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Linda Nichols, Wie der Duft von Wasser, Linda Nichols

01/28/2025
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Die Geburtstagsgäste trafen sich mittlerweile schon seit fünf Jahren im Restaurant The Inn in Smoky Hollow. Normalerweise hätten sie woanders gefeiert – in früheren Jahren fand die Feier der Junigeburtstage in jedem Jahr woanders statt. Aber Ginnys Geburtstag war der einzige Junigeburtstag, der noch geblieben war, seit Evelyn gestorben war. Und sie beschloss seit fünf Jahren, hier zu feiern, obwohl sie sich nicht besonders viel aus gebackener Forelle machte und das Essen hier ein wenig teuer war. Das Restaurant war eleganter, als sie es gewohnt war, aber trotzdem entschied sie sich dafür.

Und das alles nur wegen des Mannes am Ecktisch. Der Mann war noch nicht gekommen. Sie sah, wie die Kellnerin das Besteck aufdeckte und die Servietten faltete, wie sie die Wassergläser genau auf ihren Platz stellte und die Flasche im Eiskübel drapierte. Jedes Jahr das gleiche Bild. Ginny warf einen Blick zur Tür.

Er kam immer noch nicht. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Cora, die darauf wartete, dass Ginny sich begeistert über das Abonnement der Fernsehzeitschrift freute, das sie ihr geschenkt hatte. Ginny schaltete den Fernseher kaum noch ein und sah inzwischen so schlecht, dass sie ihre Großdruckbibel fast nicht mehr lesen konnte, aber Cora war ein Gewohnheitsmensch. Ginny tat ihr deshalb den Gefallen und kaufte ihr in jedem Dezember,
wenn sich Coras Geburtstag nahte, ebenfalls ein solches Abonnement. Cora würde sich so etwas selbst nie leisten, aber ohne ihr Kreuzworträtsel würde ihr etwas fehlen. Sie schleppte es in ihrer Handtasche überall mit sich herum und hatte die verrückte Angewohnheit, es in den unmöglichsten Momenten herauszuziehen und eine oder zwei Zeilen auszufüllen. Ginny verstand nicht, wie jemand länger als ungefähr fünf Minuten brauchen konnte, um das ganze Rätsel zu bearbeiten, aber bei Cora war das anders: Sie sagte auf Anhieb die richtige Antwort, überlegte aber eine ganze Stunde hin und her, bevor sie das Wort eintrug. „Bist du wirklich
absolut sicher, dass Little Joe der jüngste Sohn bei Bonanza war?


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Ich dachte, es wäre der andere gewesen. Der Dicke.“ Und so ging es weiter. Ginny setzte ein geduldiges Lächeln auf und tätschelte Coras alte, faltige Hand, an der die Venen hervortraten. Sie betrachtete das Gesicht ihrer Freundin – die Haut war faltig und dünn wie Pergament – und eine tiefe Zuneigung erfüllte sie. Cora war schon fast die ganzen neunundsiebzig Jahre ihres Lebens ihre Freundin, genauso wie die anderen. Sie waren schon miteinander zur Sonntagsschule gegangen. Fast achtzig Jahre Kummer und Glück, Liebe und Hochzeiten, Geburten und Todesfälle, Trauer und Freude.

Und Geburtstage.
„Danke, Cora“, sagte Ginny.
Cora, die zweifellos glaubte, Ginny sei wegen ihres lieben Geschenks zu Tränen gerührt, strahlte.
„Sehr gern geschehen“, antwortete sie und klopfte mit ihrem knorrigen Finger auf die Zeitschrift. „Ich wusste, dass du damit rechnest.“
Ginny lächelte. Dieses Mal war ihr Lächeln echt, als sie ihre Freundinnen liebevoll beobachtete, die um sie herumsaßen und sich gemütlich unterhielten. Die Jahre hatten sie aus der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen waren, in alle Himmelsrichtungen verstreut.
Diese Geburtstagsfeiern waren eine willkommene Gelegenheit, sich zu erzählen, was sich in ihrem Leben Neues zugetragen hatte. Marie erzählte Laura gerade von ihrem Urenkel. Er war an irgendeiner besonderen Hochschule angenommen worden, worüber sie fast platzte vor Stolz. Cora, die sich nicht übertrumpfen lassen wollte, warf ein, dass ihre Enkelin im dritten Semester in Folge als beste Studentin ihres Jahrgangs ausgezeichnet worden war. Ginnys Blick wanderte wieder zur Tür. Die Glasabtrennung, die seit dem letzten Jahr eingesetzt worden war – drei Viertel der Wand bestanden jetzt aus eingravierten Eisblumen – erschwerte ihr die Sicht. Sie konnte nur Beine und Haare sehen.

Jetzt kamen gleich mehrere Beine, Frauensandalen, große Männerfüße und mehrere kleine Kinderbeine. Sie schaute hoffnungsvoll hinüber. Vielleicht hatte er sich mit der Frau versöhnt, für die der leere Stuhl bestimmt war, und sie kamen dieses Jahr mit der ganzen Familie, um zu feiern. Die Beine und Haare kamen um die Ecke. Ginny ließ den Blick schnell nach 9 oben wandern. Keines der Gesichter kam ihr bekannt vor. Mehrere Menschen betraten nacheinander den Raum und nahmen am großen, runden Tisch in der Mitte Platz. Der Ecktisch war immer
noch leer. 

Die Kellnerin kam, um ihre Tassen nachzufüllen. „Noch mehr koffeinfreien Kaffee?“, fragte sie und hob die Kanne mit dem orangefarbenen Rand hoch.
„Für mich lieber nicht“, lehnte Cora ab. „Sonst bringe ich heute Nacht kein Auge zu.“
Ginny wechselte einen vielsagenden Blick mit Marie, aber beide verkniffen sich einen Kommentar. Das war typisch Cora. Sie hatte immer etwas zu jammern. Marie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, und Ginny wurde ein wenig unruhig. Dem dunkelhaarigen Mann über den Weg zu laufen wurde immer schwerer, je älter sie wurde. Wieder zerbrach sie sich den Kopf, wo er wohl blieb, tröstete sich aber damit, dass er bis jetzt jedes Mal gekommen war.

Jedes Jahr kam er um neunzehn Uhr fünfzehn, setzte sich mit Blick zur Tür an den Ecktisch, nippte an einem Glas Eistee und wartete. Im ersten Jahr hatte er einen furchtbaren Anblick geboten. Das war das Jahr gewesen, in dem er die kleine Schachtel und die Rosen mitgebracht hatte. Dunkelrote Rosen, ein ganzes Dutzend, langstielig. Er hatte sie vor dem leeren Stuhl auf den Tisch gelegt und auf dem Stuhl gegenüber Platz genommen.

Das Eis in seinem Tee war geschmolzen, seine Augen hatten verletzt und traurig ausgesehen. Oh, sie hatte mit ihm gelitten, während sie hilflos mit angesehen hatte, wie die Minuten langsam verstrichen. Nach ungefähr zwanzig Minuten hatte er die kleine Schachtel herausgenommen, sie aufgeklappt und hineingeschaut, dann hatte er sie wieder geschlossen und zurück in seine Jackentasche gesteckt. Sie hatte so sehr mit ihm gelitten. Und sein Gesicht!
Es hatte alles gezeigt, dieses Gesicht: die Hoffnung in seinen Augen, Schuldgefühle und Verzweiflung in den Linien von seiner Nase zum Mund, ein Anflug von Wut in der Art, wie er das Kinn und den Mund hielt. Damals hatte sie angefangen, für den dunkelhaarigen
Mann zu beten.

„Himmlischer Vater“, hatte sie geflüstert. „Du weißt alles. Vor dir ist nichts verborgen. Egal, wie die Situation ist, egal, wie groß 10 der Schmerz ist, du kannst heilen. Bitte greif ein, Vater. Zeige diesem Mann deine große Liebe.“ Er hatte abrupt aufgeblickt, als sie dieses Gebet geflüstert hatte, fast als hätte er sie gehört, obwohl das nicht möglich sein konnte.

Ihre Blicke waren sich einen kurzen Moment begegnet. Ginny hatte ihm leicht zugenickt. Er hatte zurück genickt, sich zu einem Lächeln gezwungen und dann wieder zur Tür geschaut. Er kam seit Jahren. Und wartete. Wenn auch nicht mehr mit dem unübersehbaren Schmerz des ersten Jahres. Letztes Jahr hatte er pessimistischer gewirkt, weniger hoffnungsvoll. Sie fragte sich, wie oft er noch kommen würde, wie lange er noch hoffen würde. Sie spürte plötzlich
den starken Wunsch, für ihn zu beten.

„Lieber Gott, du kennst unser Herz und unsere Gedanken“, murmelte sie leise. „Du kennst die Herzen eines jeden Menschen auf dieser Erde. Du weißt auch, was das Herz dieses Mannes bewegt und auf wen er so verzweifelt wartet. Führe diese beiden Menschen wieder zueinander, Herr. Bring sie irgendwie zusammen. Ich muss es nicht erfahren, wie du das tust. Aber ich bitte dich, dass du eingreifst und ihre verletzten Herzen tröstest und heilst.“

Susan räusperte sich. Eine Kellnerin stand an Ginnys Tisch und lächelte nachsichtig über die senile, alte Frau, die leise vor sich hin murmelte.
„Möchten Sie eine Nachspeise?“, fragte sie freundlich. Ginny sah eine Gelegenheit, weitere zwanzig Minuten zu gewinnen. „Ich habe meinen Geburtstagskuchen noch nicht bekommen“,
sagte sie so fröhlich, wie sie konnte. Den Kuchen konnten die anderen ihr nicht verwehren. Sie lehnten sich seufzend auf ihren Stühlen zurück und ergaben sich ihrem Schicksal. Ginny warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Er müsste jetzt jede Minute kommen. Jedes Jahr um neunzehn Uhr fünfzehn. Noch fünf Minuten, dann würde er auftauchen.

„Möchte sonst noch jemand einen Nachtisch?“, fragte sie.
Alle schüttelten den Kopf. „Ich schaffe keinen Bissen mehr“, protestierte Susan.
Ginny ignorierte die nicht gerade feinfühlige Aufforderung, die Feier endlich zu beenden. Um ihre Freundinnen zufriedenzustellen, begann sie, ihre Geschenke zusammenzupacken. Ihr Blick war auf 1 die Tür gerichtet. Sie ignorierte alles andere um sich herum und sprach weiter mit Gott. Dieses Mal in ihrem Herzen. Sie betete weiter und hielt die Augen offen. Im selben Moment, in dem die Kellnerin mit dem winzig kleinen Kuchen und dem albernen Geburtstagshut um die Ecke kam, trat er ein. Vor Erleichterung hätte sie fast ihr eigenes Geburtstagsständchen angestimmt.
Er war ein sehr großer Mann. Zwischen einen Meter fünfundachtzig und einen Meter neunzig groß, schätzte sie, und attraktiv.
Er sah sehr gut aus. Ginny schnalzte mit der Zunge und schüttelte bei diesem Gedanken leicht den Kopf. Attraktive, gut aussehende Männer konnten Schwierigkeiten machen. Sie waren es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Obwohl der junge Mann nett aussah, war sie fest davon überzeugt, dass mehr in ihm steckte als nur ein gutes Aussehen. Seine Haare waren dunkel, seine Gesichtszüge mutig. Aber er strahlte noch etwas anderes aus, aus dem sie schloss,
dass er Charakter besaß, obwohl sie nicht genau sagen konnte, was es war. Sie fand, dass er Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz ausstrahlte. Und obwohl sie nicht sagen konnte, warum, wusste Ginny, dass ihr Leben bei ihm in guten Händen wäre, falls sie je in eine Situation geriete, in der sie Hilfe brauchte.

Er hatte ein ruhiges, beherrschtes Gesicht. Gute, ehrliche Augen. Der Anzug stand ihm gut, aber Ginny konnte sich ihn genauso gut in einer Arbeitshose beim Heuaufladen vorstellen. Bei diesem Gedanken schüttelte sie den Kopf. Er war schwere Arbeit und Opfer gewohnt, das sah man seinem Gesicht an. Aber es gab eindeutige Anzeichen, dass in seinem Beruf keine anstrengende körperliche Arbeit von ihm verlangt wurde. Zum Beispiel wusste Ginny, ohne hinzusehen, dass sein Hemd weiß und gestärkt war, obwohl sein marineblaues Jackett sich um seine breiten Schultern spannte. Und sie hätte gewettet, dass seine geschickten Hände keine Schwielen
aufwiesen. Er setzte sich jetzt mit einer selbstverständlichen Ungezwungenheit, schüttelte den Kopf, als ihm die Speisekarte angeboten wurde, und wandte den Blick nicht von der Tür ab.
Die Kellner und Kellnerinnen bauten sich um Ginnys Tisch herum auf, um das obligatorische Geburtstagsständchen zu singen. 

Er schaute herüber und erwiderte ihren Blick. Er warf ihr ein schnelles Lächeln zu. Ihr Herz wurde plötzlich schwer, als sein Gesicht wieder ernst wurde, denn dieses Jahr war etwas anders. Die wütende Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit hatten sich in seinem Gesicht
verankert und waren ein Teil davon geworden. Er würde bald aufgeben, falls er es nicht schon getan hatte. Das wusste sie mit einer plötzlichen Gewissheit, genauso wie sie sich sicher war, dass sie nicht aufhören würde für ihn zu beten. Er durfte nicht aufgeben, auch wenn sie nicht erklären konnte, warum sie das mit einer solchen Gewissheit wusste.

„Lieber Herr Jesus“, begann sie, wurde aber im nächsten Moment
von dem albernen Geburtstagsständchen unterbrochen. Sie schüttelte ungeduldig den Kopf, als ihr jemand den Strohhut mit den
rosa Blümchen auf den Kopf setzte und alle zu singen begannen. Sie
ließ es über sich ergehen und lächelte freundlich, während das voll
besetzte Restaurant nachsichtige Blicke auf die schrulligen, alten
Damen warf, die immer noch ihre Geburtstage feierten. So bald wie
möglich nahm Ginny den Hut ab, und zum Glück verschwanden
die Sänger alle wieder. Sie nahm einen kleinen Bissen von ihrem
Kuchen. Ihre Freundinnen hatten jede ein winziges Stück davon bekommen, sogar Susan. Die Kellnerin füllte noch einmal die Kaffeetassen. Ginny betete, während sie langsam in winzigen Häppchen
ihren Kuchen aß und zusah, wie der Mann die Füße und Köpfe
beobachtete, die vor ihm vorüberzogen.
Die Zeit verging. Marie rief ihren Sohn an, dass er sie abholen
sollte, und die anderen begannen, die Rechnung untereinander aufzuteilen. Der Mann zog sein Jackett aus. Genau wie sie erwartet
hatte, war sein weißes Hemd steif gestärkt und glatt gebügelt. Er
krempelte die Ärmel bis zu den Ellbogen hoch und lockerte seine
Krawatte. Dann nippte er an seinem Tee. Die Kellnerin beugte sich
über seinen Tisch und sagte etwas zu ihm. Er schüttelte erneut den
Kopf. Sie zog die Rechnung aus der Schürzentasche und legte sie
vor ihm auf den Tisch. Als Ginny gerade anfing, ihre Sachen zu
packen und zu gehen, beugte sich der Mann wie elektrisiert nach
vorne. Ginny folgte seinem Blick.
Eine Frau hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Besser gesagt, die
Haare einer Frau, denn mehr konnte man über der Glasabtrennung
nicht sehen. Die Haare dieser Frau waren ein Meer aus rotbraunen
Locken, die zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt waren.
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Ginny warf wieder einen Blick auf den Mann. Er hatte sich halb
von seinem Stuhl erhoben. Aus seinem Gesicht sprach zu gleichen
Teilen Angst und Hoffnung. Die Frau kam um die Ecke, blieb stehen und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Ihre Augen
wanderten über den Mann und zeigten nicht das geringste Anzeichen, dass sie ihn kennen würde. Schließlich entdeckte sie die
Gruppe, die um den runden Tisch in der Mitte saß. Sie winkte und
ging auf die Leute zu. Ginny schaute den Mann wieder an. Die
Enttäuschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er ließ
sich auf seinen Stuhl fallen, wandte den Blick von der Frau ab und
starrte einen Moment die Wand an. Sie konnte sehen, dass er große
Mühe hatte, sich wieder zu fangen. Er atmete tief ein und wieder
aus und zog dann die Brieftasche aus seinem Jackett.
Ginny stand auf.
„Gehst du schon?“, fragte Cora.
„Nein“, antwortete sie schnell.
„Gehst du zur Toilette?“, mischte sich Marie ein. „Warte auf
mich. Ich komme mit.“ Aber Ginny trat vom Tisch weg, bevor Marie ihren Rollator zurechtrücken konnte. Sie ging zum Tisch in der
Ecke und blieb vor dem Mann mit den traurigen Augen stehen. Sie
waren blau, wie sie jetzt sehen konnte. Ein helles, klares Blau. Sie
hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, aber das hatte sie früher
auch nie aufhalten können.
„Hilf mir, Herr Jesus“, flüsterte sie.
Er blickte von der Rechnung auf. Ginny fiel unwillkürlich auf,
dass er viel Trinkgeld gab. Er zog die Brauen in die Höhe. Sein Gesicht war höflich, verriet aber, dass er keine Ahnung hatte, warum
sie zu ihm kam. Ihr schossen verschiedene Dinge durch den Kopf,
die sie sagen könnte. Aber das war nicht besonders wichtig, erkannte sie. Mit neunundsiebzig Jahren konnte man sich vieles erlauben.
„Junger Mann, stört es Sie, wenn ich mich kurz zu Ihnen setze?“
„Nein, Madam“, antwortete er und stand sofort auf. Er kam um
den Tisch herum und zog den Stuhl für sie zurück. Er war gut erzogen. Er hatte keine Ahnung, wer diese verrückte, alte Frau war,
trotzdem war er sofort bereit, ihr wie ein Gentleman zu helfen.
„Ich will mit Ihnen sprechen“, sagte sie, als er auf seine Seite des
Tisches zurückgekehrt war.
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„Ja, Madam?“ Sein Gesicht wurde noch fragender, aber er nickte,
setzte sich wieder und wartete höflich.
„Ich habe Sie beobachtet.“ Sie beschloss, ohne Umschweife zur
Sache zu kommen.
Ihre unverblümte Direktheit schien ihn zu überraschen, aber
dann nickte er. „Wie war Ihr Geburtstag dieses Jahr?“, fragte er mit
einem leichten Lächeln. „Haben Sie wieder ein Abonnement von
TV aktuell bekommen?“
Ginny nickte lachend. „Ohne dieses Abo würde bei meinem Geburtstag etwas fehlen.“
Er schüttelte den Kopf. „Wenn ich das sagen darf: Der Hut, den
man Ihnen aufgesetzt hat, steht Ihnen nicht. Er erinnert mich an
Minnie Pearl. Ich habe fast damit gerechnet, dass Sie gleich das Lasso schwingen und erzählen, wie schön es sei, auf der Welt zu sein.
Er ist nicht elegant genug für eine Frau wie Sie.“
Was für ein Unsinn! Trotzdem erwiderte sie sein Lächeln. Er
war ein sehr netter Mann. In ihr regten sich missbilligende Gefühle gegenüber der rothaarigen Frau, die auf dem Stuhl sitzen sollte,
auf dem sie jetzt saß, aber sie bereute diese Gedanken schnell. Wer
wusste schon, was zwischen den beiden vorgefallen war? Jede Geschichte hatte immer zwei Seiten. Das wusste sie nur zu gut.
„Hören Sie mir bitte zu“, begann sie und beschloss, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. „Ich habe eine Nachricht für Sie.“
Überraschung trat in sein Gesicht, verwandelte sich aber schnell
in Verwirrung, gemischt mit Hoffnung.
Ginny hätte sich ohrfeigen können. „Von Gott, sozusagen“, fügte
sie hinzu und sah, wie die Hoffnung aus seiner Miene verschwand
und einem resignierten Interesse wich.
„Ja, Madam?“
Kein Widerspruch. Kein Unglaube. Das gefiel ihr. Das verriet,
dass er einiges über Gottes Wege gelernt hatte, auch wenn die beiden im Moment vielleicht nicht miteinander sprachen. „Jetzt ist
kein guter Zeitpunkt, um das Beten aufzugeben“, wiederholte sie
den Gedanken, der ihr auf der Seele brannte.
Er starrte sie verwirrt an. „Das war alles?“, fragte er. „Das ist die
Nachricht von Gott?“
Sie nickte. „Das ist alles.“
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Er atmete wieder tief ein. Sie hatte ihn lang genug beobachtet,
um zu wissen, dass er das machte, wenn er entmutigt war. Sie spürte, dass Gott sie drängte, noch etwas anderes zu tun, und wehrte sich nicht dagegen. Sie hatte endlich gelernt, dass es sich nicht
auszahlte, ihm nicht zu gehorchen. Sie sparte sich viel Zeit und
Kummer, wenn sie gleich tat, wozu er sie aufforderte. Ginny legte
ihre knöchrige, alte Hand auf seine Hand, die vor ihr auf dem Tisch
lag. Er schaute überrascht auf, aber er zuckte nicht zusammen und
zog die Hand nicht zurück. Sie ergriff seine Hand. Er öffnete die
Handfläche und erwiderte ihren Händedruck. Sein Griff war fest
und warm. Es waren geschickte, kräftige Hände, aber wie sie geahnt
hatte, wiesen sie keine Schwielen auf. Sie hielt seine Hand sanft fest
und beugte mitten in dem voll besetzten Restaurant den Kopf.
„Lieber Herr Jesus“, betete sie. „Rühre sein Herz an. Rühre ihr
Herz an. Fang jetzt in dieser Minute an, sie mit einem unsichtbaren
Band wieder zusammenzuführen. Lieber Gott, ich bitte dich, dass
du alles tust, was dazu nötig ist, bis sie wieder zusammen sind.“ Sie
schwieg einen Moment und wartete, aber ihr kamen keine anderen
Worte in den Sinn. Wenn man fertig war, war man fertig. Er hörte
diese Worte vielleicht zum ersten Mal. „Amen“, sagte sie.
„Amen“, antwortete er leise.
Ginny öffnete die Augen und schaute ihn an. Seine Augen waren
ein wenig feucht. Sie wandte den Blick ab, um ihm Gelegenheit zu
geben, sie unauffällig abzuwischen. Sie schaute zu ihrem eigenen
Tisch hinüber. Cora starrte sie mit offenem Mund an, und Marie stand mit ihrem Rollator da und sah aus, als würde sie gleich
zu ihnen herüberhumpeln und ihnen Gesellschaft leisten. Ginny
drückte die Hand des Mannes ein letztes Mal. Dann stand sie auf
und bedeutete ihm, sitzen zu bleiben, als er aufstehen und ihr helfen wollte.
„Ich werde für Sie beten“, versprach sie. Dann kehrte sie zu ihren
Freundinnen zurück.
„Was in aller Welt hatte das jetzt zu bedeuten?“, rief Cora neugierig.
„Hast du dort drüben gebetet?“, fragte Marie verblüfft.
„Was ist denn passiert?“, wollte Laura wissen. „Ich habe nichts
gesehen.“
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„Gehen wir“, forderte Ginny ihre Freundinnen auf. „Ich erzähle es euch später.“ Sie brauchten noch ein paar Minuten, um ihre
Sachen einzupacken und das Trinkgeld aufzuteilen. Als Ginny ihre
neun Dollar und siebenundzwanzig Cents auf den Tisch gelegt hatte, war der Mann in dem gestärkten weißen Hemd und mit den
traurigen blauen Augen verschwunden.

Teil 1
Kommt heim, kommt heim,
ihr, die ihr müde seid,
kommt heim.

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1
Sam verließ das Restaurant The Inn und trat in die Abenddämmerung hinaus. Obwohl es heute sonnig und warm gewesen war,
lag eine kühle Feuchtigkeit in der Bergluft, als die Sonne langsam
unterging. Alles wirkte sauber und belebend, obwohl Sam genau
wusste, dass das eine Täuschung war, ein Taschenspielertrick Gottes. Darin lag irgendwie eine bittere Ironie, denn gleichzeitig hielt
Gottes Hand das zurück, was sie hier alle so dringend benötigten.
Regen. Feuchtigkeit. Den Duft von kühlem Wasser. Denn diese
Berge und auch der Rest des Bundesstaates, genauer gesagt, der gesamte Südosten der Vereinigten Staaten litt unter einer grausamen
Dürre.
In den letzten drei Jahren hatte es nicht geregnet. Natürlich
hatten sie hin und wieder ein Gewitter und einen kurzen Schauer
erlebt, gerade genug, dass die Pflanzen sich aufrichteten und ihre
Wurzeln hoffnungsvoll ausstreckten, nur um dann zu verwelken,
sich zusammenzuziehen und abzusterben, weil sie keine ausreichende Feuchtigkeit fanden. Allein im letzten Jahr war die Regenmenge
fünfzig Zentimeter unter Normal gewesen. Die Bäche waren ausgetrocknet, die Quellen nur noch eine matschige Brühe. Bauern
hatten ihre Ernten verloren und mussten ihr Vieh verkaufen. Wenn
es noch ein Jahr so weiterginge, würden einige ihre Häuser und
Farmen verlieren. Sam fragte sich, ob sich an der angespannten Situation bald etwas ändern würde. Er ließ seinen Blick jetzt über den
Himmel schweifen und hoffte, Wolken zu sehen. Er sah nichts als
das weite Blau, das über den mit Bäumen bewachsenen Gipfeln der
Smoky Mountains, die sich in der Ferne erstreckten, in das Grau
der Nacht überging.
Sein Magen rumorte bei den widersprüchlichen Gefühlen, die
sich immer in ihm regten, wenn er hierherkam. Er warf sich das
Jackett über die Schulter und schlenderte zum Aussichtspunkt ein
Stück hinter dem Restaurant. Im Osten lag North Carolina, die
Gegend, die früher sein Zuhause gewesen war. Er konnte den Lake
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Junaluska und dahinter Maggie Valley, Gilead Springs, Waynesville
und Silver Falls sehen. Hinter diesen Orten funkelten die Lichter
von Asheville in der Dämmerung. In seinem Rücken, gleich über
dem Höhenzug, lag Tennessee, das Bundesland, aus dem er erst vor
wenigen Stunden gekommen war.
The Inn stand gleichzeitig in zwei verschiedenen Welten, genauso
wie er. Sam atmete tief ein und schaute sich um. Die Wälder waren dicht und schön, unter den schattenspendenden Dächern der
Kiefern und Eichen war es angenehm kühl, der Waldboden war ein
würzig duftender Teppich aus Nadeln und Blättern. Hier und da
sah er einen rosa Rhododendron scheu durch die grünen Blätter
lugen.
Die unvergleichliche Schönheit dieser Berge raubte ihm den
Atem. Er fragte sich, wie sie es schaffte, von hier wegzubleiben,
ohne das alles zu vermissen. Andererseits könnte sie ihm dieselbe
Frage stellen, falls sie je lang genug an ihn dachte, um auf diesen
Gedanken zu kommen. Er lebte seit fünf Jahren im Exil, verbannt
nach Knoxville mit seinem hektischen Straßenverkehr, den überfüllten Schnellstraßen, dem glänzenden Chrom und der glühenden
Hitze. Er hatte das Gefühl, als würde irgendetwas ihm den Weg
versperren, falls er versuchen sollte, nach Hause zurückzukehren.
Aber egal, ob er es sich eingestand oder nicht – diese Berge übten
immer noch eine starke Anziehungskraft auf ihn aus.
Er betrachtete das Panorama, das sich um ihn herum ausbreitete.
Die mit Bäumen überwachsenen Hügel der Smoky Mountains bildeten dunkelgrüne Wellen, gingen in ein intensives Blaugrün über
und wurden in der Ferne verschwommen blau. Die Bäume gaben
Kohlenwasserstoff ab, der für den typischen blauen Dunst verantwortlich war. Ihm wäre es lieber, wenn er diese wissenschaftliche
Erklärung nicht wüsste. Ihm gefiel viel besser, was er als Junge geglaubt hatte. Damals waren die Berge irgendwie magisch gewesen,
ein übernatürliches Land aus einer anderen Welt. Aber das stimmte
nicht. Das wusste er jetzt mit Gewissheit.
Er ging ein Stück spazieren, schob sich durch ein tief wachsendes Gebüsch und schaute auf die Felslandschaft hinab, die früher
ein rauschender Wasserfall gewesen waren. Hier hatten sich früher
gewaltige Wassermassen tosend über die Granitstufen ergossen und
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einen gewundenen, schäumenden Fluss gebildet, der über ein Felsenbett gesprudelt war. Jetzt gab es nur noch ein schwaches Rinnsal,
und vom Fluss war fast nichts mehr zu sehen. Nur ein träges kleines
Bächlein war geblieben. Es wäre besser, wenn der Fluss ganz verschwunden wäre. Dann gäbe es nichts, das ihn daran erinnerte, wie
es früher gewesen war. Jetzt erinnerte er sich an die weiße Flut, die
kühlen, blauen Bäche, den spritzenden Schaum, als das Wasser über
die Felswand herabgestürzt war, die sprudelnden Wirbel, wenn es
sich zwischen den Felsen seinen Weg gebahnt hatte.
Er überlegte, wie es wäre, wenn es wieder zu regnen begänne,
wenn die Himmel sich wieder öffneten und ihr Leben spendendes
Wasser schenkten. Er gab sich der Vorstellung hin, wie ein kleiner
Bach größer wurde und immer breiter, bis er sich sprudelnd über
das trockene Flussbett ergoss. Er stellte sich vor, was für ein Gefühl
es wäre, wenn dieser Regen tatsächlich einsetzen würde. Er konnte die ersten zögernden Tropfen fast fühlen, aus denen sich dann
Rinnsale bildeten, die sein Gesicht nässten und seinem müden Körper Linderung verschafften, ein erfrischender, kühlender Fluss.
Er knöpfte seinen Kragen auf und atmete einige Male tief durch.
Fast hatte er das Gefühl zu ersticken. In letzter Zeit befielen ihn
manchmal seltsame Gefühle, und das in den ungünstigsten Augenblicken. Es wurde immer schwerer, ohne die innere Kraft weiterzumachen, die ihn früher angetrieben hatte. Letzte Woche hatte
er zweimal, als er gerade das Skalpell in ein winziges Herz drücken
wollte, plötzlich sich selbst gesehen, als wäre er Zuschauer bei seiner
eigenen Operation. Was machst du da?, hatte er sich gefragt. Wofür
hältst du dich? Und seine Hand hatte gezögert. Niemand hatte etwas bemerkt außer seiner Operationsschwester, Florence, die ihn
und viele seiner Geheimnisse schon lange kannte. Sie hatte einen
schnellen Blick auf ihn geworfen, und ihre hellgrauen Augen hatten
ihn über ihrer Atemschutzmaske scharf angesehen. Vielleicht hatte
sie sich gefragt, ob jetzt der Tag gekommen sei, an dem seine Hand
ausrutschte oder sich nicht schnell genug bewegte. „Passiert so etwas wieder?“, schien sie ihn zu fragen. Das fragten sich alle.
Diese ganzen Operationen waren fehlerfrei verlaufen, aber die
Vorfälle hatten ihn sehr beunruhigt. Er wusste, dass er die Operationen schon seit Jahren nur noch fast automatisch herunterspulte.
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Seit fünf Jahren, um genau zu sein. Natürlich, er war immer noch
technisch perfekt, wenn auch nicht mehr so brillant und kreativ.
Aber in letzter Zeit hatte er Angst bekommen. Vor sich selbst, vermutete er, obwohl er nicht genau wusste, was das bedeutete. Er
wusste lediglich, dass er sich genauso trocken und rissig fühlte wie
das Flussbett, das unter ihm lag. Und er wusste, dass sich leicht etwas entzünden könnte, falls etwas sein verwundetes Herz traf, egal,
wie ruhig er äußerlich wirkte oder wie kompetent er operierte. Etwas Lebenswichtiges, das ihn geschützt hatte, war verschwunden,
und die Willenskraft, die er an seiner Stelle eingesetzt hatte, nutzte
sich immer mehr ab.
Sam verdrängte diese beunruhigenden Gedanken und konzentrierte sich lieber auf etwas anderes. Er dachte an die Begegnung, die
er gerade gehabt hatte, und schüttelte den Kopf. Er war nicht sicher,
ob sie eine verwirrte alte Frau oder eine Prophetin Gottes gewesen
war. Er tendierte zu verwirrter alter Frau. Bei diesem Gedanken zog
sich sein Herz unerwartet traurig zusammen.
Er schaute zum immer dunkler werdenden Himmel hinauf. Hier
konnte man die Sterne sehen. Er war weit genug weg von den Lichtern der Großstadt, um sie klar erkennen zu können. Er betrachtete
einen Moment den Himmel. Die Sterne sahen aus, als stünden sie
fest und bewegten sich nicht, aber er wusste die Wahrheit. Sie bewegten sich. Die Dinge veränderten sich. Nichts war gewiss. Nichts
blieb dort, wohin man es gelegt hatte. Er wandte den Blick von
den Sternen ab und richtete ihn auf den Schotterweg unter seinen
Füßen.
Er kam seit fünf Jahren hierher. Er betete seit fünf Jahren. Seit
fünf Jahren rief er sie an, hinterließ Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter und bat sie, an den Ort zurückzukommen, an dem er
sie gefragt hatte, ob sie mit ihm zusammenleben wolle, bis dass der
Tod sie scheiden würde. Und seit fünf Jahren wartete er.
Er erinnerte sich an die törichte Hoffnung, die ihn durch das
erste Jahr getragen hatten. Sie war traumatisiert, hatte er sich gesagt.
Sie brauchte einfach Zeit, um sich von den Ereignissen zu erholen,
die sowohl ihr Herz als auch sein Herz in einen Scherbenhaufen
verwandelt hatten. Er hatte sich gezwungen, ihr diese Zeit zu geben. Er hatte sich große Mühe gegeben, sich zu beherrschen, ob-
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wohl er alles getan hatte, um herauszufinden, wo sie war. Er konnte
es nicht ertragen, das nicht zu wissen. Er hatte nicht geschlafen oder
gegessen, solange er nicht mit eigenen Ohren gehört hatte, dass sie
in Sicherheit war. Denn war das nicht seine Aufgabe? Sich um sie
zu kümmern? Dafür zu sorgen, dass alles, was sie betraf, so lief, wie
es sollte? Er schüttelte frustriert den Kopf, da er wusste, wie kläglich
er versagt hatte.
Er hatte einen Privatdetektiv engagiert. Es war lächerlich leicht
gewesen, Annie zu finden. Der Detektiv hatte sie innerhalb weniger Stunden ausfindig gemacht. Lange bevor sie angerufen und ihre
knappe Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte,
hatte Sam gewusst, dass sie jetzt in Seattle wohnte. 201 Brady Way,
Apartment C. Er hatte gewusst, dass sie eine Stelle bei der Seattle
Times angenommen hatte. Und dass sie immer noch seinen Ford
Pick-up fuhr.
Danach hatte er nichts weiter unternommen. Er hatte sich gezwungen, sich mit dem Wissen zufriedenzugeben, dass sie in Sicherheit war, dass sie alles hatte, was sie zum Leben brauchte. Mehr
konnte er nicht für sie tun. Er ließ die Bankkonten weiterhin auf
ihre beiden Namen laufen und sorgte dafür, dass sie gut gefüllt waren, aber nach den ersten tausend Dollar hatte sie nichts mehr abgehoben.
Sam hatte gewartet, die Tage und Wochen gezählt, während er
sich sicher gewesen war, dass sie zurückkommen würde. Als fast ein
Jahr vergangen war, an ihrem Hochzeitstag, hatte er dieses Datum
als Vorwand benutzt, um Kontakt zu ihr aufzunehmen. Er hatte
sich seine Worte genau überlegt, er hatte seine kleine Rede eingeübt, bis sie perfekt gewesen war. Er verstand sie. Sie war traurig
gewesen. Sie war aufgeregt gewesen. Aber jetzt war sie sicher bereit,
mit ihm zu sprechen und ihn wieder in ihr Leben zu lassen. Er hatte
viermal angerufen und schließlich seine Rede auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen.
„Komm nach Hause“, hatte er gesagt. „Bitte, ich möchte mich
um dich kümmern. Bleib nicht fort, Annie. Komm zu mir zurück.“
Sie hatte auf ähnliche Weise geantwortet und ihm eine Nachricht
hinterlassen. Sie hatte mittags angerufen, als sie genau gewusst hatte, dass er bei der Arbeit war.
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„Einverstanden“, hatte sie gesagt. „Ich treffe mich mit dir.“
Diese Worte hatten die Tür zwischen ihnen geöffnet, obwohl ihr
angespannter, ängstlicher Tonfall sich gleichzeitig dagegen gewehrt
hatte. Sein hoffnungsvolles Herz hatte sich damals natürlich geweigert, die Wahrheit anzuerkennen. Aber nach den ersten paar Minuten im Restaurant in Smoky Hollow hatte er gewusst, dass sie nicht
kommen würde. Er erinnerte sich, wie sein Mut gesunken war, als
er dort gesessen und gewartet hatte. Schließlich war ihm bewusst
geworden, wie sehr er ihre Trauer und ihren Schmerz unterschätzt
hatte. Ihre Bitterkeit.
Er fragte sich jetzt, warum er weiterhin Jahr für Jahr gekommen
war. Er wusste die Antwort. Es war das einzige Verbindungsglied
zwischen ihnen, das noch geblieben war. Es aufzugeben hieße zuzugeben, dass alle Hoffnung gestorben war.
Er starrte in das leere Flussbett und dachte an ein Theaterstück,
das er einmal über eine Frau gesehen hatte. Sie hatte jeden Abend
an der Tür gestanden und ihren Hund gerufen, bis sie schließlich
die Realität akzeptiert hatte: Sheba würde nicht zurückkommen.
Genauso wenig wie die Frau, auf die Sam wartete. Die Endgültigkeit dieser Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. In ihm regte sich
plötzlich ein Anflug von Ärger und nicht die dumpfe Resignation,
die er erwartet hätte. Die Worte der alten Frau gingen ihm wieder
durch den Kopf. „Jetzt ist kein guter Zeitpunkt, um das Beten aufzugeben.“
Er verwarf diese Worte mit einem energischen Kopfschütteln. Sie
war kein Bote Gottes, nur eine einsame alte Frau, die sein trauriges
kleines Schauspiel beobachtet hatte und dachte, sie hätte Gottes
Stimme gehört. Aber offenbar hatte sie nur ihre eigenen Wünsche
in Worte gefasst. Außerdem war es zu spät. Er hatte das Beten bereits aufgegeben. Er konnte sich nicht erinnern, wann genau, aber
irgendwann, seit er vor einem Jahr an diesem Tag hier gestanden
hatte, hatte er aufgegeben, Gott um etwas zu bitten, das er nie bekommen würde.
Es war vorbei. Es war Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und in die Zukunft zu blicken. Es war dumm von ihm gewesen, so lange zu warten. In dieser Erkenntnis lag eine leere, bittere
Endgültigkeit, aber wenigstens waren die Dinge jetzt geklärt. Es
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war vorbei. Er würde nicht mehr hierherkommen. Er starrte in die
Dunkelheit hinein und dachte über die Fehler nach, die er gemacht
hatte. Schließlich nahm er den Ring ab, den er immer noch am
Ringfinger seiner linken Hand trug. Er griff in die Brusttasche seines Jacketts, holte das kleine Samtkästchen heraus, in dem sich der
Ehering seiner Frau befand, legte seinen eigenen dazu und klappte
es zu. Dann zog er die Schlüssel aus der Tasche und ging zu seinem
Auto.
W
Sam fuhr los und bemühte sich, möglichst an nichts zu denken. Er
überquerte die Grenze zwischen North Carolina und Tennessee.
Als er sich der Abzweigung zu seiner Wohnung in Knoxville näherte, fuhr er weiter. Er passierte die Stadtgrenze und durchquerte
Varner’s Grove, wobei er einer bekannten Strecke folgte. Er war
anfangs jeden Tag hierhergekommen, hatte geschaut, gehofft, für
die geringste Veränderung gebetet, eine Veränderung des Zustands
– eine Veränderung, die ein Zeichen dafür wäre, dass das Unheil
abgewendet werden könnte, dass die Mauer, die sich von allen Seiten um ihn herum aufgebaut hatte, eingerissen werden könnte.
Aber ohne den geringsten Erfolg. Nach einer Weile hatte er angefangen, nur noch einmal in der Woche zu kommen. Dann einmal im Monat. Ein Teil von ihm wollte es hinter sich bringen. Es
vergessen. Aber das konnte er nicht, denn es verfolgte ihn wie ein
kalter Schatten, wohin er auch ging. Es war eine schreckliche Erinnerung daran, dass ein Fehler nicht immer rückgängig gemacht
werden konnte.
Sam fuhr auf den stillen Parkplatz, der bis auf ein paar Reihen
alter Autos, die den Angestellten des Pflegeheims gehörten, leer war.
Er stellte sein Auto ab und schämte sich plötzlich, weil es neu und
mit dem modernsten Komfort ausgestattet war. Er versperrte den
Wagen mit einem Druck auf die Fernbedienung, hörte das Surren
der Elektronik und ging den geschotterten Weg hinauf, vorbei an
einem Betontopf mit braunen Buntnesseln und Zigarettenkippen.
Rosewood Manor war ein staatliches Pflegeheim. Von außen sah man
Ziegelsteine und Beton, von innen abgenutzte Linoleumböden und
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abblätternde Farbe. Es roch unangenehm. Hier fristete Kelly Bright
seit fünf Jahren ihr Leben.
Er ging durch die sich automatisch öffnenden Türen und an der
leeren Empfangstheke vorbei zum Stationszimmer. Er erkannte die
diensthabende Altenpflegerin. Sie gehörte zu den netten Pflegerinnen hier, war ungefähr fünfzig und stämmig, und ihre Haare hatten
die gleiche fahle Farbe angenommen wie ihre Haut. Helen stand auf
ihrem Namensschild. Er begrüßte sie und stellte sich vor.
„Ich erinnere mich an Sie“, sagte sie.
Sofort spürte er, wie sich sein Körper anspannte, aber die Augen,
mit denen sie ihn anschaute, waren mitfühlend.
„Wie geht es Ihnen, Dr. Truelove?“ Sie legte ihre Brille auf den
Berg Patientenakten, der sich vor ihr auftürmte.
„Es geht schon“, antwortete er und war nicht bereit, ihr die
Wahrheit zu sagen. „Wie geht es Kelly?“
Sie legte den Kopf schief und dachte über die Antwort nach, zu
der sie nicht verpflichtet war. „Möchten Sie ihre Akte sehen?“
„Nein.“ Seine Antwort kam abrupt. Er fühlte sich bei diesem
Gedanken schrecklich.
„Es geht ihr sehr schlecht“, sagte Helen mit ernster Miene. „Sie
hat wieder eine Lungenentzündung. Und sie hat eine Harnwegsinfektion. Dr. Evers hat Antibiotika angeordnet, aber bis jetzt
spricht sie nicht darauf an. Und sie hat immer noch einen Dekubitus am Gesäß und an den Fersen, aber das sind die geringsten
Probleme.“
Sam nahm die Informationen auf, die niederdrückend und entmutigend waren. Alle drei Probleme – Lungenentzündung, Harnwegsinfekt und Dekubitus – waren traurige Folgeerscheinungen
von Kellys Koma. Kellys Körper nahm weiterhin Luft auf und stieß
sie wieder aus, nahm Nahrung auf und schied sie aus, und ihr Herz
und ihre Gefäße funktionierten bestens. Dass seine Operation letztendlich erfolgreich gewesen war, war ein Beweis für Gottes Grausamkeit. Aber ihr Gehirn hatte sich ausgeschaltet und funktionierte
nicht mehr, weil ihm lebenswichtiger Sauerstoff gefehlt hatte, als
er zu spät reagiert hatte. In diesem Zustand befand es sich jetzt seit
fünf Jahren.
Sam ging über den abgenutzten Flur zu ihrem Zimmer. Seine
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Beine waren schwer wie Blei. Eine alte Frau in einem Rollstuhl versperrte ihm den Weg.
„Wo ist Donald?“, fauchte sie ihn an. „Haben Sie ihn gesehen?
Ich habe ihm gesagt, dass er sofort nach Hause kommen soll. Aber
er ist noch nicht zurück.“
„Nein, Madam. Ich habe ihn nicht gesehen“, antwortete er wahrheitsgemäß und ging um sie herum. Er schritt an ein paar anderen
Heimbewohnern vorbei und grüßte sie mit einem Kopfnicken. Einige grüßten ihn ebenfalls. Mit diesen Patienten hatte er das größte
Mitleid.
Kellys Tür stand halb offen. Er klopfte. Niemand antwortete.
Langsam trat er ein. Das bekannte Grauen regte sich in ihm. Das
Licht war gedämpft, die Jalousien waren zugezogen. Die Pflegerin,
mit der er bei seinem letzten Besuch gesprochen hatte, hatte gesagt,
dass sie versuchten, das Zimmer tagsüber hell zu halten und nachts
dunkel. Irgendwie hatte ihn diese Erklärung schockiert. Dass ein
Teil von Kellys Gehirn vielleicht immer noch wusste oder sich dafür
interessierte, ob die Jalousien offen oder zugezogen waren, war eine
Möglichkeit, die ihn quälte und gleichzeitig einen Funken irrationaler Hoffnung in ihm weckte.
Kelly hatte ein Einzelzimmer. Er trat an ihr Bett. Sie lag still
und mit geschlossenen Augen da. Dafür war er dankbar. Wenn sie
vor sich hin murmelte und sich bewegte, als lebe noch jemand in
diesem Körper und versuche, einen Weg aus seinem Gefängnis zu
finden, war es schlimmer, obwohl Sam wusste, dass das keine bewussten Reaktionen waren.
Auf dem Tisch in der Ecke stand ein Strauß Luftballons. „Alles
Gute zum Geburtstag“, stand darauf. Er schluckte schwer. Auf dem
Tisch neben ihrem Bett stand eine Geburtstagskarte. Alles Gute zum
16. Geburtstag. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Schlag
verpasst. Sechzehn. Sie sollte sich ein Kleid für den Abschlussball
kaufen und eine Ausbildung beginnen, für den Führerschein sparen. Nicht Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr in Rosewood
Manor liegen. Aber sie lag hier, und daran würde sich nichts ändern.
Sam konnte nichts dagegen tun. Jetzt nicht mehr.
Er schaute auf sie hinab. Ihre Haare waren kurz geschnitten,
nicht lang und dick wie an dem Tag, an dem er sie das erste Mal
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gesehen hatte. Ihr Gesicht war an einigen Stellen erwachsener geworden. Auch das versetzte ihm einen Stich: dass ihr Körper sich
weiterentwickelte, obwohl das überhaupt keinen Sinn hatte. Sie
hatte abgenommen, stellte er fest, auch ohne ihre Krankenakte zu
lesen. Er fragte sich, ob der verantwortliche Arzt die Kalorienanzahl
der künstlichen Ernährung erhöhen würde. Ihr Atem war rasselnd.
Das konnte er auch ohne Stethoskop hören. Ihr Gesicht war blass
und hager.
Er kam näher und zwang sich, die Hand zu ergreifen, die zusammengezogen auf dem Bettlaken lag. Er hielt sie leicht in seiner
Hand.
„Guten Abend, Kelly. Hier ist Sam“, sagte er und spürte genauso
wenig eine Reaktion wie auf seine Gebete. Er stellte sich nie als „Dr.
Truelove“ vor – wahrscheinlich, weil er sich schämte. „Ich weiß,
dass es eine Weile her ist, aber ich wollte einfach sehen, wie es dir
geht“, fuhr er fort. „Ich hoffe, du fühlst dich nicht zu unwohl.“
Seine Worte trafen ihn, sobald er sie ausgesprochen hatte. Wie
konnte er etwas so Grausames, etwas so Feiges sagen? Ich hoffe, du
fühlst dich nicht zu unwohl. Er sollte die Wahrheit sagen. Kelly, es tut
mir leid. Kelly, wenn ich mit dir tauschen könnte, würde ich das gern
tun. Kelly, vergib mir. Es tut mir leid. Es tut mir so leid.
Natürlich sagte er nichts dergleichen. Wer hätte etwas davon,
wenn er es sagte? Bestimmt nicht Kelly. Bestimmt nicht ihre Familie, die bereit war, ihn am Hals zu packen und ihm den Garaus zu
machen, sobald Kellys kurzes Leben zu Ende wäre. „Sie warten“,
hatte sein Anwalt gesagt. „Sie sind arm, aber offensichtlich nicht
dumm. Sie wissen, dass ihr Tod ihnen mehr bringt als ihre Behinderung.“
Er würde ihnen gern alles geben, was er hatte, aber das war nicht
einmal erlaubt. Seine Berufshaftpflichtversicherung würde ihnen
einen Scheck schicken.
„Heute ist Montag, Kelly“, sprach er weiter. „Montag, der zweite
Juni. Heute Morgen war es warm und sonnig. Wie man es um diese
Jahreszeit in Tennessee erwartet. Heute Nachmittag zogen ein paar
Wolken auf, aber es hat nicht geregnet. Jetzt ist es draußen wieder
klar und kühl. Die Walderdbeeren blühen in den Bergen.“
Bei diesen Worten kam er sich plötzlich grausam vor. Warum
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hatte er sie an Freuden erinnert, die sie nie wieder erleben würde?
Er bekam Schuldgefühle, weil es ihm guttat, auch nur daran zu
denken.
Von der Tür kam ein Geräusch. Sam erstarrte. Er war nur ein
einziges Mal jemandem aus der Familie begegnet, und das war
ganz am Anfang gewesen. Es war die Großmutter gewesen, die ihn
nicht erkannt hatte, wofür er sehr dankbar gewesen war. Sie hatte
gedacht, er gehöre zu Kellys Ärzten, was in gewisser Weise auch
stimmte. Dieses Mal war es die Physiotherapeutin, wie ihr Namensschild verriet.
„Ich kann später wiederkommen“, bot sie an.
„Nein, das ist nicht nötig“, antwortete er und war froh, dass er einen Grund hatte zu gehen. „Leb wohl, Kelly.“ Er richtete die Worte
an das stille, blasse Gesicht. Er konnte die dünnen blauen Adern
auf ihren Augenlidern sehen. Sie atmete ein. Aus. Keine Bewegung.
Nicht das geringste Anzeichen, dass sie ihn gehört hatte. Er drehte
sich um und ging. Das Gefühl, das alle anderen Gefühle überschattete, war Müdigkeit.
Sam ging auf den Parkplatz hinaus und war froh, dass er die
schwere, beißende Luft hinter sich lassen konnte. Die kühle Nachtluft fühlte sich auf seinem heißen Gesicht gut an. Die Grillen und
Laubfrösche von den Wiesen neben dem Gebäude meldeten sich
laut und durchdringend zu Wort. Neben einer dürren Esche blieb
er stehen, legte die Hand auf die Rinde und war froh, dass er etwas
Echtes, Lebendes berühren konnte. Er hatte das Gefühl, dass die
beiden Situationen, die sein Leben schon so lange überschatteten,
sich dem Ende zuneigten. Diese Erkenntnis war von einer leeren,
bitteren Endgültigkeit begleitet.
Kelly Bright hatte länger durchgehalten, als irgendjemand gedacht hatte. Und obwohl es möglich war, dass jemand in einem
tiefen Koma viele Jahre leben konnte, glaubte er das in Kellys Fall
nicht. Es würde nicht mehr lang dauern. Vielleicht Tage. Wochen.
Höchstens Monate. Das wusste er, nachdem er sie gesehen hatte,
nachdem er ihren rasselnden Atem gehört, die feuchte Blässe ihrer
Haut gesehen hatte. Und das andere?
Er hatte das Gefühl, dass es schon lange gestorben war und er nur
die Beerdigung nicht zugelassen hatte. Er wusste sogar genau, an
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welchem Tag seine Ehe den Todesstoß bekommen hatte. Er konnte
diesen Tag mit demselben Datum auf Kelly Brights Krankenakte
dokumentieren, denn sowohl Kelly als auch seine Ehe hatten durch
einen anderen Schicksalsschlag, der ihm immer noch das Blut in
den Adern gefrieren ließ und ihm vor Schmerz die Sprache verschlug, einen Kollateralschaden erlitten.
W
In dieser Nacht war der Traum wieder da.
„Nicht, Sam. Sie sind nicht in der Verfassung dazu.“
Er schaute nach unten und sah Kelly Brights Herz und Aorta, die
bereits freigelegt waren. Die Vorbereitung hatten sein Assistenzarzt
und der Oberarzt vorgenommen. Es war eine einfache Operation,
wenigstens für ihn. Er würde den Riss nähen, der bei dem Verkehrsunfall entstanden war. Es war eine schwere Verletzung, aber er
konnte sie operieren. Im Vergleich zu den komplexen Defekten, die
er an viel kleineren Herzen operierte, war diese Operation fast ein
Kinderspiel. Alle warteten auf ihn. Er hatte gerade anfangen wollen,
als der Telefonanruf kam. Die OP-Schwester ging ans Telefon und
kam dann mit Tränen in den Augen und einem Kopfschütteln zu
ihm.
„Sie müssen dringend ans Telefon, Dr. Truelove“, sagte sie.
Er runzelte verwirrt die Stirn, ging ans Telefon, meldete sich und
erkannte die Stimme seiner Mutter fast nicht, die ihm mitteilte,
dass sein Kind gestorben sei. Er hörte sich ihre wirre Schilderung
noch einmal an.
„Sie hat geschlafen. Das Telefon klingelte und ich ging dran. Ich
habe sie gesucht, aber sie war fort.“
Dann die schrecklichen Details. Der Bach und die Rettungssanitäter, die Wiederbelebungsversuche und der Hubschrauber. Er
hörte die Hysterie in ihrer Stimme. Vor seinem geistigen Auge sah
er, wie sie allein dort stand und verzweifelt auf Annie wartete. Und
auf ihn.
Er fühlte, wie sein pulsierendes Blut durch etwas Kaltes ersetzt
wurde, und stellte noch einige Fragen. Als seine Mutter sie nicht beantworten konnte, verlangte er, den verantwortlichen Arzt zu spre-
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chen. Während er wartete, bis er ans Telefon kam, befiel ihn eine
tiefe Ruhe. Oh, diese grausame Ruhe! Er fühlte, wie sie in sein Herz
einsickerte und sich dann durch seine Arme und Beine und zu seinem Hirn ausbreitete. Und er wusste mit grenzenloser Gewissheit,
dass er entweder gleich das Bewusstsein verlieren oder kristallklar
und perfekt werden würde, denn eine Gegenwart, kalt und leblos
wie ein hoher weißer Eisberg, erfüllte ihn, beruhigend und kühlend. Sein Verstand betrat diesen unnahbaren weißen Ort, den er
für ungetrübte Konzentration hielt.
Sie murmelten miteinander, als Sam an den Operationstisch
zurückkehrte. Alle, der Oberarzt, die Operationsschwestern und
der Anästhesist. Er zog die Handschuhe aus. Der Oberarzt sagte,
dass er Dr. Hendricks anrufen und bitten werde, die Operation
zu übernehmen. Aber Sam zog ein frisches Paar Handschuhe an,
sperrte alles aus bis auf das Problem, das vor ihm lag, und war fest
entschlossen, keine anderen Gedanken zuzulassen, weil er sie nicht
ertragen würde.
„Für Margaret kann ich nichts mehr tun“, sagte er, immer noch
gefangen in dieser vollkommenen Kälte. „Aber Kelly Bright kann
ich retten.“
Sie schauten ihn an, schockiert, entsetzt, kopfschüttelnd. Nur
seine Operationsschwester Florence verstand, was mit ihm los war.
Sie legte die Hand auf seinen Arm.
„Fahren Sie nach Hause, Sam“, sagte sie bestimmt. „Sie stehen
unter Schock. Sie sind nicht in der Verfassung …“
„Jetzt ist mein Kittel nicht mehr steril!“, fuhr er sie scharf an.
Trotzdem zog sie die Hand nicht zurück, sondern packte ihn
nur noch kräftiger. „Fahren Sie nach Hause! Diese Operation kann
jemand anders …“
Jetzt war sein Ärger entfacht, ein kalter, grimmiger Ärger. Er
schrie sie an: „Gehen Sie mir aus dem Weg. Hier ist niemand anders!“ Selbst jetzt in seinem Traum brannten diese Worte wie Säure,
ihre zerstörerische Selbstüberschätzung zerfraß ihn fast bei lebendigem Leib.
„Niemand kann das besser als ich“, bellte er.
Er zog einen neuen Operationskittel an, streifte sich frische
Handschuhe über, nahm seinen Platz am Operationstisch ein und
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schaute allen scharf und herausfordernd in die Augen, die ihn über
ihrem Mundschutz mit Staunen oder Mitgefühl, Missbilligung
oder Schock anstarrten.
Er wandte den Blick von ihnen ab und verdrängte alles bis auf
das Problem, das vor ihm lag: die abgerissene Aorta, die er reparieren musste.
„Pinzette“, sagte er mit einem Kopfnicken zu Florence, und es
ging los.
Der Rest des Traums war unverändert. Vorhersehbar, eine grausame, graue Wiederholung, ein Horrorfilm, dessen Ausgang er kannte, und trotzdem war er gezwungen, ihn immer und immer wieder
anzusehen. Er sah sich, wie er die großen Arterien abklemmte.
„Von der Herz-Lungen-Maschine nehmen“, sagte er.
Dann sah er wieder, wie die Naht riss, der Blutdruck sank, er sah
sich selbst, wie er versuchte, die Sache in Ordnung zu bringen, fühlte erneut die Panik seines OP-Teams, seine eigene Panik, sah seine
zitternden Hände, die blutbedeckten Handschuhe, sah, wie sie den
Riss nähten. Aber der Schaden war nicht mehr rückgängig zu machen. Und er sah sich selbst, wie er schließlich den blutgetränkten
Kittel und die Handschuhe auf einen Haufen auf dem Linoleumboden mit der Blutlache warf, er sah, wie er sich schließlich von
Barney nach Gilead Springs nach Hause fahren ließ. Er erinnerte sich an diese Fahrt, sein Verstand eine offene, blutende Wunde, hin- und hergerissen zwischen den zwei Horrorszenarien wie ein sterbendes Tier, das zwischen seinen Peinigern zerfleischt wurde.
Er sah, wie er in das kleine Krankenhaus ging und seine Tochter
erblickte, die regungslos, marmoriert und mit immer noch feuchten
Haaren auf dem Tisch lag. Er sah, wie er die zitternden Schultern
seiner Mutter berührte, er sah, wie sie den gebeugten Kopf schüttelte, sah, wie er zu seiner Frau ging und wusste, dass er sie trösten
sollte. Aber er konnte ihr nur seine Arme hinhalten – sonst nichts.
Er gab ihr sonst nichts, weil er nichts hatte, das er ihr geben konnte.
Er hatte alles andere fest weggeschlossen, denn was würde passieren,
wenn er dieses Schleusentor öffnete? Was würde herausströmen?
Noch im Traum konnte er Annies Haare an seinen trockenen
Lippen fühlen, er konnte ihre Stimme hören, erstickt und heiser,
als sie ihn genauso gefragt hatte wie Maria, Lazarus’ Schwester, Jesus gefragt hatte: „Wo warst du? Wo warst du? Wenn du nur hier gewesen wärst, wäre mein Kind nicht gestorben.“
Und dann lagen die beiden nebeneinander, Margaret und Kelly
Bright. Er wachte auf. Kalter Schweiß lag auf seiner Haut, pures
Entsetzen erfüllte ihn, beides war nichts Neues für ihn. Er lag regungslos in der Dunkelheit und lauschte auf die Geräusche in seiner Wohnung, auf das Summen des Kühlschranks, das Dröhnen
des Verkehrs vor seinem Fenster. Sein Herz und Atem nahmen wieder ein langsameres Tempo an, sein Schweiß trocknete allmählich.
Und er wünschte sich – oh, wie sehr er es sich wünschte, er könnte
sich einreden, dass das nur ein Traum gewesen sei.

Francke Verlag

416 Seiten (Papierausgabe)
Bestellnummer: 331907
ISBN: 978-3-86827-907-8
Erschienen im März 2014

Alma Mater, Birthe zur Nieden

07/16/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Alma Mater

Alma Mater

Marburg in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges:
Georg Kammann hätte sich nie träumen lassen, dass ausgerechnet er einmal Theologie studieren würde. Doch ein Überfall auf sein Heimatdorf, ein erhörtes Gebet und die Großzügigkeit seiner adeligen Patentante führen ihn in die Universitätsstadt Marburg. Hier eröffnen sich dem einfachen Lehrerssohn ungeahnte Möglichkeiten. Doch dann wird Marburg immer mehr zum Spielball der Mächtigen. Der Streit zwischen den Hessen-Kasselischen und den Hessen-Darmstädtischen entflammt neu und wird schonungslos auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung ausgetragen. Während die Kanonen donnern, muss Georg plötzlich selbst kämpfen: um seine Zukunft, seine Berufung, seinen Glauben und um das Mädchen, das er liebt.


LESEPROBE

Deutschland, 1642

Der März war erst wenige Tage alt und schmeckte mehr nach Winter als nach Frühling. Fröstelnd setzte Georg sein Bündel ab, um den Mantel enger um sich zu wickeln. Es war noch so früh am Morgen, dass ein bläuliches Licht über der Landschaft lag und die Konturen der immer noch kahlen Bäume am Wegesrand ineinanderzufließen schienen. Kälte lag auf dem Land und das Gras unter Georgs Füßen knisterte vom Raureif, aber die Straßen waren nun endlich frei von Schnee und trocken genug, um nach dreimonatiger Wartezeit nach Marburg aufbrechen zu können. Ab Grünberg würde er nicht mehr allein wandern müssen, dort hatte er sich mit drei Handwerksgesellen verabredet, die ebenfalls nach Marburg reisen wollten.

Je mehr Reisende gemeinsam unterwegs waren, desto sicherer war jeder einzelne. Heute sollte der Aufbruch von Grünberg aus stattfinden.
Wieder einmal knurrte Georgs Magen laut auf, aber er hatte ihm nichts zu bieten. Seine Mutter hatte ihm zwar etwas von den spärlichen Vorratsresten mitgeben wollen, aber er hatte abgewehrt. Er wusste gut, dass ihm vorerst nichts anderes übrigbleiben würde als zu betteln, und ob er einen Tag früher oder später damit anfing, fiel nicht ins Gewicht. Das, was er mitnahm, würde seiner Familie in den nächsten Tagen fehlen. Dort, wo sie waren, gab es niemanden mehr, den sie noch um ein Stück Brot hätten bitten können – dort, wo Georg hinging, hoffentlich schon.
Er nahm das Bündel wieder auf, schob es auf der anderen Schulter zurecht und setzte sich in Bewegung. Es war zu kalt, um hier stehenzubleiben, außerdem hatte er eine weite Strecke vor sich. Zurück schaute er nicht. Womöglich wäre er dann umgekehrt. Er hatte sich rasch von seiner Familie verabschiedet und nur noch einmal gewinkt, bevor er Günsendorf den Rücken gewandt und so schnell wie möglich davonmarschiert war. Trotzdem verspürte er bei dem Gedanken an sein Zuhause einen schmerzenden Klumpen in seiner Brust.
Georg versuchte das Gefühl zu ignorieren und stattdessen kräftiger auszuschreiten. Bald wurde es heller, wenn auch nicht allzu sehr, denn die Sonne blieb hinter einer dichten Wolkenschicht verborgen. Zu Georgs Linken lagen Felder, die von Unkraut überwuchert waren. Zu viele Bauern waren im letzten Jahr nicht dazu gekommen, ihre Äcker zu bearbeiten. Zu viele Bauern waren gar nicht mehr da, nachdem Pest und Krieg ganze Dörfer ausgerottet hatten. Im Stillen sandte Georg ein kurzes Gebet gen Himmel, dass seiner eigenen Heimat ein solches Schicksal erspart bleiben möge, dabei setzte er weiterhin einen Fuß vor den anderen. Marburg war noch weit.
Schließlich erreichte er Grünberg. Die drei Gesellen warteten bereits vor der Schenke auf ihn, vor der sie sich verabredet hatten. Sie sprachen nicht viel, ja, grüßten Georg nicht einmal wirklich, bevor sie losgingen, aber das war in Ordnung. Sie waren nur aus Notwendigkeit miteinander unterwegs und würden nach diesen sieben oder acht Stunden gemeinsamen Weges vermutlich kaum noch einmal miteinander zu tun haben. Seine drei Reisebegleiter waren auf der von ihren jeweiligen Zünften vorgeschriebenen Wanderschaft und blieben nirgends lange.
Nachdem sie die Stadt verlassen hatten, begannen die Wandergesellen Lieder zu singen, die meisten davon nicht gerade fromm, und Georg trottete ihnen schweigend hinterher. Sein Geist war sowieso längst in Marburg. Ob er die Aufnahmeprüfung auch wirklich bestehen würde? Was, wenn nicht? Und wovon würde er sein tägliches Brot bezahlen? Vor allem der letzte Gedanke saß nicht nur in Georgs Kopf, sondern auch in seinem leeren Magen und wurde dort immer drängender.
Irgendwann gegen Mittag konnte er nicht mehr weitergehen. Seine Beine fühlten sich so wackelig an, als ginge er durch tiefen Sand, und jeder Schritt brachte ihn zum Keuchen.
»Was denn, macht Ihr schon schlapp?«, spottete Dörr, der Wortführer, als er seinen Zustand bemerkte.
Georg zögerte, aber dann sagte er es doch: »Ich habe heute noch nichts gegessen.« Es half nichts, es zu verschweigen, er musste endlich etwas in den Magen bekommen.
»Erwartet Ihr etwa, von uns verpflegt zu werden?«
»Nein. Da vorne ist ein Dorf, ich werde dort um ein Stück Brot bitten.«
»Aber nicht in unserem Beisein, wir sind kein Bettelvolk!« Dörr machte ein angewidertes Gesicht. »Wir warten am Ortsausgang auf Euch.«
Georg nickte, drehte sich um und hielt mit zusammengebissenen Zähnen auf das Dorf zu. Wenn doch nur Sommer wäre, dann könnte er im Wald ein paar Brennnesseln oder Beeren finden und bräuchte nicht fremde Leute anzubetteln, die vermutlich selbst wenig zu beißen hatten. Aber es half nichts.
Das Dorf sah nicht sehr mitgenommen aus und Georgs Skrupel schwanden weiter, als er die kleine Herde Gänse und die Hühner sah, die zwischen den Häusern nach Körnern und Würmern suchten. Gerade, als er das erste Haus passierte, trat eine Frau aus einem Schuppen daneben, im Arm einen kleinen Korb.
Georg holte tief Luft und trat auf sie zu. »Verzeiht meine Dreistigkeit, aber hättet Ihr vielleicht etwas zu essen für mich? Ich bin auf dem Weg nach Marburg, mein Dorf wurde im letzten Jahr niedergebrannt und meine Eltern konnten mir nichts mitgeben.«
Die Frau betrachtete ihn mit misstrauisch zusammengezogenen Brauen. »Na schön«, sagte sie schließlich. In ihrem Korb lagen sechs oder sieben Eier. Georg konnte den Blick kaum davon abwenden. »Einen Kanten Brot kannst du kriegen.« Sie verschwand im Haus und kam mit einem durchaus großzügigen Stück Brot zurück. Georg nahm es und bedankte sich überschwänglich, bevor er seinen Weg fortsetzte. Sobald er aus dem Dorf heraus war, kaute er an dem Brot. Es war altbacken und fast schon steinhart, aber nahrhaft und nicht einmal verschimmelt, mehr hatte er beim besten Willen nicht verlangen können. Zu seiner Überraschung bekam er keine dummen Bemerkungen, sondern nur ein »Wohl bekomm’s!« zu hören, als er seine Reisegefährten einholte.
Die Sonne stand schon recht tief, als sie wieder einmal ein Dorf durchquerten und auf Anfrage erfuhren, dass sie in Leidenhofen waren. Bis Marburg sei es nicht mehr weit. Eigentlich hatten sie vorgehabt, in einem der nächsten Dörfer endlich zu rasten und die Nacht zu verbringen, aber auf diese Neuigkeit hin entschlossen sich die drei Gesellen, doch weiterzugehen. Georg widersprach nicht. Als sie der Weg durch den Wald führte, bereute er jedoch fast, dass er geschwiegen hatte. Es war dunkel, unheimlich und kalt.
Doch schließlich öffnete sich der Wald und im Licht der Abendsonne, die Georg von halb links ins Gesicht schien, bot sich ihm ein atemberaubender Ausblick. Sogar seine drei Gefährten blieben für einen kurzen Augenblick stehen, bevor sie den Berg hinabgingen, mit dem lautstarken Wunsch nach einem guten Bier und einem Mädchen auf den Lippen. Georg ließ sie ziehen und betrachtete die Stadt, die seine Zukunft barg.
Auf einem steil aufragenden Berg lag das Marburger Schloss, trutzig hinter den starken Mauern und Befestigungen und gleichzeitig schön und zierlich mit seinen Türmchen und Fensterfronten. Zu seinen Füßen zogen sich Häuser den Berg hinab, wie Schwalbennester klebten sie am Hang und liefen bis zur Lahn hin aus. Links unterhalb des Schlosses stand eine Kirche zwischen den Häusern, deren Turm seltsam schief aussah, und rechts am Fuß des Abhanges erhoben sich die ehrwürdigen, vierhundert Jahre alten Türme der Elisabethkirche. Hier also hatte man früher, zu papistischen Zeiten, wie die Heiden die Knochen der heiligen Elisabeth von Thüringen angebetet, bevor Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen der Reformation in seinem Land zum Durchbruch verholfen und die Gebeine seiner Vorfahrin aus der Kirche genommen hatte.
Vor all den anderen Gebäuden lag ein eng bebautes Vorstädtchen. Die träge dahinfließende Lahn machte eine Schleife darum und glitzerte, wo die Sonne noch auf sie traf. Die Fachwerkhäuser und Steingebäude warfen tiefe Schatten auf die steinerne Brücke, die in das Dorf hineinführte. Weidenhausen hieß es, erinnerte Georg sich an die Erzählungen seines Vaters.
Er atmete tief ein. Die Stadt lag großartig wie ein ausgebreiteter Schatz vor ihm und er hatte das Gefühl, als hieße sie ihn willkommen: ‚Sei gegrüßt, Georg Nicolaus Kammann, willkommen in deinem neuen Leben. Sei fleißig und lerne, Wissen gibt es hier im Überfluss, und solange du dich bemühst, wirst du am Ende deiner Zeit hier alles haben, was du brauchst, um deiner Kirche zu dienen.‘
Er wusste immer noch nicht, wovon er leben würde, falls er im Pädagogium aufgenommen werden sollte – aber er war bereit, vieles zu erdulden, wenn er hier sein Versprechen erfüllen und seinen Traum leben konnte. Mit neuem Mut und ohne seine Müdigkeit noch zu bemerken, machte Georg sich auf den Weg den Berg hinunter und lief auf die Brücke zu.

* * *

Die Straße war belebt. Etliche von Bauern und ihren Frauen gezogene Karren kamen Georg über die Brücke entgegen. Ihre Ladeflächen waren so gut wie leer. Ein Markttag ging zu Ende und es schien, als sei der Krieg hier weit weg. Gespräche, Rufe und Gelächter waren zu hören und die Menschen wirkten aufgeräumt. Von den drei Gesellen, die Georg noch eine Weile vor sich her hatte gehen sehen, war im Gedränge keine Spur mehr zu entdecken.
»Achtung! Aus dem Weg da!«, ertönte es zusammen mit dem dumpfen Klopfen von Hufen auf der unbefestigten Straße hinter Georg und er trat hastig zur Seite. Ein junger Mann trabte mit wehendem Mantel auf einem kräftigen Braunen vorbei, den Degen an der Seite und einen Hut mit einer leuchtend roten Feder auf dem Kopf. Ob er einer der adligen Studenten war? Ein mulmiges Gefühl begann sich in Georg auszubreiten. Daran hatte er noch gar nicht gedacht: Selbst wenn er es schaffen würde, wenn er wirklich studieren könnte, würde er in die Gemeinschaft der Studenten vermutlich doch nie hineinpassen. Er, der Sohn eines kleinen Dorfschulmeisters, zusammen mit den adligen Herren? Wie viel hatte man wohl mit ihnen zu tun? Und wie sollte man ihnen begegnen?
Aber zuerst einmal müsste er in das Pädagogium aufgenommen werden, rief Georg sich zur Ordnung. Das Studieren lag noch in weiter Ferne. Der Gedanke beruhigte und störte ihn gleichermaßen. Zunächst würde es hauptsächlich heißen, sein Latein zu perfektionieren und Rhetorik zu üben, den Katechismus und das Gesangbuch durchzunehmen. Vieles davon hatte er längst gelernt – vielleicht, vielleicht würden sie ihn in eine höhere Klasse einstufen, wenn er in der Prüfung sehr gut abschnitt? Das würde die Zeit verkürzen und damit das Problem seines Lebensunterhaltes. Er hatte zwar die Zusage seiner Patin, sein Schul- bzw. Studiengeld zu zahlen, aber wie lange sie ihn unterstützen wollte, hatte sie nicht geschrieben. Er musste einfach gut abschneiden, das war er ihr und auch seinem Vater schuldig. Aber jetzt sollte er lieber nicht weiter darüber nachdenken, sonst würde er noch so nervös, dass er nichts mehr wissen würde, wenn es so weit war.
Beginnen konnte all das sowieso erst morgen. Heute Abend war er lediglich ein Besucher. Zögerlich überquerte er die Brücke ganz am Rand, um nur ja niemandem im Weg zu sein, und betrat schließlich das eigentliche Marburg durch das hohe Stadttor. Die Straße stieg gleich danach an und führte rechts an einem beeindruckend großen Gebäude vorbei. Georg schaute an den trutzigen Mauern mit den kleinen Fenstern hinauf und fühlte eine leichte Gänsehaut über seinen Rücken laufen. Das konnte nur das ehemalige Dominikanerkloster sein, in dem das Pädagogium untergebracht war – hier würde er mit Gottes Hilfe bald lernen. Die südliche Außenseite des Klosters bildete gleichzeitig ein Stück der Stadtmauer, daran angeschlossen befand sich eine Kirche, die mit ihren hohen Spitzbogenfenstern auch ohne Turm für Georgs Begriffe schon prächtig genug war. Irgendwo in diesem riesigen Gebäudekomplex würde es hoffentlich wenigstens für diese Nacht ein Plätzchen für ihn geben?
Mit heftig pochendem Herzen ließ er den schweren eisernen Türklopfer an das Eingangstor niederfallen und wartete. Nach einer Weile näherten sich Schritte und die Tür wurde geöffnet. Ein junger Mann schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. Georg machte eine Verbeugung, die ihm sehr linkisch vorkam. »Verzeiht die Störung. Mein Name ist Georg Nicolaus Kammann und ich möchte mich zur Aufnahme ins Pädagogium bewerben.«
»So.« Sein Gegenüber strich sich über den modischen dunklen Spitzbart und betrachtete Georg von Kopf bis Fuß. »Wo kommt Ihr her, Kammann?”
»Aus Günsendorf bei Grünberg. Mein Vater ist dort der Lehrer.”
Die Augenbrauen seines Gegenübers hoben sich verächtlich. »Ein Dorflehrer. Aha. Hast du eine Empfehlung, einen Fürsprecher in der Stadt?«
Beklommen schüttelte Georg den Kopf. Er hatte nicht gewusst, dass das nötig war. Würden sie ihn ohne womöglich gar nicht erst prüfen?
»Hm. Hast du denn überhaupt das Schulgeld, wenn du hier wie ein Landstreicher anklopfst?«
»Ich habe einen Brief von meiner Patin in der Tasche, der edlen Frau Sophia Elisabeth von Sassen. Sie wird das Schulgeld zahlen.«
»Na schön. Dann kannst du morgen früh kommen. Ich werde dem Pädagogiarchen Bescheid geben. Wenn du Glück hast, wird er dich dann prüfen. Sei mit dem Glockenschlag sieben hier.« Damit trat er einen Schritt zurück und bevor Georg auch nur Luft holen konnte, um nach einem Platz zum Schlafen zu fragen, fiel die Tür vor seiner Nase ins Schloss.
Einen Augenblick stand er wie betäubt da und starrte auf das alte Holz und die eisernen Beschläge. Prüfung morgen um sieben, vielleicht auch noch beim Rektor des Pädagogiums, und er wusste nicht, ob er überhaupt ein Auge würde zutun können in dieser Nacht. Wenn er draußen übernachten musste, würde er sein Bündel bewachen müssen wie ein Hofhund das Haus seines Herrn.
Nur – wo konnte er sich überhaupt hinlegen? Wo schlief man hier, wenn man kein Geld und keinen Fürsprecher hatte? Für einen kurzen Augenblick wünschte sich Georg, er wäre nie auf diese Reise gegangen.
Aber es half ihm nicht, wenn er hier in Heimweh und Traurigkeit versank, im Gegenteil. Energisch schluckte er den Knoten hinunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, und machte sich auf die Suche nach einem Schlafplatz.
Der war nicht einmal so schwer zu finden, wie er gedacht hatte. Direkt unter dem stadtseitigen Ende der steinernen Weidenhäuser Brücke war es trocken, und ein Gestrüpp schützte vor direkten Blicken. Seinen vor Hunger schmerzenden Magen ignorierte Georg und sein Bündel legte er sich kurzerhand unter den Kopf.
Langsam wurde es Nacht. Gut, dass er wenigstens seinen Mantel hatte, auch wenn der im letzten Jahr noch kürzer geworden war, denn es wurde immer kälter. Nach einer Weile holte Georg alle Kleider, die er besaß, aus dem Bündel und zog sie übereinander. Dann rollte er sich wie ein Igel zusammen, hielt das deutlich geleerte Bündel zwischen Knien und Armen und schloss die Augen. Wenige Schritte von ihm entfernt gluckerte das Wasser der Lahn an ihm vorbei und sang ihn schließlich sanft in den Schlaf.

555 Seiten, Buch, Paperback
Format: 13,5 x 20,5 cm
Bestellnummer: 332157
ISBN: 978-3-96362-157-4
2. Auflage, erstmals erschienen im August 2020

Watchman Nee, Der geistliche Christ 1 Fleisch Geist Seele

01/01/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

IV. Vorwort Dem Herrn, dem ich diene, sage ich von Herzen Dank, dass er mir erlaubte, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte immer gehofft, dass ein Befähigterer diese Arbeit übernehmen würde. Aber es gefiel dem Herrn, mich damit zu beauftragen. Hätte ich wählen können, so wäre ich wohl der letzte gewesen, der dies geschrieben hätte, denn ich hatte nicht den Wunsch, solch ein Buch zu verfassen. Mein Zögern lag nicht darin begründet, dass ich mich von dieser Pflicht zurückziehen wollte, sondern vielmehr im Wissen, dass ein Buch, das den Weg des geistlichen Lebens und die Probleme des geistlichen Kampfes behandelt, gewiss die Möglichkeiten eines Menschen übersteigt, der den Herrn noch nicht einmal zehn Jahre lang kennt.

Die Bibel erlaubt einem Gläubigen, von seinen Erfahrungen zu berichten; ja, der Heilige Geist leitet ihn sogar an, dies zu tun, wie viel besser freilich, wenn solche Erfahrungen wie »entrückt in den dritten Himmel« nach »vierzehn Jahren« erwähnt werden. Nun habe ich zwar keine »Dritte-Himmel«-Erfahrung, noch habe ich eine große Offenbarung empfangen, aber ich konnte durch des Herrn Gnade lernen, ihm in den kleinen täglichen Dingen zu folgen. Ich unternehme deshalb den Versuch, den Kindern Gottes das weiterzugeben, was ich während dieser Jahre vom Herrn empfangen habe. Vor ungefähr vier Jahren sah ich die Notwendigkeit, dieses Buch zu schreiben.

Damals erholte ich mich von einer Krankheit in einer kleinen Hütte am Fluss, betete und las das Wort Gottes. Ich erkannte das dringende Bedürfnis nach einem Buch, das gegründet auf das Wort Gottes und auf die Erfahrung, den Gotteskindern ein klares Verständnis des geistlichen Lebens vermitteln könnte, um sie weiterzuführen und sie davor zu bewahren, im Dunkeln zu tappen. Damals wurde mir bewusst, dass mich der Herr beauftragte, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich begann die Kapitel zu ordnen, die die Unterscheidung von Geist, Seele und Leib behandeln, und ebenso den ersten Teil des Kapitels, das sich mit dem Seelenleben befasst. 

Ich gab aber das Schreiben bald wieder auf, wurde doch meine Zeit von vielen Aufgaben in Anspruch genommen. Das war aber nicht der Hauptgrund, denn zum Schreiben hätte ich trotzdem ab und zu Gelegenheit gehabt. Wenn ich die Feder zur Seite legte, so deshalb, weil noch manche Wahrheit niederzuschreiben war, die ich bis zu jenem Zeitpunkt noch nicht völlig durch eigene Erfahrung bestätigen konnte. Ich wusste, dass dieser Mangel den Wert und auch die Kraft dieses Buches vermindern würde. So zog ich es vor, zunächst in der Schule Gottes zu lernen und seine Wahrheiten in der Erfahrung zu erproben. Was ich dann schreiben würde, wären dann geistliche Realitäten und nicht nur geistliche Theorien. Darum wurde die Arbeit drei Jahre aufgeschoben.

Ich darf wohl sagen, dass mich dieses Buch während dieser drei Jahre trotzdem ständig innerlich beschäftigte. Obschon einige denken mochten, dass die Veröffentlichung dieser Arbeit längstüberfällig war, so konnte ich doch klar des Herrn Hand über dem Ganzen sehen. In den wenigen Jahren haben die in diesem Buch enthaltenen Wahrheiten, besonders jene im letzten Band, viele aus der Macht der Finsternis befreit, was beweist, dass wir an geistliche Realitäten gerührt haben. Durch die besondere Gnade des Herrn konnte ich die Erlösungsabsichten Gottes besser verstehen, die er dadurch verfolgt, dass er die alte Schöpfung von der neuen trennt. Dafür sage ich dem Herrn Dank. Er schenkte mir auch während meiner verschiedenen Reisen Gelegenheit zu Begegnungen mit vielen seiner Auserwählten, was meine geistliche Schau, Erkenntnis und Erfahrung förderte. In den Kontakten mit den Leuten zeigte mir der Herr nicht nur, worin der wahre Mangel unter seinen Kindern besteht, sondern auch die in seinem Wort geoffenbarte Abhilfe. Ich möchte daher meinen Lesern sagen, dass dies ein Handbuch für das geistliche Leben ist, dessen Inhalt lebensmäßig erprobt werden kann. 

Aufgrund meiner besonderen Erfahrungen, die ich in diesen wenigen Jahren machte, wurde mir nicht nur größere Erkenntnis über die Wirklichkeit der Ewigkeit zuteil, sondern gleicher weise auch über die große Schuld, die ich der Gemeinde Gottes gegenüber abzutragen habe. So hoffte ich, dieses Buch in kurzer Zeit fertig zu stellen. Ich danke Gott, dem Vater, und einigen meiner Freunde im Herrn, dass ich an einem stillen Ort ruhen und schreiben konnte. In wenigen Monaten hatte ich die ersten vier Hauptabschnitte abgeschlossen. Wenn ich auch die anderen Teile noch nicht begonnen habe, so bin ich doch sicher, dass Gott, der Vater, zur rechten Zeit die nötige Gnade dazu schenken wird. Da dieser Band nun bald herauskommen wird, und die anderen ihm bald folgen werden, so will ich offen bekennen, dass es nicht leicht war, diese Wahrheiten zu lernen; sie niederzuschreiben war noch schwerer. Ich kann schon sagen, dass ich zwei Monate lang täglich Satans Angriffe zu spüren bekam. Welch ein Kampf! Wie musste ich Widerstand leisten! Ich musste all meine Kräfte des Geistes, der Seele und des Leibes aufbieten, um mich gegen die Hölle zu behaupten. Diese Kämpfe sind nun vorübergehend unterbrochen, aber es sind noch weitere Kapitel zu schreiben.

Wenn du wie Moses auf dem Berge bist, dann vergaß bitte Josua unten im Tal nicht. Ich weiß, dass der Feind dieses Werk zutiefst hasst. Er wird alle Mittel einsetzen, um es den Menschen vorzuenthalten und sie am Lesen zu hindern. Oh, lass dies doch dem Feind nicht gelingen! Dieses Buch, das aus drei Bänden bestehen wird, ist nicht in der Form einer Predigt oder Auslegung geschrieben. Obschon sich alle Bände mit dem geistlichen Leben und Kampf befassen, liegt bei einigen Kapiteln der Nachdruck mehr auf dem geistlichen Leben, bei anderen mehr auf dem geistlichen Kampf. Das Buch als Ganzes ist so gestaltet, dass es als Leitfaden dienen kann. Die Betonung liegt deshalb auf dem Glaubensweg und nicht auf der Glaubensentscheidung. Mögen alle, deren Herzen sich nach ihrem Herrn sehnen, darin Hilfe finden. 

Ich bin mir wohl bewusst, dass das geistliche Leben der Leser dieses Buches sehr verschieden sein kann. Wenn du also auf schwer verständliche Punkte stoßen solltest, dann lehne sie bitte nicht ab und versuche sie auch nicht mit dem Verstand zu ergründen. Solche Wahrheiten sollten für später zurückgestellt werden. Wenn du diesen schwierigen Abschnitt später wieder liest (vielleicht nach zwei Wochen oder einem ganzen Monat), dann vermagst du ihn möglicherweise schon besser zu erfassen.

Dieses Buch hat es durchgängig mit dem geistlichen Leben als einer Erfahrung zu tun. Anders kann es nicht verstanden werden. Was am Anfang »ungenießbar« scheinen mag, kann später äußerst wertvoll werden. Du wirst es verstehen, wenn du die nötige geistliche Stufe erreicht hast. Ist es aber nötig, bis dahin zu warten, um alles zu verstehen? Wenn ja, wozu soll dann dieses Buch nützlich sein? Die geistliche Erfahrung eines Gläubigen ist von einem großen Geheimnis umgeben. Der Herr gibt uns immer zuerst einen Vorgeschmack eines tieferen Lebens, ehe er es uns völlig zur Erfahrung werden lässt. Manche Gläubige verwechseln den Vorgeschmack mit der Fülle und erkennen nicht, dass der Herr eben erst damit angefangen hat, sie zu führen. Was in diesem Buch gelehrt wird, kommt dem Bedürfnis derer entgegen, die gerade erst geschmeckt, aber noch nicht getrunken haben.

Vor etwas aber müssen wir uns hüten: wir sollten die Erkenntnis, die wir aus diesem Buch gewonnen haben, nie als Hilfe benutzen, uns selbst zu analysieren. Wenn wir in Gottes Licht das Licht erkennen, dann begreifen wir uns, ohne unsere Freiheit in Christo zu verlieren. Wenn wir uns aber den ganzen Tag analysieren und unsere Gedanken und Gefühle zerlegen, dann hindert uns das daran, uns in Christus zu verlieren. Der Gläubige kann sich nur dann selbst erkennen, wenn er die Erkenntnis von Gott selbst hat. Selbstanalyse und Selbstbewusstsein sind für das geistliche Leben schädlich.

 Es wäre gut, über Gottes Erlösungsplan nachzudenken. Gottes Absicht besteht darin, uns durch das neue Leben, das er uns bei der Wiedergeburt schenkte, von der Sünde, vom Natürlichen und übernatürlichen, d. h. von den satanischen, bösen Kräften in der unsichtbaren Welt zu erlösen. Diese drei Erlösungsstufen sind notwendig, wir können keine umgehen. Sobald ein Gläubiger Gottes Erlösungswerk beschränkt, erreicht er Gottes Ziel nicht. Das natürliche Leben (das gute Ich) und der übernatürliche Feind müssen überwunden werden. Es ist sicher gut, die Sünde zu überwinden, aber das Werk ist nicht getan, solange das widerspenstige Ich und der übernatürliche Feind unbesiegt bleiben. Das Kreuz vermag uns diesen Sieg zu schenken. Ich hoffe, diese Fragen durch Gottes Gnade genügend klar behandeln zu können.

Außer dem letzten Teil des dritten Bandes, der sich mit dem Leiblichen befassen wird, kann dieses Buch als biblische Psychologie betrachtet werden. Wir gründen alles auf die Bibel und können es durch die geistliche Erfahrung bestätigen. Durch das Studium des Wortes und durch die Erfahrung lernen wir, dass für jede geistliche Erfahrung (z. B. die Wiedergeburt) eine besondere Veränderung in unserem inneren Menschen stattfindet. Wir schließen, dass die Bibel den Menschen dreigeteilt sieht: Geist, Seele und Leib. Zudem werden wir gewahr, wie verschieden die Funktionen und Bereiche dieser drei Teile sind, ganz besonders von Geist und Seele. In diesem Zusammenhang ist es nötig, über den ersten Teil des ersten Bandes ein paar Worte zu sagen. 

Die Unterscheidung von Geist und Seele sowie der Unterschied in ihren Funktionen, sind unerlässliche Erkenntnisse für alle, die geistlich wachsen wollen. Erst nachdem wir wissen, was der Geist und was geistlich ist, können wir in Übereinstimmung mit dem Geist leben. Da aber ein großer Mangel in der Unterweisung dieser Erkenntnis besteht, will ich dies ausführlich zu erklären versuchen. Gläubigen, die bereits eine gewisse Grundlage haben, wird dieser erste Teil keine Schwierigkeiten bereiten; jene aber, die mit diesem Gedankengut nicht vertraut sind, sollen sich nur die Schlussfolgerungen merken und dann zum zweiten Teil übergehen. Der erste Teil befasst sich also nicht so sehr mit dem geistlichen Leben, er vermittelt vielmehr eine gewisse Erkenntnis, die für das geistliche Leben grundlegend ist. Dieser Teil wird vielleicht noch besser verstanden, wenn man ihn nach dem Studium des ganzen Buches erneut liest.

Ich bin nicht der erste, der die Unterscheidung zwischen Geist und Seele lehrt. Andrew Murray sagte einmal, die Gemeinde und die einzelnen Menschen müssten sich vor der ungehemmten Aktivität der Seele mit ihrer Kraft des Verstandes und des Willens hüten. F. B. Meyer erklärte, dass er sich ohne die Trennung von Geist und Seele sein eigenes geistliches Leben nicht hätte vorstellen können. Viele andere, wie z. B. Otto Stockmayer, Jessie Penn-Lewis, Evan Roberts und Madame Guyon, haben das auch bezeugt. Ich habe von ihrem Schrifttum reichlich Gebrauch gemacht, da wir ja vom Herrn alle den gleichen Auftrag empfangen haben. Ich habe mich daher entschlossen, im Allgemeinen auf Quellenhinweise zu verzichten. Dieses Buch ist nicht nur für Gläubige gedacht, es soll auch jenen helfen, die im Dienst des Herrn jünger sind als ich. Da wir für das geistliche Leben anderer verantwortlich sind, sollten wir wissen, aus was wir sie heraus — und in was wir sie hineinführen. Wenn wir den Menschen helfen, nicht mehr in der Sünde zu leben und für ihren Herrn zu eifern — ist das dann alles, was der Herr von uns verlangt? 

Oder gibt es mehr? Ich persönlich glaube, dass die Bibel mit aller Deutlichkeit dazu Stellung nimmt. Gottes Absicht ist es, seine Kinder völlig von der alten Schöpfung zu erlösen und in die neue Schöpfung eingehen zu lassen. Es spielt keine Rolle, wie sehr die alte Schöpfung dem Menschen gefallen mag — Gott hat sie verworfen. Wenn wir als Arbeiter Gottes wissen, was zerstört und was gebaut werden soll, dann sind wir keine blinden Blindenführer. Die Wiedergeburt — Gottes Leben empfangen — ist der Ausgangspunkt allen geistlichen Lebens. Wie unnütz ist es, wenn das Endresultat all unseres Ermahnens, Überzeugens, Argumentierens, Erkläret und Bemühens nichts anderes als ein vernunftmäßiges Wissen, eine willens mäßige Entschlossenheit und eine Gemütsbewegung ist. 

Das hat den Menschen nicht geholfen, Gottes Leben in ihrem Geist zu empfangen. Wenn wir aber erkannt haben, dass die Menschen zuerst Gottes Leben empfangen müssen, dann kann unsere ganze Arbeit drastisch anders werden. In der Tat wird uns diese Erkenntnis vergegenwärtigen, dass viele, die vorgeben, an den Herrn Jesus zu glauben, nie wirklich geglaubt haben. Tränen, Buße, Reform, Eifer und Anstrengung sind nicht die Echtheitszeichen eines Christen. Glücklich sind wir, wenn wir erkennen, dass unsere Verantwortung darin besteht, den Menschen Gottes unerschaffenes Leben zu bringen.

Wenn ich daran denke, wie sehr mich der Feind zu hindern suchte, die praktische Erfahrung der im dritten Band enthaltenen Wahrheiten zu machen, so kann ich nicht anders, als besorgt sein, dass einige, obschon sie das Buch besitzen, vom Satan gehindert werden, es zu lesen, oder wenn sie es lesen, er sie versucht, dies schnell wieder zu vergessen. Ich möchte daher meine Leser ermahnen, Gott zu bitten, dass er Satan wehre, sie am Lesen zu hindern. Bete, während du liest, mache aus dem, was du liest, ein Gebet. Bitte, dass Gott dich mit dem Helm des Heils bedecke, damit du nicht vergisst, was du liest oder nur deinen Verstand mit unzähligen Theorien füllst. 

Dann habe ich noch ein paar Worte an jene zu richten, die die Wahrheiten bereits besitzen, die auf den folgenden Seiten enthalten sind. Wenn Gott euch in seiner Gnade vom Fleisch und von der Macht der Finsternis erlöst hat, dann solltet ihr diese Wahrheiten anderen weitersagen. So werdet ihr, nachdem ihr das Buch völlig in euch aufgenommen habt, einige Gläubige um euch versammeln und sie diese Wahrheiten ebenfalls lehren. Wenn es zuviel ist, das ganze Buch durchzunehmen, so wird auch schon das Studium von einem oder zwei Teilen einen inneren Gewinn bringen. Es ist meine Hoffnung, dass die hier aufgezeigten Wahrheiten nicht unbeachtet bleiben. Nun liegt diese Arbeit in Gottes Hand. Möge er sie nach seinem Wohlgefallen segnen zum geistlichen Wachstum und geistlichen Sieg für mich und viele von meinen Brüdern und Schwestern. Möge Gottes Wille geschehen. Möge sein Feind besiegt werden. Möge unser Herr bald wiederkommen, um die Herrschaft anzutreten. Amen. Shanghai, 4. Juni 1927 Watchman Nee 

1. Geist, Seele und Leib Nach allgemein üblicher Auffassung besteht der Mensch aus der Dualität Seele und Leib. Demzufolge ist die Seele der unsichtbare, innere, geistliche Teil, während der Leib aus dem äußeren, körperlichen Teil besteht. Obschon diese Anschauung eine gewisse Wahrheit enthält, ist sie dennoch ungenau. Das ist die Ansicht des gefallenen Menschen, nicht diejenige Gottes; ohne eine Offenbarung von Gott gibt es hier kein zuverlässiges Konzept. Dass der Leib die äußere Hülle des Menschen ist, bezweifelt niemand, aber die Bibel spricht von Geist und Seele nie so, als ob es das gleiche wäre. Sie sind nicht nur dem Wort, sondern auch ihrem Wesen nach verschieden. Das Wort Gottes teilt den Menschen nicht in die zwei Teile Seele und Leib. Es behandelt ihn vielmehr als dreiteilig: Geist, Seele und Leib. 1. Thess. 5, 23 lautet: Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, und euer Geist ganz samt Seele und Leib müsse bewahrt werden unversehrt, unsträflich auf die Ankunft unsers Herrn Jesus Christus. Dieser Vers zeigt deutlich, dass der ganze Mensch aus drei Teilen besteht. Der Apostel Paulus weist hier auf die völlige Heiligung der Gläubigen hin: »heilige euch völlig«. Wie wird nach den Worten des Apostels ein Mensch völlig geheiligt? 

Dadurch, dass Geist, Seele und Leib bewahrt werden. Von daher wird uns leicht verständlich, dass der Mensch diese drei Teile in sich schließt. Dieser Vers macht einen Unterschied zwischen Geist und Seele, sonst hätte Paulus einfach »eure Seele« gesagt. Da nun Gott zwischen dem menschlichen Geist und der Seele einen Unterschied macht, kommen wir zu dem Schluss, dass sich der Mensch nicht aus zwei, sondern aus drei Teilen zusammensetzt: aus Geist, Seele und Leib. Hat es irgendeine Bedeutung, Geist und Seele zu trennen? Dies ist ein Punkt von größter Wichtigkeit, weil es eine große Wirkung auf das geistliche Leben des Gläubigen hat. Wie soll ein Gläubiger verstehen, was geistliches Leben ist, wenn er den Umfang des geistlichen Bereiches nicht kennt? Wie kann er ohne dieses Verständnis geistlich wachsen? 

Zwischen Geist und Seele nicht unterscheiden zu können, ist verhängnisvoll für den geistlichen Reifeprozeß. Christen halten seelische Dinge oftmals für geistlich und bleiben damit in einem »seelischen« Zustand und suchen nicht nach dem, was wirklich geistlich ist. Wir werden Schaden nehmen, wenn wir miteinander vermengen, was Gott getrennt hat. Geistliches Wissen ist sehr wichtig für das geistliche Leben. Es ist jedoch für den Gläubigen ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, dass er demütig und willig ist, die Belehrung des Heiligen Geistes anzunehmen. Wenn dies der Fall ist, so wird ihn der Heilige Geist die Trennung von Geist und Seele erfahren lassen, auch wenn er keine großen Erkenntnisse über diese Wahrheit hat. So kann einerseits der unkundigste Gläubige ohne die geringste Ahnung über die Trennung von Geist und Seele, dies dennoch im wirklichen Leben erfahren. Andererseits kann diese Erfahrung selbst dem bestinformierten Gläubigen, der mit der Wahrheit über Geist und Seele völlig vertraut ist, abgehen. Weit besser ist es, beides zu haben: die Erkenntnis und die Erfahrung. 

Der großen Mehrheit fehlt jedoch die Erfahrung. Es ist daher gut, sie bereits am Anfang über die verschiedenen Funktionen von Geist und Seele zu unterrichten, damit sie ermutigt werden, das zu suchen, was geistlich ist. Es gibt aber noch andere Schriftstellen, die gleichfalls zwischen Geist und Seele unterscheiden. »Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, der Gelenke und des Markes und ist ein Richter der Herzenssinne und Gedanken« (Hebr. 4,12). In diesem Vers teilt der Schreiber die nicht leiblichen Teile des Menschen in »Seele und Geist« auf. Der leibliche Teil wird hier als der Gelenke und Mark — Organe der Bewegung und der Sinneswahrnehmung — einschließende erwähnt. Wenn der Priester das Messer braucht, um das Opfer zu zerlegen, kann nichts in ihm verborgen bleiben. Selbst Gelenke und Mark werden getrennt. Gleicherweise braucht der Herr Jesus das Wort Gottes für seine Nachfolger, um bis zur Scheidung des Geistlichen, Seelischen und Körperlichen durchzudringen. Daraus folgt, dass Seele und Geist in ihrem Wesen verschieden sein müssen. Daraus wiederum wird ersichtlich, dass sich der Mensch aus drei Teilen zusammensetzt.

1.1 Die Erschaffung des Menschen »Und Jehova Gott formte den Menschen aus dem Staub der Erde und blies ihm den Lebensodem in die Nase; und so wurde der Mensch eine lebendige Seele« (1. Mose 2,7). Als Gott den Menschen schuf, formte er ihn aus dem Staub der Erde und blies ihm den »Lebensodem« in seine Nase. Sobald der Lebensodem, der zum Geist des Menschen wurde, mit dem Leib des Menschen in Kontakt kam, wurde auch die Seele geschaffen. Somit ist die Seele die Kombination von menschlichem Leib und Geist. Daher nennt die Schrift den Menschen »eine lebendige Seele«. Der Lebensodem wurde zum Geist des Menschen, d. h. zum Lebensprinzip in ihm. Der Herr Jesus sagt uns: »Der Geist ist's, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze. Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben.

« Dieser Lebensodem stammt vom Herrn der Schöpfung. Wir dürfen jedoch des Menschen Geist nicht mit Gottes Heiligem Geist verwechseln. Der letztere unterscheidet sich von unserem menschlichen Geist. Römer 8,16 stellt diesen Unterschied dadurch heraus, dass es hier heißt: »Der Geist selbst gibt Zeugnis unsrem Geist, dass wir Gottes Kinder sind.« Das ursprüngliche Wort für »Leben« in »Odem des Lebens« ist chay und steht in der Mehrzahl. Das führt uns auf die Tatsache zurück, dass das Einhauchen durch Gott ein zweifaches Leben hervorbrachte, ein seelisches und ein geistliches. Als der Hauch Gottes in den Leib des Menschen kam, wurde er zum Geist des Menschen, als aber der Geist durch den Leib reagierte, war die Seele entstanden. Das erklärt den Ursprung unseres geistlichen und seelischen Lebens. Wir müssen jedoch erkennen, dass dieser Geist nicht Gottes eigenes Leben ist, denn »der Atem des Allmächtigen gibt mir das Leben« (Hiob 33,4).

Es ist nicht das ungeschaffene Leben Gottes im Menschen, noch ist es das Leben, das wir bei der Wiedergeburt empfangen. Was wir bei der Wiedergeburt empfangen, ist Gottes eigenes Leben, wie es durch den Baum des Lebens versinnbildlicht ist. Unser menschlicher Geist aber besitzt, obschon er bleibend ist, kein »ewiges Leben«. »Formte den Menschen aus dem Staub der Erde« bezieht sich auf den Körper des Menschen. »Blies ihm den Lebensodem in die Nase« bezieht sich auf den Geist des Menschen, wie er von Gott kam. »Und der Mensch wurde eine lebendige Seele« bezieht sich auf des Menschen Seele, nachdem der Leib durch den Geist belebt wurde und zu einem lebendigen und bewussten Menschen wurde. 

Ein vollständiger Mensch ist eine Dreieinigkeit — die Zusammensetzung von Geist, Seele und Leib. Nach 1. Mose 2,7 wurde der Mensch aus zwei unabhängigen Bestandteilen geschaffen, dem leiblichen und dem geistlichen; als aber Gott den Geist in die irdische Hülle gab, entstand die Seele. Der mit dem toten Leib in Berührung gekommene menschliche Geist brachte die Seele hervor. Der Leib ohne den Geist war tot, mit dem Geist bekam der Mensch Leben. Das auf diese Weise belebte Organ wurde Seele genannt. »Der Mensch wurde eine lebendige Seele« gibt nicht nur der Tatsache Ausdruck, dass die Verbindung von Geist und Leib die Seele hervorbrachte, es lässt auch annehmen, dass Geist und Leib vollständig in dieser Seele aufgingen. Mit anderen Worten, Seele und Leib wurden mit dem Geist vereinigt, und Geist und Leib wurden mit der Seele verschmolzen. Adam, in seinem sündlosen Zustand, wusste nichts von diesen endlosen Kämpfen zwischen Geist und Fleisch, wie wir sie täglich erfahren. 

Da war eine vollkommene »Verschmelzung« dieser drei Naturen in eine einzige, und die Seele als das einigende Element wurde Ursache seiner Individualität, seiner Existenz als besonderes Wesen. Der Mensch war dazu ersehen, eine lebendige Seele zu sein, denn in ihr begegneten sich Geist und Leib, und durch sie wurde seine Eigenpersönlichkeit offenbar. Vielleicht wollen wir ein unvollkommenes Beispiel zu Hilfe ziehen: Wenn wir einige Tropfen Farbe in einen Becher Wasser fallen lassen, werden sich Farbe und Wasser vermischen zu einer dritten Substanz, zu Tinte. So verbinden sich die zwei unabhängigen Teile Geist und Leib, um eine lebendige Seele zu werden. (Der Vergleich hinkt in dem Sinne, als die durch die Verbindung von Geist und Leib gewordene Seele ein ebenso unabhängiges, unauflösliches Element wird, wie der Geist und der Leib.) Gott behandelte des Menschen Seele als etwas Einmaliges.

So wie die Engel als Geistwesen geschaffen wurden, so wurde der Mensch vor allem als eine lebendige Seele geschaffen. Der Mensch hatte nicht nur einen Leib mit Lebensodem, er wurde auch eine lebendige Seele. So spricht Gott später in der Schrift wiederholt vom Menschen als von der »Seele«. Warum das? Weil das, was der Mensch ist, davon abhängt, wie seine Seele ist. Seine Seele gibt sein Bild wieder und bringt seine Einzelpersönlichkeit zum Ausdruck. Sie ist das Organ seines freien Willens, das Organ, in dem Geist und Leib völlig verschmelzen. Wenn des Menschen Seele geneigt ist, Gott zu gehorchen, dann wird sie dem Geist erlauben, über den Menschen zu herrschen, wie Gottes Ordnung es vorsah. Die Seele kann aber, wenn sie dies will, auch den Geist unterdrücken und einen anderen Herrn über den Menschen herrschen lassen. Diese Triplizität von Geist, Seele und Leib mag mit einer Glühlampe verglichen werden. Innerhalb der Lampe, die den ganzen Menschen darstellen kann, gibt es elektrischen Strom, Licht und Draht. Der Geist gleicht dem Strom, die Seele dem Licht und der Leib dem Draht.

 Der Strom ist die Ursache des Lichtes, während das Licht die Wirkung des Stromes ist. Der Draht ist die materielle Substanz, die sowohl den Strom leitet, als auch das Licht zum Vorschein bringt. Durch die Verbindung von Geist und Leib entstand die Seele, was nur beim Menschen der Fall ist. So wie der Strom durch den Draht geleitet sich in Licht verwandelt, so wirkt der Geist auf die Seele, die sich ihrerseits durch den Leib mitteilt. Wir müssen jedoch bedenken, dass zwar die Seele der Angelpunkt der Elemente unseres Wesens im gegenwärtigen Dasein ist, der Geist aber die herrschende Kraft in unserem Auferstehungsleben sein wird. So sagt uns die Bibel: »Es wird gesät ein fleischlicher Leib, es wird auferstehen ein geistlicher Leib« (1. Kor. 15,44). Eines ist hier jedoch von großer Wichtigkeit: Bei uns, die wir mit dem auferstandenen Herrn vereint wurden, kann schon jetzt unser Geist über unser ganzes Wesen herrschen. Wir sind nicht mit dem »ersten Adam« vereint, der als eine lebendige Seele geschaffen wurde, sondern mit dem »letzten Adam«, der ein Leben schenkender Geist ist (1. Kor. 15,45). 1.2 

Die Funktionen von Geist, Seele und Leib Durch seinen Leib kommt der Mensch mit der materiellen Welt in Berührung. Wir können daher den Leib als den Teil bezeichnen, der uns das Weltbewußtsein gibt. Die Seele schließt den Verstand in sich, der uns im gegenwärtigen Dasein eine Hilfe ist, und die Gefühle, die von den Sinnen ausgehen. Da die Seele zum menschlichen Ich gehört und seine Persönlichkeit offenbart, wird sie als der Teil bezeichnet, der das Selbstbewusstsein vermittelt. Der Geist ist der Teil, durch den wir mit Gott in Verbindung kommen und durch den allein wir ihn zu fassen und anzubeten vermögen. Weil er uns über unsere Beziehung zu Gott Aufschluss gibt, wird der Geist das Element des Gottesbewußtseins genannt. Gott wohnt im Geist, das Ich wohnt in der Seele, während die Sinne im Leib wohnen. Durch seinen Geist hat der Mensch Umgang mit der geistlichen Welt und mit dem Geist Gottes, um beides, die Kraft und das Leben aus der geistlichen Welt zu empfangen und zum Ausdruck zu bringen. Durch seinen Leib ist der Mensch in Kontakt mit der äußeren, den Sinnen zugänglichen Welt, auf die er sowohl einwirkt, als auch von ihr beeinflusst wird. 

Die Seele steht zwischen diesen zwei Welten, gehört aber dennoch beiden an. Durch den Geist ist sie mit der geistlichen Welt verbunden und durch den Leib mit der materiellen Welt. Sie besitzt auch die Macht des freien Willens und kann daher ihre »Umgebung« wählen. Der Geist kann nicht direkt auf den Leib wirken. Er braucht dazu ein Medium, und dieses Vermittlungselement, die Seele, entstand dadurch, dass der Geist mit dem Leib in Berührung kam. Die Seele steht also zwischen dem Geist und dem Leib und verbindet diese miteinander. Der Geist kann sich durch die Seele den Leib unterwerfen, so dass er Gott gehorcht; gleicher weise kann aber auch der Leib durch die Seele den Geist negativ beeinflussen. Der Geist ist das edelste unter diesen drei Elementen, schafft er doch die Verbindung zu Gott. Der Leib ist das niedrigste, da er uns mit der Materie verbindet. Die dazwischen liegende Seele verbindet beide miteinander und trägt auch beider Wesenszüge. Die Seele ermöglicht es Geist und Leib, sich einander mitzuteilen und gemeinsam zu wirken. Es ist die Aufgabe der Seele, dafür zu sorgen, dass Geist und Körper ihre richtige Beziehung nicht verlieren, dass nämlich der Leib dem Geist untergeordnet bleibt und der Geist durch die Seele den Leib regiert. 

Die Seele des Menschen ist deshalb  von größter Bedeutung. Sie nimmt vom Geist, was dieser vom Heiligen Geist empfangen hat, damit die Seele, nachdem sie vervollkommnet wurde, dem Leib das vermittelt, was sie erhalten hat, so dass auch der Leib an der Vollkommenheit des Heiligen Geistes Anteil haben und zu einem geistlichen Leib werden kann. So ist also der Geist der edelste Teil des Menschen und hat seinen Sitz im innersten Bereich seines Wesens. Der Leib ist der niedrigste und hat den äußersten Platz inne. Zwischen beiden wohnt die Seele, die ihnen als Bindeglied dient. Der Leib ist die äußere

Schale der Seele, während die Seele die äußere Hülle des Geistes ist. Der Geist übermittelt seine Gedanken der Seele, und die Seele übt den Leib, den Anordnungen des Geistes zu folgen. Das ist die Aufgabe der Seele als Vermittlerin. Vor dem Sündenfall beherrschte der Geist durch die Seele das ganze Sein des Menschen. Die Kraft der Seele ist sehr groß, weil in ihr Geist und Leib verschmelzen und sie zum Sitz der Persönlichkeit und Wirksamkeit des Menschen machen. Bevor der Mensch eine Sünde beging, war die Macht der Seele vollkommen unter der Herrschaft des Geistes. Ihre Kraft war daher des Geistes Kraft. Der Geist kann nicht selbst auf den Leib einwirken, er kann dies einzig durch die Vermittlung der Seele. Das wird in Lukas 1,46-47 verdeutlicht: »Und Maria sprach: >Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.<« Hier zeigt der Wechsel in der Zeitform, dass der Geist zuerst in Gott Freude empfing und dann diese Freude durch die Seele auch rein äußerlich zum Ausdruck gebracht wurde. Halten wir nochmals fest, dass die Seele der Sitz der Persönlichkeit ist. Hier ist der Sitz von Wille, Verstand und Gefühl des Menschen. Während der Geist dazu dient, sich mit der geistlichen Welt in Verbindung zu setzen, und der Leib seinerseits mit der natürlichen Welt, so steht die Seele zwischen beiden und entscheidet, ob die geistliche oder die natürliche Welt regieren soll. 

Manchmal übernimmt auch die Seele selbst durch den Verstand die Herrschaft über den Menschen. Damit der Geist regieren kann, muss die Seele ihre Zustimmung geben, andernfalls ist der Geist nicht in der Lage, Seele und Leib zu regulieren. Die Entscheidung liegt aber bei der Seele, denn in ihr wohnt die Persönlichkeit des Menschen. So ist die Seele eigentlich der Drehpunkt seines ganzen Wesens, weil sie die Entschlusskraft in sich birgt. Nur wenn die Seele bereit ist, eine demütige Stellung einzunehmen, ist es dem Geist möglich, den ganzen Menschen zu führen. Wenn sich die Seele dagegen auflehnt, hat der Geist keine Macht. Das erklärt die Bedeutung des freien Willens des Menschen. Der Mensch ist kein Automat, der sich zwangsläufig nach Gottes Willen richtet. Er hat vielmehr die volle, unumschränkte Möglichkeit, selbst zu entscheiden. Er besitzt das Organ der eigenen Willenskraft und kann wählen, ob er Gott folgen oder ihm widerstehen und damit dem Satan folgen will. Gott will, dass der Geist, als der edelste Teil des Menschen, über den ganzen Menschen herrscht. Doch der Wille — der entscheidende Teil der Eigenpersönlichkeit — gehört zur Seele. Er ist es, der bestimmt, ob der Geist oder der Leib oder auch die Seele regiert. Im Blick auf die Tatsache, dass die Seele solche Macht besitzt und das Organ der Individualität ist, nennt die Bibel den Menschen »eine lebendige Seele«.

1.3 Der heilige Tempel und der Mensch »Wisst ihr nicht«, schreibt der Apostel Paulus, »dass ihr Gottes Tempel seid und dass Gottes Geist in euch wohnt?« (1. Kor. 3,16). Er hatte eine Offenbarung empfangen, nach der der Mensch mit einem Tempel verglichen wird. So wie Gott vormals im Tempel wohnte, so wohnt der Heilige Geist heute im Menschen. Daraus, dass er mit dem Tempel verglichen wird, können wir auch die Bedeutung der Dreiteilung des Menschen ersehen. Wir wissen, dass der Tempel in drei Teile unterteilt ist. Der erste ist der Äußere Vorhof, den alle sehen und besuchen können. Der allgemeine Gottesdienst wird hier verrichtet. Wenn wir weiter hineingehen, kommen wir in das Heiligtum, in das nur die Priester gehen dürfen, um Gott Öl, Weihrauch und Brot darzubringen. Sie sind schon recht nahe bei Gott, aber noch nicht am nächsten, denn sie sind immer noch außerhalb des Vorhanges und daher noch nicht in der eigentlichen Gegenwart Gottes. Gott wohnt im tiefsten Innern, im Allerheiligsten, wo die Dunkelheit von einem Licht überstrahlt ist, zu dem kein Mensch Zutritt hat. 

Obschon der Hohepriester einmal jährlich hineingeht, zeigt dies doch, dass kein Mensch im Allerheiligsten sein kann, bis der Vorhang zerrissen ist.Auch der Mensch ist ein Tempel Gottes und besteht aus drei Teilen. Der Leib ist der Äußere Vorhof und nimmt eine äußere Stellung ein mit einem jedermann sichtbaren Leben. Hier sollte der Mensch den Geboten Gottes gehorchen. Hier dient der Sohn Gottes als Stellvertreter und stirbt für die Menschheit. Inwendig ist die Seele des Menschen, die das innere Leben des Menschen ausmacht und die des Menschen Empfinden, Entschlusskraft und Verstand einschließt. So sieht das Heiligtum eines wiedergeborenen Menschen aus, denn seine Liebe, sein Wille und seine Gedanken sind völlig erleuchtet, damit sie Gott dienen, wie dies die Priester des Alten Bundes taten. Im Innersten, hinter dem Vorhang, befindet sich das Allerheiligste, in das kein menschliches Licht je durchgedrungen und kein Auge je eingedrungen ist. Es ist »der geheime Ort des

Höchsten«, der Wohnsitz Gottes. Er ist unerreichbar für den Menschen, es sei denn, Gott zerreißt den Vorhang. Dies ist des Menschen Geist. Dieser Geist liegt jenseits des menschlichen Eigenbewußtseins und über seinem Empfindungsvermögen. Hier kommt der Mensch mit Gott in Verbindung und vereinigt sich mit ihm.

Für dieses Allerheiligste gibt es kein Licht, weil Gott dort wohnt. Im Heiligtum gibt es Licht, befindet sich dort doch der siebenarmige Leuchter. Der Äußere Vorhof steht in vollem Tageslicht. All dies dient als Bild und Vorschattung des wiedergeborenen Menschen. Sein Geist ist gleichsam das Allerheiligste, in dem Gott wohnt, wo der Glauben regiert und nicht die Sinne, das Empfinden oder Verstehen des Gläubigen. Die Seele gleicht dem Heiligtum, denn sie ist genügend »ausgeleuchtet« durch vernünftige Gedanken und Konzepte, viel Wissen und Verständnis der Dinge der ideellen und materiellen Welt. Der Leib ist dem Äußeren Vorhof vergleichbar und für alle klar erkennbar. Die Handlungen des Leibes können von jedermann beobachtet werden. Die Ordnung, die Gott uns darbietet, ist unmissverständlich: »euer Geist, Seele und Leib« (1. Thess. 5,23). 

Es heißt nicht »Seele und Geist und Leib,« auch nicht »Leib und Seele und Geist«. Der Geist ist der vornehmste Teil und wird daher zuerst genannt. Nachdem wir nun Gottes Ordnung gesehen haben, vermögen wir auch die Weisheit der Bibel zu würdigen, die den Menschen mit einem Tempel vergleicht. Wir erkennen die vollkommene Harmonie, die zwischen dem Tempel und dem Menschen besteht, sowohl hinsichtlich der Ordnung als auch des Wertes. Aller Tempeldienst geschieht aufgrund der Offenbarung im Allerheiligsten. Die Verrichtungen im Heiligtum und im Vorhof sind durch die Gegenwart Gottes im Allerheiligsten geregelt. Dies ist die Stelle, an der die vier Ecken des Tempels zusammenlaufen und ruhen. Es mag uns scheinen, dass im Allerheiligsten nichts getan würde, weil es dort stockdunkel ist. Alle Verrichtungen geschehen im Heiligtum; selbst jene im Äußeren Vorhof werden von den Priestern des Heiligtums überwacht. Alle Tätigkeit im Heiligtum wird aber in Wirklichkeit durch die Offenbarung in der äußersten Ruhe und dem Frieden des Allerheiligsten bestimmt. Es ist nicht schwierig, hier die geistliche Parallele zu erkennen. Die Seele, das Organ unserer Persönlichkeit, setzt sich aus Verstand,

Willenskraft und Gefühl zusammen. Es scheint, als sei die Seele Herr aller Handlungen, weil der Leib ihren Anweisungen gehorcht.Vor dem Fall des Menschen aber war die Seele trotz ihrer Bedeutsamkeit vom Geist geleitet. Das ist die Ordnung, an der Gott noch immer festhält: zuerst der Geist, dann die Seele und zuletzt der Leib.

2. Geist und Seele 2.1 Geist Es ist für einen Gläubigen von größter Wichtigkeit zu wissen, dass er einen Geist hat, weil hier die Kommunikation Gottes mit ihm stattfindet. Wenn der Gläubige seinen eigenen Geist nicht erkennt, weiß er auch nicht, wie er im Geist mit Gott Verbindung haben kann. So geschieht es leicht, dass er die Gedanken oder Gefühle der Seele als das Werk des Geistes missversteht. Auf diese Weise verbannt er sich selbst in den äußeren Bereich und bleibt unfähig, den geistlichen Bereich zu erleben. 1. Kor. 2,11 spricht vom »Geist des Menschen, der in ihm ist«. 1. Kor. 5, 4 erwähnt »mein Geist«. Röm. 8, 16 sagt »unser Geist«. 1. Kor. 14, 14 gebraucht »mein Geist«. 1. Kor. 14, 32 sagt uns vom »Geist der Propheten«. Sprüche 25, 28 bezieht sich auf »sein eigener Geist«. Hebr. 12, 23 erwähnt »der Geist gerechter Menschen«. Sach. 12, 1 stellt fest, dass »der Herr... den Geist des Menschen in ihm formte«. Diese Schriftstellen zeigen zur Genüge, dass wir menschliche Wesen einen menschlichen Geist besitzen. Dieser Geist ist nicht  dasselbe wie unsere Seele, noch ist er mit dem Heiligen Geist zu verwechseln. In diesem Geist beten wir Gott an. Nach dem, was die Bibel und auch die Erfahrung von Gläubigen uns lehrt, kann gesagt werden, dass der menschliche Geist aus drei Teilen besteht oder, um es anders auszudrücken, drei Hauptfunktionen hat. Es sind dies: das Gewissen, die Intuition und die Kommunion. Das Gewissen ist das unterscheidende Organ, das Recht und Unrecht erkennt, jedoch nicht durch die Beeinflussung des im Gehirn gespeicherten Wissens, sondern durch ein unvermitteltes, direktes Urteil. Sehr oft will unser Verstand das rechtfertigen, was unser Gewissen entschieden hat

ISBN:    9783856661014
Format:    20,5 x 13,5 cm
Seiten:    190
Gewicht:    235 g
Verlag:    Schwengeler
Erschienen:    1975
Einband:    Paperback

Nee Watchman, Christus unser Leben

07/14/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

22. Lektion — Wenn jemand sündigt

»Und der HERR redete zu Mose und Aaron und sprach: Dies ist eine Gesetzesbestimmung, die der HERR geboten hat, indem er sprach: Sage den Kindern Israel, dass sie zu dir bringen eine tadellose Kuh, an der kein Mangel und auf die noch kein Joch gekommen ist, und gebt sie dem Priester Eleasar, der soll sie vor das Lager hinausführen und
daselbst vor seinen Augen schlächten lassen. Danach soll Eleasar, der Priester, mit seinem Finger von dem Blute nehmen und von ihrem Blut siebenmal gegen die Stiftshütte sprengen, und die Kuh soll er vor seinen Augen verbrennen lassen; ihre Haut und ihr Fleisch, dazu ihr Blut samt ihrem Mist soll er verbrennen lassen.

Und der Priester soll Zedernholz und Ysop und Karmesin nehmen und es auf die brennende Kuh werfen. Und der Priester soll seine Kleider waschen und seinen Leib im Wasser baden und danach ins Lager gehen; und der Priester soll unrein sein bis an den Abend. Gleicherweise soll der, welcher sie verbrannt hat, seine Kleider mit Wasser waschen und seinen Leib mit Wasser baden und unrein sein bis an den Abend. Und ein reiner Mann soll die Asche von der Kuh sammeln und außerhalb des Lagers an einen reinen Ort schütten, damit sie daselbst für die Gemeinde der Kinder Israel aufbewahrt werde für das Reinigungswasser; denn es ist ein Sündopfer. 

Und der, welcher die Asche von der Kuh gesammelt hat, soll seine Kleider waschen und unrein sein bis an den Abend. Es soll aber dies eine ewig gültige Satzung sein für die Kinder Israel und für die Fremdlinge, die unter ihnen wohnen: – Ein solcher soll sich mit demselben (Wasser) am dritten und am siebenten Tag entsündigen, so wird er rein.
Wenn er sich aber am dritten und am siebenten Tag nicht entsündigt, so wird er nicht rein. Wenn aber jemand den Leichnam eines Menschen anrührt und sich nicht entsündigen wollte, der verunreinigt die Wohnung des HERRN, eine solche Seele soll aus Israel ausgerottet werden, weil das Reinigungswasser nicht über sie gesprengt
worden ist; und sie bleibt unrein, ihre Unreinigkeit ist noch an ihr. – Sie sollen nun für den Unreinen von der Asche dieses verbrannten Sündopfers nehmen und lebendiges Wasser darüber tun in ein Geschirr. Und ein reiner Mann soll Ysop nehmen und ins Wasser tunken und das Zelt besprengen und alle Geschirre und alle Seelen, die darin
sind; also auch den, der ein Grab angerührt hat.
Und der Reine soll den Unreinen besprengen am dritten und am siebenten Tage; so wird er ihn am siebenten Tage entsündigen; und er soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser baden, so wird er am Abend rein sein.« (4. Mose 19,1-10.12-13.17-19).
»Wenn wir aber im Lichte wandeln, wie er im Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft miteinander, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns; wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er
uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns. Meine Kindlein, solches schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt! Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, dem Gerechten; und er ist das Sündopfer für unsere Sünden, aber nicht für die unsren, sondern auch für die der ganzen Welt.« (1. Joh. 1,7 – 2,2).

22.1 Die Erlösung durch das Kreuz und das Werk des Heiligen Geistes Wie kann ein Erlöster, der sündigt, mit Gott wieder in Ordnung kommen? Dies ist ein Problem, das dringend der Lösung bedarf. Wenn er nicht weiß, wie er mit Gott wieder zurechtkommen kann, wird er den Weg zu Gott zurück nicht finden. 

22.1.1 Das Werk des Herrn und das Werk des Heiligen Geistes und worin sich diese unterscheiden Durch seinen Tod am Kreuz hat uns der Herr Jesus von all unseren Sünden reingewaschen und erlöst. Als wir zu Jesus kamen, hat uns der Heilige Geist Licht geschenkt und uns unsere Sünden aufgedeckt. Was uns der Heilige Geist zeigte, umfasste aber nicht alles, was der Herr am Kreuz vollbrachte. Es lohnt sich, diesen Unterschied zu beachten. So wie das Sündopfer in 3. Mose 16 jede
Sünde in sich schloss, so trug auch der Herr Jesus am Kreuz alle unsere Sünden. Seine Erlösung umfasste jede Sünde, die wir möglicherweise während unserer Lebenszeit begehen. Als er am Kreuz starb, hat er in der Tat die Sünden unseres ganzen Lebens auf sich genommen.
Dennoch, wenn wir vom Heiligen Geist erweckt, zum Glauben an den Herrn kommen, kann er uns nur zur Buße über vergangene Sünden bewegen und nicht über alle Sünden unseres ganzen Lebens. Wenn uns der Heilige Geist überführt, dann stützt er sich dabei auf die Sünden, die wir bereits begangen haben, nicht auf jene, die wir noch nicht begangen haben! An dem Tag, da wir errettet werden, sind wir daher vom Licht des Heiligen Geistes bei weitem nicht so vieler Sünden überführt, wie der Herr für uns am Kreuz getragen hat.

Was der Herr am Kreuz tat, ist allumfassend; was mir hingegen der Heilige Geist aufdeckt und wofür ich Vergebung empfange, betrifft nur die Sünden, die ich bis zu dem Tage begangen habe, da ich zum ersten Mal mein Vertrauen auf den Herrn setze. Der Heilige Geist sucht mich niemals Sünden zu überführen, die ich nicht begangen habe. Solche kann ich weder kennen, noch mich ihrer schuldig fühlen. Es besteht daher ein Unterschied zwischen dem Herrn Jesus, der unsere Sünden trägt und dem Heiligen Geist, der uns unsere Sünden aufdeckt. Das ist es, was uns der Apostel Johannes verständlich zu machen sucht.

22.1.2 Die Grundlage, um die Gnade des Herrn zu kennen
Alle Sünden der Vergangenheit, all jene, die wir vor dem Tage unserer Errettung begingen, ungeachtet wie alt wir derzeit waren, sind uns sicherlich vergeben. Wir müssen aber wissen, dass die Sünden, die uns zu jenem Zeitpunkt vergeben wurden, weniger sind als die Sünden, die der Herr tatsächlich für uns getragen hat. Wir kennen die Gnade des Herrn nur gemäß der Sünde in unserem persönlichen Leben. Der Herr hat aber all unsere Sünden getragen und dies gemäß seiner genauen Kenntnis, die er über uns besitzt — d. h. alle Sünden, die wir je begehen werden.

22.2 Sündigen nach der Errettung

Wenn jemand errettet ist und hernach wieder, sündigt, kann ihm das unsäglich' e Nöt bereiten. Seit 1921, als ich anfing Gottes Volk zu dinen, bin ich von vielen über dieses Problem des Sundigens nach der. Errettung befragt worden Sie sagen »Ich weiß,".daß mir der Herr alle meine Sunden vergeben hat und daß ich bereits errettet bin und volle Vergebung habe Aber seit ich errettet bin, habe ich wiederum viele Sunden begangen, und das beunruhigt mich tief. Was
kann:ich da tun?« 

1. Was der Herr am Kreuz trug
Ich hoffe, ihr habt alle begriffen, daß all die Sünden, die ihr begehen mögt nachdem ihr errettet seid, in der Erlösung .des Herrn Jesus

Der persönliche Auftrag des Christen, Watchman Nee

05/03/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

1 Gottes Facharbeiter

Berufung von Gott ist immer an einen bestimmten Menschen gerichtet. In gewissem Grad wenigstens können wir das bei allen von ihm Berufenen feststellen. Die 'Beauftragung betrifft immer eine Einzelperson, nicht die Allgemeinheit. die Gesamtheit der Menschen. Es gefiel Gott wohl", sagt Paulus, „daß er seinen Sohn in mir offenbarte."
Auch der Gegenstand der Berufung ist immer etwas Bestimmtes, nie vage oder zufällig. Gott will mich nicht bloß in seinen Dienst stellen, sondern ich soll etwas Bestimmtes tun, damit er sein Ziel erreicht. Zwar besteht für. seine Gemeinde ein Auftrag allgemeiner Art, nämlich _alle Völker zu Jüngern zu machen"; aber im übrigen ist Gottes Auftrag ein persönlicher Auftrag. Er beruft uns, damit wir ihm auf det Gebiet dienen, das er jeweils für uns ausgesucht hat; wir sollen etwa seinem Volk ein besönderes Teilstück der Fülle Christi darlegen oder eine sonstige bestimmte Aufgabe ausführen, die mit seinem Plan in Beziehung Steht.
In diesem Sinn ist ein Dienst von Gott, wenigstens bis zn einem gewissen Grad, immer ein spezieller Dienst: Wie Gott seine 'Diener nicht alle zu der gleichen Aufgabe beruft, .so wendet er bei der Zurüstung der einzelnen auch nicht die gleichen Mittel an. Da er Herr über alle Vorgänge ist, kann er frei bestimmen, wie und wodurch er die einzelnen vorbereiten und heranbilden will und ob sie außerdem durch Leiden geprüft werden sollen.. Der Berufene soll nicht Diener schlechthin sein, sondern einen speziellen Dienst am Volk Göttes tun, einen Dienst, den Gott selber festlegt, je nach den Bedürfnissen der Seinen im jeweiligen Augenblick. Dabei muß der Diener sein Amt zu seiner eigensten Angelegenheit machen und mit ihm verschmelzen. Der Auftrag ist ein persönlicher, weil er direkt von Gott kommt; und er darf nicht abgelehnt wer-
den, weil er zum PlanS Gottes gehört und *eil alles, was Gott plant Wirklichkeit wird
Jedem durch den Geist Gottes geleiteten Leser .des Neuen Testamentes wird dies schon mehr öder weniger aufgefallen sein. Ich glaube, es lassen sich dort drei Arten des Dienstes unterscheiden, die ihren Schwerpunkt an einer jeweils anderen Stelle haben. In Erscheinung treten sie in dem verschiedenartigen Wirken drei führender Apostel: Petrus, Paulus und Johannes. Obwohl diese drei zweifellos vieles gemeinsam haben, zeigt sich an manchen Stellen des biblischen Berichts, daß der Hauptakzent ihres Wirkens auf deutlich verschiedenen Gebieten lag. Man kann deshalb schließen, jedem von ihnen, sei von Gott ein 'ganz besonderer Aufgabenbereich übertragen worden. Im 'Neuen Testament, möchte ich behaupten, kann man drei durchgehende Denkrichtungen verfolgen, die in unterschiedlichem Maß zwar bei sämtlichen Aposteln zum Ausdruck kommen, ‚aber in besonderer Weise hervortreten und anschaulich werden in den einzigartigen Beiträgen jener drei. 

Die Unterschiedlichkeit ihres Wirkens beruht teilweise auf dem zeitlichen Nacheinander; denn jeder der drei fügt seinen eigenen Beitrag als etwas Neues an das Vorhergehende an. Die Verschiedenheit ist nämlich nicht derart,, daß sie die drei Apostel etwa trennte oder in Widerspruch zueinander brächte. Was der eine an Besonderem hat, steht zu dem Besonderen der anderen nicht im Gegensatz,'. sondern ergänzt es. Vielleicht liegt der Unterschied lediglich darin, daß nur jeweils ein Teilbereich über 'ihr. Wirken zu unserer Belehrung aufgezeichnet worden ist.:
Dennoch, ‚glaube ich, lassen sich 'die 'drei. Linien, die durch Petrus, Paulus. und, Johannes besonders' vertreten sind, durch die, ganze Schrift verfolgen, und zwar 'als die drei hauptsächlichen Wege, die Gott seinen Dienen für alle Zeiten gewiesen hat. Im Neuen 'Testament finden wir viele und ganz verschiedenartige Dienste denken wir etwa an Philippus und' Barnabas, an.. Silas und Apollos, an Timo-theus und Jakobus.' Und die spätere Geschichte berichtet