Mahmoody Betty, Nicht ohne meine Tochter

06/20/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Meine Tochter war auf ihrem Fensterplatz an Bord der Maschine der British Airways eingenickt. Ihre rotbraunen Locken umrahmten ihr Gesicht und fielen ungebändigt bis zu ihren Schultern herunter. Sie, waren noch nie geschnitten worden.

Wir schrieben den 3 August 1984
:Mein geliebtes Kind war von unserer langen Reise erschöpft. Am Mittwochmorgen hatten wir Detroit verlassen, und als wir uns dem Ende dieses letzten Reiseabschnitts näherten, ging die Sonne bereits zum Freitag auf.
Moody, mein Mann, blickte von den Seiten seines Buches, das auf seinem Schoß ruhte, auf. Er schob die Brille auf seine höher werdende Stir( »Du machst dich jetzt besser fertig«, sagte er.
Ich öffnete meinen Sicherheitsgurt, nahm meine Handtasche und machte mich auf den Weg durch den schmalen Gang zur Toilette im Heck des Flugzeugs. Das Personal war schon dabei, die Abfalle einzusammeln und die Landung vorzubereiten
Es ist ein Fehler, sagte ich mir. Wenn ich bloß auf der Stelle aus diesem Flugzeug aussteigen konnte Ich schloß mich in der Toilette ein und sah im Spiegel eine Frau an der Grenze zur Panik Ich war gerade neununddreißig geworden, und in dem Alter sollte eine Frau ihr Leben im Griff haben Wie, fragte ich mich, hatte ich die Kontrolle verloren?
Ich frischte mein Makerup auf,  um möglichst gutauszusehen und um mich abzulenken Ich wollte nicht hier sein, aber ich war hier, also mußte, ich das Beste daraus machen. Vielleicht wurden diese zwei Wochen ja schnell vorübergehen. Wenn wir wieder zu Hause in Detroit waren, wurde Mahtab in die Vorschulklasse einer Montessori-Schule in der Vorstadt kommen Moody wurde sich wieder in seine Arbeit vertiefen Wir wurden den Bau unseres Traumhauses in Angriff nehmen Du mußt nur diese beiden Wochen durchstehen, sagte ich mir. 


Ich suchte in meiner Handtasche nach der dicken schwarzenStrumpfhose, die ich auf Moodys Anweisung. hin gekauft hatte Ich zog sie an und strich den Rock meines konservativen dunkelgrünen Kostüms glatt Noch einmal betrachtete ich mein Spiegelbild und verwarf den Gedanken, mir mit der Bürste durch mein braunes Haar zu fahren Wozu der Aufwand fragte ich mich Ich band das dicke grüne: Kopftuch um, ‚das ich, wie Moody' gesagt, hatte; immer tragen mußte, wenn wir aus dem Haus gingen Mit dem Knoten unter dem Kinn sah ich aus wie eine alte
Bauersfrau. 
Prüfend betrachtete ich meine Brille Ich fand mich ohne sie attraktiver. Es war die Frage, wie sehr ich Moodys Familie beeindrucken oder wieviel ich von diesem problembeladenen Land sehen wollte. Ich ließ die Brille auf', da ich einsah, daß das Kopftuch schon irreparablen Schaden'angerichtet hatte.
Schließlich kehrte ich zu meinem Platz zurück.
»Ich habe mir überlegt, daß wir unsere amerikanischen Passe besser verstecken sollten«, sagte Moody. »Wenn sie die finden, werden sie sie uns wegnehmen.«
»Was sollen wir denn tun« fragte ich Moody zögerte. »Deine Handtasche werden sie durchsuchen, weil du. :Amerikanerin bist«, sagte er., »Gib ‚mir 'die Pässe. Mich werden sie kaum visitieren.«

Das war vermutlich richtig; denn 'mein: Mann gehörte in seiner Heimat zu einer berühmten Familie, eine Tatsache, die sich schon aus seinem Namen ersehen ließ Persische Namen haben - jeder für sich - eine besondere Bedeutung, und jeder Iraner konnte aus Moodys vollem Namen  Sayyed Bozorg Mahmoody - eine Menge schließen »Sayyed« ist ein religiöser Titel, der auf einen direkten Nachkommen des Propheten Mohammed auf beiden Seiten der Familie hinweist, und Moody besaß einen komplizierten, in Farsi geschriebenen Stammbaum, um dies zu untermauern Seine Eltern hatten ihm den Namen »Bozorg« gegeben, in der Hoffnung, er werde die Große, Wurde und Ehre eines Tages erlangen, die der Name verheißt Der Familienname hatte eigentlich Hakim gelautet, aber Moody wurde um die Zeit geboren, als der Schah ein Edikt erließ, das islamische Namen wie diesen verbot, so daß Moodys Vater den Familiennamen in Mahmoody änderte, was eher persisch als islamisch ist Er ist von Mahmud, was soviel wie »der Gepriesene« bedeutet, abgeleitet
Zum Glanz seines Namens kam noch das Prestige der Ausbildung Obgleich Moodys Landsleute offiziell alles Amerikanische hassen, genießt das amerikanische Erziehungssystem bei ihnen hohes Ansehen Als ein in Amerika ausgebildeter Arzt wurde Moody ganz sicher zur privilegierten Elite seiner Heimat zählen.
Ich stöberte in meiner Handtasche, fand die Passe und gab sie Moody. Er ließ sie in die Innentasche seiner Anzugjacke gleiten
Bald darauf befand sich das Flugzeug im Anflug auf Teheran Die Motoren wurden merklich gedrosselt, und die Nase des Flugzeugs neigte sich ungewöhnlich tief nach unten, so daß wir steil und schnell abstiegen »Wir müssen so schnell hinunter wegen der Berge, die die Stadt umgeben', sagte Moody. ‚:'Die ganze Maschine bebte unter :der
Belastung. Plötzlich aufgeschreckt erwachte Mähtab und umklammerte meine Hand. Beunruhigt sah sie zu mir auf.
»Alles in Ordnung<, erklärte ich ihr. »Wir landen gleich-.«
Wie kam ich als Amerikanerin dazu, in ein Land Zu fliegen, das sich von allen Ländern der Welt den Amerikanern gegenüber so unverhüllt feindselig verhielt? Warum brachte ich meine Tochter in ein Land, das in einen erbitterten Krieg mit Irak verwickelt war?
So sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, die unbestimmbare Furcht zu verdrängen, die mich verfolgte, seit Moodys Neffe Mammal Ghodsi diese Reise vorgeschlagen hatte. Ein zweiwöchiger Urlaub war überall zu ertragen, wenn man sich darauf freuen konnte, danach in die gewohnte Normalität zurückzukehren Ich aber war, von einer Ahnung besessen, die, wie mir alle meine Freunde versicherten, grundlos war: daß Moody, wenn er Mal ab und mich einmal in den Iran gebracht hätte versuchen würde, uns für, immer dort festzuhalten.
Das würde er niemals tun, hatten mir meine Freunde versichert. Moody war durch und durch amerikanisiert. Zwei Jahrzehnte lang hatte er in den Vereinigten Staaten gelebt. Sein gesamter Besitz, seine Arztpraxis - die Summe seiner Gegenwart und seiner Zukunft-, befanden sich in Amerika. Warum sollte er erwägen, sein vergangenes Leben wieder aufzunehmen?
Auf einer rationalen Ebene waren die Argumente überzeugend, aber keiner kannte Moodys widersprüchliche Persönlichkeit so gut wie ich. Moody war ein liebevoller Ehemann und Vater und neigte dennoch dazu, mit dumpfer. Gleichgültigkeit die Bedürfnisse und Wünsche seiner eigenen Familie zu übergehen. In seinem Kopf saß brillante Intelligenz neben düsterer Verwirrung. Kulturell gesehen war er eine Mischung aus Ost und West; nicht einmal er selbst wußte, welcher der Einflüsse in seinem Leben vorherrschend war.
;Moody hatte allenGruiid, uns nach unserem zweiwöchi gen Urlaub wieder nach Amerika zu bringen, und er hatte jedes Recht, uns zum Verbleib im Iran zu zwingen
Warum hatte ich angesichts dieser erschreckenden Möglichkeit in die Reise eingewilligt? :Mahtab;H . ..
-in den .ersten viei-. Lebensjahren war sie ein glückliches,. aufgewecktes Kind gewesen; voller Lebensfreude und :mit einer herzlichen Beziehung zu mir, zu ihrem. Vater und. Zu. ihrem Hasen; einem billigen, plattgedrückten . Stofftier, ungefähr ein Meter zwanzig groß, mit weißen Pünktchen auf grünem Grund. Anden Pf oten.hatt& der Hase Gummis,. so daß sie ihn auf ihren Füßen befestigen und mit ihm tanzen konnte».
Mahtab.
In r Farsi, der offiziellen Sprache der Islamischen Republik. Iran, bedeutet das Wort »Mondschein«....
Für mich aber heißt Mahtab »Sonnenschein«........
Als die Räder der Maschine auf der Landebahn aufsetzten, sah ich;zuerstMähtab und dann Moody an,.und mir war klarw.arum.ich in den Iran gekommen: war.
Wir traten aus: dem Flugzeug in die: erdrückende schwüle. Sommerhitze von Teheran eine Hitze, die uns physisch. fertigzumachen schien, als wir über das Stück Asphalt vom Flugzeug . zu, ..einem wartenden Bus gingen, der uns zum Terminal, brachte. .Und es war erst sieben Uhr morgens..: -:Mähtäb klammerte sich fest an meine Hand und nahm mit ihren großen braunen Augen diese fremde Welt auf.
Mammy«:flüsterte sie,: »ichmußi'naI;< »Gut, dann suchen wir eine Toilette.«, Als wir in den Terminal kamen und: eine große Empfangshalle betraten,. wurden unsere Sinne von einer weiteren unangenehmen Wahrnehmung überschwemmt- demt überwältigenden Gestank von Körperausdünstungen, der durch die Hitze
noch verstärkt wurde Ich hoffte nur, daß wir da bald wieder rauskamen, aber in dem Raum waren Passagiere von verschiedenen Flügen zusammengepfercht, und alle drängelten und schubsten zu dem einzigen Paßkontrollschalter, der
auch der einzige Ausgang aus dieser Halle war.
Wir waren gezwungen, uns durchzudrängeln, uns wie die anderen unseren Weg nach vorne zu bahnen Ich nahm
Mahtab auf den Arm, um sie vor den Menschenmassen zu. schützen. Um uns herum war schrilles Stimmengewirr.
Mahtab und ich waren naß geschwitzt.
Ich wußte zwar, daß die Frauen im Iran ihre Arme, Beine und ihre Stirn verhüllen mußten, aber ich war überrascht zu sehen, daß alle weiblichen Flughafenangestellten ebenso wie die meisten weiblichen. Passagiere fast .vollständig in etwas eingehullt waren, was Moody als Tschador bezeichnete Ein Tschador ist ein großes halbmondförmiges Tuch, das um Schultern, Stirn und Kinn gewunden wird und nur Augen, Nase und Mund freilaßt Das Resultat erinnert an die Tracht einer Nonne: aus vergangener Zeit. Die strenggläubigeren Iranerinnen ließen nur ein Auge hervorlugen Frauen, die mehrere schwere Gepäckstücke in einer Hand trugen, weil sie die andere dazu brauchten, das Tuch unter dem Kinn zusammenzuhalten, huschten durch den Flughafen Die langen, fließenden, schwarzen Stoffbahnen ihrer Tschadors bauschten sich weit Am meisten faszinierte mich die Tatsache, daß der Tschador freiwillig getragen wurde Es gab andere Gewänder, die die strengen Kleidungsvorschriften erfüllten, aber diese moslemischen Frauen hatten beschlossen, den Tschador trotz der erdruckenden Hitze noch über allen anderen Sachen zu tragen Ich staunte über die Macht, die ihre Gesellschaft und ihre Religion auf sie ausübten.
Wir brauchten eine halbe Stunde, um uns unseren Weg durch die Menge bis zur Paßkontrolle zu bahnen, wo sich ein finster dreinblickender Beamter den iranischen Paß ansah, der uns alle drei auswies, ihn stempelte und uns durchwinkte. Dann, folgten .Mahtab und., ich Moody eine Treppe hoher um eine Ecke in die Gepäckausgabe, einem anderen großen, mit Passagieren vollgestopften Raum »Mommy,..ich muß mal«, sagte Mahtab wieder und trat'
unruhig von einem Bein auf das andere. . . . .
Auf Farsi fragte Moody . eine Tschador-verhüllte Frau nach dem Weg. Sie deutete auf das entgegengesetzte ‚Ende .des Raums und . eilte geschäftig .weiter. Mahtab und ich, ließen Moody zurück, um auf unser Gepäck zu warten, und machten die Toilette ausfindig. Als wir- uns dm Eingang näherten, zögerten wiri abgeschreckt durch. den Gestank. Widerstrebend gingen wir hinein. Auf der Suche nach einer Toilette blickten wir in dem verdunkelten Raum umhej,.. aber alles, was .wir fanden, war ein Loch im Zementboden
;: inmitten einer flachen, ovalen Porzellanschussel Überall auf dem Boden lagen mit Fliegen übersäte Haufen, weil die Leute das Loch ‚entweder nicht getroffen oder einfach nicht beachtet hatten »Das stinkt ja widerlich'« stieß Mahtab hervor und zog mich weg. Wir liefen schnell zu Moody zurück. 
Mahtabs Nöte waren offensichtlich, aber sie hatte keinen Antrieb, nach einer anderen öffentlichen Toilette zu suchen. Sie wollte lieber warten, «bis wir im Haus ihrer Tante„ Moodys. Schwester, angekommen waren, einer, Frau, von der er immer in. ehrfürchtigem Ton sprach. SaralMahrnoody Ghodsi war die Matriarchin der Familie, die von jedem voll Respekt .mit Ameh Bozorg, »ehrwürdige Tante«., angespro-chen wurde. .Es wird: alles: besser *erden, wenn wir erst bei Arneh Bozorg zu Hause sind, dachte ich.
Mahtab war erschöpft, aber .sie konnte sich nirgendwo hinsetzen, so daß wir schließlich den Kinderwagen auseinander klappten, den wir, als Geschenk für einen von Moodys neugeborenen Verwandten mitgebracht, hatten. 'Erleichtert. setzte sich Mahtab hinein.
Während wir, auf unser Gepäck warteten, für . dessen..
Auftauchen es keinerlei Anzeichen gab, hörten wir einen schrillen Schrei, der in unsere Richtung kam< »Da'idschant/« kreischte die Stimme. »Da'idschan!«
Als er die Worte »1 eher Onkel« auf Farsi hörte, drehte sich Moody um und fef einem Mann, der in unsere Richtung eilte, einen freudigen Gruß entgegen. Die beiden Männer-umarmten sich mehrmals, und als ich Tränen auf Moo-dys Gesicht sah, hatte ich plötzlich einschlechtes Gewissen, weil ich nur so zögernd in diese Reise eingewilligt hatte. Hier war seine Familie. Hier waren seine Wurzeln. Natürlich wollte, mußte er seine Verwandten sehen. Er würde sich zwei Wochen an ihnen freuen, und dann würden wir wieder, nach Hause fahren.
»Das ist Zia«, sagte mir Moody.
Zia Hakim schüttelte mir herzlich die Hand.
Er war einer von den unzähligen jungen männlichen Verwandten, die Moody unter dem praktischen Begriff »Neffe« zusammenfaßte. Zias Schwester Malouk war mit Mostafa verheiratet, dem dritten Sohn von Moodys ehren'-werter älteren Schwester. Zias Mutter war die Schwester, von Moodys Mutter, und sein Vater war der Bruder von.-Moo-dys Vater oder umgekehrt: die Verwandtschaftsverhältnisse wurden mir nie ganz klar. »Neffe« war die einfachste Bezeichnung.
Zia war sehr gespannt auf die erste Begegnung mit Moo-dys amerikanischer Ehefrau. In geschliffenem Englisch hieß er, mich im Iran willkommen. »Ich bin so froh, däßz ihr gekommen seid<c, sagte er. »Wie lange haben wir, darauf gewartet!« Dann riß er Mahtab an sich und überhäufte sie mit Umarmungen und Küssen.
Er war ein gutaussehender Mann mit edlen arabischen Gesichtszügen und einem gewinnenden Lächeln. Er war größer als die meist kleinwüchsigen Iraner um uns herum, und sein Charme und seine Kultiviertheit waren offensichtlich. So, hatte ich gehofft, würde Moodys Familie sein. Zias
rotbraunes Haar war modisch geschnitten. Er trug einen ordentlichen, maßgeschneiderten Anzug und ein frischgebügelts Hemd mit offenem Kragen. Und das Beste von allem; er war sauber.
»Draußen warten so viele Leute, um euch zu sehen«, sagte er strahlend. »Sie sind schon seit Stunden hier.« -
»Wie bist du durch den Zoll gekommen?« fragte Moody. »Ein Freund von mir arbeitet hier.
Moodys Miene heiterte sich auf. Verstohlen zog er unsere amerikanischen Pässe aus seiner Jackentasche. »Was sollen wir mit denen machen?« fragte er. »Wir, wollen nicht, daß sie konfisziert werden.«
»Ich werde sie für euch aufbewahren«, sagte Zia. »Hast du Geld?«
»Ja.« Moody zählte mehrere Banknoten ab und übergab sie Zia zusammen mit unseren amerikanischen Pässen.
Ich war beeindruckt. Zias Erscheinung und der Eindruck von Macht, den er ausstrahlte, bestätigte das, was Moody mir über seine Familie erzählt hatte. Die meisten waren gebildet, viele hatten einen Universitätsabschluß. Sie waren Mediziner wie Moody oder arbeiteten in der Wirtschaft. Ich hatte mehrere seiner »Neffen«, die uns in den Vereinigten Staaten besucht hatten, kennengelernt, und sie alle schienen ein gewisses gesellschaftliches Ansehen bei ihren Landsleuten.
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Aber es sah so aus, als ob nicht einmal Zia das Tempo der, Gepäckarbeiter beschleunigen konnte. Alle bewegten sich hektisch und redeten fortwährend, aber das schien wenig zu bewirken. Schließlich standen wir über drei Stunden lang in der Hitze, zuerst, um auf unser Gepäck zu warten, und dann in einer, schier endlosen Schlange vor dem Zoll. Mahtab blieb still und geduldig, obwohl ich wußte, daß sie Höllenqualen - ausstehen mußte. Endlich erreichten wir schiebend und drängend den Anfang der Schlange; Moody voran, ich, Mahtab, den Kinderwagen im Gefolge.
@1990 gustav Lübbe