch ummachen.“ Er zwang sich zu
einem Lächeln.
Ich wartete gespannt auf die Geschichte. Jedes Jahr, wenn Papa
mir mein „echtes“ Geschenk gab, von dem ich schon wochenlang
geträumt hatte, weihte er mich in einen neuen Teil seiner traurigen
Vergangenheit ein.
Ich weiß nicht, warum es ihm guttat, mir diese schrecklichen Geschichten
vom Krieg zu erzählen, aber an diesen Abenden war er
anders. Er durchlebte seine Vergangenheit wie ein Teenager, der aufgeregt
und stolz vor seinen Freunden angibt.
An diesem Abend sagte Papa lange nichts. Er spielte am Armband
herum und streichelte mir über die Wange. Seine Lippen waren nur
noch ein einziger Strich und der Schmerz in seinen Augen war wieder
da.
Ich drehte die Uhr hin und her und versuchte den Mut aufzubringen,
ihn danach zu fragen. Plötzlich klopfte es. Reflexartig drückte
ich Papa die Uhr wieder in die Hand, und er ließ sie in seiner Tasche
verschwinden.
„Jean-Baptiste“, sagte meine Mutter durch die leicht geöffnete
Tür. „Tut mir leid, dass ich euch unterbrechen muss, aber da ist ein
Anruf für dich ...“
„Sag, ich rufe zurück.“
Ich seufzte erleichtert. Meine besondere Zeit mit Papa war wichtiger
als der Anruf.
Aber meine Mutter ging nicht weg. Sie kam an mein Bett und
flüsterte: „Liebling, ich glaube, es ist wichtig. Da ist ein Mann, der
sagt, er heiße Rémi und es gehe um eine Lieferung ...“
Noch bevor meine Mutter den Satz beenden konnte, war Papa auf
den Beinen. „Janie, sag ihm, dass ich auf dem Weg bin.“
Alles, was ich herausbrachte, war: „Aber Papa!“
Er schloss die Tür, kniete sich vor mein Bett und ich konnte sehen,
wie leid es ihm tat.
„Erzählst du mir gar nicht die Geschichte?“
25
„Heute nicht, mein Großer.“ Seine Stimme war belegt, als würde
er gleich anfangen zu weinen.
In mir löste seine emotionale Reaktion Stolz und Angst zugleich
aus.
Dann tat er etwas, was er noch nie getan hatte. Er zog mich zu sich
heran und umarmte mich mit seinen kräftigen Armen. „Emile, ich
muss wieder los.“
„Aber du bist doch gerade erst wiedergekommen.“
„Ich weiß, aber ich muss wieder los.“
„Wann denn?“
„Morgen früh, bevor du wach wirst.“
„Na gut. Dann erzählst du mir die Geschichte, wenn du wieder
da bist.“
„Ja.“ Seine Stimme klang gepresst, als würde er ersticken. „Du bist
fast vierzehn, Emile. Fast schon ein Mann. Pass gut auf deine Mutter
auf, solange ich weg bin, hörst du?“
„Na klar, Papa.“
Er drückte mich noch einmal an sich, küsste mich auf den Kopf und ging.
Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass er mir die Uhr nicht wiedergegeben
hatte.
Ich musste eingeschlafen sein, denn plötzlich wurde ich von gedämpften
Geräuschen geweckt. Ich hörte jemanden weinen und jemanden
wütend schimpfen. Draußen war es stockdunkel. Ich stieg
aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Das Zimmer meiner Eltern war am andern Ende des Flurs. Meine Mutter weinte und mein Vater schimpfte. „Janie, jetzt beruhige dich! Das ist besser für uns alle. Lass dich doch nicht so gehen.
Bitte.“
Es ging immer so weiter, aber ich konnte nichts mehr verstehen.
Schließlich krabbelte ich zurück ins Bett und schlief ein. Am Morgen
war mein Vater fort.
Ich ging zur Schule und war froh, dass heute ein Schulausflug
nach Vieux Lyon ins Museum und zu den römischen Ruinen anstand.
Die Sonne schien, es war ein perfekter Herbsttag und ich und
meine Freunde alberten herum und neckten die Mädchen. In den
Straßencafés saßen überall Leute.
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Als wir an einem Café vorbeiliefen, blieb ich plötzlich wie angewurzelt
stehen. Keine zehn Meter vor mir saß mein Vater. Ich
erkannte sein Profil sofort. Er trug denselben Anzug wie am Abend
zuvor, aber der besorgte Gesichtsausdruck war wie weggeblasen. Er
lächelte, beugte sich vor und genoss es offensichtlich, mit einer jungen
Frau zu reden, die ihm gegenübersaß. Seine Hand lag auf ihrer.
Sein Verhalten hatte etwas Schreckliches und etwas Intimes an sich.
So hatte ich meinen Vater schon lange nicht mehr gesehen: sorgenfrei
und glücklich. Ich fühlte mich, als würde ich fallen und
dachte, ich müsste mich jeden Moment übergeben. Mein Körper
gehorchte mir nicht. Ich wollte zu ihm gehen, ihn wenigstens begrüßen,
aber die Angst lähmte mich.
Einen kurzen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Großes Erstaunen
blitzte in seinen Augen auf, aber nur einen Augenblick später
war nur noch einstudierte Gleichgültigkeit zu sehen, als ob ich
nicht existierte, als ob er mich noch nie zuvor gesehen hatte. Dieser
kalkulierte Blick schrie mir Verschwinde! Verschwinde! entgegen und
ich rannte meinen Freunden hinterher.
Ich wusste genau, was eine Geliebte war. Frankreichs Geschichte
war voll mit pikanten Geschichten davon. Alle Könige hatten welche.
Aber ich konnte nicht begreifen, dass mein Vater auch eine Geliebte
hatte und dass ich ihn gerade mit ihr erwischt hatte.
Ich spürte den stechenden Schmerz, den Verrat mit sich bringt.
Gestern Abend hatte er mich noch fest umarmt und liebevoll angesehen,
und heute dieser gleichgültige, desinteressierte Blick.
Trotzdem war ich mir sicher, dass er am Abend in mein Zimmer
kommen und mir alles erklären würde. Er war nicht auf Geschäftsreise
gegangen, sondern hatte eine alte Freundin getroffen, nur eine
Freundin, und sie waren gemeinsam essen gegangen. Er würde es
mir erklären, ganz bestimmt.
Aber mein Vater kam nicht. Am nächsten Tag packte meine Mutter
unsere Sachen und einen Tag später standen wir schon auf dem
Bahnhof in Lyon und waren auf dem Weg nach Paris und anschließend
nach Amerika.
Mamie Madeleine stand mit geröteten Augen und angespanntem
Gesicht auf dem Bahnsteig, gab mir noch einmal Küsschen auf die
Wangen und steckte mir eine kleine Schachtel zu. „Das ist für dich.“

Als der Zug in Richtung Paris durch die Landschaft flog, öffnete ich sie und entdeckte darin die Uhr meines Vaters. Und nun lag ich auf dem Bett, hielt die Uhr in der Hand und weinte bittere Tränen. Man musste kein Hellseher sein um zu wissen, warum wir in Amerika waren. Das konnte man sich an drei Fingern abzählen. Mein Vater hatte eine Geliebte, meine Mutter hatte das herausgefunden und hielt es nicht aus. Oder sie wusste schon länger von der Affäre und hatte nun endgültig genug. Arme Mama. Sie hätte mir leidtun sollen, aber ich wollte nur wieder
zurück nach Lyon, meinen Vater ausfindig machen, seine spannende Geschichte vom Krieg hören und herausfinden, warum er mir seine Armbanduhr zwei Monate zu früh geschenkt hatte.

Verlag:     Francke Buchhandlung GmbH
Jahr:     2014
Einband:     Taschenbuch
Seitenzahl:     480
Format:     20,5x13,5cm
Autor/in: Elizabeth Musser
Titel: Der Garten meiner Großmutter
ISBN: 9783868273908
Format: 20,5 x 13,5 cm
Seiten: 448
Gewicht: 525 g