Oke Janette, Maria - zur Liebe befreit

07/06/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Maria

Die Strahlen der Spätnachmittagssonne fielen auf das dünne blaue Kattunkleid, das Maria trug. Sie hatte sich die Haube zurückgeschoben und die Zöpfe gelöst, die ihre Haare iiormalerweise gefangen hielten, um sich mit den Fingern durch die schweren, braunen Locken zu fahren, die ihrem Gesicht einen elfenhaften Ausdruck verliehen.
Doch weder der Sonnenwärme noch den Locken, die um ihr Gesicht spielten, schenkte sie Beachtung. Sie war mit den Gedanken weit weg und merkte nichts von den Geräuschen und Gerüchen um sie her. Barfuß schlenderte sie durch den Staub der zerfurchten Landstraße, die von den Einheimischen „Hauptstraße" genannt wurde. Und obwohl sie tief in Gedanken versunken war, suchten ihre lebendigen blauen Augen das Gras zu beiden Seiten der Straße nach den kleinen roten Farbtupfern ab, die reife wilde Erdbeeren versprachen.
Ihre abgetragenen Schulschuhe, die einzigen, die sie besaß, hatte sie an den ausgefransten Schnürsenkeln zusammengebunden und sich über die Schulter geworfen. Mit jedem Schritt baumelten sie leicht hin und her, doch auch das schien sie kaum zu merken. Die ergatterten Beeren legte sie behutsam in den rotlackierten metallenen Pausenbrotbehälter mit den eingekratzten Initialen „M. T.", die für „Maria Trent" standen.


Sie hätte die Erdbeeren genausogut in ihrem Mund verschwinden lassen können, doch selbst in ihrer Geistesabwesenheit sammelte sie sie automatisch für die kleinen Händepaare, die sich zu Hause danach ausstrecken würden.
Ernste Gedanken beschäftigten sie. Heute war ihr letzter Schultag. Ihr allerletzter Schultag! Und die Schule würde ihr fehlen. Sehr sogar.
Doch während dieser traurige Gedanke sie erfüllte und ihr den Hals zuschnüren wollte, war ihr zugleich klar, daß sie allen Grund hatte, sich glücklich zu schätzen. Die meisten Mädchen in ihrem Alter hatten ja schon längst mit der Schule aufhören müssen, weil sie zu Hause gebraucht wurden. Sie dagegen war schon sechzehn und hatte sich noch mit den jüngeren Kindern auf den Schulweg machen dürfen. Natürlich nicht jeden Tag. Sie hatte sogar fast ein ganzes Jahr aussetzen müssen, als ihre Mutter so krank gewesen war. Und auch während der Aussaat, der Ernte und zu anderen Zeiten hatte Mama sie zu Hause nicht entbehren können. Dennoch war sie häufig genug in der Schule gewesen, um mit ihren Klassenkameraden problemlos Schritt zu halten. Aber das war nun vorbei. Sie hatte das achte Schuljahr vollendet. Mehr gab es nicht für sie.
Unvermittelt wachte sie aus ihrer Tagträumerei auf und sah zum Nachmittagshimmel auf. Erschrocken stellte sie fest, wie weit die Sonne schon vorgerückt war. Liebe Güte, sie hatte ja gar nicht gemerkt, wie lange sie getrödelt hatte! Ihre Mutter fragte sich bestimmt schon längst, wo sie steckte.
Sie ließ eine Handvoll reifer Beeren in den Behälter rieseln. Sie mußte sich jetzt beeilen. Bevor die Sonne unterging und die Tür des Farmhauses die Dunkelheit des Frühlingsabends aussperrte, gab es noch eine Menge zu tun.
Sie war gern zur Schule gegangen und hätte Beträchtliches leisten können, wenn sich die Gelegenheit dazu geboten hätte. Das war ihr nicht bewußt, doch ihren Lehrern war es klar. Maria wußte nur das eine: Sie lernte für ihr Leben gern. Neuland zu erforschen war ein spannendes Abenteuer für sie, und ihr Puls pochte schneller, wenn sie auf den Seiten eines Buches fesselnde Entdeckungen machte. Bücher hatten ihren Horizont weiter, größer gemacht, und sie nahm die Welt um sich her und das, was sich jenseits davon abspielte, um so bewußter wahr.
Doch jetzt war das alles vorbei. Sie hatte das Ende des Weges erreicht. Den letzten Tag des achten Schuljahrs. Endlich erreichte sie den Hof ihrer Eltern und hastete auf das Haus zu. Mama war nach dem langen Tag bestimmt müde. Maria graute vor dem blassen Gesicht, dem erschöpften Blick, den gebeugten Schultern, die wieder einmal von einem Tag an der Waschbütte oder im Gemüsegarten zeugten. Ihre Mama arbeitete so hart, während Maria sich mit wilden Erdbeeren aufgehalten hatte.
Sie betrat die Küche und stellte ihren Pausenbrotbehälter auf dem kleinen Tisch neben der Tür ab. Ihre Mama stand am Küchenschrank, und ihre Schultern waren tatsächlich vor Erschöpfung gebeugt, doch als sie Maria hereinkommen hörte, drehte sie sich zu ihr um. Am liebsten hätte Maria den Blick gesenkt, um der Müdigkeit in den Augen ihrer Mutter auszuweichen, doch sie brachte es nicht fertig. Ein klares, blaues Augenpaar begegnete einem Paar rauchgrauer Augen. Maria sah die Erschöpfung darin, die sie erwartet hatte, doch sie sah auch, wie sich die grauen Augen spontan erhellten und vor Wärme und Eifer aufleuchteten.
„Na, hast du dein Abschlußzeugnis?" fragte ihre Mama, und die Begeisterung in ihrer Stimme breitete sich auch auf ihrem Gesicht aus.
Nun leuchteten auch Marias Augen. Sie nickte und griff in das Oberteil ihres Kleides, wo sie das Zeugnis sorgfältig verstaut hatte, um es nicht mit Beerenflecken zu verunzieren. Sie strich einen winzigen Knick im Papier glatt und reichte es ihrer Mutter.
„Achtes Schuljahr!" rief die Frau aus und starrte auf das kleine, doch ungeheuer wichtige Dokument. In ihren Augen glitzerte es verdächtig, während sie es gründlich betrachtete.
„Da steht, daß ich das achte Schuljahr mit höchster Auszeichnung vollendet habe", sagte Maria beinahe flüsternd - nicht aus Prahlerei, sondern weil ihre Mama nicht lesen konnte.
„Mit höchster Auszeichnung", wiederholte die Frau. „Ich bin so stolz auf dich!" Sie streckte eine schwielige Hand aus, um sie auf Marias Haare zu legen. „Kaum zu glauben, daß ich so eine gebildete Tochter hab'!" Nun kamen ihr doch noch die Tränen, und sie legte das Zeugnis auf den Tisch, fuhr sich mit der sackleinernen Schürze über die Augen und ging wieder zum Schrank.

„Tut mir leid, daß ich so spät komme", entschuldigte Maria sich. „Ich habe unterwegs wilde Erdbeeren gepflückt, und dabei habe ich die Zeit ganz vergessen."
„Schulabschluß ist schließlich nicht jeden Tag", meinte ihre Mutter freundlich und rollte das Nudelholz über den Tortenteig.
„Ich hab' die letzten Äpfel aus dem Keller geholt', fuhr sie fort. „Die verschrumpeln uns sonst nur. Mach sie bitte fertig, bevor du die Kartoffeln fürs Abendessen schälst. Die Jungs sind gerade bei der Stallarbeit. Pa ist auf dem Ostacker. Arbeitet bestimmt bis zur Dämmerung Kann die Saat nicht schnell genug in die Erde kriegen, nachdem das Regenwetter ihn so lange aufgehalten hat. Ist allerdings schon weiter als die meisten Nachbarn. Mr. Rubens hat noch nicht mal die Hälfte geschafft, und der alte Hank hat ja kaum 'nen Anfang gemacht. Na ja, er hat ja auch nicht viel Hilfe. Bloß die Mädchen, und die sind nicht gerade fleißig zu nennen. Dabei sind sie seit dem sechsten Schuljahr so gut wie nie in der Schule gewesen."
Maria war an die Gesprächigkeit ihrer Mutter gewöhnt, an das bunte Allerlei von Dingen, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun hatten und dennoch alle durch einen unsichtbaren Gedankenfaden miteinander verwoben waren. Sie wußte, wie nötig ihre Mutter jemanden brauchte, mit dem sie sich unterhalten konnte. Sie warja durch die Berge von Arbeit ans Haus gebunden, und außerdem hatte sie zwei kleine Söhne am Rockzipfel hängen und eine Horde von lebhaften Schuljungen, die ihr die übrige Zeit ständig zur Küche herein-und herausgestprmt kamen. Ihr Mann war entweder auf den Feldern oder inF.Stall. Sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte. Maria war ihre einzige Tochter; ihre einzige Gefährtin. Ein einziges Mädchen mit sechs jüngeren Brüdern. Kein Wunder, daß ihre Mutter ohne Punkt und Komma zu reden begann, sobald Maria aus der Schule kam.
„Ich muß mich umziehen", beeilte Maria sich zu sagen, als ihre Mutter eine Pause machte, um Luit zu noten. sie ging schnell in ihr Zimmer hinter der Küche. Es war winzig und schmucklos, aber-süber, und vor allen Dingen war es ihr eigenes Reic37tire kleine Zuflucht, ihr Heiligtum. Am liebsten wäre sie jetzt einfach hier geblieben, um es sich mit einem ihrer zerlesenen Bücher auf dem Bett gemütlich zu machen oder ... oder den Kopf im Kissen zu vergraben und sich in Ruhe auszuweinen.
Sie wußte selbst nicht, warum ihr nach Weinen zumute war, wo sie doch jetzt eine abgeschlossene Schulbildung vorweisen konnte. Trotzdem hätte sie am liebsten geweint.
Doch diesen Luxus gönnte sie sich nicht. Ihre Mutter brauchte sie in der Küche. Sie streifte sich das Kattunkleid ab und hängte es ordentlich an seinen Haken. Dann griff sie nach dem schlichten braunen Kittel, den sie bei der Hausarbeit trug. lii dem unförmigen Ding schien ihre zierliche Gestalt völlig zu versinken. Sie konnte es nicht ausstehen. Sie kam sich wie ein kleines Kind darin vor, das sich verirrt hat.
Ich bin so klapperdürr, dachte sie wohl zum hundertsten Mal und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als sie sich in dem Spiegelstück an der Wand sah. So klapperdürr und kein bißchen hübsch. Dieses kleine Kindergesicht, urteilte sie über sich selbst, diese hohlen Wangen, das winzige Kinn, die schmalen Lippen. Bloß meine Nase ist nicht zu klein geraten - ganz im Gegenteil. Wenn ich doch nur ein größeres Gesicht hätte - oder eine kleinere Nase! Dann würde alles irgendwie besser zusammenpassen. Und ich sehe vollkommen verloren aus in diesem ... diesem Sack von Kleid und mit diesen wildgewordenen Haaren.
Maria strich sich die Haare aus dem Gesicht und wandte sich mutlos von dem Spiegel ab. Dann nahm sie ein Stück Schnur und band sich die Haare damit im Nacken zusammen.
Mit einem letzten, mißbilligenden Blick auf ihr Spiegelbild ging sie aus dem Zimmer und lief schnell in die Küche, um ihrer Mutter zu helfen.
Ihre Mutter redete schon los, als sie die Küche kaum betreten hatte.
„Wenn du mit den Äpfeln und dem Kartoffelschälen fertig bist, bring bitte die Milch und die Sahne zum Pastor. Mrs. Angus braucht sie vielleicht fürs Abendbrot.”
Maria nickte und band sich schnell eine große Schürze über den braunen Kittel. Jetzt hatte sie einen weiteren Grund, sich mit dem Schälen zu beeilen. Sie ging nämlich furchtbar gern zum Pfarrhaus. Sie freute sich immer, wenn sie sich mit der netten Mrs. Angus oder ihrem Mann, dem Pastor, unterhalten konnte. Diese beiden waren so freundlich und so ... so gebildet - und es gab ja noch so viel, was Maria unbedingt lernen wollte.

Überraschung
Eilig machte Maria sich rit den Milcheimern auf den Weg. Sie war zwar längere Zeit;nicht mehr im Pfarrhaus gewesen, doch viel Zeit für einen Besuch dort blieb ihr heute nicht. Die Kartoffeln für das Abendessen waren schon aufgesetzt, und den Apfelkuchen hatte sie schon in die Backröhre geschoben. Ihre Mama würde bald ihre Hilfe beim Tischdecken und Auftragen brauchen.
Diesmal würde sie sich nicht lange im Pfarrhaus aufhalten können. Trotzdem haue sie sich das Abschlußzeugnis in die Schürzentasche gesteckt. Sie konnte es schließlich unmöglich vor dem Pastor und seiner Frau aus dem Oberteil ihres Kleides hervorgraben. Andererseits befürchtete sie, mit einem der schweren Eimer gegen das Zeugnis zu stoßen und das Papier zu zerknittern. Die Arme taten ihr weh, weil sie sich bemühte, mit leicht abgewinkelten Armen so schnell und zugleich so vorsichtig wie möglich zum Pfarrhaus zu laufen.
Mrs. Angus haue ihr das Versprechen abgenommen, ihr das kostbare Zeugnis zu zeigen, sobald sie es ausgehändigt bekam. Es war Maria peinlich, mit dem Beweis ihrer schulischen Leistung in der Schürzentasche durch die Gegend zu laufen, doch andererseits wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, ein Versprechen zu brechen.
So hastete sie mühsam weiter. Alle paar Minuten mußte sie stehenbleiben, um sich die schmerzenden Arme zu reiben. Endlich erreichte Maria den Bretterweg, der zur Hintertür des kleinen Pfarrhauses führte. Mit rotem Gesicht und außer Atem eilte sie über die klappernden Bretter, stellte den einen Eimer vorsichtig auf den Fußboden und klopfte mit einer schmerzenden Hand an die Tür. Dann tastete sie ihre Schür-
@1997 Schulte & Gerth