Dreißig Jahre, nachdem Andrew Murray das Buch »Bleibe in Jesus« geschrieben hatte, sagte er einmal: Sie sollen wissen, dass ein Prediger oder ein christlicher Autor oft so geführt werden kann, mehr zu sagen, als er selbst nachvollzogen hat.
Damals, als ich »Bleibe in Jesus« schrieb, hatte ich nicht alles erfahren, wovon ich geschrieben habe.
Und ich kann nicht sagen, dass ich jetzt alles völlig nachvollzogen habe. Es war dieselbe Geisteshaltung, aus der heraus der Apostel Paulus folgende Worte schrieb: Nicht, dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollendet sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch
ergreifen möge, indem ich auch von Christus Jesus ergriffen bin. Philipper 3,12
Dasselbe Empfinden habe ich im Hinblick auf den folgenden Artikel, »Zerbrich mich, Herr!«. Der Herr hat es mir aufs Herz gelegt, diesen Artikel zu schreiben. Die Wahrheit ist zu erhaben und zu dringlich, als dass ich sie zurückhalten dürfte, nur weil ich selbst sie nicht bis ins Letzte nachvollzogen habe. Wie sehr ich auch versagt haben mag, ist es doch mein Herzensanliegen, was ich hier niedergeschrieben habe.
Zerbrochenes ist wertvoll in Gottes Augen
Wenn etwas zerbrochen ist, verliert es im Allgemeinen entweder ganz oder teilweise seinen Wert. Zerbrochenes Geschirr, zerbrochene Flaschen und zerbrochene Spiegel werden meist weggeworfen. Schon ein Kratzer an einem Möbelstück oder ein Riss im Stoff mindert dessen Verkaufswert ganz erheblich. Im geistlichen Bereich verhält es sich ganz anders. Zerbrochenes hat in Gottes Augen einen besonderen Wert – insbesondere zerbrochene Menschen. Darum lesen wir auch solche Verse wie: Nahe ist der HERR denen, die zerbrochenen Herzens sind, und die zerschlagenen Geistes sind, rettet er. Psalm 34,19
Die Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten. Psalm 51,19
Gott weiß den Stolzen und Überheblichen zu widerstehen, aber einem demütigen und zerschlagenen Menschen kann er nicht widerstehen. Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade. Jakobus ,6 Etwas in unserer Zerbrochenheit appelliert an
Gottes Mitleid und seine Macht.
Und so ist es ein Teil seines wunderbaren Planes für unser Leben, dass wir zerbrochen werden sollen – zerbrochen im Herzen, zerbrochen im Geist und selbst zerbrochen in unserem Leib (vgl. 2. Korinther 4,6-18).
Bekehrung – eine Form der Zerbrochenheit
In diesen Prozess des Zerbrochenwerdens werden wir schon vor unserer Bekehrung hineingestellt, wenn der Heilige Geist beginnt, uns von der Sünde zu überführen. Er muss uns an den Punkt bringen, wo wir bereit sind zuzugeben, dass wir verloren und unwürdig sind und nur die Hölle verdienen. Wir kämpfen bei jedem Schritt auf diesem Weg. Doch der Heilige Geist ringt mit uns so lange weiter, bis unser Stolz gebrochen, unser Prahlen verstummt und jeglicher Widerstand aufgegeben ist.
Dann liegen wir unter dem Kreuz und bringen nur noch heraus: »Ach, Herr Jesus, rette mich doch!« Der Widerspenstige ist nun gezähmt, der Sünder ist überwunden, das junge Pferd ist zugeritten. Von Natur aus ist das junge Pferd ein wildes, unfügsames Geschöpf. Sobald es das Zaumzeug oder den Sattel spürt, bäumt es sich sofort auf, es geht durch, buckelt und schlägt aus. Es kann ein wunderschönes, gut gebautes Tier sein, aber solange es noch nicht gebändigt ist, bleibt es für die Arbeit wertlos. Aber dann beginnt der lange und schmerzvolle Prozess, den Willen des jungen Pferdes zu bändigen, sodass es sich schließlich das Geschirr anlegen lässt. Wurde sein Wille erst einmal von einem höheren Willen überwunden, dann entdeckt das Tier den wahren Grund für sein Dasein.
In diesem Zusammenhang sollten wir uns daran erinnern, dass der Herr Jesus in Nazareth wahr
scheinlich Zimmermann war und wohl auch Holzjoche angefertigt hat. Jemand hat einmal trefflich bemerkt, dass falls über Jesu Ladentür ein Schild hing, dieses wahrscheinlich die Aufschrift getragen hätte: »Meine sind Maßarbeit.« Wichtig für uns ist, dass unser göttlicher Herr noch immer ein Jochmacher ist.
Er sagt: Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Matthäus 11,29-30 Ein Joch ist aber nur etwas für den, der zerbrochen und gefügig gemacht worden ist. Unser Wille muss erst unterworfen und gefügig gemacht werden, bevor wir von Jesus lernen können. Er war sanftmütig und von Herzen demütig. Wir müssen so werden wie er, denn nur so werden wir Ruhe finden für unsere Seelen.
Was zum Zerbrochensein gehört
Was bedeutet wahre Zerbrochenheit? Wie äußert sie sich im Leben eines Gläubigen? Welches sind ihre Wesensmerkmale? Umkehr, Schuldbekenntnis, Bitte um Vergebung Vielleicht fällt uns hierzu als Erstes die Bereitschaft ein, Sünde vor Gott und vor den Menschen, denen wir Unrecht getan haben, zu bekennen. Der zerbrochene Mensch ist schnell zur Umkehr bereit. Er versucht nicht, die Sünde unter den Teppich zu kehren. Er versucht nicht, sie mit der Entschuldigung
»Zeit heilt alle Wunden« zu vergessen. Er begibt sich unverzüglich in die Gegenwart Gottes und ruft aus: »Ich habe gesündigt.« Dann geht er zu demjenigen, den er durch seine Handlungsweise verletzt hat, und sagt: »Ich war im Unrecht. Es tut mir leid.
Vergib mir bitte!« Einerseits kennt er die tiefe Beschämung, um Vergebung bitten zu müssen, doch erfährt er andererseits auch die große Erleichterung, ein reines Gewissen zu haben und im Licht zu wandeln. Ein aufrichtiges Schuldbekenntnis geht weder über Sünde hinweg noch verharmlost es sie. Es ist nicht so wie bei jener ungebrochenen älteren Dame, die hochmütig meinte: »Falls ich irgendetwas falsch gemacht habe, bin ich bereit, mir vergeben zu lassen.« Echte Reue sagt: »Ich habe Unrecht getan und bin gekommen, um zu sagen, dass es mir leidtut.«
Sünde und Versagen haben Davids Leben überschattet, aber es war seine tiefe Buße, die ihn zu
einem Mann nach dem Herzen Gottes machte. In den Psalmen 32 und 51 lesen wir von seinen Vergehen, seiner Sünde und seiner Ungerechtigkeit. Wir sehen, wie er sich zunächst weigerte, Buße zu tun. Damals war sein Leben ein einziges körperliches, seelisches und geistliches Elend. Alles ging schief. Alles schien aus den Fugen geraten zu sein.
Schließlich brach er zusammen. Er bekannte, und Gott vergab. Dann brach die Sonne wieder hervor, und David konnte wieder singen. Paulus gibt uns im Neuen Testament ein gutes
Beispiel für Zerbrochenheit. Er wurde damals in Jerusalem vor die Hohenpriester und das Synedrium geführt. Als er seine Rede mit der Feststellung einleitete, er habe immer mit gutem Gewissen vor Gott gelebt, da wurde der Hohepriester zornig und befahl, dem Gefangenen auf den Mund zu schlagen. Der Apostel fuhr ihn an: »Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand! Und du sitzt da, um mich nach dem Gesetz zu richten, und gegen das Gesetz handelnd befiehlst du, mich zu schlagen?« (Apostelgeschichte 23,3).
Die Umstehenden waren über diese scharfe
Zurechtweisung schockiert, die Paulus da ausgesprochen hatte. Wusste er nicht, dass er mit dem Hohenpriester sprach? Der Apostel wusste es tatsächlich nicht. Möglicherweise trug Ananias nicht seine offizielle Priesterkleidung, oder er saß nicht auf seinem üblichen Platz. Vielleicht waren auch Paulus’ schlechte Augen daran schuld. Wie dem auch sei – jedenfalls hatte er nicht absichtlich die derzeitige Obrigkeit angegriffen. Deshalb entschuldigte er sich sofort mit den Worten aus 2.Mose 22,27:
»Die Richter sollst du nicht lästern, und einem Fürsten deines Volkes sollst du nicht fluchen.« Der Apostel war schnell bereit, sich zu beugen. Seine geistliche Reife zeigte sich darin, dass er gleich bereit war, zu sagen: »Ich war im Unrecht. Es tut mir leid.« Zurückerstattung Eng verbunden mit diesem ersten Aspekt von Zerbrochenheit ist eine sofortige Zurückerstattung,
wofür auch immer sie gefordert sein mag. Habe ich gestohlen, etwas beschädigt oder jemanden verletzt oder hat ein anderer aufgrund meines Fehlverhaltens einen Verlust erlitten, so genügt es nicht, um Vergebung zu bitten. Die Gerechtigkeit verlangt, dass der Verlust erstattet wird. Dies bezieht sich auf Geschehnisse sowohl vor als auch nach meiner Bekehrung.
Nachdem Zachäus den Herrn Jesus aufgenommen hatte, fielen ihm einige der krummen Dinge
ein, die er als Oberzöllner gedreht hatte. Es war ein gottgegebener Impuls, der ihn sofort dazu anhielt, dieses Unrecht wiedergutzumachen. Deshalb sagte er zum Herrn: »Wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe, erstatte ich es vierfach« (Lukas 19,8).
Hier drückt das »wenn« keinerlei Zweifel oder Unsicherheit aus. Es bedeutet vielmehr: »Jedes Mal, wenn ich jemanden um etwas betrogen habe, werde ich es vierfach erstatten.« Seine feste Entschlossenheit, Erstattung zu bieten, war eine Frucht seiner Bekehrung. Das »vierfach« war ein Barometer für die Echtheit und Kraft seines neuen Lebens. Es gibt Fälle, in denen keine Erstattung mehr möglich ist. Vielleicht wurden Aufzeichnungen zerstört oder die genauen Beträge im Laufe der Zeit vergessen. Gott weiß das alles. Alles, was er will, ist, dass wir unsere Schuld begleichen, wo immer es möglich ist.
Und dies sollte immer im Namen des Herrn Jesus geschehen. Gott wird dadurch nicht verherrlicht, wenn wir nur sagen: »Ich habe gestohlen. Es tut mir leid. Ich möchte es jetzt zurückzahlen.« Diese Handlung sollte immer mit einem Zeugnis für Christus verbunden sein, etwa: »Durch den Glauben an Jesus Christus bin ich vor Kurzem Christ geworden. Der Herr hat zu mir wegen einiger Werkzeuge gesprochen, die ich Ihnen vor fünf Jahren gestohlen habe. Ich komme zu Ihnen, weil ich Sie um Vergebung bitten und die Werkzeuge zurückgeben möchte.« Jede gerechte oder freundliche Handlung eines Christen sollte mit einem Zeugnis für den Herrn Jesus verbunden sein, sodass er die Ehre erhält und nicht wir.
Vergebungsbereitschaft
Ein dritter Aspekt der Zerbrochenheit ist die Bereitschaft zu vergeben, wenn wir ungerecht behandelt wurden. In vielen Fällen bedarf dies einer ebenso großen Gnade wie die Bitte um Vergebung oder eine Zurückerstattung.Das Neue Testament gibt uns sogar genaue Anweisungen, wie wir anderen vergeben sollen. Zunächst sollten wir, wenn uns jemand Unrecht getan hat, diesem Menschen sofort in unserem Herzen vergeben (Epheser 4,32). Schon bevor wir zu
ihm gehen und ihm Vergebung zusprechen, haben wir ihm in unserem Herzen bereits vergeben.
»In dem Augenblick, wo mir ein Mensch Unrecht tut, muss ich ihm vergeben. Dann ist meine Seele frei. Wenn ich ihm das Unrecht vorhalte, sündige ich gegen Gott und gegen ihn und bringe damit meine Vergebung bei Gott in Gefahr. Es ist egal, ob derjenige jetzt Reue zeigt, Schadenersatz leistet, mich um Vergebung bittet oder nicht. Ich habe ihm im selben Augenblick vergeben. Er muss sich für das begangene Unrecht vor Gott verantworten, aber das ist seine und Gottes Angelegenheit und nicht meine, außer dass ich ihm im Sinne von Matthäus 18,15ff. helfen sollte. Aber unabhängig davon, ob dies nun Erfolg hat oder nicht, und bevor ich in dieser Hinsicht überhaupt etwas unternehme, muss ich ihm vergeben« (Lenski).
Es gibt da eine Vielzahl kleinerer Ungerechtigkeiten, die augenblicklich vergeben und vergessen
werden können. Es ist ein echter Sieg, wenn wir dazu in der Lage sind. »Die Liebe … rechnet Böses nicht zu und weidet sich auch nicht an der Schlechtigkeit anderer Leute« (1. Korinther 13,6 nach der englischen Übersetzung von J. B. Phillips).
Eine gläubige Frau wurde einmal gefragt: »Erinnern Sie sich nicht mehr an diese gemeine Bemerkung, die jene gehässige Frau zu Ihnen sagte?« Ihre Antwort war: »Nicht nur, dass ich mich nicht mehr daran erinnere – ich erinnere mich noch ganz deutlich daran, wie ich das vergaß.«
Ist die Sünde von einer ernsteren Art und meinen wir, dass es nicht richtig wäre, einfach darüber hinwegzugehen, dann ist der nächste Schritt der, zu demjenigen hinzugehen, der sich an uns versündigt hat, und mit ihm darüber zu sprechen (Matthäus 18,15). Zeigt er Reue, dann müssen wir ihm vergeben. »Und wenn er siebenmal am Tag gegen dich sündigt und siebenmal zu dir umkehrt und spricht: Ich bereue es, so sollst du ihm vergeben« (Lukas 17,4).
Es ist nur recht und billig, dass wir gewillt sein sollten, unbegrenzt zu vergeben. Schließlich wurde und wird uns ja auch unzählige Male vergeben. Hüten Sie sich auch davor, das Vergehen dieser Person überall herumzuposaunen (und das tun wir ja gerade meistens). »Überführe ihn zwischen dir und ihm allein« (Matthäus 18,15). Wir sollten offensichtlich so vorgehen, dass wir Streitigkeiten nicht nach außen tragen. Sobald der Bruder (oder die Schwester), der (oder die) uns verletzt hat, seine Sünde bekennt, sagen wir, dass wir vergeben haben. Wir haben schon im Herzen vergeben, aber nun können wir Vergebung zusprechen.
Aber angenommen, er weigert sich nun, umzukehren. Dann nimm, gemäß Matthäus 18,16,
»noch einen oder zwei mit dir, damit durch den Mund von zwei oder drei Zeugen jede Sache bestätigt werde«. Weigert er sich, auf diese zwei oder drei Zeugen zu hören, dann sollte die Angelegenheit vor die örtliche christliche Gemeinde gebracht werden. Der Zweck von alldem ist nicht, Vergeltung zu üben oder zu bestrafen, sondern den in Sünde gefallenen Bruder zurückzugewinnen.
Scheitert auch diese letzte Bemühung, so soll er wie ein Heide und Zöllner behandelt werden. Mit anderen Worten: Er soll nicht länger wie jemand behandelt werden, der zur örtlichen Gemeinde gehört. Da er sich nicht wie ein Christ verhält, begegnen wir ihm auf seiner selbst gewählten Basis. Wir behandeln ihn wie einen Ungläubigen. Aber sobald er umkehrt, sprechen wir ihm Vergebung zu, und die volle Gemeinschaft ist wiederhergestellt.
Gott hasst Unversöhnlichkeit, die Entschlossenheit, seinen Groll mit ins Grab zu nehmen, die Unwilligkeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Dies wird im Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht eindrücklich herausgestellt (Matthäus 18,23-35). Als der Knecht selbst nichts hatte, um zu bezahlen, da erließ ihm der König 10 000 Talente. Doch er war nicht bereit, einem Mitknecht ein paar lumpige Denare zu erlassen. Die Lektion ist eindeutig: Da Gott uns vergab, als wir noch bis über den Hals in Schulden steckten, sollten wir auch bereit sein, anderen zu vergeben, die uns Kleinigkeiten schulden.
Unrecht ertragen, ohne Vergeltung zu üben Aber es gibt noch weitere Aspekte der Zerbrochenheit, wie zum Beispiel die demütige Gesinnung, die dafür leidet, dass sie Gutes tut, und die keine Vergeltung übt. Hierfür ist natürlich unser Herr das beste Beispiel:
(Christus,) der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich (andere Lesart: es) dem übergab, der gerecht richtet. 1. Petrus 2,23
Inhalt
Vorwort 7
Zerbrochenes ist wertvoll in Gottes Augen 9
Bekehrung – eine Form der Zerbrochenheit 11
Was zum Zerbrochensein gehört 13
Was Zerbrochenheit nicht bedeutet 29
Der Generationskonflikt 31
Der Ehekonflikt 35
Gott will, dass wir alle zerbrechen 39
Die Auswirkungen 41
Zerbrich mich, Herr! 43
Wie ein Mensch denkt 45