Maier Paul L Pontius Pilatus

07/03/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Erstes Kapitel

Trompetengeschmetter hallte durch Rom und grüßte den Sonnenaufgang am 1. April des Jahres 26. Es war das tägliche Signal, die Wasseruhren zu stellen— eine Freundlichkeit der Männer der Präto-rianergarde, die in ihrem neuen Lager am Rande der Stadt Quartier bezogen hatte. Der Tag hatte schon eine Stunde früher mit dem ersten Schimmer der Morgenröte begonnen, als die Kaufleute ihre Läden öffneten; doch jetzt, als die Sonne über den östlichen Hügeln von Rom erschien, hörte man in der Stadt eine lärmende Sinfonie von Wagengeklapper, Hammerschlägen und Kindergeschrei; und nur in den wohlhabenden Gesellschaftsschichten gestattete sich mancher den Luxus, bis sieben Uhr weiterzuschlummern; die späten Zecher freilich schliefen noch länger. Im übrigen nutzten die Bürger Roms jede Stunde, da es hell war, denn die Nächte waren dunkel und die Beleuchtung kärglich.
Von den Kommandohöhen seiner Palastterrasse auf dem Pa-latin blickte Tiberius Cäsar Augustus gelangweilt über seine laute Hauptstadt, halb hoffend, daß Rom mit dem Morgennebel verschwinde, daß alle vierzehn Bezirke der Stadt sich allmählich im Tiber auflösten und wie so viel anderer Unrat vom Mittelmeer verschluckt würden. Tiberius war jetzt gut zwölf Jahre Princeps, »erster Bürger«, Kaiser Roms, ein hohes Amt, das er seiner Anforderungen wegen weder genießen noch ohne Gefahr niederlegen konnte.
Sachlich und unbefangen Urteilende waren sich darin einig, daß Tiberius überraschend gut regiere, da er doch als Nachfolger seines Stiefvaters, des jetzt göttlichen Augustus, dessen Regierungszeit so glanzvoll gewesen war, einen alles andere als beneidenswerten Stand hatte. Zudem war Tiberius nicht gerade unter schmeichelhaften Umständen an die Macht gekommen, denn Augustus hatte sich erst für Tiberius entschieden, als die ursprünglich vorgesehenen Thronanwärter gestorben waren. Tiberius nährte in sich den dunklen Groll, nur ein »Ersatz-Kaiser« zu sein; er hörte zuviel auf das unvermeidliche Geflüster derer, die ihn mit Augustus oder den anderen Prätendenten verglichen, und brütete zuviel über den an ihm nagenden bitteren Erinnerungen. 

Der Princeps -trotz seiner sechsundsechzig Jahre eine immer noch aufrechte Gestalt - ging in den Palast zurück, um das Frühstück einzunehmen, ohne dis kein Römer den Tag beginnen konnte: in Wein getauchtes Brot, Eier und die bis an den Rand gefüllte Tasse mu/sum, eine Mischung aus Wein und Honig. Tiberius aß allein, das Schicksal hatte es nicht anders gewollt. Die Freuden des Familienlebens waren ihm versagt. Als Vierjähriger hatte er die erste Tragödie erlebt: seine Mutter Livia hatte sich von seinem Vater scheiden lassen, um Augustus zu heiraten, ein ehrgeiziger gesellschaftlicher Aufstieg, wie er zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches war. Rom empörte es jedoch, daß Livia am Tage ihrer zweiten Hochzeit von ihrem ersten Manne im sechsten Monat schwanger war. An jenem Abend soll die Statue der Tugend im Forum von ihrem Sockel gefallen sein. Erst in seiner glücklichen Ehe mit Vipsania konnte Tiberius seine verworrene Kindheit vergessen.
Aber Augustus machte auch diese Ehe zunichte. Er bestand darauf, daß sich Tiberius als sein künftiger Nachfolger von der geliebten Vipsania scheiden ließ und statt ihrer Julia, das einzige Kind des Kaisers, heiratete. Denn Augustus wollte um jeden Preis seinen eigenen Stamm erhalten. Julia wurde indessen bald das personifizierte Laster Roms; sie brach so oft die Ehe und war so verrufen, daß Augustus selbst sie lebenslang auf eine Insel im Mittelmeer verbannte.
Tiberius war nur noch Drusus geblieben, sein vielversprechender Sohn; aber vor drei Jahren starb dieser an einer rätselhaften Krankheit. Tiberius Cäsar, Herrscher über siebzig Millionen Menschen in einem Reich, das sich vom englischen Kanal bis zu den Toren Mesopotamiens erstreckte, war nun ein einsamer Mensch.
Er winkte einem Diener, überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Laß Sejanus ausrichten, daß ich ihn heute abend sprechen will!« Der Diener gab das an einen der Prätorianerleibwächter weiter, und der eilte zu dem Hause des Sejanus an den Hängen des Esquilin.
L. Aelius Sejanus war Präfekt der Prätorianer, jener Elitetruppe, die als Staatliche Polizei auch die Leibwache des Kaisers stellte. Sejanus, ein muskulöser, breit gebauter Mann von dunkler Hautfarbe, trug an diesem Tage eine makellose Toga aus weißer
Wolle. Der Präfekt war mittleren Alters - in den Augen der Frauen Roms aber alterslos; seine Züge verrieten etruskische Abstammung und unterschieden sich sehr von denen der Römer mit ihren hoheit Stirnen. Das Wesen des Sejanus jedoch, seine Treue und seine wahren politischen Motive, waren ein Zentrum widerstreitender Impulse. Viele behaupteten, Rom habe nie einen selbstloseren, mehr auf das Gemeinwohl bedachten, tüchtigeren Beamten gehabt; aber seine Gegner meinten, Sejanus sei ein echter Etrusker aus alter vorrepubli-kanischer Sippe und als solcher Roms Todfeind.
Wie ein Meteor war er am politischen Himmel Roms aufgestiegen. Obwohl er nur Angehöriger des Ritterstands war, besaß Sejanus jetzt eine Macht, die patrizische Senatoren veranlaßte, sich ihm eiligst anzuschließen oder ihn schmollend und eifersüchtig zu meiden. Einen Teil dessen, was er erreicht hatte, hatte er geerbt; denn schon Augustus hatte seinen Vater, Sejus Strabo, zum Präfekten der Prätorianergarde gemacht, und dann hatte Tiberius Sejanus auf den gleichen Posten berufen und Strabo als Gouverneur nach Ägypten geschickt.
In den vergangenen zehn Jahren hatte Sejanus sein Amt allmählich ausgebaut; es war nicht mehr nur ein Sprungbrett zur Macht - es war Macht. Er hatte das mit seiner glänzenden Reorganisierung der Prätorianergarde geschafft. Seinem Vorschlag, die neun in ganz Italien verstreuten Prätorianerkohorten zusammenzuziehen und in großen Kasernen in der Nähe Roms unterzubringen, von wo aus diese Elitetruppe dem Kaiser in jeder Notlage schnell zu Hilfe eilen konnte, hatte Tiberius zugestimmt. Auf dem Viminalhügel, unmittelbar vor der nordöstlichen Stadtmauer Roms, war dann ein ausgedehntes neues Castra Prätoria errichtet worden. Die hier stationierte Truppe hielt zu ihrem Präfekten, und wenn Sejanus sprach, hörten neuntausend Gardisten zu und gehorchten.
Zuviel Macht in den Händen eines Mannes? Tiberius fand das nicht. Er brauchte diesen unmittelbaren Schutz, und er hatte in Seja-nus nie auch nur die geringste Illoyalität ihm oder »dem Senat und dem römischen Volk« gegenüber, wie das Reich offiziell sich selbst bezeichnete, entdeckt. Tiberius hielt einen Mann wie Sejanus im augenblicklichen Stadium der Herrschaft über Rom für unentbehrlich. Rom war keine Republik mehr, aber auch noch kein voll entwickeltes Kaiserreich und brauchte dringend eine starke Verwaltung anstelle eines Mischmaschs von Ämtern. Tiberius dachte daran, als er Sejanus drängte, auch den Ausbau der zivilen Verwaltung des Reiches zu überwachen.

Die Botschaft vom Palatin erhielt Sejanus gerade, als die beiden Konsule für das Jahr 26 sein Haus verließen. Sie waren gekommen, um zu hören, ob die Gerüchte stimmten, daß Tiberius einen ausgedehnten Urlaub fern von Rom plane. Es war typisch für Sejanus, daß er das weder bestätigte noch bestritt. Als die Ehrengarde von zehn Liktoren die Rutenbündel auf die Schulter nahm, um die Konsule durch die Straßen Roms zu eskortieren, konnte man hören, wie die beiden letzteren sich über Sejanus unterhielten. Calvisius hatte viel gegen ihn einzuwenden, während Gaetulicus ihn standhaft verteidigte, und beides spiegelte wider, was ganz Rom empfand.
Von der Bibliothek, wo er seine Amtsgeschäfte führte, blickte Sejanus in das Atrium seines Hauses und sah den Boten des Kaisers sich durch die Menge von Beamten und Funktionären drängen, die alle darauf warteten, bei ihm vorgelassen zu werden. Nachdem Sejanus die Botschaft von Tiberius vernommen hatte, erhob er sich schnell und tat ein paar Schritte; er kehrte der lauten Menge im Atrium den Rücken, um in Ruhe einige Augenblicke nachdenken zu können. Ja, sagte er sich dann, es war jetzt der richtige Zeitpunkt, mit dem Kaiser zu sprechen, aber zuvor war zumindest ein Schritt notwendig. Er nahm einen Griffel und schrieb auf eine Wachstafel:
»L. Aelius Sejanus an Pontius Pilatus. Ich möchte Sie heute gegen vierzehn Uhr sprechen. Hätte ich mich nicht mit Domitius Afer verabredet, hätten wir zusammen essen können. Nun, ein andermal. Leben Sie wohl.«
Nachdem er dies geschrieben hatte, drehte er sich hastig um, am seinen nächsten Besucher hereinzubitten.
Ein Gardist brachte die Botschaft dem Tribun der ersten Präto-rianerkohorte, Pontius Pilatus, der in Abwesenheit des Sejanus sein Vertreter als Kommandant der Castra Praetoria war. Als Pilatus die an ihn gerichteten Zeilen las, verfinsterte sich ein wenig sein Gesicht. Nicht daß er Sejanus nicht mochte - ganz im Gegenteil -‚ aber er war sehr beunruhigt über das, was am Abend zuvor geschehen war. Auf einer Gesellschaft zu Ehren des Offiziersstabs der Prätorianer btatte Pilatus, als alle dem Wein reichlich zugesprochen hatten, einen roast auf »Tiberius flldius Mero« statt auf Tiberius Claudius Nero ausgesprochen, ein allzu durchsichtiges Wortspiel mit dem Namen des Kaisers, das »Trinker heißen Weins« bedeutete. Alle wieherten vor Vergnügen, außer Sejanus, der Pilatus nur stumm ansah ein Blick sehr von oben herab, den zu vergessen der Tribun sich fast den ganzen Vormittag bemüht hatte.
Wenn Tiberius etwas von seiner Indiskretion erfuhr, konnte er mehr als seinen Posten verlieren. Erst vor einem Jahr - er erinnerte sich mit Schaudern daran - hatte der Senator Cremutius Cordus in einem von ihm veröffentlichten Geschichtswerk die Cäsarmörder Brutus und Cassius als die letzten Römer zu preisen gewagt. Cordus wurde des Verrats bezichtigt und nahm sich das Leben, und alles, was er geschrieben hatte, wurde verbrannt. Man konnte nicht mehr so offen sprechen, wie es zur Zeit der Römischen Republik möglich gewesen war. Beunruhigt sah Pilatus der Begegnung mit Sejanus entgegen.
Sejanus' Botschaft war ziemlich höflich gewesen, aber die für das Treffen festgesetzte Zeit - kurz nach dem Mittagsmahl, wenn die meisten Römer eine kurze Siesta hielten - war ungewöhnlich. Es mußte sich: um etwas Wichtiges handeln. Nach einem schnellen Essen - den Wein versagte er sich - kleidete sich Pilatus um. Er hatte beschlossen, Zivil anzulegen. Seine Tunika prunkte mit dem angustus davus, einem schmalen, von oben nach unten verlaufenden Purpur-saum, der den Träger als dem Ritterstand angehörend auswies, über dem nur noch die Senatoren standen, welche den latus ciavus, den breiteren Purpurstreifen, trugen. Außerhalb des Hauses war die Tunika von einer Toga bedeckt, und dis Drapieren der Toga war geradezu eine Kunst; jede Falte mußte richtig und anmutig fallen, und vom Purpur der Tunika durfte nicht zuviel sichtbar sein, denn das wäre großtuerisch gewesen; zu wenig freilich hätte falsche Bescheidenheit verraten.
Pilatus ließ sich von einem Gehilfen begleiten, als er die Patrizi-erstraße hinabging, eine größere Verkehrsader, die von den Castra l+aeto,it im Südwesten ins Zentrum Roms führte. Bis auf seine Kleidung unterschied er sich in nichts von den Scharen von Römern aller Stände, die diese Durchgangsstraße benutzten. Pilatus, noch ein Mann in der Blüte seiner Jahre, war mittelgroß, hatte ein kantiges Gesicht und lockeres dunkles, mit Olivenöl eingeriebenes Haar. 

Obwohl er dem Typ des Römers näher kam als Sejanus, mangelte ihm doch ebenso wie seinem Vorgesetzten das reine römische Blut. Seine Familie, die Pontii, waren ursprünglich Samniter, ein Bergvolk, das mit den lateinischen Römern verwandt war und weiter südlich in den Apenninen lebte und in mehreren blutigen Kriegen einmal Rom fast erobert hätte. Die Pontii gehörten zum Senatorenstand; als Rom sich schließlich die Samniter einverleibte, wurden sie in den Ritterstand degradiert. Dennoch war den Pontii der Trost verblieben, im Rang der equites illustriores, der vornehmeren Ritter, zu stehen; sie hauen Rom als Beamte und Militärs gedient. Einige allerdings waren Kaufleute geworden, hauen große Vermögen erworben und schließ-[ich doch noch die Würde der Senatoren im Kaiserreich erlangt.
Auf zwei sich in östlicher Richtung den Esquilin hinaufwindenden Straßen kamen sie zum großen Hause Sejanus'. Während Pilatus in das Atrium geleitet wurde, verkündete der Diener den Wartenden, daß Sejanus an diesem Nachmittag sonst niemanden empfangen könne. Eine Schar enttäuschter Klienten, Stellungsuchender und anderer lästiger Leute verließ das Haus.
»Kommen Sie herein, Pilatus«, sagte Sejanus mit unvermuteter Wärme. Die beiden gingen durch einen Säulengang in die Bibliothek. 4ch bin in einer Stunde mit dem Princeps verabredet. Wir werden darum nicht so viel Zeit haben, wie mir lieb wäre.«
»Was den gestrigen Abend betrifft«, stammelte Pilatus, räus-erte sich und fuhr dann fort: »Ich bedauere, daß der Wein mich ein wenig benebelt hatte. Mein kleiner Scherz war..
'>Ach, das«, fiel Sejanus ein, »ja, klug, aber gefährlich klug Vergessen wir lieber das Wortspiel. Da wir jedoch unter Freunden waren, können wir es auf sich beruhen lassen. Wäre es öffentlich ewesen, hätten die Dinge vielleicht eine andere Wendung genom-nen.
Sehr erleichtert versprach Pilatus, in Zukunft seine Zunge im iaum zu halten, als Sejanus ihn von neuem unterbrach: »Sie sind vlitglied unseres Ritterordens, haben eine ausgezeichnete Bildung, ?ilatus, und haben sich militärisch hervorragend bewährt. Was würden Sie gern tun, nachdem Ihr Dienst bei den Prätorianern beendet .st? Bedenken Sie, in welchen Ämtern Sie als Ritter Karriere machen önnten - so könnten Sie zum Beispiel ein hoher Beamter werden, ;agen wir, Präfekt in einer Provinz, oder vielleicht möchten Sie bei 1er Garde bleiben und mich eines Tages als Prätorianerpräfekt ab lösen.« Das Schmunzeln, das Sejanus' letzte Bemerkung begleitete, beruhigte Pilatus nicht. Der gönnerhafte Ton in der Frage war ihm nicht geheuer.
»Nein, Ihren Posten nicht - ich glaube, ich würde unter dem, was dieses Amt fordert, zusammenbrechen«, antwortete er pflichtschuldig, »aber obwohl ich noch keine endgültigen Pläne habe, ziehe ich die Verwaltung vor und hoffe darum, in irgendeinem öffentlichen Amt dienen zu können.«
»Gut. Zu viele vielversprechende Mitglieder unserer Schicht kehren der Politik den Rücken, um Kaufleute zu werden— aber das Reich braucht jetzt hohe Verwaltungsbeamte und nicht Händler.«
Die beiden Männer saßen bequem zurückgelehnt in ihren Sesseln, und wer sie so sah, hätte glauben können, sie genössen es, sich zwanglos zu unterhalten; aber Pilatus wußte es besser und blieb auf der Hut, da er aus Erfahrung wußte, daß Sejanus sein Thema eine ganze Weile zu umkreisen verstand, wobei er diese und jene Information bekam, die ihm nützlich erschien, ehe er schließlich zu dem eigentlichen Thema des Gespräches kam. Pilatus, dem gar nicht so viel daran lag, so schnell zur Sache zukommen, gab bedächtige Antworten.
Sejanus lenkte dann die Unterhaltung in eine ergiebigere Richtung: »Ich möchte Ihnen jetzt mehrere Fragen stellen, und versuchen Sie bitte nicht zu ergründen, was sie bedeuten könnten. Jedenfalls nicht im Augenblick. Erstens, was sagt die Stadt über Sejanus?«
»Die Prätorianer sind Ihnen alle treu ergeben, und ebenso sind es die meisten Römer. Tiberius wirkt in letzter Zeit etwas zerstreut, wenn Sie mir diese Bemerkung verzeihen. Er wird eben älter, und seit dem Tode des Drusus scheint er ein ganz anderer Mensch geworden zu sein —mißgestimmt, argwöhnisch, mürrisch. Man sieht ihn selten in der Öffentlichkeit. Er hat große Schwierigkeiten mit dem Senat. Es herrscht allgemein die Ansicht, daß er für Roms Wohlergehen einen starken Vertreter braucht, der für ihn regiert, jetzt mehr denn je. Und Sie sind ... «
»Genug der Diplomatie, Pontius Pilatus. Seien Sie ehrlich, und zeigen Sie die Kehrseite der Medaille!«

»Darauf wollte ich gerade kommen«, antwortete Pilatus schnell, der spürte, daß Sejanus ebenso seine Integrität wie seinen Takt testete, »aber Sie wissen am besten, wer Ihre Gegner sind. Agrippina und ihre
Anhänger, vielleicht ein Drittel des Senats - Patrizier, die jedem Ritter, der an der Macht ist, grollen - und ein paar eigensinnige Republikaner, die spüren, daß Sie eine Regierung zusammenhalten, die man nach ihrer Meinung zusammenbrechen lassen sollte.«
Agrippina, die Witwe von Tiberius' beliebtem Neffen Germa-nicus, war Sejanus spinnefeind. Sie ärgerte sich über seinen wachsenden Einfluß auf den Princeps in einer Zeit, da ihre Söhne in der Thronfolge an erster Stelle standen, während Tiberius ebenso ärgerlich darüber war, daß sie sich so leidenschaftlich für die beiden einsetzte. Agrippina und Sejanus bildeten damals Gegenpole in der hohen Politik Roms.
»Das ist ein adäquater Katalog der Opposition«, sagte Sejanus, »aber was ist mit dem Mann auf der Straße?«
»Den Plebejern ist es noch nie besser ergangen. In Rom herrscht Frieden. Die Wirtschaft gedeiht, und vieles davon schreibt man Ihnen zugute. Aber ehrlich gesagt, es ist ebenso bekannt, daß Sie kürzlich an Tiberius schrieben, ihn um die Hand Livillas gebeten haben, und daß er Ihnen nicht gestattet hat ...
Sejanus machte große Augen: »Das ist in der Öffentlichkeit be-kannt?«
»Ein paar Gardinen haben im Forum diesen Klatsch aufgeschnappt. Aber man glaubt, daß Sie schließlich Ihren Willen doch durchsetzen werden, und die Leute sehen in Ihnen jemanden, der geduldig ist.«
Livilla war die Witwe von Yiberius' Sohn Drusus. Ihre Verliebtheit in Sejanus recht bald nach dem Tode ihres Mannes wurde nicht ohne Kritik bemerkt, und da diese Ehe Agrippina vor Eifersucht wahnsinnig gemacht hätte, hatte Tiberius klugerweise seine Einwilligung vorerst nicht gegeben.
»Ja, es war ein bißchen verfrüht. Ein Fehler von mir. Die Liebe gerät manchmal in Konflikt mit dem Verstand, wie Sie gewiß wissen ... Aber jetzt zu etwas anderem. Sind Sie ein religiöser Mann, Tribun?«
Diese Frage überraschte Pilatus sichtlich. Er nahm eine andere Haltung ein und räusperte sich: »Nun ... ich verehre natürlich die offiziellen Götter des Staates.«
»Ja, natürlich, und zwar fanatisch, wie ich wetten möchte«, sagte Sejanus mit einem spöttischen Lächeln, da keiner von beiden
Jupiter oder Juno oder eine der anderen griechischen Gottheiten, denen man lateinische Namen gegeben hatte, ernst nahm. In letzter Zeit, schien es, rief man die Götter nur an, wenn man fluchte. »Nun, wie ist es dann mit der Philosophie«, forschte Sejanus, »dem Ersatz des Intellektuellen für Religion? Welche Schule bevorzugen Sie?«
Pilatus dachte einen Augenblick nach. »Ich würde sagen, ich stehe in der Mitte zwischen Skeptizismus und Stoh'dsmus. Die Suche nach der letzten Wahrheit ist eine gute Übung, aber hat jemand sie je gefunden? Und wenn ja, was ist Wahrheit? Eine Wahrheit, wie sie die Platoniker oder die Epikuräer lehren? Oder Aristoteles oder die Zyniker? In dieser Hinsicht bin ich wohl ein Skeptiker. Andererseits wäre Skeptizismus allein wohl kaum als Richtschnur für das Leben geeignet. Hier, glaube ich, haben die Stoiker mit ihrer wunderbaren Betonung der Pflicht und ihrem Glauben an eine Vorsehung den römischen Staat etwas zu lehren.«
»Nun, wie ist es dann mit dem jüdischen Monotheismus?« »Die Juden sollen zwar an einen Gott glauben, aber sie sind kaum Stoiker.«
»Was halten Sie sonst von den Juden als Volk?«
»Ich glaube, jeder Römer würde mir zustimmen, daß sie ein sehr fleißiges, aber Inzucht treibendes und stolzes Volk sind. Doch sie begraben ihre Differenzen, wenn es darum geht, mit unseren Geschäftsleuten in Wettbewerb zu treten. Nein, ich glaube nicht, daß die Juden gute Römer sind, und Sie erinnern sich natürlich an den Fulvia- Skandal. «
Vor mehreren Jahren hatten vier vernichte Juden eine römische Matrone namens Fulvia d7u überredet, als Opfergabe für den Tempel in Jerusalem ein purpumes Gewand und einiges Gold zu spenden, was sie sich dann prompt selber aneigneten. Als Tiberius von dem Schwindel erfuhr, verbannte er in seiner Wut die Juden, zusammen mit einigen weiteren Anhängern fremder Kulte und Astrologen - es war die erste derartige Verfolgung durch den römischen Staat.
»Ich muß gleich zu dem Kaiser«, fuhr Sejanus fort, »darum erlauben Sie mir, daß ich mich kurz fasse. Valerius Gratus, der Präfekt von Judäa, ist dort elf Jahre im Amt gewesen, und der Princeps und ich halten einen Wechsel für an der Zeit. 

Eine Ansicht, die, wie ich zu meiner Freude sagen darf, Gratis ebenfalls teilt. Kurz gesagt,
ich habe vor, Sie als Praefrctus Judacac und Nachfolger des Gratus vorzuschlagen - wenn Sie damit einverstanden sind!« Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Aber ehe Sie sich entscheiden, will ich Einen noch einige Einzelheiten nennen. Im Augenblick ist Judäa ein besonders wichtiger Posten, da die Provinz Syrien während der augenblicklichen Interimszeit ohne Statthalter ist.«
»Wie steht es mit Aelius Lamia?« warf Pilatus ein.
»Lamia!« lachte Sejanus, »er ist Legat von Syrien, das stimmt. Aber nur dem Titel nach und nicht in der Praxis. Der Princeps mißtraut ihm, und er muß seine Amtszeit hier in Rom ab dienen. Darum ist im Augenblick jenseits der Grenze, in Syrien, kein Statthalter, der dem judäischen Präfekten beisteht, wenn er in Schwierigkeiten gerät. Und deswegen brauchen wir einen unserer besten Männer auf diesem Posten. Aus zwei Gründen habe ich an Sie gedacht.«
»Ich danke Ihnen Es ehrt mich, daß Sie in diesem Zusammenhang an mich gedacht haben«, kam es Pilatus glatt von der Zunge.
Und tatsächlich, er war überwältigt. Die Stellung eines Präfekten in der Provinz war eine dramatische Beförderung für ihn, eines der höchsten Ämter in der Ritterlaufbahn. Im Gedanken an seine Zukunft hatte Pilatus wohl schon gehofft, einmal Präfekt zu werden, aber nie war ihm der Gedanke gekommen, daß es Judäa sein könnte.
»Es würde mich aber interessieren, warum Sie gerade mich für diesen Posten vorgesehen haben«, fügte Pilatus hinzu.
»Weil Sie jenen Teil der Welt kennen. Sie sind, meine ich mich zu erinnern, administrativer Militärtribun bei der 12. Legion gewesen. Stimmt das?«
»Ja. Aber das war in Syrien.«
»Und Syrien ist der direkte Nachbar Judäas«, sagte Sejanus, »aber vielleicht sind Sie nicht daran interessiert, eine Provinz zu regieren.«
»Ganz im Gegenteil. Wann soll ich mich aufmachen?« Lächelnd gestand sich Pilatus schnell ein, daß das Bedürfnis, Zeit zu gewinnen, nur seiner großen Uberraschung zuzuschreiben war.
»Wie Sie sicher wissen«, fuhr Sejanus fort, »wird Ihr Einkommen hunderttausend Sesterzen sein, die Nebeneinkünfte nicht mitgerechnet. Und wenn Ihre Tätigkeit erfolgreich ist, kann es entsprechend erhöht werden. Die Juden sind natürlich schwer zu regieren, und darum ist das Gehalt nicht zu hoch; aber nach Ihrer Zeit in Judäa werden vielleicht noch größere Ehren Sie hier in der Regierung erwarten, zumal wenn Sie Rom im Ausland gut dienen.«
Pilatus wollte ein paar weitere Fragen stellen, als er von neuem unterbrochen wurde. Gespräche mit dem Prätorianerpräfekten wurden, wie nur all7u bekannt war, nur von einer Seite bestritten. »Aber das alles ist im Augenblick noch nicht entschieden. Tiberius muß natürlich erst seine Zustimmung geben, und heute nachmittag werde ich um Sie zu kämpfen beginnen. Ich werde zunächst sagen, wie notwendig Judäa einen Präfekten braucht, und dann beiläufig Ihren Namen erwähnen und schildern, was Sie bis jetzt gemacht haben. Im Laufe des Gesprächs werde ich auf Sie zurückkommen und Sie zum Schluß noch einmal erwähnen. Dann werden Sie so etwas wie ein alter Freund des Princeps sein. Das bedeutet natürlich nicht, daß er schon heute seine Zustimmung zu Ihrer Ernennung gibt. Er würde das niemals tun. Denn das würde so aussehen, als ob er sich von mir beeinflussen ließe, und er ist in dieser Hinsicht sehr empfindlich. Tiberius wird sich in etwa einem Monat für Sie entscheiden, und dann ist es geschafft.«
»Meinen. Sie, ich sollte mich jetzt schon auf das Amt vorbereiten oder erst Tiberius' Zustimmung abwarten?«
»Sie können sich jetzt schon vorbereiten. Ich werde keinen anderen Kandidaten vorschlagen, und ich glaube auch nicht, daß der Kaiser an einen anderen denkt.«
Mit diesen Worten geleitete er Pilatus in das Atrium hinaus und rüstete sich für seinen Besuch auf dem Palatin.
Draußen war es für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Ein Südwestwind wehte vom Aventin herunter und brachte den frischen Weizengeruch von den großen stattlichen Kornspeichern am Tiber mit. Am späten Nachmittag sollte es regnen.
Auf seinem Rückweg in die Castra berauschte sich Pilatus an den ganz neuen Aussichten, die sich ihm boten. Er hatte einen Tadel erwartet, nein, Entlassung. Statt dessen sollte er nun eine römische Provinz regieren. Die Herrschaft über Ju&ia würde natürlich mehr als eine Herausforderung sein. Nach allen Berichten war es eine äußerst komplizierte Aufgabe, die Juden unter römischer Herrschaft zufriedenzustellen. Er wußte, daß Palästina, seit Pompejus es vor fast neunzig Jahren erobert hatte, stets ein Unruheherd gewesen war. 

Rom hatte es mit einer indirekten Regierung unter König Herodes und einer direkten unter seinem Präfekten versucht. Aber die wachsende Feindschaft zwischen Römern und Juden und diesem in der Sonne schmorenden Land hatte zu Aufruhr und Rebellion geführt, die alle in Blut erstickt worden waren.
Diese Aussicht beunruhigte Pilatus. Er versuchte, die Gründe für seine Wahl herauszufinden. Und schon bald wurden sie ihm nur allzu klar. Pilatus stand im Ruf, ein zäher Befehlshaber zu sein, seit er geholfen hatte, durch eine geschickte Kombination von Beredsamkeit und Gewalt eine Meuterei in der 12. Legion zu unterdrücken. Sejanus hatte davon gehört und ihm daraufhin ein Anerkennungsschreiben gesandt. Die Soldaten in der Gewalt zu behalten, war für Sejanus das oberste Gebot.
Plötzlich fragte sich Pilatus, ob Sejanus noch einen anderen Grund hatte. Wie war es mit Lamia, dem Präfekten ohne Provinz? Traute nur Tiberiu.s ihm nicht und verhinderte er es, daß Lamia nach Syrien ging? Und Sejanus? Vor mehreren Jahren hatte Lamia mit Sejanus in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung gestritten und war danach zu der Partei Agrippinas übergegangen. Und obwohl er in Rom gleichsam in Quarantäne saß, gingen östliche Angelegenheiten äber seinen Schreibtisch. Darum mußte jetzt, da Sejanus' Vater, der Statthalter in Ägypten, tot war, jemand Sejanus' Interessen im Osten vertreten. Jemand? Er!
Nun gut. Vor mehreren Jahren hatte er auf die Karte des Seja-rius, seines Rittergenossen, gesetzt, der jetzt gleich nach dem Kaiser kam, und dieser Entschluß hatte sich bezahlt gemacht. Judai war eine äußerst schwierige Aufgabe. Aber wenn er erfolgreich war, würden ihn nach Sejanus' Worten in der hiesigen Regierung größere Ehren erwarten.
Es war ein typischer »Sejanismus*c, eine Übertreibung mit einem Schuß Satire, aber er vergoldete Pilatus' Aussichten.

Zweites Kapitel
Ein paar Tage später, als Sejanus die Garde inspizierte, berichtete er Pilatus, daß der Princeps seine Ernennung positiv aufgenommen habe. Und riet ihm, sich auf die ihn erwartenden Aufgaben in Judäa dadurch vorzubereiten, daß er Kenner des östlichen Mittelmeerraums konsultierte, die in Rom lehrten. Pilatus, der ein sehr vorsichtiger Mensch war, hatte seiner Braut Procula gegenüber noch nichts von seiner zu erwartenden Ernennung erwähnt; er wollte erst wissen, wie Tiberius auf seine Kandidatur reagierte. Für einen Militär, der gelernt hatte, schnelle, unumstößliche Entscheidungen zu fällen, war Pilatus überraschend sanft und geduldig mit dem jungen Mädchen. Und er wollte es vermeiden, Hoffnungen in ihr zu wecken, die durch eine negative Entscheidung des Kaisers zunichte gemacht werden konnten. Heute nun konnte er sie mit der Nachricht von seiner Berufung überraschen, und er sah diesem Abend freudig entgegen. Sie waren noch nicht offiziell verlobt, weil Pilatus erst die militärische Dienstzeit haut beenden wollen, aber er begann sich zu fragen, ob das nicht ein Vorwand gewesen war; denn wie viele seiner Zeitgenossen war Pilatus mit Leib und Seele Junggeselle gewesen, ein leidenschaftlicher Anhänger jener Freiheit und Ungebundenheit, die die Männer Roms so sehr entzückte, daß die Heirats- und Geburtsziffern beunruhigend sanken. Pilatus war von seiner Familie schon mit Procula verlobt worden, als das Mädchen noch ein halbes Kind war. So hatte er eine Reihe von Jahren bis zur Eheschließung gewonnen und das hohe Maß an Freiheit genossen. Im letzten Jahr aber hatte er sich mehr und mehr zu Procula hingezogen gefühlt, und sie hatten sich wirklich ineinander verliebt, eine unerwartete und nach den in Rom geltenden Begriffen unnötige Entwicklung. Procula war jetzt etwas mehr als halb so alt wie er. Er war Ende dreißig, sie noch nicht zwanzig - der übliche Altersunterschied, wenn auch seine Freunde Procula schon fast zu alt für ihn fanden. Pilatus machte sich jedoch selber nichts vor und glaubte, das Gegenteil komme der Wahrheit näher; er war entschlossen, so bald wie möglich zu heiraten, damit Procula und er sich eines langen gemeinsamen Lebens
@1996 Hänsseler Verlag