Oldham J H, Ein Mensch wagt zu lieben - Florence Allshorn

06/08/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

WENN ABER DER WIND WEHT

Mit großen, wachen Augen schaute Florence in den grauen Tag vor ihrem Fenster. Der Nebel hatte London eingesponnen in sein dichtes Netz. Er schien durch alle Ritzen zu drin-
gen. Sie kannte das. . .
Bilder stiegen auf und sanken wieder zurück ins graue Gewoge: die Särge von Vater und Mutter, kurz nacheinander. Verschwommen war das Bild. Sie war damals, erst ein kleines dreijähriges Mädel gewesen; als schweres Erbe des lungenkranken Vaters, eines. Heilpraktikers, war ihr die zarte Gesundheit verblieben. - Etliche Jahre später: eine Geburtstagsfeier mit den lebhaften Vettern und Kusinen. Ein kleines Erleben, und war doch schmerzhaft eingegraben in ihr Gemüt. ‚Sie hafte sich so gefreut mit der ihr eigenen Fähigkeit zum' Frohsein. Aber plötzlich war ihr klar geworden, die kleinen Verwandten hatten eine Heimat - das sah man an allem, bis hin zu der gutsitzenden Kleidung. Sie aber war geschruack-los angezogen und stand mit ihrem lebhaften Sinn für alles Schöne Qualen aus, so oft sie mit den kleinen Verwandten zusammen war.

Eintönig und' grau war auch das Heute. Sie haßte ihr Zuhause, das sie in enge Fesseln schlug. Glücklich war sie nur, wenn' sie' ihm entrinnen konnte—der Tante, der tristen Langeweile, der lieblosen Pflicht.
Sollteü diese Dunkelheiten 'alles Schöne ersticken? Neiit. tausendmal nein. In dieser Stunde sagte Florence der lähmenden Resignation den Krieg an. Mächtig spürte sie 'das Leben in ihrem Blute kreisen, und ihr 'starker Lebenswille sollte sie davor bewahren, ihrer Umgebung, sei sie noch so grau, zu erliegen.
Ein frischer, klarer Frühlingswind war aufgegangen, während sie so sann. Übermütig zerstieß er den Nebel in tausend Fetzen. Ein lachender' Sonnenstrahl fiel auf die Osterglocken im kümmerlichen Gartenland. Sie waren aufgeblüht Voll ‚dem Lichte zugewandt, verströmten sie verschwenderisch und im-bekümmert ihren Duft aus goldenen Kelchen.

Das war es, in solcher Unbekümmertheit sich selbst verschenken. Noch ahnte Florence nicht, .in welch hohem Maße dies bei ihr der Fall sein sollte Sie schrieb einer Freundin »Lange träumte ich von einem Kleinod in meiner Seele, so kostbar, daß man nicht riskieren konnte, es m Berührung mit den gewöhnlichen, oft unschönen Dingen des Lebens zu bringen. Irgendein besonderes, mystisches Erleben erwartete ich. Daraus, so hoffte ich, wurde sich etwas Wunderbares gestalten, wenn ich nur Sorge trüge, daß es nicht beschntutzt würde. Es war ein Traum, unwirklich und voll Selbstsucht. Heute weiß ich: echtes Leben ist rein und befleckt, schön und häßlich, der Wunder voll und eintönig zugleich - über allem aber sei die Liebe. Stell dir nur vor, ich glaubte, es ganz nett weit gebracht zu haben und hielt es für Liebe, wenn man nett und freundlich mit den Menschen ist. 

Doch nie und nimmer ist das Liebe! Lebe ist ein unergründliches Sich-selbst-vergessen So strahlend, noch habe ich ihren Saum nicht berührt.«
Liebe durfte bei Florence schon in ihrer Jugend nie im Gefühl stecken bleiben. Es ging ihr immer darum, echt zu sein - um jeden Preis Echt im Lieben, echt auch m den kleinen Dingen des Alltags. Wieder vertraute sie der Freundin dies Verlangen an: »Ich leide so darunter, daß ich die Menschen nicht recht lieben kann. Vielleicht wird Gott es mich lehren; wenn ich am Bitten bleibe. Es ist so viel in mir, das noch nicht frei geworden ist, das auf die lösende Berührung wartet. Wenn ich doch ganz wach werden könnte! Weißt du noch, wie mir damals die Zähne, gezogen wurden? Ich hatte ziemliche Schmerzen und entdeckte mich trotzdem plötzlich dabei, daß ich Gott dankte; denn es war echtes, wirkliches Erleben, das mich die Lektion der Schmerzen lehrte. Wahrhaftig, es war, als entdeckte ich in mir wenigstens ein Stücklein, das echt war. Zu solcher Echtheit möchte ich bei allem, was ich tue, durchstoßen. Dieser Weg muß wohl durch Schmerzen gehen, und ich hoffe, ich habe dann im. entsprechenden Augenblick den Mut, den Preis der Echtheit zu zahlen Noch wage ich es nicht.«

Kräfte drängten zum Licht Florence erkannte die Gabe schöpferischen Gestaltens, die ihr m hohem Grade verliehen war. Sie studierte Kunst und Musik. Doch wieder verhüllte sich die klare Sicht. Durch ein Augenleiden, das Florence auch in späteren Jahren immer wieder zu schaffen machte, nahm ihr Leben eine andere Wendung, als sie • geplant. Vier Jahre Hauswirtschaftsseminar statt Kunstakademie, Kochtöpfe statt Pinsel und Palette. Ein krummer Weg, und dahinter doch, ihr zwar verborgen, Gottes Führung. Florence sagte zu dieser Enttäuschung »Ja.«, und so wurde ein Stück Lebensschule daraus, die ihr später von hohem Wert war. Hauswirtsdiafts-lehre und Kochen, Wäsche, Handarbeit, Kleidernähen irnd Psychologie waren die Fächer, die sie mit glänzenden Zeugnissen absolvierte. Beides zusammen - Kunst und. Hauswirtschaft — hielt sie für nahezu ideal als Vorbereitung auf ein fruchtbares Leben. »Beides. lehrte . mich«, schrieb sie später, »die Kunst des Sehens und den Sinn für das echte Verhältnis der Dinge untereinander.« Sehen, das hieß für Florence, aufgeschlossenen Sinnes Welt und Menschen um sich her sehen.

Starken Sinnes durchlebte Florence die Werdejahre, in denen sie zugerüstet wurde. Ein fest umrissenes Ziel hatte die Zweiundzwanzigjährige noch nicht. Sie tat nur den nächsten Schritt. Der führte sie für ein oder zwei Jahre in das Büro eines Vetters. Eintönig? Nicht für Florence. Mit Jfiteresse verfolgte sie auf dem Papier die Fahrten, die die Kohlenladungen von dem Ort aus durch ganz England machten. Und - sie konnte sehen. Sie sah scherzende, ungehobelte Mädels, die täglich aus den Fabriken . strömten. Unversorgt, oft ungeliebt, verwehte Blätter so viele. Freilich, die Kirche hatte versucht, ihnen ein Stücklein Liebe zu. bringen. Aber diese. Liebe hatte wohl nicht den Klang, der ihr Ohr erreichte, denn achtlos gingen die Mädels vorüber. Florence, die einstige Kunstakademikerin, ging im Einvernehmen mit ihren Freunden, Bischof Jones und Frau, fröhlich, ans Werk, sie sammelte um sich eine wachsende Gruppe junger Arbeiterinnen. Florence beeinflußte sie alle mit ihrer intensiven Liebe für alles, was irgendwie schön war, nicht nur für sinnenfällige Schönheit, sondern auch für Reinheit der Gedanken und Sinne.

Dienend und liebend wuchs sie hinein in die Gemeinde. Kindergottesdienst; Jungschar. Ihr Herz weitete sich über dem Geben, immer mehr Menschen fanden darin Raum, bis hin zu den Brüdern und Schwestern fremder Rassen Sie half auch da an ihrem Teil mit zu sammeln, zu beten,1 zu geben.
Aber der Ruf, von »drüben« tönte immer dringlicher an ihr Ohr. Sollte er ihr noch petsöhhicher gelten? Sie glaubte es. Entschlossen betrat sie den unbekannten Weg. 1920, im Alter von 32 Jahren, meldete sich Florence bei der Church-Missionary-Society und stellte sich zur Verfügung für den Dienst einer Missionarin in Übersee. In welchem Lande? Sie wußte es nicht Sie zerquälte sich auch nicht »Ich mochte dem Herrn Christus dienen, so gut es mir immer möglich ist«, gab sie als Begründung an. Ihr Herz war Jesus Christus lebendig zugewandt, darum konnte sie in der Wirrnis verschiedener Möglichkeiten auch in geringfügigen Begebenheiten seine Fußspuren erkennen. So kam es, daß sie etliche Wochen später anläßlich eines Gesprächs mit Bischof Willis von Uganda wußte: dies ist der Weg; Uganda war das Land, in das Gott sie rief.

Es sind aus jener Zeit noch Briefe vorhanden. Die folgenden Auszüge lassen uns etwas von der Einstellung zum Leben erkennen, die Florence damals hatte. Verheißungsvoll leuchtet schon etwas von dem auf, was in späteren Lebensjahren charakteristisch für sie war: das Ja zum Leben und das Ja zu Christus, dem lebendigen Herrn, in geschlossener Ganzheit.
»Ich denke, man empfindet den Rhythmus mächtigen Le-bensgefiihh an der See beglückender als überall sonst Nur reiten ist beinahe ebenso begeisternd. Ich wünsche mir beides und kann doch jetzt keines haben!
Wenn ich daran denke, wie Christus mein ganzes Sein ergriff, ist mein Herz erfüllt von Freude. Die vergangenen Wochen waren so beglückend, denn ich merkte so gewiß, wie mein Herr mich zu sich hinwandte. Er weiß, daß es nichts gibt, das ich mir nur halb so sehr wünsche.«
Und der fröhliche Rat, den sie einer Freundin gab, die Ferien hatte:
»Beschwere Deinen Kopf nicht mit theologischen • Problemen. Lies Bücher, die möglichst nur ein, halbes Dutzend Zei len. je Seite haben, und das tu geruhsam. Es wird Dich herrlich entspannen. Also denk nicht an Dir herum, ich meine an Deinem moralischen Selbst, Sei - recht verstanden - ein Heide, freu Dich an Himmel und Sonne, und tu Dich dem Duft und den Geheimnissen von Baum und Blüte auf. Das ist riesig gesund. Laß einmal das Rätseln um Gut und Böse. So wirst Du, wenn Du zurückkehrst, doppelt klar sehen und mit neuer Freude schaffen. Weißt Du, eines vom Besten während der Ferien ist, nichts wünschen, nichts wollen, aber Gott loben für alles. Ihn preise allezeit, für die kleinen zarten Blätter und das satte, tiefe Grün der Baume für alle Gute, die Dir begegnet in diesen Wochen Laß Deinen Urlaub nichts sein als einen nimmer endenden Dank für alle die kleinen, schonen Dinge und vergiß Dem großes, kämpfendes Ich mit allen seinen Verkehrtheiten Dann aber komm zu uns zurück, klar, erneut und belebend, und laß uns auch einen Schein der Herrlichkeit Gottes sehen.
Ganz zu lieben, ganzherzig zu suchen und ganz glücklich zu sein - das ist vielleicht das Schwerste von allem.

Wie starr wird unser Leben, wenn es allein von der Vernunft her geführt wird! Wird sie auch je einen Menschen veranlassen, sich in eine aussichtslose Schlacht mi begeben? Es war auch nicht die Vernunft, die Christus trieb, die Sünden der ganzen Welt auf sich zu nehmen und sein Leben für andere hinzugeben. Der Verstand lüßt uns so furchtbar vernünftig handeln, aber unmittelbares Erkennen ist etwas vom Glanz Gottes in unserem Leben. Von seiner Glut ergriffen vermag man auch die Aufgaben zu übernehmen, deretwegen man uns Toten schilt. Inmitten solchen Tuns bricht die Freude Gottes gleich jubelndem Lobgesang in uns auf.
Eben jetzt sah ich wohl zum allererstenmal, wie not der Welt das heile, klare Licht der Güte Christi tut. Denn es zerbricht die Starrheit und machtweich und gelenk.«
Florence wußte aber auch von dem Kampf, den es kostet, wenn aus der Schau Leben werden soll: »Wie ist es nur möglich, daß ich zeitweise dahinschlendere, als wäre Gott nicht da? 0 ja ichhabe solche Zeiten, und .sie sind meine Sünde. Wie ein Frost legen sie sich über das große Sehnen, das doch auch vorhanden ist. Das ist es, was einen mutlos macht die eigene Oberflächlichkeit.
Ich furchte, meine Bunde ist Ziellosigkeit Es ist nur sehr schwer zu wissen, wo das Ziel liegt. Das Leben ist so drän gend, und ich meine, es müsse wieder ganz neu anfangen. Ich werde wohl mein Leben lang immer wieder Altes einreißen und ein Nettes suchen, und wahrscheinlich werde ich mir dabei immer wieder die Finger verbrennen! Aber Gott bewahre mich vor allem gemächlichen Trott im gewohnten Geleise.
Ich wünsche Dir so viel Gutes, aber es sind nicht die Dinge, die uns leicht selbstverständlich zufallen, auch nicht Erfolg, ja nicht einmal das, was man ein befriedigendes Leben nennt Wenn ich es nur recht sagen konnte' Ich glaube, ich wünsche Dir, daß Dir das Wissen erhalten bleibt, daß Du Dich keiner niedrigen Gesinnung ergeben kannst
Möchtest Du nicht alles daransetzen, um Ihm näher zu kommen? Ich hungere so nach echtem Leben, daß es schmerzt. Alle diese Jahre hindurch erklomm ich allein den steilen Pfad Ist es da ein Wunder, daß ich nicht weit kam? Nun wanderst Du mit, und es ist gut
Es ist schrecklich, schwach zu sein, wenn Kraft nötig wäre, schrecklich, so wenig 'auszurichten, während die Welt nach Menschen schreit, die neue Wege zu führen vermögen. Ich i. hasse, hasse, hasse, in der Mittelmäßigkeit stecken zu bleiben und, nicht mehr zu sein als nett, aber langweilig. Oh, diese Welt kann nicht das Letzte sein, sonst wäre nicht so viel Sehnsucht nach einem Sein in uns gelegt, das Weit über das hinausgeht, was wir hier vermögen. Dies Leben, das den To-deskeim schon in sich birgt, wäre nicht zu 'ertragen, wüßte man nicht um den.Tag, da wir in der Wahrheit leben werden.
Laß uns unermüdlich füreinander beten. Mut brauche ich, mehr 'als alles 'andere. Und doch - ich weiß es nicht, ich mochte Gott schauen - darin liegt alles andere Dies laß Dir für mich geben, Deine Gebete bedeuten mir so viel Ich glau-be, daß aller Dienst - in der Zwedklosigkeit der Liebe getan nicht untergehen kann Er ist genau wie ein Kunstwerk So-
bald sich aber unser Ich einschleicht, beginnt die Unvollkommenheit, und es fehlt die Kraft, die es lebendig erhält.
Rücksichtslos gegen dies alte Selbst anzugehen, heißt die Forderung, wenn wir in die. Reihen, der priesterlichen Schar eintreten möchten.
Die Idee des 'lieben' Gottes ist einfach unmöglich. Er ist millionenfach größer als unsere erhabensten Vorstellungen über ihn. Er ist Herr, voll Glanz und Reinheit„ unvorstellbar. Manchmal meine ich, der Schleier hebe sich ein klein wenig, dann ahne ich ihn als den, der vor mir hergeht in der Fülle der Liebe und eines gießen Erbarmens. Ich höre, seinen starken Ruf und kann nicht anders, als mich aufmachen, ihm nach. Gut sein, nett 'und 'pflichttreu, nie, nie ist das genug. Ich möchte ihn, Christus, das Leben. Er muß mich anrühren, zu mir reden, mich zurechtweisen, ich aber möchte ihn lieben. Worte, Gedanken, Wissen sind gut und schön; aber dem Verschmachtenden helfen sie. nichts. Gott weiß um den verzehrenden Durst meiner Seele. Ich brauche das Teilhaben an seiner Macht, um ihm zu dienen ‚an seinen Geschöpfen, denn kann man andere weiter führen, als man selbst ist? Auch nicht vom geringsten Nutzen kann ich sein, es lebe denn Christus in mir. Vielleicht muß ich danach suchen mein Leben lang. Es ist nicht leicht, findest Du nicht ‚auch?«.

DIE SCHULE DER LIEBE - UGANDA
Schwere Anker bohrten sich in den 'Grund. 'Gelb färbte sich das Wasser vom aufgewühlten Sand.' ‚Dann lag der' große Ozeandampfer fest. In einer Menge lachender und 'a'afgereg-ter Menschen ging auch Florence mit ihren Reisebegleitern und vertrauten Freunden, Bischof Gresford jenes und Frau, an Land. Noch im Jahre ihrer Meldung war sie ohne weitere Ausbildung ausgesandt worden!
Das also war Afrika, das Land glühender Sonne und gelben