Alma Mater
Marburg in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges:
Georg Kammann hätte sich nie träumen lassen, dass ausgerechnet er einmal Theologie studieren würde. Doch ein Überfall auf sein Heimatdorf, ein erhörtes Gebet und die Großzügigkeit seiner adeligen Patentante führen ihn in die Universitätsstadt Marburg. Hier eröffnen sich dem einfachen Lehrerssohn ungeahnte Möglichkeiten. Doch dann wird Marburg immer mehr zum Spielball der Mächtigen. Der Streit zwischen den Hessen-Kasselischen und den Hessen-Darmstädtischen entflammt neu und wird schonungslos auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung ausgetragen. Während die Kanonen donnern, muss Georg plötzlich selbst kämpfen: um seine Zukunft, seine Berufung, seinen Glauben und um das Mädchen, das er liebt.
LESEPROBE
Deutschland, 1642
Der März war erst wenige Tage alt und schmeckte mehr nach Winter als nach Frühling. Fröstelnd setzte Georg sein Bündel ab, um den Mantel enger um sich zu wickeln. Es war noch so früh am Morgen, dass ein bläuliches Licht über der Landschaft lag und die Konturen der immer noch kahlen Bäume am Wegesrand ineinanderzufließen schienen. Kälte lag auf dem Land und das Gras unter Georgs Füßen knisterte vom Raureif, aber die Straßen waren nun endlich frei von Schnee und trocken genug, um nach dreimonatiger Wartezeit nach Marburg aufbrechen zu können. Ab Grünberg würde er nicht mehr allein wandern müssen, dort hatte er sich mit drei Handwerksgesellen verabredet, die ebenfalls nach Marburg reisen wollten.
Je mehr Reisende gemeinsam unterwegs waren, desto sicherer war jeder einzelne. Heute sollte der Aufbruch von Grünberg aus stattfinden.
Wieder einmal knurrte Georgs Magen laut auf, aber er hatte ihm nichts zu bieten. Seine Mutter hatte ihm zwar etwas von den spärlichen Vorratsresten mitgeben wollen, aber er hatte abgewehrt. Er wusste gut, dass ihm vorerst nichts anderes übrigbleiben würde als zu betteln, und ob er einen Tag früher oder später damit anfing, fiel nicht ins Gewicht. Das, was er mitnahm, würde seiner Familie in den nächsten Tagen fehlen. Dort, wo sie waren, gab es niemanden mehr, den sie noch um ein Stück Brot hätten bitten können – dort, wo Georg hinging, hoffentlich schon.
Er nahm das Bündel wieder auf, schob es auf der anderen Schulter zurecht und setzte sich in Bewegung. Es war zu kalt, um hier stehenzubleiben, außerdem hatte er eine weite Strecke vor sich. Zurück schaute er nicht. Womöglich wäre er dann umgekehrt. Er hatte sich rasch von seiner Familie verabschiedet und nur noch einmal gewinkt, bevor er Günsendorf den Rücken gewandt und so schnell wie möglich davonmarschiert war. Trotzdem verspürte er bei dem Gedanken an sein Zuhause einen schmerzenden Klumpen in seiner Brust.
Georg versuchte das Gefühl zu ignorieren und stattdessen kräftiger auszuschreiten. Bald wurde es heller, wenn auch nicht allzu sehr, denn die Sonne blieb hinter einer dichten Wolkenschicht verborgen. Zu Georgs Linken lagen Felder, die von Unkraut überwuchert waren. Zu viele Bauern waren im letzten Jahr nicht dazu gekommen, ihre Äcker zu bearbeiten. Zu viele Bauern waren gar nicht mehr da, nachdem Pest und Krieg ganze Dörfer ausgerottet hatten. Im Stillen sandte Georg ein kurzes Gebet gen Himmel, dass seiner eigenen Heimat ein solches Schicksal erspart bleiben möge, dabei setzte er weiterhin einen Fuß vor den anderen. Marburg war noch weit.
Schließlich erreichte er Grünberg. Die drei Gesellen warteten bereits vor der Schenke auf ihn, vor der sie sich verabredet hatten. Sie sprachen nicht viel, ja, grüßten Georg nicht einmal wirklich, bevor sie losgingen, aber das war in Ordnung. Sie waren nur aus Notwendigkeit miteinander unterwegs und würden nach diesen sieben oder acht Stunden gemeinsamen Weges vermutlich kaum noch einmal miteinander zu tun haben. Seine drei Reisebegleiter waren auf der von ihren jeweiligen Zünften vorgeschriebenen Wanderschaft und blieben nirgends lange.
Nachdem sie die Stadt verlassen hatten, begannen die Wandergesellen Lieder zu singen, die meisten davon nicht gerade fromm, und Georg trottete ihnen schweigend hinterher. Sein Geist war sowieso längst in Marburg. Ob er die Aufnahmeprüfung auch wirklich bestehen würde? Was, wenn nicht? Und wovon würde er sein tägliches Brot bezahlen? Vor allem der letzte Gedanke saß nicht nur in Georgs Kopf, sondern auch in seinem leeren Magen und wurde dort immer drängender.
Irgendwann gegen Mittag konnte er nicht mehr weitergehen. Seine Beine fühlten sich so wackelig an, als ginge er durch tiefen Sand, und jeder Schritt brachte ihn zum Keuchen.
»Was denn, macht Ihr schon schlapp?«, spottete Dörr, der Wortführer, als er seinen Zustand bemerkte.
Georg zögerte, aber dann sagte er es doch: »Ich habe heute noch nichts gegessen.« Es half nichts, es zu verschweigen, er musste endlich etwas in den Magen bekommen.
»Erwartet Ihr etwa, von uns verpflegt zu werden?«
»Nein. Da vorne ist ein Dorf, ich werde dort um ein Stück Brot bitten.«
»Aber nicht in unserem Beisein, wir sind kein Bettelvolk!« Dörr machte ein angewidertes Gesicht. »Wir warten am Ortsausgang auf Euch.«
Georg nickte, drehte sich um und hielt mit zusammengebissenen Zähnen auf das Dorf zu. Wenn doch nur Sommer wäre, dann könnte er im Wald ein paar Brennnesseln oder Beeren finden und bräuchte nicht fremde Leute anzubetteln, die vermutlich selbst wenig zu beißen hatten. Aber es half nichts.
Das Dorf sah nicht sehr mitgenommen aus und Georgs Skrupel schwanden weiter, als er die kleine Herde Gänse und die Hühner sah, die zwischen den Häusern nach Körnern und Würmern suchten. Gerade, als er das erste Haus passierte, trat eine Frau aus einem Schuppen daneben, im Arm einen kleinen Korb.
Georg holte tief Luft und trat auf sie zu. »Verzeiht meine Dreistigkeit, aber hättet Ihr vielleicht etwas zu essen für mich? Ich bin auf dem Weg nach Marburg, mein Dorf wurde im letzten Jahr niedergebrannt und meine Eltern konnten mir nichts mitgeben.«
Die Frau betrachtete ihn mit misstrauisch zusammengezogenen Brauen. »Na schön«, sagte sie schließlich. In ihrem Korb lagen sechs oder sieben Eier. Georg konnte den Blick kaum davon abwenden. »Einen Kanten Brot kannst du kriegen.« Sie verschwand im Haus und kam mit einem durchaus großzügigen Stück Brot zurück. Georg nahm es und bedankte sich überschwänglich, bevor er seinen Weg fortsetzte. Sobald er aus dem Dorf heraus war, kaute er an dem Brot. Es war altbacken und fast schon steinhart, aber nahrhaft und nicht einmal verschimmelt, mehr hatte er beim besten Willen nicht verlangen können. Zu seiner Überraschung bekam er keine dummen Bemerkungen, sondern nur ein »Wohl bekomm’s!« zu hören, als er seine Reisegefährten einholte.
Die Sonne stand schon recht tief, als sie wieder einmal ein Dorf durchquerten und auf Anfrage erfuhren, dass sie in Leidenhofen waren. Bis Marburg sei es nicht mehr weit. Eigentlich hatten sie vorgehabt, in einem der nächsten Dörfer endlich zu rasten und die Nacht zu verbringen, aber auf diese Neuigkeit hin entschlossen sich die drei Gesellen, doch weiterzugehen. Georg widersprach nicht. Als sie der Weg durch den Wald führte, bereute er jedoch fast, dass er geschwiegen hatte. Es war dunkel, unheimlich und kalt.
Doch schließlich öffnete sich der Wald und im Licht der Abendsonne, die Georg von halb links ins Gesicht schien, bot sich ihm ein atemberaubender Ausblick. Sogar seine drei Gefährten blieben für einen kurzen Augenblick stehen, bevor sie den Berg hinabgingen, mit dem lautstarken Wunsch nach einem guten Bier und einem Mädchen auf den Lippen. Georg ließ sie ziehen und betrachtete die Stadt, die seine Zukunft barg.
Auf einem steil aufragenden Berg lag das Marburger Schloss, trutzig hinter den starken Mauern und Befestigungen und gleichzeitig schön und zierlich mit seinen Türmchen und Fensterfronten. Zu seinen Füßen zogen sich Häuser den Berg hinab, wie Schwalbennester klebten sie am Hang und liefen bis zur Lahn hin aus. Links unterhalb des Schlosses stand eine Kirche zwischen den Häusern, deren Turm seltsam schief aussah, und rechts am Fuß des Abhanges erhoben sich die ehrwürdigen, vierhundert Jahre alten Türme der Elisabethkirche. Hier also hatte man früher, zu papistischen Zeiten, wie die Heiden die Knochen der heiligen Elisabeth von Thüringen angebetet, bevor Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen der Reformation in seinem Land zum Durchbruch verholfen und die Gebeine seiner Vorfahrin aus der Kirche genommen hatte.
Vor all den anderen Gebäuden lag ein eng bebautes Vorstädtchen. Die träge dahinfließende Lahn machte eine Schleife darum und glitzerte, wo die Sonne noch auf sie traf. Die Fachwerkhäuser und Steingebäude warfen tiefe Schatten auf die steinerne Brücke, die in das Dorf hineinführte. Weidenhausen hieß es, erinnerte Georg sich an die Erzählungen seines Vaters.
Er atmete tief ein. Die Stadt lag großartig wie ein ausgebreiteter Schatz vor ihm und er hatte das Gefühl, als hieße sie ihn willkommen: ‚Sei gegrüßt, Georg Nicolaus Kammann, willkommen in deinem neuen Leben. Sei fleißig und lerne, Wissen gibt es hier im Überfluss, und solange du dich bemühst, wirst du am Ende deiner Zeit hier alles haben, was du brauchst, um deiner Kirche zu dienen.‘
Er wusste immer noch nicht, wovon er leben würde, falls er im Pädagogium aufgenommen werden sollte – aber er war bereit, vieles zu erdulden, wenn er hier sein Versprechen erfüllen und seinen Traum leben konnte. Mit neuem Mut und ohne seine Müdigkeit noch zu bemerken, machte Georg sich auf den Weg den Berg hinunter und lief auf die Brücke zu.
* * *
Die Straße war belebt. Etliche von Bauern und ihren Frauen gezogene Karren kamen Georg über die Brücke entgegen. Ihre Ladeflächen waren so gut wie leer. Ein Markttag ging zu Ende und es schien, als sei der Krieg hier weit weg. Gespräche, Rufe und Gelächter waren zu hören und die Menschen wirkten aufgeräumt. Von den drei Gesellen, die Georg noch eine Weile vor sich her hatte gehen sehen, war im Gedränge keine Spur mehr zu entdecken.
»Achtung! Aus dem Weg da!«, ertönte es zusammen mit dem dumpfen Klopfen von Hufen auf der unbefestigten Straße hinter Georg und er trat hastig zur Seite. Ein junger Mann trabte mit wehendem Mantel auf einem kräftigen Braunen vorbei, den Degen an der Seite und einen Hut mit einer leuchtend roten Feder auf dem Kopf. Ob er einer der adligen Studenten war? Ein mulmiges Gefühl begann sich in Georg auszubreiten. Daran hatte er noch gar nicht gedacht: Selbst wenn er es schaffen würde, wenn er wirklich studieren könnte, würde er in die Gemeinschaft der Studenten vermutlich doch nie hineinpassen. Er, der Sohn eines kleinen Dorfschulmeisters, zusammen mit den adligen Herren? Wie viel hatte man wohl mit ihnen zu tun? Und wie sollte man ihnen begegnen?
Aber zuerst einmal müsste er in das Pädagogium aufgenommen werden, rief Georg sich zur Ordnung. Das Studieren lag noch in weiter Ferne. Der Gedanke beruhigte und störte ihn gleichermaßen. Zunächst würde es hauptsächlich heißen, sein Latein zu perfektionieren und Rhetorik zu üben, den Katechismus und das Gesangbuch durchzunehmen. Vieles davon hatte er längst gelernt – vielleicht, vielleicht würden sie ihn in eine höhere Klasse einstufen, wenn er in der Prüfung sehr gut abschnitt? Das würde die Zeit verkürzen und damit das Problem seines Lebensunterhaltes. Er hatte zwar die Zusage seiner Patin, sein Schul- bzw. Studiengeld zu zahlen, aber wie lange sie ihn unterstützen wollte, hatte sie nicht geschrieben. Er musste einfach gut abschneiden, das war er ihr und auch seinem Vater schuldig. Aber jetzt sollte er lieber nicht weiter darüber nachdenken, sonst würde er noch so nervös, dass er nichts mehr wissen würde, wenn es so weit war.
Beginnen konnte all das sowieso erst morgen. Heute Abend war er lediglich ein Besucher. Zögerlich überquerte er die Brücke ganz am Rand, um nur ja niemandem im Weg zu sein, und betrat schließlich das eigentliche Marburg durch das hohe Stadttor. Die Straße stieg gleich danach an und führte rechts an einem beeindruckend großen Gebäude vorbei. Georg schaute an den trutzigen Mauern mit den kleinen Fenstern hinauf und fühlte eine leichte Gänsehaut über seinen Rücken laufen. Das konnte nur das ehemalige Dominikanerkloster sein, in dem das Pädagogium untergebracht war – hier würde er mit Gottes Hilfe bald lernen. Die südliche Außenseite des Klosters bildete gleichzeitig ein Stück der Stadtmauer, daran angeschlossen befand sich eine Kirche, die mit ihren hohen Spitzbogenfenstern auch ohne Turm für Georgs Begriffe schon prächtig genug war. Irgendwo in diesem riesigen Gebäudekomplex würde es hoffentlich wenigstens für diese Nacht ein Plätzchen für ihn geben?
Mit heftig pochendem Herzen ließ er den schweren eisernen Türklopfer an das Eingangstor niederfallen und wartete. Nach einer Weile näherten sich Schritte und die Tür wurde geöffnet. Ein junger Mann schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. Georg machte eine Verbeugung, die ihm sehr linkisch vorkam. »Verzeiht die Störung. Mein Name ist Georg Nicolaus Kammann und ich möchte mich zur Aufnahme ins Pädagogium bewerben.«
»So.« Sein Gegenüber strich sich über den modischen dunklen Spitzbart und betrachtete Georg von Kopf bis Fuß. »Wo kommt Ihr her, Kammann?”
»Aus Günsendorf bei Grünberg. Mein Vater ist dort der Lehrer.”
Die Augenbrauen seines Gegenübers hoben sich verächtlich. »Ein Dorflehrer. Aha. Hast du eine Empfehlung, einen Fürsprecher in der Stadt?«
Beklommen schüttelte Georg den Kopf. Er hatte nicht gewusst, dass das nötig war. Würden sie ihn ohne womöglich gar nicht erst prüfen?
»Hm. Hast du denn überhaupt das Schulgeld, wenn du hier wie ein Landstreicher anklopfst?«
»Ich habe einen Brief von meiner Patin in der Tasche, der edlen Frau Sophia Elisabeth von Sassen. Sie wird das Schulgeld zahlen.«
»Na schön. Dann kannst du morgen früh kommen. Ich werde dem Pädagogiarchen Bescheid geben. Wenn du Glück hast, wird er dich dann prüfen. Sei mit dem Glockenschlag sieben hier.« Damit trat er einen Schritt zurück und bevor Georg auch nur Luft holen konnte, um nach einem Platz zum Schlafen zu fragen, fiel die Tür vor seiner Nase ins Schloss.
Einen Augenblick stand er wie betäubt da und starrte auf das alte Holz und die eisernen Beschläge. Prüfung morgen um sieben, vielleicht auch noch beim Rektor des Pädagogiums, und er wusste nicht, ob er überhaupt ein Auge würde zutun können in dieser Nacht. Wenn er draußen übernachten musste, würde er sein Bündel bewachen müssen wie ein Hofhund das Haus seines Herrn.
Nur – wo konnte er sich überhaupt hinlegen? Wo schlief man hier, wenn man kein Geld und keinen Fürsprecher hatte? Für einen kurzen Augenblick wünschte sich Georg, er wäre nie auf diese Reise gegangen.
Aber es half ihm nicht, wenn er hier in Heimweh und Traurigkeit versank, im Gegenteil. Energisch schluckte er den Knoten hinunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, und machte sich auf die Suche nach einem Schlafplatz.
Der war nicht einmal so schwer zu finden, wie er gedacht hatte. Direkt unter dem stadtseitigen Ende der steinernen Weidenhäuser Brücke war es trocken, und ein Gestrüpp schützte vor direkten Blicken. Seinen vor Hunger schmerzenden Magen ignorierte Georg und sein Bündel legte er sich kurzerhand unter den Kopf.
Langsam wurde es Nacht. Gut, dass er wenigstens seinen Mantel hatte, auch wenn der im letzten Jahr noch kürzer geworden war, denn es wurde immer kälter. Nach einer Weile holte Georg alle Kleider, die er besaß, aus dem Bündel und zog sie übereinander. Dann rollte er sich wie ein Igel zusammen, hielt das deutlich geleerte Bündel zwischen Knien und Armen und schloss die Augen. Wenige Schritte von ihm entfernt gluckerte das Wasser der Lahn an ihm vorbei und sang ihn schließlich sanft in den Schlaf.
555 Seiten, Buch, Paperback
Format: 13,5 x 20,5 cm
Bestellnummer: 332157
ISBN: 978-3-96362-157-4
2. Auflage, erstmals erschienen im August 2020
IV. Vorwort Dem Herrn, dem ich diene, sage ich von Herzen Dank, dass er mir erlaubte, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte immer gehofft, dass ein Befähigterer diese Arbeit übernehmen würde. Aber es gefiel dem Herrn, mich damit zu beauftragen. Hätte ich wählen können, so wäre ich wohl der letzte gewesen, der dies geschrieben hätte, denn ich hatte nicht den Wunsch, solch ein Buch zu verfassen. Mein Zögern lag nicht darin begründet, dass ich mich von dieser Pflicht zurückziehen wollte, sondern vielmehr im Wissen, dass ein Buch, das den Weg des geistlichen Lebens und die Probleme des geistlichen Kampfes behandelt, gewiss die Möglichkeiten eines Menschen übersteigt, der den Herrn noch nicht einmal zehn Jahre lang kennt.
Die Bibel erlaubt einem Gläubigen, von seinen Erfahrungen zu berichten; ja, der Heilige Geist leitet ihn sogar an, dies zu tun, wie viel besser freilich, wenn solche Erfahrungen wie »entrückt in den dritten Himmel« nach »vierzehn Jahren« erwähnt werden. Nun habe ich zwar keine »Dritte-Himmel«-Erfahrung, noch habe ich eine große Offenbarung empfangen, aber ich konnte durch des Herrn Gnade lernen, ihm in den kleinen täglichen Dingen zu folgen. Ich unternehme deshalb den Versuch, den Kindern Gottes das weiterzugeben, was ich während dieser Jahre vom Herrn empfangen habe. Vor ungefähr vier Jahren sah ich die Notwendigkeit, dieses Buch zu schreiben.
Damals erholte ich mich von einer Krankheit in einer kleinen Hütte am Fluss, betete und las das Wort Gottes. Ich erkannte das dringende Bedürfnis nach einem Buch, das gegründet auf das Wort Gottes und auf die Erfahrung, den Gotteskindern ein klares Verständnis des geistlichen Lebens vermitteln könnte, um sie weiterzuführen und sie davor zu bewahren, im Dunkeln zu tappen. Damals wurde mir bewusst, dass mich der Herr beauftragte, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich begann die Kapitel zu ordnen, die die Unterscheidung von Geist, Seele und Leib behandeln, und ebenso den ersten Teil des Kapitels, das sich mit dem Seelenleben befasst.
Ich gab aber das Schreiben bald wieder auf, wurde doch meine Zeit von vielen Aufgaben in Anspruch genommen. Das war aber nicht der Hauptgrund, denn zum Schreiben hätte ich trotzdem ab und zu Gelegenheit gehabt. Wenn ich die Feder zur Seite legte, so deshalb, weil noch manche Wahrheit niederzuschreiben war, die ich bis zu jenem Zeitpunkt noch nicht völlig durch eigene Erfahrung bestätigen konnte. Ich wusste, dass dieser Mangel den Wert und auch die Kraft dieses Buches vermindern würde. So zog ich es vor, zunächst in der Schule Gottes zu lernen und seine Wahrheiten in der Erfahrung zu erproben. Was ich dann schreiben würde, wären dann geistliche Realitäten und nicht nur geistliche Theorien. Darum wurde die Arbeit drei Jahre aufgeschoben.
Ich darf wohl sagen, dass mich dieses Buch während dieser drei Jahre trotzdem ständig innerlich beschäftigte. Obschon einige denken mochten, dass die Veröffentlichung dieser Arbeit längstüberfällig war, so konnte ich doch klar des Herrn Hand über dem Ganzen sehen. In den wenigen Jahren haben die in diesem Buch enthaltenen Wahrheiten, besonders jene im letzten Band, viele aus der Macht der Finsternis befreit, was beweist, dass wir an geistliche Realitäten gerührt haben. Durch die besondere Gnade des Herrn konnte ich die Erlösungsabsichten Gottes besser verstehen, die er dadurch verfolgt, dass er die alte Schöpfung von der neuen trennt. Dafür sage ich dem Herrn Dank. Er schenkte mir auch während meiner verschiedenen Reisen Gelegenheit zu Begegnungen mit vielen seiner Auserwählten, was meine geistliche Schau, Erkenntnis und Erfahrung förderte. In den Kontakten mit den Leuten zeigte mir der Herr nicht nur, worin der wahre Mangel unter seinen Kindern besteht, sondern auch die in seinem Wort geoffenbarte Abhilfe. Ich möchte daher meinen Lesern sagen, dass dies ein Handbuch für das geistliche Leben ist, dessen Inhalt lebensmäßig erprobt werden kann.
Aufgrund meiner besonderen Erfahrungen, die ich in diesen wenigen Jahren machte, wurde mir nicht nur größere Erkenntnis über die Wirklichkeit der Ewigkeit zuteil, sondern gleicher weise auch über die große Schuld, die ich der Gemeinde Gottes gegenüber abzutragen habe. So hoffte ich, dieses Buch in kurzer Zeit fertig zu stellen. Ich danke Gott, dem Vater, und einigen meiner Freunde im Herrn, dass ich an einem stillen Ort ruhen und schreiben konnte. In wenigen Monaten hatte ich die ersten vier Hauptabschnitte abgeschlossen. Wenn ich auch die anderen Teile noch nicht begonnen habe, so bin ich doch sicher, dass Gott, der Vater, zur rechten Zeit die nötige Gnade dazu schenken wird. Da dieser Band nun bald herauskommen wird, und die anderen ihm bald folgen werden, so will ich offen bekennen, dass es nicht leicht war, diese Wahrheiten zu lernen; sie niederzuschreiben war noch schwerer. Ich kann schon sagen, dass ich zwei Monate lang täglich Satans Angriffe zu spüren bekam. Welch ein Kampf! Wie musste ich Widerstand leisten! Ich musste all meine Kräfte des Geistes, der Seele und des Leibes aufbieten, um mich gegen die Hölle zu behaupten. Diese Kämpfe sind nun vorübergehend unterbrochen, aber es sind noch weitere Kapitel zu schreiben.
Wenn du wie Moses auf dem Berge bist, dann vergaß bitte Josua unten im Tal nicht. Ich weiß, dass der Feind dieses Werk zutiefst hasst. Er wird alle Mittel einsetzen, um es den Menschen vorzuenthalten und sie am Lesen zu hindern. Oh, lass dies doch dem Feind nicht gelingen! Dieses Buch, das aus drei Bänden bestehen wird, ist nicht in der Form einer Predigt oder Auslegung geschrieben. Obschon sich alle Bände mit dem geistlichen Leben und Kampf befassen, liegt bei einigen Kapiteln der Nachdruck mehr auf dem geistlichen Leben, bei anderen mehr auf dem geistlichen Kampf. Das Buch als Ganzes ist so gestaltet, dass es als Leitfaden dienen kann. Die Betonung liegt deshalb auf dem Glaubensweg und nicht auf der Glaubensentscheidung. Mögen alle, deren Herzen sich nach ihrem Herrn sehnen, darin Hilfe finden.
Ich bin mir wohl bewusst, dass das geistliche Leben der Leser dieses Buches sehr verschieden sein kann. Wenn du also auf schwer verständliche Punkte stoßen solltest, dann lehne sie bitte nicht ab und versuche sie auch nicht mit dem Verstand zu ergründen. Solche Wahrheiten sollten für später zurückgestellt werden. Wenn du diesen schwierigen Abschnitt später wieder liest (vielleicht nach zwei Wochen oder einem ganzen Monat), dann vermagst du ihn möglicherweise schon besser zu erfassen.
Dieses Buch hat es durchgängig mit dem geistlichen Leben als einer Erfahrung zu tun. Anders kann es nicht verstanden werden. Was am Anfang »ungenießbar« scheinen mag, kann später äußerst wertvoll werden. Du wirst es verstehen, wenn du die nötige geistliche Stufe erreicht hast. Ist es aber nötig, bis dahin zu warten, um alles zu verstehen? Wenn ja, wozu soll dann dieses Buch nützlich sein? Die geistliche Erfahrung eines Gläubigen ist von einem großen Geheimnis umgeben. Der Herr gibt uns immer zuerst einen Vorgeschmack eines tieferen Lebens, ehe er es uns völlig zur Erfahrung werden lässt. Manche Gläubige verwechseln den Vorgeschmack mit der Fülle und erkennen nicht, dass der Herr eben erst damit angefangen hat, sie zu führen. Was in diesem Buch gelehrt wird, kommt dem Bedürfnis derer entgegen, die gerade erst geschmeckt, aber noch nicht getrunken haben.
Vor etwas aber müssen wir uns hüten: wir sollten die Erkenntnis, die wir aus diesem Buch gewonnen haben, nie als Hilfe benutzen, uns selbst zu analysieren. Wenn wir in Gottes Licht das Licht erkennen, dann begreifen wir uns, ohne unsere Freiheit in Christo zu verlieren. Wenn wir uns aber den ganzen Tag analysieren und unsere Gedanken und Gefühle zerlegen, dann hindert uns das daran, uns in Christus zu verlieren. Der Gläubige kann sich nur dann selbst erkennen, wenn er die Erkenntnis von Gott selbst hat. Selbstanalyse und Selbstbewusstsein sind für das geistliche Leben schädlich.
Es wäre gut, über Gottes Erlösungsplan nachzudenken. Gottes Absicht besteht darin, uns durch das neue Leben, das er uns bei der Wiedergeburt schenkte, von der Sünde, vom Natürlichen und übernatürlichen, d. h. von den satanischen, bösen Kräften in der unsichtbaren Welt zu erlösen. Diese drei Erlösungsstufen sind notwendig, wir können keine umgehen. Sobald ein Gläubiger Gottes Erlösungswerk beschränkt, erreicht er Gottes Ziel nicht. Das natürliche Leben (das gute Ich) und der übernatürliche Feind müssen überwunden werden. Es ist sicher gut, die Sünde zu überwinden, aber das Werk ist nicht getan, solange das widerspenstige Ich und der übernatürliche Feind unbesiegt bleiben. Das Kreuz vermag uns diesen Sieg zu schenken. Ich hoffe, diese Fragen durch Gottes Gnade genügend klar behandeln zu können.
Außer dem letzten Teil des dritten Bandes, der sich mit dem Leiblichen befassen wird, kann dieses Buch als biblische Psychologie betrachtet werden. Wir gründen alles auf die Bibel und können es durch die geistliche Erfahrung bestätigen. Durch das Studium des Wortes und durch die Erfahrung lernen wir, dass für jede geistliche Erfahrung (z. B. die Wiedergeburt) eine besondere Veränderung in unserem inneren Menschen stattfindet. Wir schließen, dass die Bibel den Menschen dreigeteilt sieht: Geist, Seele und Leib. Zudem werden wir gewahr, wie verschieden die Funktionen und Bereiche dieser drei Teile sind, ganz besonders von Geist und Seele. In diesem Zusammenhang ist es nötig, über den ersten Teil des ersten Bandes ein paar Worte zu sagen.
Die Unterscheidung von Geist und Seele sowie der Unterschied in ihren Funktionen, sind unerlässliche Erkenntnisse für alle, die geistlich wachsen wollen. Erst nachdem wir wissen, was der Geist und was geistlich ist, können wir in Übereinstimmung mit dem Geist leben. Da aber ein großer Mangel in der Unterweisung dieser Erkenntnis besteht, will ich dies ausführlich zu erklären versuchen. Gläubigen, die bereits eine gewisse Grundlage haben, wird dieser erste Teil keine Schwierigkeiten bereiten; jene aber, die mit diesem Gedankengut nicht vertraut sind, sollen sich nur die Schlussfolgerungen merken und dann zum zweiten Teil übergehen. Der erste Teil befasst sich also nicht so sehr mit dem geistlichen Leben, er vermittelt vielmehr eine gewisse Erkenntnis, die für das geistliche Leben grundlegend ist. Dieser Teil wird vielleicht noch besser verstanden, wenn man ihn nach dem Studium des ganzen Buches erneut liest.
Ich bin nicht der erste, der die Unterscheidung zwischen Geist und Seele lehrt. Andrew Murray sagte einmal, die Gemeinde und die einzelnen Menschen müssten sich vor der ungehemmten Aktivität der Seele mit ihrer Kraft des Verstandes und des Willens hüten. F. B. Meyer erklärte, dass er sich ohne die Trennung von Geist und Seele sein eigenes geistliches Leben nicht hätte vorstellen können. Viele andere, wie z. B. Otto Stockmayer, Jessie Penn-Lewis, Evan Roberts und Madame Guyon, haben das auch bezeugt. Ich habe von ihrem Schrifttum reichlich Gebrauch gemacht, da wir ja vom Herrn alle den gleichen Auftrag empfangen haben. Ich habe mich daher entschlossen, im Allgemeinen auf Quellenhinweise zu verzichten. Dieses Buch ist nicht nur für Gläubige gedacht, es soll auch jenen helfen, die im Dienst des Herrn jünger sind als ich. Da wir für das geistliche Leben anderer verantwortlich sind, sollten wir wissen, aus was wir sie heraus — und in was wir sie hineinführen. Wenn wir den Menschen helfen, nicht mehr in der Sünde zu leben und für ihren Herrn zu eifern — ist das dann alles, was der Herr von uns verlangt?
Oder gibt es mehr? Ich persönlich glaube, dass die Bibel mit aller Deutlichkeit dazu Stellung nimmt. Gottes Absicht ist es, seine Kinder völlig von der alten Schöpfung zu erlösen und in die neue Schöpfung eingehen zu lassen. Es spielt keine Rolle, wie sehr die alte Schöpfung dem Menschen gefallen mag — Gott hat sie verworfen. Wenn wir als Arbeiter Gottes wissen, was zerstört und was gebaut werden soll, dann sind wir keine blinden Blindenführer. Die Wiedergeburt — Gottes Leben empfangen — ist der Ausgangspunkt allen geistlichen Lebens. Wie unnütz ist es, wenn das Endresultat all unseres Ermahnens, Überzeugens, Argumentierens, Erkläret und Bemühens nichts anderes als ein vernunftmäßiges Wissen, eine willens mäßige Entschlossenheit und eine Gemütsbewegung ist.
Das hat den Menschen nicht geholfen, Gottes Leben in ihrem Geist zu empfangen. Wenn wir aber erkannt haben, dass die Menschen zuerst Gottes Leben empfangen müssen, dann kann unsere ganze Arbeit drastisch anders werden. In der Tat wird uns diese Erkenntnis vergegenwärtigen, dass viele, die vorgeben, an den Herrn Jesus zu glauben, nie wirklich geglaubt haben. Tränen, Buße, Reform, Eifer und Anstrengung sind nicht die Echtheitszeichen eines Christen. Glücklich sind wir, wenn wir erkennen, dass unsere Verantwortung darin besteht, den Menschen Gottes unerschaffenes Leben zu bringen.
Wenn ich daran denke, wie sehr mich der Feind zu hindern suchte, die praktische Erfahrung der im dritten Band enthaltenen Wahrheiten zu machen, so kann ich nicht anders, als besorgt sein, dass einige, obschon sie das Buch besitzen, vom Satan gehindert werden, es zu lesen, oder wenn sie es lesen, er sie versucht, dies schnell wieder zu vergessen. Ich möchte daher meine Leser ermahnen, Gott zu bitten, dass er Satan wehre, sie am Lesen zu hindern. Bete, während du liest, mache aus dem, was du liest, ein Gebet. Bitte, dass Gott dich mit dem Helm des Heils bedecke, damit du nicht vergisst, was du liest oder nur deinen Verstand mit unzähligen Theorien füllst.
Dann habe ich noch ein paar Worte an jene zu richten, die die Wahrheiten bereits besitzen, die auf den folgenden Seiten enthalten sind. Wenn Gott euch in seiner Gnade vom Fleisch und von der Macht der Finsternis erlöst hat, dann solltet ihr diese Wahrheiten anderen weitersagen. So werdet ihr, nachdem ihr das Buch völlig in euch aufgenommen habt, einige Gläubige um euch versammeln und sie diese Wahrheiten ebenfalls lehren. Wenn es zuviel ist, das ganze Buch durchzunehmen, so wird auch schon das Studium von einem oder zwei Teilen einen inneren Gewinn bringen. Es ist meine Hoffnung, dass die hier aufgezeigten Wahrheiten nicht unbeachtet bleiben. Nun liegt diese Arbeit in Gottes Hand. Möge er sie nach seinem Wohlgefallen segnen zum geistlichen Wachstum und geistlichen Sieg für mich und viele von meinen Brüdern und Schwestern. Möge Gottes Wille geschehen. Möge sein Feind besiegt werden. Möge unser Herr bald wiederkommen, um die Herrschaft anzutreten. Amen. Shanghai, 4. Juni 1927 Watchman Nee
1. Geist, Seele und Leib Nach allgemein üblicher Auffassung besteht der Mensch aus der Dualität Seele und Leib. Demzufolge ist die Seele der unsichtbare, innere, geistliche Teil, während der Leib aus dem äußeren, körperlichen Teil besteht. Obschon diese Anschauung eine gewisse Wahrheit enthält, ist sie dennoch ungenau. Das ist die Ansicht des gefallenen Menschen, nicht diejenige Gottes; ohne eine Offenbarung von Gott gibt es hier kein zuverlässiges Konzept. Dass der Leib die äußere Hülle des Menschen ist, bezweifelt niemand, aber die Bibel spricht von Geist und Seele nie so, als ob es das gleiche wäre. Sie sind nicht nur dem Wort, sondern auch ihrem Wesen nach verschieden. Das Wort Gottes teilt den Menschen nicht in die zwei Teile Seele und Leib. Es behandelt ihn vielmehr als dreiteilig: Geist, Seele und Leib. 1. Thess. 5, 23 lautet: Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahrt werden unversehrt, unsträflich auf die Ankunft unsers Herrn Jesus Christus. Dieser Vers zeigt deutlich, dass der ganze Mensch aus drei Teilen besteht. Der Apostel Paulus weist hier auf die völlige Heiligung der Gläubigen hin: »heilige euch völlig«. Wie wird nach den Worten des Apostels ein Mensch völlig geheiligt?
Dadurch, dass Geist, Seele und Leib bewahrt werden. Von daher wird uns leicht verständlich, dass der Mensch diese drei Teile in sich schließt. Dieser Vers macht einen Unterschied zwischen Geist und Seele, sonst hätte Paulus einfach »eure Seele« gesagt. Da nun Gott zwischen dem menschlichen Geist und der Seele einen Unterschied macht, kommen wir zu dem Schluss, dass sich der Mensch nicht aus zwei, sondern aus drei Teilen zusammensetzt: aus Geist, Seele und Leib. Hat es irgendeine Bedeutung, Geist und Seele zu trennen? Dies ist ein Punkt von größter Wichtigkeit, weil es eine große Wirkung auf das geistliche Leben des Gläubigen hat. Wie soll ein Gläubiger verstehen, was geistliches Leben ist, wenn er den Umfang des geistlichen Bereiches nicht kennt? Wie kann er ohne dieses Verständnis geistlich wachsen?
Zwischen Geist und Seele nicht unterscheiden zu können, ist verhängnisvoll für den geistlichen Reifeprozeß. Christen halten seelische Dinge oftmals für geistlich und bleiben damit in einem »seelischen« Zustand und suchen nicht nach dem, was wirklich geistlich ist. Wir werden Schaden nehmen, wenn wir miteinander vermengen, was Gott getrennt hat. Geistliches Wissen ist sehr wichtig für das geistliche Leben. Es ist jedoch für den Gläubigen ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, dass er demütig und willig ist, die Belehrung des Heiligen Geistes anzunehmen. Wenn dies der Fall ist, so wird ihn der Heilige Geist die Trennung von Geist und Seele erfahren lassen, auch wenn er keine großen Erkenntnisse über diese Wahrheit hat. So kann einerseits der unkundigste Gläubige ohne die geringste Ahnung über die Trennung von Geist und Seele, dies dennoch im wirklichen Leben erfahren. Andererseits kann diese Erfahrung selbst dem bestinformierten Gläubigen, der mit der Wahrheit über Geist und Seele völlig vertraut ist, abgehen. Weit besser ist es, beides zu haben: die Erkenntnis und die Erfahrung.
Der großen Mehrheit fehlt jedoch die Erfahrung. Es ist daher gut, sie bereits am Anfang über die verschiedenen Funktionen von Geist und Seele zu unterrichten, damit sie ermutigt werden, das zu suchen, was geistlich ist. Es gibt aber noch andere Schriftstellen, die gleichfalls zwischen Geist und Seele unterscheiden. »Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, der Gelenke und des Markes und ist ein Richter der Herzenssinne und Gedanken« (Hebr. 4,12). In diesem Vers teilt der Schreiber die nicht leiblichen Teile des Menschen in »Seele und Geist« auf. Der leibliche Teil wird hier als der Gelenke und Mark — Organe der Bewegung und der Sinneswahrnehmung — einschließende erwähnt. Wenn der Priester das Messer braucht, um das Opfer zu zerlegen, kann nichts in ihm verborgen bleiben. Selbst Gelenke und Mark werden getrennt. Gleicherweise braucht der Herr Jesus das Wort Gottes für seine Nachfolger, um bis zur Scheidung des Geistlichen, Seelischen und Körperlichen durchzudringen. Daraus folgt, dass Seele und Geist in ihrem Wesen verschieden sein müssen. Daraus wiederum wird ersichtlich, dass sich der Mensch aus drei Teilen zusammensetzt.
1.1 Die Erschaffung des Menschen »Und Jehova Gott formte den Menschen aus dem Staub der Erde und blies ihm den Lebensodem in die Nase; und so wurde der Mensch eine lebendige Seele« (1. Mose 2,7). Als Gott den Menschen schuf, formte er ihn aus dem Staub der Erde und blies ihm den »Lebensodem« in seine Nase. Sobald der Lebensodem, der zum Geist des Menschen wurde, mit dem Leib des Menschen in Kontakt kam, wurde auch die Seele geschaffen. Somit ist die Seele die Kombination von menschlichem Leib und Geist. Daher nennt die Schrift den Menschen »eine lebendige Seele«. Der Lebensodem wurde zum Geist des Menschen, d. h. zum Lebensprinzip in ihm. Der Herr Jesus sagt uns: »Der Geist ist's, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben.
« Dieser Lebensodem stammt vom Herrn der Schöpfung. Wir dürfen jedoch des Menschen Geist nicht mit Gottes Heiligem Geist verwechseln. Der letztere unterscheidet sich von unserem menschlichen Geist. Römer 8,16 stellt diesen Unterschied dadurch heraus, dass es hier heißt: »Der Geist selbst gibt Zeugnis unsrem Geist, dass wir Gottes Kinder sind.« Das ursprüngliche Wort für »Leben« in »Odem des Lebens« ist chay und steht in der Mehrzahl. Das führt uns auf die Tatsache zurück, dass das Einhauchen durch Gott ein zweifaches Leben hervorbrachte, ein seelisches und ein geistliches. Als der Hauch Gottes in den Leib des Menschen kam, wurde er zum Geist des Menschen, als aber der Geist durch den Leib reagierte, war die Seele entstanden. Das erklärt den Ursprung unseres geistlichen und seelischen Lebens. Wir müssen jedoch erkennen, dass dieser Geist nicht Gottes eigenes Leben ist, denn »der Atem des Allmächtigen gibt mir das Leben« (Hiob 33,4).
Es ist nicht das ungeschaffene Leben Gottes im Menschen, noch ist es das Leben, das wir bei der Wiedergeburt empfangen. Was wir bei der Wiedergeburt empfangen, ist Gottes eigenes Leben, wie es durch den Baum des Lebens versinnbildlicht ist. Unser menschlicher Geist aber besitzt, obschon er bleibend ist, kein »ewiges Leben«. »Formte den Menschen aus dem Staub der Erde« bezieht sich auf den Körper des Menschen. »Blies ihm den Lebensodem in die Nase« bezieht sich auf den Geist des Menschen, wie er von Gott kam. »Und der Mensch wurde eine lebendige Seele« bezieht sich auf des Menschen Seele, nachdem der Leib durch den Geist belebt wurde und zu einem lebendigen und bewussten Menschen wurde.
Ein vollständiger Mensch ist eine Dreieinigkeit — die Zusammensetzung von Geist, Seele und Leib. Nach 1. Mose 2,7 wurde der Mensch aus zwei unabhängigen Bestandteilen geschaffen, dem leiblichen und dem geistlichen; als aber Gott den Geist in die irdische Hülle gab, entstand die Seele. Der mit dem toten Leib in Berührung gekommene menschliche Geist brachte die Seele hervor. Der Leib ohne den Geist war tot, mit dem Geist bekam der Mensch Leben. Das auf diese Weise belebte Organ wurde Seele genannt. »Der Mensch wurde eine lebendige Seele« gibt nicht nur der Tatsache Ausdruck, dass die Verbindung von Geist und Leib die Seele hervorbrachte, es lässt auch annehmen, dass Geist und Leib vollständig in dieser Seele aufgingen. Mit anderen Worten, Seele und Leib wurden mit dem Geist vereinigt, und Geist und Leib wurden mit der Seele verschmolzen. Adam, in seinem sündlosen Zustand, wusste nichts von diesen endlosen Kämpfen zwischen Geist und Fleisch, wie wir sie täglich erfahren.
Da war eine vollkommene »Verschmelzung« dieser drei Naturen in eine einzige, und die Seele als das einigende Element wurde Ursache seiner Individualität, seiner Existenz als besonderes Wesen. Der Mensch war dazu ersehen, eine lebendige Seele zu sein, denn in ihr begegneten sich Geist und Leib, und durch sie wurde seine Eigenpersönlichkeit offenbar. Vielleicht wollen wir ein unvollkommenes Beispiel zu Hilfe ziehen: Wenn wir einige Tropfen Farbe in einen Becher Wasser fallen lassen, werden sich Farbe und Wasser vermischen zu einer dritten Substanz, zu Tinte. So verbinden sich die zwei unabhängigen Teile Geist und Leib, um eine lebendige Seele zu werden. (Der Vergleich hinkt in dem Sinne, als die durch die Verbindung von Geist und Leib gewordene Seele ein ebenso unabhängiges, unauflösliches Element wird, wie der Geist und der Leib.) Gott behandelte des Menschen Seele als etwas Einmaliges.
So wie die Engel als Geistwesen geschaffen wurden, so wurde der Mensch vor allem als eine lebendige Seele geschaffen. Der Mensch hatte nicht nur einen Leib mit Lebensodem, er wurde auch eine lebendige Seele. So spricht Gott später in der Schrift wiederholt vom Menschen als von der »Seele«. Warum das? Weil das, was der Mensch ist, davon abhängt, wie seine Seele ist. Seine Seele gibt sein Bild wieder und bringt seine Einzelpersönlichkeit zum Ausdruck. Sie ist das Organ seines freien Willens, das Organ, in dem Geist und Leib völlig verschmelzen. Wenn des Menschen Seele geneigt ist, Gott zu gehorchen, dann wird sie dem Geist erlauben, über den Menschen zu herrschen, wie Gottes Ordnung es vorsah. Die Seele kann aber, wenn sie dies will, auch den Geist unterdrücken und einen anderen Herrn über den Menschen herrschen lassen. Diese Triplizität von Geist, Seele und Leib mag mit einer Glühlampe verglichen werden. Innerhalb der Lampe, die den ganzen Menschen darstellen kann, gibt es elektrischen Strom, Licht und Draht. Der Geist gleicht dem Strom, die Seele dem Licht und der Leib dem Draht.
Der Strom ist die Ursache des Lichtes, während das Licht die Wirkung des Stromes ist. Der Draht ist die materielle Substanz, die sowohl den Strom leitet, als auch das Licht zum Vorschein bringt. Durch die Verbindung von Geist und Leib entstand die Seele, was nur beim Menschen der Fall ist. So wie der Strom durch den Draht geleitet sich in Licht verwandelt, so wirkt der Geist auf die Seele, die sich ihrerseits durch den Leib mitteilt. Wir müssen jedoch bedenken, dass zwar die Seele der Angelpunkt der Elemente unseres Wesens im gegenwärtigen Dasein ist, der Geist aber die herrschende Kraft in unserem Auferstehungsleben sein wird. So sagt uns die Bibel: »Es wird gesät ein fleischlicher Leib, es wird auferstehen ein geistlicher Leib« (1. Kor. 15,44). Eines ist hier jedoch von großer Wichtigkeit: Bei uns, die wir mit dem auferstandenen Herrn vereint wurden, kann schon jetzt unser Geist über unser ganzes Wesen herrschen. Wir sind nicht mit dem »ersten Adam« vereint, der als eine lebendige Seele geschaffen wurde, sondern mit dem »letzten Adam«, der ein Leben schenkender Geist ist (1. Kor. 15,45). 1.2
Die Funktionen von Geist, Seele und Leib Durch seinen Leib kommt der Mensch mit der materiellen Welt in Berührung. Wir können daher den Leib als den Teil bezeichnen, der uns das Weltbewußtsein gibt. Die Seele schließt den Verstand in sich, der uns im gegenwärtigen Dasein eine Hilfe ist, und die Gefühle, die von den Sinnen ausgehen. Da die Seele zum menschlichen Ich gehört und seine Persönlichkeit offenbart, wird sie als der Teil bezeichnet, der das Selbstbewusstsein vermittelt. Der Geist ist der Teil, durch den wir mit Gott in Verbindung kommen und durch den allein wir ihn zu fassen und anzubeten vermögen. Weil er uns über unsere Beziehung zu Gott Aufschluss gibt, wird der Geist das Element des Gottesbewußtseins genannt. Gott wohnt im Geist, das Ich wohnt in der Seele, während die Sinne im Leib wohnen. Durch seinen Geist hat der Mensch Umgang mit der geistlichen Welt und mit dem Geist Gottes, um beides, die Kraft und das Leben aus der geistlichen Welt zu empfangen und zum Ausdruck zu bringen. Durch seinen Leib ist der Mensch in Kontakt mit der äußeren, den Sinnen zugänglichen Welt, auf die er sowohl einwirkt, als auch von ihr beeinflusst wird.
Die Seele steht zwischen diesen zwei Welten, gehört aber dennoch beiden an. Durch den Geist ist sie mit der geistlichen Welt verbunden und durch den Leib mit der materiellen Welt. Sie besitzt auch die Macht des freien Willens und kann daher ihre »Umgebung« wählen. Der Geist kann nicht direkt auf den Leib wirken. Er braucht dazu ein Medium, und dieses Vermittlungselement, die Seele, entstand dadurch, dass der Geist mit dem Leib in Berührung kam. Die Seele steht also zwischen dem Geist und dem Leib und verbindet diese miteinander. Der Geist kann sich durch die Seele den Leib unterwerfen, so dass er Gott gehorcht; gleicher weise kann aber auch der Leib durch die Seele den Geist negativ beeinflussen. Der Geist ist das edelste unter diesen drei Elementen, schafft er doch die Verbindung zu Gott. Der Leib ist das niedrigste, da er uns mit der Materie verbindet. Die dazwischen liegende Seele verbindet beide miteinander und trägt auch beider Wesenszüge. Die Seele ermöglicht es Geist und Leib, sich einander mitzuteilen und gemeinsam zu wirken. Es ist die Aufgabe der Seele, dafür zu sorgen, dass Geist und Körper ihre richtige Beziehung nicht verlieren, dass nämlich der Leib dem Geist untergeordnet bleibt und der Geist durch die Seele den Leib regiert.
Die Seele des Menschen ist deshalb von größter Bedeutung. Sie nimmt vom Geist, was dieser vom Heiligen Geist empfangen hat, damit die Seele, nachdem sie vervollkommnet wurde, dem Leib das vermittelt, was sie erhalten hat, so dass auch der Leib an der Vollkommenheit des Heiligen Geistes Anteil haben und zu einem geistlichen Leib werden kann. So ist also der Geist der edelste Teil des Menschen und hat seinen Sitz im innersten Bereich seines Wesens. Der Leib ist der niedrigste und hat den äußersten Platz inne. Zwischen beiden wohnt die Seele, die ihnen als Bindeglied dient. Der Leib ist die äußere
Schale der Seele, während die Seele die äußere Hülle des Geistes ist. Der Geist übermittelt seine Gedanken der Seele, und die Seele übt den Leib, den Anordnungen des Geistes zu folgen. Das ist die Aufgabe der Seele als Vermittlerin. Vor dem Sündenfall beherrschte der Geist durch die Seele das ganze Sein des Menschen. Die Kraft der Seele ist sehr groß, weil in ihr Geist und Leib verschmelzen und sie zum Sitz der Persönlichkeit und Wirksamkeit des Menschen machen. Bevor der Mensch eine Sünde beging, war die Macht der Seele vollkommen unter der Herrschaft des Geistes. Ihre Kraft war daher des Geistes Kraft. Der Geist kann nicht selbst auf den Leib einwirken, er kann dies einzig durch die Vermittlung der Seele. Das wird in Lukas 1,46-47 verdeutlicht: »Und Maria sprach: >Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.<« Hier zeigt der Wechsel in der Zeitform, dass der Geist zuerst in Gott Freude empfing und dann diese Freude durch die Seele auch rein äußerlich zum Ausdruck gebracht wurde. Halten wir nochmals fest, dass die Seele der Sitz der Persönlichkeit ist. Hier ist der Sitz von Wille, Verstand und Gefühl des Menschen. Während der Geist dazu dient, sich mit der geistlichen Welt in Verbindung zu setzen, und der Leib seinerseits mit der natürlichen Welt, so steht die Seele zwischen beiden und entscheidet, ob die geistliche oder die natürliche Welt regieren soll.
Manchmal übernimmt auch die Seele selbst durch den Verstand die Herrschaft über den Menschen. Damit der Geist regieren kann, muss die Seele ihre Zustimmung geben, andernfalls ist der Geist nicht in der Lage, Seele und Leib zu regulieren. Die Entscheidung liegt aber bei der Seele, denn in ihr wohnt die Persönlichkeit des Menschen. So ist die Seele eigentlich der Drehpunkt seines ganzen Wesens, weil sie die Entschlusskraft in sich birgt. Nur wenn die Seele bereit ist, eine demütige Stellung einzunehmen, ist es dem Geist möglich, den ganzen Menschen zu führen. Wenn sich die Seele dagegen auflehnt, hat der Geist keine Macht. Das erklärt die Bedeutung des freien Willens des Menschen. Der Mensch ist kein Automat, der sich zwangsläufig nach Gottes Willen richtet. Er hat vielmehr die volle, unumschränkte Möglichkeit, selbst zu entscheiden. Er besitzt das Organ der eigenen Willenskraft und kann wählen, ob er Gott folgen oder ihm widerstehen und damit dem Satan folgen will. Gott will, dass der Geist, als der edelste Teil des Menschen, über den ganzen Menschen herrscht. Doch der Wille — der entscheidende Teil der Eigenpersönlichkeit — gehört zur Seele. Er ist es, der bestimmt, ob der Geist oder der Leib oder auch die Seele regiert. Im Blick auf die Tatsache, dass die Seele solche Macht besitzt und das Organ der Individualität ist, nennt die Bibel den Menschen »eine lebendige Seele«.
1.3 Der heilige Tempel und der Mensch »Wisst ihr nicht«, schreibt der Apostel Paulus, »dass ihr Gottes Tempel seid und dass Gottes Geist in euch wohnt?« (1. Kor. 3,16). Er hatte eine Offenbarung empfangen, nach der der Mensch mit einem Tempel verglichen wird. So wie Gott vormals im Tempel wohnte, so wohnt der Heilige Geist heute im Menschen. Daraus, dass er mit dem Tempel verglichen wird, können wir auch die Bedeutung der Dreiteilung des Menschen ersehen. Wir wissen, dass der Tempel in drei Teile unterteilt ist. Der erste ist der Äußere Vorhof, den alle sehen und besuchen können. Der allgemeine Gottesdienst wird hier verrichtet. Wenn wir weiter hineingehen, kommen wir in das Heiligtum, in das nur die Priester gehen dürfen, um Gott Öl, Weihrauch und Brot darzubringen. Sie sind schon recht nahe bei Gott, aber noch nicht am nächsten, denn sie sind immer noch außerhalb des Vorhanges und daher noch nicht in der eigentlichen Gegenwart Gottes. Gott wohnt im tiefsten Innern, im Allerheiligsten, wo die Dunkelheit von einem Licht überstrahlt ist, zu dem kein Mensch Zutritt hat.
Obschon der Hohepriester einmal jährlich hineingeht, zeigt dies doch, dass kein Mensch im Allerheiligsten sein kann, bis der Vorhang zerrissen ist.Auch der Mensch ist ein Tempel Gottes und besteht aus drei Teilen. Der Leib ist der Äußere Vorhof und nimmt eine äußere Stellung ein mit einem jedermann sichtbaren Leben. Hier sollte der Mensch den Geboten Gottes gehorchen. Hier dient der Sohn Gottes als Stellvertreter und stirbt für die Menschheit. Inwendig ist die Seele des Menschen, die das innere Leben des Menschen ausmacht und die des Menschen Empfinden, Entschlusskraft und Verstand einschließt. So sieht das Heiligtum eines wiedergeborenen Menschen aus, denn seine Liebe, sein Wille und seine Gedanken sind völlig erleuchtet, damit sie Gott dienen, wie dies die Priester des Alten Bundes taten. Im Innersten, hinter dem Vorhang, befindet sich das Allerheiligste, in das kein menschliches Licht je durchgedrungen und kein Auge je eingedrungen ist. Es ist »der geheime Ort des
Höchsten«, der Wohnsitz Gottes. Er ist unerreichbar für den Menschen, es sei denn, Gott zerreißt den Vorhang. Dies ist des Menschen Geist. Dieser Geist liegt jenseits des menschlichen Eigenbewußtseins und über seinem Empfindungsvermögen. Hier kommt der Mensch mit Gott in Verbindung und vereinigt sich mit ihm.
Für dieses Allerheiligste gibt es kein Licht, weil Gott dort wohnt. Im Heiligtum gibt es Licht, befindet sich dort doch der siebenarmige Leuchter. Der Äußere Vorhof steht in vollem Tageslicht. All dies dient als Bild und Vorschattung des wiedergeborenen Menschen. Sein Geist ist gleichsam das Allerheiligste, in dem Gott wohnt, wo der Glauben regiert und nicht die Sinne, das Empfinden oder Verstehen des Gläubigen. Die Seele gleicht dem Heiligtum, denn sie ist genügend »ausgeleuchtet« durch vernünftige Gedanken und Konzepte, viel Wissen und Verständnis der Dinge der ideellen und materiellen Welt. Der Leib ist dem Äußeren Vorhof vergleichbar und für alle klar erkennbar. Die Handlungen des Leibes können von jedermann beobachtet werden. Die Ordnung, die Gott uns darbietet, ist unmissverständlich: »euer Geist, Seele und Leib« (1. Thess. 5,23).
Es heißt nicht »Seele und Geist und Leib,« auch nicht »Leib und Seele und Geist«. Der Geist ist der vornehmste Teil und wird daher zuerst genannt. Nachdem wir nun Gottes Ordnung gesehen haben, vermögen wir auch die Weisheit der Bibel zu würdigen, die den Menschen mit einem Tempel vergleicht. Wir erkennen die vollkommene Harmonie, die zwischen dem Tempel und dem Menschen besteht, sowohl hinsichtlich der Ordnung als auch des Wertes. Aller Tempeldienst geschieht aufgrund der Offenbarung im Allerheiligsten. Die Verrichtungen im Heiligtum und im Vorhof sind durch die Gegenwart Gottes im Allerheiligsten geregelt. Dies ist die Stelle, an der die vier Ecken des Tempels zusammenlaufen und ruhen. Es mag uns scheinen, dass im Allerheiligsten nichts getan würde, weil es dort stockdunkel ist. Alle Verrichtungen geschehen im Heiligtum; selbst jene im Äußeren Vorhof werden von den Priestern des Heiligtums überwacht. Alle Tätigkeit im Heiligtum wird aber in Wirklichkeit durch die Offenbarung in der äußersten Ruhe und dem Frieden des Allerheiligsten bestimmt. Es ist nicht schwierig, hier die geistliche Parallele zu erkennen. Die Seele, das Organ unserer Persönlichkeit, setzt sich aus Verstand,
Willenskraft und Gefühl zusammen. Es scheint, als sei die Seele Herr aller Handlungen, weil der Leib ihren Anweisungen gehorcht.Vor dem Fall des Menschen aber war die Seele trotz ihrer Bedeutsamkeit vom Geist geleitet. Das ist die Ordnung, an der Gott noch immer festhält: zuerst der Geist, dann die Seele und zuletzt der Leib.
2. Geist und Seele 2.1 Geist Es ist für einen Gläubigen von größter Wichtigkeit zu wissen, dass er einen Geist hat, weil hier die Kommunikation Gottes mit ihm stattfindet. Wenn der Gläubige seinen eigenen Geist nicht erkennt, weiß er auch nicht, wie er im Geist mit Gott Verbindung haben kann. So geschieht es leicht, dass er die Gedanken oder Gefühle der Seele als das Werk des Geistes missversteht. Auf diese Weise verbannt er sich selbst in den äußeren Bereich und bleibt unfähig, den geistlichen Bereich zu erleben. 1. Kor. 2,11 spricht vom »Geist des Menschen, der in ihm ist«. 1. Kor. 5, 4 erwähnt »mein Geist«. Röm. 8, 16 sagt »unser Geist«. 1. Kor. 14, 14 gebraucht »mein Geist«. 1. Kor. 14, 32 sagt uns vom »Geist der Propheten«. Sprüche 25, 28 bezieht sich auf »sein eigener Geist«. Hebr. 12, 23 erwähnt »der Geist gerechter Menschen«. Sach. 12, 1 stellt fest, dass »der Herr... den Geist des Menschen in ihm formte«. Diese Schriftstellen zeigen zur Genüge, dass wir menschliche Wesen einen menschlichen Geist besitzen. Dieser Geist ist nicht dasselbe wie unsere Seele, noch ist er mit dem Heiligen Geist zu verwechseln. In diesem Geist beten wir Gott an. Nach dem, was die Bibel und auch die Erfahrung von Gläubigen uns lehrt, kann gesagt werden, dass der menschliche Geist aus drei Teilen besteht oder, um es anders auszudrücken, drei Hauptfunktionen hat. Es sind dies: das Gewissen, die Intuition und die Kommunion. Das Gewissen ist das unterscheidende Organ, das Recht und Unrecht erkennt, jedoch nicht durch die Beeinflussung des im Gehirn gespeicherten Wissens, sondern durch ein unvermitteltes, direktes Urteil. Sehr oft will unser Verstand das rechtfertigen, was unser Gewissen entschieden hat
ISBN: 9783856661014
Format: 20,5 x 13,5 cm
Seiten: 190
Gewicht: 235 g
Verlag: Schwengeler
Erschienen: 1975
Einband: Paperback
22. Lektion — Wenn jemand sündigt
»Und der HERR redete zu Mose und Aaron und sprach: Dies ist eine Gesetzesbestimmung, die der HERR geboten hat, indem er sprach: Sage den Kindern Israel, dass sie zu dir bringen eine tadellose Kuh, an der kein Mangel und auf die noch kein Joch gekommen ist, und gebt sie dem Priester Eleasar, der soll sie vor das Lager hinausführen und
daselbst vor seinen Augen schlächten lassen. Danach soll Eleasar, der Priester, mit seinem Finger von dem Blute nehmen und von ihrem Blut siebenmal gegen die Stiftshütte sprengen, und die Kuh soll er vor seinen Augen verbrennen lassen; ihre Haut und ihr Fleisch, dazu ihr Blut samt ihrem Mist soll er verbrennen lassen.
Und der Priester soll Zedernholz und Ysop und Karmesin nehmen und es auf die brennende Kuh werfen. Und der Priester soll seine Kleider waschen und seinen Leib im Wasser baden und danach ins Lager gehen; und der Priester soll unrein sein bis an den Abend. Gleicherweise soll der, welcher sie verbrannt hat, seine Kleider mit Wasser waschen und seinen Leib mit Wasser baden und unrein sein bis an den Abend. Und ein reiner Mann soll die Asche von der Kuh sammeln und außerhalb des Lagers an einen reinen Ort schütten, damit sie daselbst für die Gemeinde der Kinder Israel aufbewahrt werde für das Reinigungswasser; denn es ist ein Sündopfer.
Und der, welcher die Asche von der Kuh gesammelt hat, soll seine Kleider waschen und unrein sein bis an den Abend. Es soll aber dies eine ewig gültige Satzung sein für die Kinder Israel und für die Fremdlinge, die unter ihnen wohnen: – Ein solcher soll sich mit demselben (Wasser) am dritten und am siebenten Tag entsündigen, so wird er rein.
Wenn er sich aber am dritten und am siebenten Tag nicht entsündigt, so wird er nicht rein. Wenn aber jemand den Leichnam eines Menschen anrührt und sich nicht entsündigen wollte, der verunreinigt die Wohnung des HERRN, eine solche Seele soll aus Israel ausgerottet werden, weil das Reinigungswasser nicht über sie gesprengt
worden ist; und sie bleibt unrein, ihre Unreinigkeit ist noch an ihr. – Sie sollen nun für den Unreinen von der Asche dieses verbrannten Sündopfers nehmen und lebendiges Wasser darüber tun in ein Geschirr. Und ein reiner Mann soll Ysop nehmen und ins Wasser tunken und das Zelt besprengen und alle Geschirre und alle Seelen, die darin
sind; also auch den, der ein Grab angerührt hat.
Und der Reine soll den Unreinen besprengen am dritten und am siebenten Tage; so wird er ihn am siebenten Tage entsündigen; und er soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser baden, so wird er am Abend rein sein.« (4. Mose 19,1-10.12-13.17-19).
»Wenn wir aber im Lichte wandeln, wie er im Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft miteinander, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns; wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er
uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns. Meine Kindlein, solches schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt! Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, dem Gerechten; und er ist das Sündopfer für unsere Sünden, aber nicht für die unsren, sondern auch für die der ganzen Welt.« (1. Joh. 1,7 – 2,2).
22.1 Die Erlösung durch das Kreuz und das Werk des Heiligen Geistes Wie kann ein Erlöster, der sündigt, mit Gott wieder in Ordnung kommen? Dies ist ein Problem, das dringend der Lösung bedarf. Wenn er nicht weiß, wie er mit Gott wieder zurechtkommen kann, wird er den Weg zu Gott zurück nicht finden.
22.1.1 Das Werk des Herrn und das Werk des Heiligen Geistes und worin sich diese unterscheiden Durch seinen Tod am Kreuz hat uns der Herr Jesus von all unseren Sünden reingewaschen und erlöst. Als wir zu Jesus kamen, hat uns der Heilige Geist Licht geschenkt und uns unsere Sünden aufgedeckt. Was uns der Heilige Geist zeigte, umfasste aber nicht alles, was der Herr am Kreuz vollbrachte. Es lohnt sich, diesen Unterschied zu beachten. So wie das Sündopfer in 3. Mose 16 jede
Sünde in sich schloss, so trug auch der Herr Jesus am Kreuz alle unsere Sünden. Seine Erlösung umfasste jede Sünde, die wir möglicherweise während unserer Lebenszeit begehen. Als er am Kreuz starb, hat er in der Tat die Sünden unseres ganzen Lebens auf sich genommen.
Dennoch, wenn wir vom Heiligen Geist erweckt, zum Glauben an den Herrn kommen, kann er uns nur zur Buße über vergangene Sünden bewegen und nicht über alle Sünden unseres ganzen Lebens. Wenn uns der Heilige Geist überführt, dann stützt er sich dabei auf die Sünden, die wir bereits begangen haben, nicht auf jene, die wir noch nicht begangen haben! An dem Tag, da wir errettet werden, sind wir daher vom Licht des Heiligen Geistes bei weitem nicht so vieler Sünden überführt, wie der Herr für uns am Kreuz getragen hat.
Was der Herr am Kreuz tat, ist allumfassend; was mir hingegen der Heilige Geist aufdeckt und wofür ich Vergebung empfange, betrifft nur die Sünden, die ich bis zu dem Tage begangen habe, da ich zum ersten Mal mein Vertrauen auf den Herrn setze. Der Heilige Geist sucht mich niemals Sünden zu überführen, die ich nicht begangen habe. Solche kann ich weder kennen, noch mich ihrer schuldig fühlen. Es besteht daher ein Unterschied zwischen dem Herrn Jesus, der unsere Sünden trägt und dem Heiligen Geist, der uns unsere Sünden aufdeckt. Das ist es, was uns der Apostel Johannes verständlich zu machen sucht.
22.1.2 Die Grundlage, um die Gnade des Herrn zu kennen
Alle Sünden der Vergangenheit, all jene, die wir vor dem Tage unserer Errettung begingen, ungeachtet wie alt wir derzeit waren, sind uns sicherlich vergeben. Wir müssen aber wissen, dass die Sünden, die uns zu jenem Zeitpunkt vergeben wurden, weniger sind als die Sünden, die der Herr tatsächlich für uns getragen hat. Wir kennen die Gnade des Herrn nur gemäß der Sünde in unserem persönlichen Leben. Der Herr hat aber all unsere Sünden getragen und dies gemäß seiner genauen Kenntnis, die er über uns besitzt — d. h. alle Sünden, die wir je begehen werden.
22.2 Sündigen nach der Errettung
Wenn jemand errettet ist und hernach wieder, sündigt, kann ihm das unsäglich' e Nöt bereiten. Seit 1921, als ich anfing Gottes Volk zu dinen, bin ich von vielen über dieses Problem des Sundigens nach der. Errettung befragt worden Sie sagen »Ich weiß,".daß mir der Herr alle meine Sunden vergeben hat und daß ich bereits errettet bin und volle Vergebung habe Aber seit ich errettet bin, habe ich wiederum viele Sunden begangen, und das beunruhigt mich tief. Was
kann:ich da tun?«
1. Was der Herr am Kreuz trug
Ich hoffe, ihr habt alle begriffen, daß all die Sünden, die ihr begehen mögt nachdem ihr errettet seid, in der Erlösung .des Herrn Jesus
Berufung von Gott ist immer an einen bestimmten Menschen gerichtet. In gewissem Grad wenigstens können wir das bei allen von ihm Berufenen feststellen. Die 'Beauftragung betrifft immer eine Einzelperson, nicht die Allgemeinheit. die Gesamtheit der Menschen. Es gefiel Gott wohl", sagt Paulus, „daß er seinen Sohn in mir offenbarte."
Auch der Gegenstand der Berufung ist immer etwas Bestimmtes, nie vage oder zufällig. Gott will mich nicht bloß in seinen Dienst stellen, sondern ich soll etwas Bestimmtes tun, damit er sein Ziel erreicht. Zwar besteht für. seine Gemeinde ein Auftrag allgemeiner Art, nämlich _alle Völker zu Jüngern zu machen"; aber im übrigen ist Gottes Auftrag ein persönlicher Auftrag. Er beruft uns, damit wir ihm auf det Gebiet dienen, das er jeweils für uns ausgesucht hat; wir sollen etwa seinem Volk ein besönderes Teilstück der Fülle Christi darlegen oder eine sonstige bestimmte Aufgabe ausführen, die mit seinem Plan in Beziehung Steht.
In diesem Sinn ist ein Dienst von Gott, wenigstens bis zn einem gewissen Grad, immer ein spezieller Dienst: Wie Gott seine 'Diener nicht alle zu der gleichen Aufgabe beruft, .so wendet er bei der Zurüstung der einzelnen auch nicht die gleichen Mittel an. Da er Herr über alle Vorgänge ist, kann er frei bestimmen, wie und wodurch er die einzelnen vorbereiten und heranbilden will und ob sie außerdem durch Leiden geprüft werden sollen.. Der Berufene soll nicht Diener schlechthin sein, sondern einen speziellen Dienst am Volk Göttes tun, einen Dienst, den Gott selber festlegt, je nach den Bedürfnissen der Seinen im jeweiligen Augenblick. Dabei muß der Diener sein Amt zu seiner eigensten Angelegenheit machen und mit ihm verschmelzen. Der Auftrag ist ein persönlicher, weil er direkt von Gott kommt; und er darf nicht abgelehnt wer-
den, weil er zum PlanS Gottes gehört und *eil alles, was Gott plant Wirklichkeit wird
Jedem durch den Geist Gottes geleiteten Leser .des Neuen Testamentes wird dies schon mehr öder weniger aufgefallen sein. Ich glaube, es lassen sich dort drei Arten des Dienstes unterscheiden, die ihren Schwerpunkt an einer jeweils anderen Stelle haben. In Erscheinung treten sie in dem verschiedenartigen Wirken drei führender Apostel: Petrus, Paulus und Johannes. Obwohl diese drei zweifellos vieles gemeinsam haben, zeigt sich an manchen Stellen des biblischen Berichts, daß der Hauptakzent ihres Wirkens auf deutlich verschiedenen Gebieten lag. Man kann deshalb schließen, jedem von ihnen, sei von Gott ein 'ganz besonderer Aufgabenbereich übertragen worden. Im 'Neuen Testament, möchte ich behaupten, kann man drei durchgehende Denkrichtungen verfolgen, die in unterschiedlichem Maß zwar bei sämtlichen Aposteln zum Ausdruck kommen, ‚aber in besonderer Weise hervortreten und anschaulich werden in den einzigartigen Beiträgen jener drei.
Die Unterschiedlichkeit ihres Wirkens beruht teilweise auf dem zeitlichen Nacheinander; denn jeder der drei fügt seinen eigenen Beitrag als etwas Neues an das Vorhergehende an. Die Verschiedenheit ist nämlich nicht derart,, daß sie die drei Apostel etwa trennte oder in Widerspruch zueinander brächte. Was der eine an Besonderem hat, steht zu dem Besonderen der anderen nicht im Gegensatz,'. sondern ergänzt es. Vielleicht liegt der Unterschied lediglich darin, daß nur jeweils ein Teilbereich über 'ihr. Wirken zu unserer Belehrung aufgezeichnet worden ist.:
Dennoch, ‚glaube ich, lassen sich 'die 'drei. Linien, die durch Petrus, Paulus. und, Johannes besonders' vertreten sind, durch die, ganze Schrift verfolgen, und zwar 'als die drei hauptsächlichen Wege, die Gott seinen Dienen für alle Zeiten gewiesen hat. Im Neuen 'Testament finden wir viele und ganz verschiedenartige Dienste denken wir etwa an Philippus und' Barnabas, an.. Silas und Apollos, an Timo-theus und Jakobus.' Und die spätere Geschichte berichtet