Oke Janette, Susanna

07/06/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Rückschau

Sie saß auf der Veranda. Das Wippen des Schaukelstuhls war so sacht, daß es kaum erkennbar war. Hin und wieder nahm sie ihre Hand von dem Griff der Teetasse, um mechanisch eine lästige Riege zu verscheuchen. Kräftige Hände waren es, von Venen überzogen und von der Arbeit vieler Jahre schwielig, aber trotzdem noch immer zart. Lange, schmale Finger hielten das feine Porzellan mit sicherem Griff. In der einen Hand ruhte die Untertasse, während die andere dann und wann die Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit an die Lippen führte.
Es war eine langjährige Gewohnheit, dieses tägliche Teetrinken auf der vorderen Veranda. Sie hatte längst vergessen, ob es der Tee oder das „Dabeisein" war, das sie hierherzog, denn von ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda aus hatte sie das Gefühl, ihren Finger direkt auf dem Puls des kleinen Ortes zu haben. Ihre hellwachen Augen nahmen alles wahr, was sich auf der Straße vor ihr abspielte.


Überall um sie her war Leben. Ein Nachbar grüßte den anderen. Mütter schimpften mit ihren Kindern, die ihnen ständig zwischen den Beinen herumliefen. Zwei ältere Herren machten sich jeden Wochentag um dieselbe Zeit auf den Weg, um die Tageszeitung zu holen. Kinderrufe und Gelächter erschollen von den Sandkästen in den eingezäunten Gärten; andere Kinder rannten lärmend über den Bürgersteig in Richtung Eisdiele. Sie konnte ihre Schritte auf der harten Oberfläche des Zementbodens aufschlagen hören, und wieder zog sie die Stirn kraus. An die Zementbürgersteige würde sie sich wohl nie gewöhnen können. 

Farb- und leblos waren sie, die Töne, ganz anders als bei den Bretterbürgersteigen von früher, die einen Resonanzboden für den Rhythmus ihrer Schritte gebildet hauen Förmlich gesungen und getanzt hatten sie unter dem Getrippel von Kinderfüßen.
Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum und stellte ihre Tasse auf die Untertasse zurück. Es gab viele Veränderungen, die ihr zu schaffen machten, manche nur geringfügig, andere mehr. Nicht, daß sie etwas gegen Veränderungen hatte. Ihre Begeisterung war groß gewesen, als die kleine Stadt Elektrizität bekommen hatte. Sie war unter den ersten gewesen, die einen Anschluß an das Wasser- und Abwassersystem beantragt hatten. Und als sie ihr erstes Automobil gekauft hatten, hatte sie vor lauter Aufregung drei Nächte lang nicht schlafen können.
Nein, gegen Fortschritt an sich haue sie nichts einzuwenden, aber manche Veränderungen schienen mehr von ihr zu fordern, als sie ihr einbrachten. Sie seufzte und nippte wieder an ihrem Tee. Die Bürgersteige zum Beispiel. Als die hölzernen Bürgersteige noch die Straße gesäumt hatten, hatte sie fast jeden Nachbarn am Klang seiner Schritte erkannt. Sie haue die Verfassung der Leute an dem Ton ihrer Schritte ablesen können.

 Sie haue gewußt, ob sie zu einem gemächlichen Spaziergang unterwegs waren, eilig ein paar Einkäufe für das Abendessen erledigen mußten oder wegen einer drohenden Katastrophe von Panik ergriffen waren.
Nein, nicht alle Veränderungen fand sie begrüßenswert. Ihr Schaukelstuhl wippte schneller. Warum ließ man die Bestandteile des täglichen Lebens, die so wunderbar funktionierten nicht einfach so, wie sie waren? Beispielsweise die Bürgersteige? Oder ihr eigenes Dasein? Sie war doch immer glücklich gewesen ... nein,, vielleicht nicht immer, aber meistens, und wenigstens hatte- sie es einigermaßen friedlich ifiet Zugegeben, es hatte aubh schwere Zeiten gegeben. Das gehörte zum Leben. Aber mit 4em Leid war auch eine innere Ruhe, eine Stabilität einhergegangen. Sie wußte nicht, wie sie es beschreiben sollte, aber sie wußte, daß sie sie besaß, diese wunderbare Gewißheit, daß Gott alles in der Hand hatte, ganz gleich, was der Tag auch mit sich bringen würde.
Und daran wird sich auch nichts ändern, tröstete sie sich, und die Tiefe und das Ausmaß dieses Gedankens ließ ihren Schaukelstuhl unvermittelt stillstehen.
Sie schüttelte sachte den Kopf, als wolle sie Klarheit in ihr Denken bringen. Natürlich ... selbstverständlich würde Gott sich nicht ändern. Warum haue sie bloß dieses beklemmende Gefühl, diesen hartnäckigen Schmerz in der Magengrube?

„Alles wird so vollkommen anders werden", flüsterte sie, und trotz all der Jahre, in denen sie sich in der Kunst der Selbstbeherrschung geübt haue, stieg ihr eine Träne in den Augenwinkel und tropfte an ihrer vom Alter gezeichneten Wange herab. Sie unterließ es, die Hand zu heben und sie abzuwischen, denn dadurch hätte sie sich ja ihre Gegenwart eingestanden
Ich wünschte, sie würden mich einfach in Ruhe lassen, dachte sie wohl zum hundertsten Mal. ‚Bier geht's mir gut, richtig gut", murmelte sie laut.
Aber daraus würde nichts werden. Darüber war sie sich im klaren. Sie war sich ebenfalls darüber im klaren, daß sie alle doch nur aus Liebe und Besorgnis so beharrlich waren.
„Aber Mama", konnte sie vertraute Stimmen sagen hören, „es gibt wirklich keinen Grund, weshalb du hier wohnen bleiben solltest. Hier können wir uns doch nicht um dich kümmern. Wir machen uns andauernd Sorgen, daß dir irgendwas zustoßen könnte, und wir würden es erst erfahren, wenn es zu spät ist."
Was soll mir schon zustoßen? haue sie widersprechen wollen.
Das Schlimmste in den Augen ihrer Kinder wäre es, wenn sie allein sterben würde. Aber sie war auf den Tod gefaßt. Sie hatte vor vielen Jahren ihren Frieden mit Gott gemacht. Sie hatte siebenundachtzig lange Jahre gelebt und fünf wunderbare Kinder großgezogen, die inzwischen sogar selbst Großeltern waren. Sie hatte keineswegs die Absicht, sich starrsinnig an das Leben zu klammern.
Natürlich haue sie nicht widersprochen. Sie wußte doch, daß ihre Kinder sie liebhatten und sich um sie sorgten. Im
Laufe der Jahre hatte es oft Zeiten gegeben, in denen sie sich um ihre Kinder gesorgt hatte. Sie wußte aus eigener Erfahrung, daß Liebe und Besorgtsein Hand in Hand gehen. Deshalb haue sie sich nur aufs Verhandeln verlegt und sich einen Aufschub ausgebeten.
„Nur noch einen Sommer hier im Haus", hatte sie gebeten, und ihre Stimme hatte einen flehenden Ton angenommen, den sie ihren Kindern gegenüber noch nie gebraucht hatte. „Nur noch einen Sommer!"
Sie wußte, daß ihre Kinder diese Bitte nicht gern hörten. Schließlich hatten sie aber doch ihr Einverständnis gegeben und mahnend hinzugefügt: „Paß aber gut auf dich auf Laß dir den Rasen von einem Nachbarsjungen mähen, und laß dir um Himmels willen die Fenster von irgend jemandem putzen. Und leg dir nicht so einen riesigen Garten an. Wer soll das denn alles essen? Außerdem hast du viel zu viele Blumenbeete."
Es war ihr so verdreht vorgekommen - ganz so, als wäre sie das Kind und ihre Kinder die scheltenden Eltern.
Sie hatte ihren Sommer gehabt und jede Minute davon ausgekostet. Doch jetzt lag die Kühle des Herbstes in der Luft. Das Laub färbte sich allmählich bunt, der Garten war abgeerntet, und die Blumenbeete waren winterfertig. Fast täglich hatte sie Anrufe bekommen. Ihre Wohnung in der Stadt wartete. War es ihr recht, wenn sie bald kamen, um ihr beim Packen zu helfen? Der unaufhörliche, nagende kleine Schmerz tief in ihrem Inneren wurde noch größer. Die Veränderungen rollten auf sie zu. Einschneidende Veränderungen, und ilil graute vor ihnen. Wenn sie doch nur einfach hierbleiben könnte, auf ihrer vertrauten vorderen Veranda, eine Tasse Tee in den Hände», dem Pulsschlag der Nachbarschaft lauschend. Selbst der neue Zementbürgersteig könnte sich als ihr Freund erweisen - wenn sie nur bleiben könnte, wo sie war, um ihr Leben auf ein ruhiges, ungestörtes Ende zugehen zu lassen.
Wieder rollte ihr eine Träne an der Wange herunter. 

Mit einer Hand hob sie die Tasse an ihre Lippen. Halbvoll war sie noch, doch der Tee war inzwischen kalt und schal geworden. Sie stellte Tasse und Untertasse beiseite und strich sich die Baumwollschürze glatt. Es gab bergeweise Arbeit. Aber die würde sie selbst tun müssen. Wie könnte jemand anders auch nur im entferntesten dazu in der Lage sein, ihre vielen Erinnerungen zu sortieren? Aber der Platz in der kleinen Wohnung war so begrenzt; vieles würde sie nicht mitnehmen können.
Ein dumpfes Pochen kam von dem Zement, und als sie den Kopf drehte, sah sie zwei Kinder auf ihr Haus zurennen. Sie erkannte sie sofort; sie kannte jedes Kind in der kleinen Stadt. Im stillen fragte sie sich, ob Freddies Herbstallergie ihm wieder die üblichen Beschwerden verursachte, und dann staunte sie darüber, wie sehr Philip in die Höhe geschossen war.
„Damit hätte wirklich niemand gerechnet", flüsterte sie, und trotz ihres bekümmerten Herzens lächelte sie sanft.
Samuel hätte seine Freude daran gehabt.gehabt. Sie dachte an den kalten Dezembertag zurück, an dem der kleine Philip sein Debüt als Erdenbürger gegeben hatte.
„Ach, was hat er sich ins Zeug gelegt, um diesen winzigen Vierpfünder durchzubringen", murmelte sie vor sich hin. „Ich hätte nie gedacht, daß er am Leben bleiben würde - aber Samuel hat sich geweigert, die Hoffnung aufzugeben. Und seht ihn euch nur an! Größer als die anderen in seinem Alter!"
Die rennenden Schritte verlangsamten sich vor ihrem Haus, und zwei Augenpaare sahen zur Veranda hoch.
„Tag, Mrs. Doc!" rief Freddie, und Philip bildete winkend das Echo dazu: „Tag, Mrs. Doc!"
Sie erwiderte den Gruß, und dann rannten die beiden auch schon auf dem harten Zement weiter, um sich in irgendein Abenteuer zu stürzen, dem nur ein richtiger Junge etwas abgewinnen konnte.
Sie lächelte den beiden nach und dachte an die vielen Tage, an denen sie oder andere Kinder aus der Nachbarschaft mit einem aufgeschürften Knie, einem Splitter oder einem verletzten Haustier zu ihr gekommen waren. Zu wem würden sie wohl gehen, wenn sie nicht mehr da war?

Mrs. Doc. So nannten sie alle. Die ganze Stadt schien vergessen zu haben, daß sie in Wirklichkeit Susanna Smlih hieß und lediglich die Ehefrau ihres ehemaligen Doktors war. Sie schienen allesamt zu meinen, sie gehöre ihnen irgendwie, und das schon seit Urzeiten.
Aber so war es eigentlich gar nicht gewesen. Plötzlich tauchten ihre Gedanken in die Vergangenheit ein und beschritten Wege, die sie seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Sie sah das junge Mädchen vor sich, das sie einmal gewesen war - und die vielen Veränderungen, die sie letztendlich zu dem gemacht hauen, was sie heute war, hier auf ihrer vertrauten vorderen Veranda an einem kühlen Herbsttag, wo sie sich eine Pause vom Aussortieren eines ganzen Lebens voller Erinnerungen gönnte.

Ein Mädchen, ein Traum
„Suzie Dell Winston, wenn du mich nicht zu diesem Essen einlädst, dann ... dann rede ich kein einziges Wort mehr mit dir!"
Es war zwar nur im Scherz gemeint, aber Susanna merkte ihrer langjährigen Freundin Abigail Jordan irgendwie an, daß es ihr ernst mit ihrem Anliegen war. Aus Abigails dunklen Augen blitzte es, und sie hielt ihr Kinn trotzig in die Luft gereckt, während sie nach einem Kissen von Suzies Sitzbank am Fenster langte, um Suzie mit diesem Geschoß zu drohen.
Abigails übertriebenes Verhalten war nichts Neues für Suzie. Sie hob den Kopf, wobei ihr rotes Haar und ihre grünen Augen im Licht der Nachmittagssonne aufleuchteten. Selbstbewußt legte sie den Kopf schräg und antwortete mit einem kleinen Achselzucken.
„Das sagst du immer", warf sie ihrer Freundin vor, „aber dann redest du weiter wie ein Wasserfall." Sie lachte und kehrte dem drohenden Kissen den Rücken.
„Also schön, dann ... dann werde ich dir eben niemals verzeihen", ereiferte Abigail sich.
Wieder zuckte Suzie mit den Achseln.
„Das habe ich auch schon öfters gehört", antwortete sie mit einem erneuten Lachen.
„Dann ... dann ... ach, bitte! Bitte frage deine Mutter, ob ich..."
Suzie wandte sich zu Abigail um und lachte lauthals.
„Das habe ich schon längst getan, und ...", antwortete sie, doch sie wurde von einem schrillen Freudenschrei unterbrochen.
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