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Otto Funcke Ein echter Mensch ein ganzer Christ, Arno Pagel

11/18/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Im Kinderland

Längst ist Wülfrath - am Rande des rheinisch-westfälischen Industriegebietes im lieblichen Bergischen Land zwischen Düsseldorf und Wuppertal gelegen - eine blühende Industriestadt geworden. Im Jahre 1836 aber, als dort Otto Funcke, der später als evangelischer Volksschriftsteller so bekannt geworden ist, geboren wurde, lag der Ort noch in ländlicher Stille und Abgeschiedenheit da. Es war ein herrliches Kinderparadies. Von den Höhen um Wülfrath konnte man bis in die Rheinebene hinuntersehen. Sicherlich ist der Bub Otto Funcke oft dort oben gestanden und hat in der Ferne das silberne Band des Rheinstromes aufblitzen sehen. Da ist ihm wohl früh das Fernweh ins Herz geschlichen und die Lust zum Reisen gekommen, die ihn später weit in der Welt umhergeführt hat.

Otto Funckes Vater ist ein Doktor gewesen, ein richtiger Landarzt der guten alten Zeit. Er hat sein Amt 45 Jahre verwaltet, aber vor ihm hatte sein Vater gar 55 Jahre die Praxis ausgeübt. Was lag näher, als daß auch unser Otto davon träumte, in des Vaters und des Großvaters Fußstapfen zu treten? Die Mutter allerdings hegte für ihren Zweitjüngsten ganz andere Hoffnungen: der sollte einmal ein Prediger des Evangeliums werden. Und tatsächlich, sie hat recht behalten!
 
Vater Funcke ist ein imponierender Mann gewesen. Wenn er auf seinem Pferd, das er zur Bewältigung der großen Praxis brauchte, dahergeritten kam, waren seine fünf Jungen immer unbändig stolz auf ihn. Er hatte eine starke, energische Natur. Es hat ein ganzes langes Leben gebraucht, bis er aus seinem allgemeinen Gottes- und Schöpfungsglauben in das Vertrauen auf den Herrn Jesus Christus und in seine Gnade hineinfand. Religiös war er eigentlich immer. Er konnte Leute, die über Heiliges höhnten, rücksichtslos anfahren. Das erfuhr einmal ein junger Adliger, der in seinem Luderleben Leib und Seele verdorben hatte, sich aber gern seiner Bildung und Aufklärung rühmte und mit dummen Spottreden um sich warf. Doktor Funcke fauchte ihn an: „Sie sind noch nicht trocken hinter den Ohren und wollen das verlachen, was die Welt zusammenhält? Sie Hanswurst, Sie, Sie tragen das göttliche Gericht schon in Ihren faulen Knochen. Noch ein Wort wie vorhin, und ich werfe Sie einfach zum Tempel hinaus!"

Das ist eine herrliche Sache gewesen, wie die Gnade diesen Mann der Kraft und des überschäumenden Temperaments am Ende herumgeholt und still und voll Glaubensgewißheit gemacht hat. Mit 70 Jahren gab der Sanitätsrat Funcke seine Praxis in Wülfrath auf und zog an den Rhein nach Boppard. Dort in der Ruhe des Lebensabends leuchtete ihm das Geheimnis der Person und des Werkes Jesu Christi immer mehr auf'. Die längst vor ihm heimgegangene Mutter Funcke hatte in allen Wechselfällen an der Hoffnung festgehalten: Um den Abend wird es hell werden! Ja, das war in der Tat ein helles Durchbrechen der Sonne, als in den Briefen des alten Vaters an seine Söhne der Ruhm der Gnade des Heilandes immer mehr zur Geltung kam. Und das war eine volle, herrliche, lichte Stunde des Heils, als die um das Sterbelager des Vaters versammelten Söhne seine letzten abgebrochenen Sätze hörten:
„Meine Söhne verlassen mich nicht -, du, mein Heiland, aber verlässest mich erst recht nicht -. Du hast mir die Tür offen gemacht -, es scheint ganz hell herunter -, Kinder, Jesus steht in der Tür und sagt: Karl Funcke, du bist ein großer Sünder, aber ich lasse dich doch durch!*
Frommem Überschwang und geistlicher Übersteigerung ist Vater Funcke immer abhold gewesen. Wo er so etwas antraf, konnte er sich gelegentlich zu einem „Seelsorger" ganz eigener Prägung entwickeln. Einmal hatte er einen Pastor in der Kur, der auf der Kanzel sehr heftig und lieblos über einen Amtsbruder hergefallen war. Während der Arzt seinen Patienten gründlich beklopft und behorcht, erzählt dieser von seinem Kampf gegen den Kollegen. Er bekräftigt sein gutes Gewissen in dieser etwas fatalen Angelegenheit, indem er feststellt: „Der Heilige Geist hat mir eingegeben, so zu reden!" Da fährt aber Doktor Funcke in die Höhe:
„Herr Pastor, nicht der Heilige Geist, sondern Ihre total kranke Leber hat Ihnen das eingegeben, und daß Sie eine kranke Leber haben, ist das einzige, was Sie zu Ihrer Entschuldigung sagen können. "
Diese Spezialkur von „Seelsorge" hat der Pastor nicht verkraften können. Er ist spornstreichs ohne Abschiedsgruß davongelaufen!
Ja, so war der Vater Funcke. Und die Leser werden zugeben, daß solch ein Mann in einer Biographie Otto Funckes ein paar Zeilen verdient. In das Kinderland des kleinen Otto gehörte er jedenfalls sehr wesentlich hinein. Die Mutter allerdings können wir so kurz nicht abtun. Die kriegt ihr eigenes Kapitel.
 
*) Wörtliche Anführungen aus Otto Funckes Büchern sind in Schrägschrift wiedergegeben.
 
Nicht ganz vergessen dürfen wir Mutter Funckes Vater, den Wülfrather Pastor Johann Peter Neumann, der in Ottos Jugendzeit eine gewichtige und einflußreiche Rolle gespielt hat. Er war ein fest in der reformierten Orthodoxie der Dordrechter Artikel, der strengsten Ausprägung des reformierten Kirchentums und Bekenntnisstandes, verwurzelter Mann. Sein Lieblingsthema war die Erwählungslehre: Alles ist Gottes Werk. Als es zu den ersten zaghaften Ansätzen in der Inneren und Äußeren Mission kam, zog der gute Pastor Neumann kräftig gegen diese „neumodischen" Bestrebungen vom Leder. Er witterte da die fromme Betriebsamkeit des Menschen, durch die er Gottes Alleinwirksamkeit nicht gebührend respektiert sah. Später, im hohen Alter, hat er in dieser Sache aber noch willig umgelernt.
 Man könnte noch manche andere interessante Gestalten aufmarschieren lassen, die ihren Platz und ihre Bedeutung in Otto Funckes Jugendland gehabt haben, aber die Leser sollen nun endlich etwas über den kleinen Otto selber hören. Ja, der Otto, was ist der für ein Bub gewesen? Lange Zeit hindurch war er sehr schwächlich und kränkelte viel. Darum haben ihm manche Leute nur ein kurzes Leben vorausgesagt. Zu der Mutter, die den damals Zehnjährigen gerade badete, sagte einmal ein „liebenswürdiger" Bauer folgende „trostvollen" Sätze:
„Ach, liebe Frau Dokter, wat es dat _för en erbärmlich Kenkt (Kind)! Dat süht ja ut wie 'nen avgetrockenen Has (wie ein abgezogener Hase). Do wert sin Leven nix vann!"
Da hat sich aber Mutter Funcke aufgerichtet und ist dem Ehrenmann wie eine Prophetin entgegengetreten:
„Lieber Herr, Ochsen und Hammel schätzt man nach dem Gewicht, nach Fleisch und Knochen. Beim Menschen aber kommt es auf Kopf und Herz an, und die sind bei meinem Jungen in Ordnung, und es könnte leicht passieren, daß er Euch und Eure Kinder noch lange überleben wird, denn ich will Euch was sagen: Er wird noch ein Prediger des Evangeliums werden. "
Diese beiden Weissagungen haben sich in der Tat erfüllt. Aber es ist ein weiter und schwerer Weg bis dahin gewesen. Die schwächliche Gesundheit hat unserem Otto in seinen Kinderjahren viel zu schaffen gemacht, hat manchen Verzicht von ihm gefordert und ihm manchen Seufzer ausgepreßt. Wie war das entmutigend und niederdrückend, wenn es immer hieß: „Das ist aber nichts für Otto ...!" Wie manche Schneeballschlacht, wie manche übermütige Fahrt auf der Eisbahn, wie manches Pfannkuchenessen - und sollte der Gaumen eines Jungen nicht Verlangen haben nach saftigen, speckigen Pfannkuchen? -, wie man eben Ausflug haben diese vier Wörtlein zunichte gemacht: „Otto darf das nicht!"

Und doch verbittet es sich Otto Funcke mehr als einmal in seinen Büchern, daß man ihn wegen der Entbehrungen und Enttäuschungen seiner Kinderjahre bedaure:
„Ganz falsch wäre es, wenn einer sich denken wollte, daß mein Leben also ein bedrücktes und nur auch ein armes gewesen sei. 0 nein, ich entbehrte nicht viel, da jede Kleinigkeit mich hoch erfreuen konnte; manchmal, wenn es unerwartet kam, ein Schmetterling, der ins Zimmerflog, ein Bratapfel, an den ich nicht gedacht, das freundliche Zunicken eines Menschen, der vorüber ging, ein neuer Trieb an einer scheinbar erstorbenen Blume, die ich pflegte - dergleichen konnte mich schnell aus der allergedrücktesten Stimmung in die aller-heiterste versetzen. Ich war zum Glück kindlich genug, in solchen unerwarteten Freuden das direkte Eingreifen des lieben Gottes zu sehen. Meine Mutter hatte mich das gelehrt. ‚Schau sagte sie dann wohl, jetzt grüßt dich der liebe Gott. Du siehst, er denkt an dich!"
Ist das keine beneidenswert herrliche Sache, wenn man sich so königlich über die kleinen und kleinsten Dinge freuen kann? Wer Otto Funckes Bücher liest, stößt immer wieder auf diesen beglückenden Zug in seinem Wesen, daß er einen dankbaren Blick für das Kleine hat, für die unscheinbaren Dinge und Begebenheiten und auch für so manche kleine und geringe, so leicht übersehene Menschen. Diese seine Gabe hat ihm selber - und den Lesern seiner Bücher! - manchen Freudenquell aufsprudeln lassen:
„Ja, die kleinen Sonnenstrahlen, die alle Tage auf unseren Weg fallen, sind der große Reichtum unseres Lebens, wenn wir darin den Abglanz des göttlichen Angesichts erkennen. Gott hat es in derHand, seine großen und kleinen Kinder auf Erden in allerlei Art zu segnen und zu erquicken. Und er kann dazu Sterne und Kieselsteine, Pappschachteln und Mammutknochen verwenden."
Das Bild der Mutter
Über alle andern Menschen, die durch sein Kinderland gingen, hat Otto Funcke die Mutter liebgehabt. Ihr verdankt er ja die Kunst, an den kleinen Dingen sich zu freuen und im dahin-huschenden Sonnenstrahl ein Grüßen Gottes zu sehen. Aber er verdankt ihr unendlich viel mehr, er verdankt ihr das Beste seines Wesens. Er hat das in seinen Büchern immer wieder bezeugt,
und man merkt, wie noch dem alten Mann das Herz höhor schlägt, wenn er von seiner Mutter erzählt.
Die Mutter ist die eigentliche Lehrerin und Professorin für ihren Ottobub gewesen. Wenn er auch durch Jahre hindurch wegen seiner Kränklichkeit in keine Schule gehen konnte, so hat er doch viel gelernt, eben im Umgang und zu den Füßen der Mutter. Viele Menschen haben sich im Lauf der Jahre um seine Seele gekümmert, viele lieb und zart, manche auch dreist und taktlos. Aber die erste und beste und die entscheidende Seelsorgerin ist die Mutter gewesen und geblieben. Mutter Funcke stellte in der Erziehung ihrer Kinder - und da stimmte auch der starke und temperamentvolle Vater zu - die Liebe und nicht das Gesetz obenan. Beide Eltern haben nicht ständig durch Ermahnungen und Verbote die Kinder gequält. Von harmlosen Bubenstreichen, von Spuren der Kinderspiele an Möbeln und Fensterscheiben und Kleidern wurde nicht viel Aufhebens gemacht. Nur durfte nichts Gemeines und Unritterliches bei den Streichen und Spielen passieren. Mehr noch als der Vater ließ natürlich die Mutter in der Erziehung das Evangelium und die Liebe vorherrschen. Und das meiste von dieser mütterlichen Zartheit hat der Otto mitgekriegt, der durch sein vieles Kranksein nun einmal am meisten bei der Mutter war.
Die Mutter Funcke gehörte wirklich nicht zu den Leuten, von denen Paulus sagt, daß all ihr Haben und Tun, ihr Reden und Wissen unnütz ist, weil die Liebe drin fehlt. Nein, ihr ganzes Leben war ein großes Lieben. Der Otto erlebte die Äußerungen der Liebe der Mutter ja immer aus nächster Nähe mit, und er war zwar nicht das alleinige, wohl aber das bevorzugteste Wesen, dem die Liebe der Mutter sich zuwandte. Manchmal wollte es ihm vorkommen: Die Mutter macht es zu arg mit ihrem Lieb-sein. Sie verschwendet davon zu viel an Leute, die es gar nicht wert sind.
Besonderer Gegenstand ihres fürsorglichen Eintretens waren ihre Freunde aus den „Konventikeln", die „Pietisten", die „Stundenleute". Wenn Vater Funcke über die Gebrechen der „Heiligen" herfuhr, dann war die Mutter in ihrer Verteidigung unermüdlich. Diese Leute waren nun einmal ihre Brüder und Schwestern, und sie ging mit ihnen durch dick und dünn. Ihre Schwachheiten übersah sie nicht einfach, aber sie hielt dem Vater entgegen, daß auf dieser Erde dem guten Wollen eben noch zu oft die Schwachheit des Fleisches widerstünde. Nein, gegen die „Pietisten" bekam der Vater bei der Mutter niemals recht.
 Dann waren da Vaters viele Patienten. Der Doktor machte sich nichts daraus, diesen und jenen gelegentlich sehr grob anzufahren. Vielleicht wäre mancher seiner Kundschaft für immer entlaufen, wenn nicht. die Mutter hinterher durch ein vermittelndes Wort oder eine kleine Liebestat die Sache wieder in Ordnung gebracht hätte. Die herrlichsten und unvergeßlichsten Stunden waren es aber, wenn der unerschöpfliche Liebesquell der Mutter so recht für das kranke Büblein Otto floß. Die Zeiten, in denen Otto mit der Mutter ganz allein war, waren die schönsten in seinem Kinderland. Die Mutter war voller Poesie. Aber es war eine himmlische Poesie, es war die Gabe, überall - auch in den geringsten Dingen - die Spur und die Hand und das Herz des himmlischen Vaters zu erleben. Es wurde der Mutter alles Irdische zu einem Abglani himmlischer und ewiger Wahrheiten und Wesenheiten:
‚Jeder schöne Gesang erinnerte sie an die Hymnen und Psalmen, die wir seinerzeit, vereint mit Cherubim und Seraphim, vor Gottes Thron singen werden. Das geheimnisvolle Rauschen des Waldes erinnerte sie an das Brausen der immergrünen Palmen am kristallnen Strom, jede schöne Blume war ihr eine Verheißung der entzückenden, unverweiklichen Himmelsflora. Aber auch jeder Pfannkuchen, der uns mundete, mußte uns auf das Hochzeitsmahl im Vaterhaus hinweisen, ja, jeder irdische Vorgang, und war es auch nur das beklagenswerte Zerbrechen eines Kochtopfes in der Küche oder das Verwelken einer Blume, die zu wenig Wasser bekommen, der heisere Ton einer Eisenbahnglocke, die zersprungen war, das Zerknicken eines Baumzweiges, der der Früchte zu viel hatte - überall vernahm sie eine Sprache und Rede von ewigen Gesetzen und innerlichen Dingen."
Der die Mutter verehrende Sohn gibt zu, daß in dieser Welt-und Himmelsbetrachtung gelegentlich auch Übertreibungen vorkamen, aber der beherrschende Eindruck bei der Mutter war und blieb, daß ihr die Welt Gottes, die Welt der Ewigkeit, so lieb, so nahe, so vertraut war, daß sie einfach nicht anders konnte, als alle Dinge im Lichte dieser Himmelswelt zu sehen. Dabei wurde die Erdenwelt nicht im geringsten entwertet oder verachtet. Echte Ewigkeitsmenschen sind ja niemals düstere Weltverneiner. Im Gegenteil, durch ihren Ewigkeitsblick bekam diese Welt für Mutter Funcke erst ihre Farbe, ihr Leuchten, ihre Schönheit Sie wurde von ihr froh hingenommen und in rechter, dankbarer Weise genossen. Sie hat ihrem Buben viel vom Himmel erzählt, aber darüber niemals vergessen, dem so viel Entbehrenden auch einen Anteil an den „Erdenfreuden" zu verschaffen.
Es ist der deutliche Einfluß und das Wesen der Mutter gewesen, die auch m Otto Funckes Lebensweg und Charakterbild jene harmonisch schone und beglückende Einheit von Himmelssinn und Erdentreue entwickelt und geprägt haben.
Die der Ewigkeitswelt so innig verbundene Mutter war voll herrlicher Tatkraft und Bereitschaft, die Menschen auf Erden mit ihrer Liebe zu erfreuen. Sie hätte es manchmal bequemer haben können, wenn sie nicht an soundso viel Leuten Aufgaben der Liebe entdeckt hätte. Manchmal kam es vor, daß sie sich in ihren Pflichten und Diensten fast verlor und einfach mit der Zeit nicht zurechtkam. Wie oft kam sie aus ihrer eifrigen Tätigkeit zu der großen Standuhr gerannt und stellte erschrocken fest: „Wie, so spät ist es schon!" Wenn es vor lauter Arbeit am Ende gar kein Durchkommen mehr geben wollte, dann konnte die Mutter zu einem letzten drastischen und originellen Mittel greifen: dann stellte sie die Uhr einfach still!
Durch das reiche, taten- und liebefrohe Leben der Mutter zog sich eine Grundsehnsucht:
„Die Sehnsucht, ein Kind Gottes zu werden und immer besser und wahrhaftiger ein Kind Gottes zu werden, war die Grundsehnsucht ihres Lebens. Es war der bleibende Wunsch in dem Wechsel der Zeiten und dem Wechsel der Wünsche."
Großmutter Neumann erzählte gerne aus der Kindheit ihrer Wilhelmina - Minchengenannt -. folgende schöne Geschichte, die zeigt, wie früh dieses Verlangen schon erwacht ist. Als die Kleine einmal einen Mann im Gespräch sagen hört: „Alles ist eitel", läuft sie zu ihrer Mutter und will wissen, was das Wort „eitel" bedeutet. Die Mutter erklärt: „Alles vergeht" - Da ist das Kind im ganzen Haus umhergegangen und hat auf den Kochherd, auf die Bratpfanne, auf den Besen das Fingerlein gelegt und gesagt: „Kochherd, du vergehst, Bratpfanne, du vergehst, Besen, du vergehst" Dann hebt sich der Kinderfinger zu den Dachziegeln und den Bäumen empor, dann zeigt er zur Sonne, und alle diese Werke der Schöpfung werden an ihre Vergänglichkeit gemahnt. Dann kehrt die Kleine von ihrem Gang zurück und wffl von der Mutter wissen, ob denn auch die Menschen alle vergehen. „Ja, freilich, nur Gott vergeht nicht, und wenn wir Kinder Gottes werden, vergehen wir auch nicht" 1,0, Vater, o Mutter", ruft da das Mädchen unter heißen, sehnsuchtsvollen Tränen, „so helft mir doch, daß ich ein Kind Gottes werde!" Und das kleine Minchen Neumann ist in der Tat eins geworden und hat ein Leben lang die Sehnsucht im Herzen getragen, ein immer besseres zu werden.

Die Mütter hatte &n feines Auge und eine zarte, liebevolle Hand, wenn ihr Otto irgend etwas Unrechtes getan hatte Das spürte sie gleich. Dann sah sie ihren Jungen wohl an und sagte: „Nun schau mich auch mal lustig an, mein Otto! Sieh, das kannst du nicht. Da ist wohl ein Splitterchen ins Auge geraten. Komm, wir wollen ihn zusammen herausholen. Ich will dein Doktor sein." Wie war's da dem kleinen Sünder leicht gemacht, seine Unart zu bekennen! Und wie ging's weiter?
„Die Mutter dachte nun nicht daran, mir eine Strafpredigt zu halten, sondern zeigte mir nur in tiefstem Mitleiden, wie unglücklich die Sünde uns mache; wie sie uns ruiniere in unserm innersten Wesen, uns verfinstere, uns stumm, starr, unbrauchbar mache, Friede, Freude, Geduld, Sanftmut und alle Tugend in uns zerstöre. Sie wies mich hin auf die zarte Arbeit des Geistes Gottes, wie er mich vor der Sünde gewarnt habe, auf die sanften Schwinpngen der Magnetnadel des Herzens, auf die Unruhe des Gewissens, auf die innere Verdunkelung. Kurz, daß der Mensch ‚verlor' ist durch die Sünde, weil er sein eigentliches Lebenselement durch die Sünde verliert - das lernte ich frühe verstehen."
Wer das Bild einer solchen Mutter im Herzen trägt, erlebt seine mannigfach bewahrende Macht. Als der Otto später aus dem Elternhaus in die Welt hinausging, ist er oft in arge äußere und innere Not hineingeraten. Da ist ihm das stille und liebe Bild der Mutter iniitier ein großer Segen gewesen. Er sagt selber:
„In meinen Studentenjahren hat's Zeiten gegeben, wo ich in größter Gefahr war, am Glauben Schjffbruch zu leiden. Nicht nur am christlichen Glauben, nein, der Glaube an den Gott, der Gebete erhört, wurde mir erschüttert. Aber meinen Zweifeln war von vornherein ein Maulkorb umgehängt. Ich mußte mir nämlich sagen: ‚Ist dein Zweifel berechtigt, dann war deine Mutter die größte Närrin, die jemals auf zwei Füßen ging.' Gegen diesen Gedanken aber empörte sich sofort nicht nur jeder Blutstropfen, der in meinen Adern rollte -‚ nein, auch meine Vernunft empörte sich dagegen. Die Mutter, die durch ihren kindlichen Glauben so reich, so glücklich und beglückend war, sie hat mich' wer weiß wie oft, wieder zurechtgebracht, wenn ihr lichtes, wonniges Bild hinter meinem Arbeitstisch auftauchte. Ich fing dann bald an, meinen Zweifel zu bezweifeln; ich entschloß mich bald und sagte: Lieber will ich so wie meine Mutter irren, als recht haben mit denen, die nichts glauben und nichts hof-fen.
offen. - Das war ja nun freilich ein sehr ‚unkritisches' Verfahren, und ich sehe im Geist ehrwürdige Gelehrte, die darüber lächeln, und un-ehrwürdige, die darüber hohnlachen. Aber so oder so - ich bin gut dabei gefahren."
Die Leitbilder und Methoden, die für Vater und Mutter Funcke in der Erziehung ihrer Kinder galten, sind „evangelisch" gewesen. Die Rute. des Gesetzes, der Drohung, der Strafe wurde äußerst sparsam geschwungen. Die Liebe - vor allem der Mutter - erwies sich als eine ungemein starke und wirksame Bildungsmacht. Die Liebe schloß nicht aus, sondern ein, daß die Eltern klare und handfeste Erziehungsziele hatten, die sie ohne Abstriche verfolgten. Und die wenigen Ohrfeigen und Stockhiebe, die Otto Funcke in seinen Kindeijahren gekriegt hat, hängen mit seinen Abirrungen von diesen unverbrüchlichen Grundsätzen zusammen.
In der Überschrift über diesen Abschnitt finden wir einige der wichtigsten dieser Ziele zusammengestellt. Gern dienen, zu den Geringen sich halten und die Schwachen ehren - daß das christlich und mannhaft sei, haben die Funcke-Buben früh, wenn auch nicht immer ganz leicht und ohne Murren, gelernt. Vater Funcke war ein Mann mit einem ausgeprägten sozialen Empfinden. Er hatte ein warmes Herz für die armen Leute und galt gar manchen zugeknöpften und verbohrten Spießbürgern als ein gefährlicher Anwalt des Proletariats. Daß solch ein Mann auch seinen fünf Jungen soziales Verständnis beizubringen suchte, ist selbstverständich. Die Mutter hieb kräftig in dieselbe Kerbe. Nur war bei ihr der Ruf zum Lieben und Dienen mehr aus der Botschaft des Evangeliums und aus dem Umgang mit der Ewigkeitswelt geschöpft. Der Vater sagte: „Jeder Mensch muß etwas Ordentliches tun, damit die Welt im Gange bleibt." Die Mutter führte ihren Beweis so:
„Jesus Christus, unser Heiland, wollte nichts sein als ein Diener, und im Dienen ist er würdig geworden zur Herrlichkeit Gottes. Auch sein Leiden und Sterben war nicht mehr und nicht weniger als ein Dienen. Wir können auch nur auf dem Wege wie er zur Herrlichkeit und zur Herrschaft gelangen, also durch Dienen."
Die Funcke-Jungen mußten zu Hause tüchtig mit anpacken. In dem Fehlen einer Schwester schienen die Eltern einen Wink der Vorsehung zu sehen, daß ihre Jungen Buben und Mädchen• in einem sein sollten. Otto und seine Brüder sind durch ihre Mitarbeit im Hause nicht im geringsten weibisch geworden und erst recht nicht knechtisch. Natürlich lehnte sich gelegentlich ihre minnliche Würde gegen solche Aufgaben auf; die im allgemeinen den Mädchen zugewiesen -werden. Dann sagte Mutter Funcke lächelnd: „Ihr sollt sehen, ihr werdet es mir im Leben noch ein-
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mal danken." Die Jungen haben das nicht immer gleich geglaubt, aber später im Leben vollauf bestätigt gefunden.
Wohl am schwersten war der Gehorsam, wenn die Buben, in jeder Hand einen Henkeltopf mit heißer Suppe - „Döppen" genannt -‚ von der Mutter in die Hütten der Armen und Kranken geschickt wurden. Sie waren dabei nicht nur Überbringer leiblicher Speisen, sie richteten gleichzeitig auch das Evangelium aus. Denn für jeden der durch ihre Mildtätigkeit Gespeisten hatte die Mutter auch einen Bibelspruch ausgewählt, der meist in die Lage des Empfängers trefflich hineinpaßte. Solche Aufträge bedeuteten oft bittere Gänge. Daß dadurch viel schöne Zeit zum Spielen verlorenging, war nicht das Schlimmste. Mehr wurmte es, wenn die Gassenbuben allerlei Spottworte nachriefen; Die Mutter gab ihren Jungen bei solchen Gelegenheiten folgenden originellen Rat: „Hört doch das blöde Babbeln der ollen Gassenjungens gar nicht. Denkt, sie wären lauter Kappes (Kohlköpfe). Wie könnt ihr je selbständige und tapfere Männer werden, die im Leben ihren Weg durchgehen, wenn ihr auf das Gerede der Leute hört! Man muß früh das Rechte tapfer tun und sich dabei um die Welt nicht kümmern." So hat die Mutter ihre Jungen kräftig bei ihrer Ehre zu packen gesucht - und nicht vergeblich. Die Buben sind gewiß wilde und richtige Buben gewesen, aber
• sie haben doch früher und mehr als die meisten andern Kinder
• eine Ahnung davon gekriegt, daß es eine schöne Sache ist, wenn man die Menschen durch Dienen und Lieben erfreut und sich durch keinen Spott der Toren davon abhalten läßt.
Otto Funcke berichtet darüber:
„Schließlich - ob auch langsam - gingen den Söhnen Mütterchens Argumente in Fleisch und Blut über, und sie gewannen dadurch einen grüßen Reichtum für das Leben. Ja, es ist ein gut Ding, wenn man früh lernt, der ganzen Welt, die ja doch im Argen liegt
• und vom Eitelkeitsgeist besessen ist, - ich sage, wenn man früh lernt, ihr ein Schnippchen zu schlagen, falls man nur weiß, daß man eine gute Sache vertritt. - Es ist noch ein größer Ding hängt aber mit je-nein eng zusammen, wenn man früh lernt, mit dem Vorbild Jesu Christi Ernst zu machen, und zwar da, wo es uns am wenigsten paßt. In dem Wort: ‚Geht's der Natur entgegen, so geht's gerad und
• fein liegt eine tiefe Wahrheit, solange unsere Natur so ist, wie sie
• ist; Sich selbst verleugnen und praktisch Jesus nachfolgen, das ist mehr wert als alle Orthodoxie und Theologie. Denn unser Herr Christus ist nicht herniede.'gekommen, um eine neue Lehre, sondern um ein neues Leben in die Welt und Menschheit zu bringen."
Einmal hat es eine gehörige Ohrfeige vom Vater gegeben, die den kleinen Otto und seinen Bruder Bernhard nachdrücklich daran erinnerte, wozu der Mensch auf der Welt ist Der Vater geht mit den beiden Jungen durch den Wald und erzählt so interessant und meisterhaft eine Geschichte, daß die Jungen ganz hingerissen sind. Da kommen die drei an einem alten, verhutzelten Weiblein vorbei, das im Walde Reisig gesammelt hat und sich nun vergeblich müht, sein Bündel auf den Kopf zu heben. Einen Augenblick wartet der Vater, dann aber, als die Buben sich nicht rühren, hat jeder patsch! patsch! seine Ohrfeige. weg. Der Vater geht selber hin und hilft der Frau, daß sie ihr Bündel auf den Kopf und ins richtige Gleichgewicht kriegt. Dann prägt er seinen Buben folgendes gute Sprüchlein ein: „Jungens, wißt ihr, wofür ihr in der Welt seid? Ich will es euch sagen: Die Menschen sind da, um einander zu dienen, und wo sie das nicht tun, da ist es schlechterdings nicht auszuhalten."
Außer dieser saftigen Ohrfeige hat der Otto noch einmalgründliche Webe bekommen. Und die hingen auch mit einem gröblichen Verstoß gegen das Gesetz zusammen, daß man immer für die Geringen und Verachteten mannhaft einzutreten habe. Da waren die Brüder mit bösem Spott über einen Mann, der einen Buckel trug, hergefallen. Das hatte eine handfeste Abreibung in Vaters Studierstube zur Folge. Es sei nur angedeutet, daß dabei eine Reitpeitsche eine sehr schmerzhafte Rolle spielte. Auf die Frage des Vaters, ob sie den. Grund wüßten, heulte ein mehrstimmiger Schmerzenschor los: „Ja, lieber Vater, ja!" Nachdem der Vater so seines Amtes gewaltet hatte, überließ er der Mutter das Feld zu weiterer Belehrung. Die machte nun ihren Jungen klar, daß sie mit ihrem schändlichen Verhalten geradezu dem Heiland selber ins Gesicht geschlagen hätten, der ja immer auf der Seite der Verachteten und Verstoßenen gestanden hätte. Und auf dieselbe Seite sich zu schlagen, das allein sei edel und mannhaft und christlich. Otto Funcke hat von dieser Züchtigung bezeugt, daß sie ihren Zweck vortrefflich erfüllt habe, und daß er
„seinen Eltern mehr dafür danke als für alle Pfeffernüsse, Honigkuchen und Marzipantorten, womit sie uns je und je traktiert haben. Es ging uns in Fleisch und Blut über, daß ein wahrhaft edler Mensch, geschweige denn ein Christ, überall und zu aller Zeit auf die Seite der Verachteten, Verlachten und Verspotteten treten müsse."
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In Otto Funckes Jugendjahren war der Heimatort Wülfrath in der Hauptsache von allerlei biederen und braven kirchlichen. Leuten bewohnt. Deren Kirchlichkeit war aber oft nichts anderes als tote Gewöhnung, ein Stück „des eitlen Wandels nach väterlicher Weise". Es gab aber auch einige Kreise der „Stillen im Lande", der Konventikelleute, wie man sie auch nannte, der Pietisten. Mülheim an der Ruhr, wo der stille und gottinnige Gerhard Tersteegen in einer „Pilgerhütte" sein verborgenes Leben mit Gott geführt hatte und vielen Menschen Seelenführer geworden war, lag nicht allzuweit von Wülfrath entfernt Kein Wunder, daß Tersteegens Schriften und Lieder auch in Wülfrath manchen Christen willkommene Herzensnahrung waren. Die Tersteegenianer und andere Pietisten trafen sich gelegentlich an den Abenden in den Häusern. Die Pastoren von Wülfrath sahen das nicht allzu gerne. Auch Ottos Großvater, der streng reformierte Pastor Neumann, war den Konventikelleuten nicht sonderlich hold. Um so mehr aber liebte sie Ottos Mutter. Sosehr sonst Vater Neumann für seine Tochter Minchen Autorität war, in diesem Stück ging sie auf keine Belehrungen und Ermahnungen ein.
Wenn sie in die „Stunde" ging, nahm sie ihren Otto öfter mit. Er war damals 11 bis 12 Jahre alt. Man kann nicht gerade sagen, daß er sich in diesen Stunden immer wohlgefühlt hätte. Es war ihm darin manches zu schwer und zu fremdartig, aber eins merkte er doch, und das nötigte ihm Respekt ab: Hier sind Leute, die nehmen es mit ihrem Glauben ernst, und sie sind jederzeit bereit, für diesen Glauben zu Märtyrern zu werden.
In diesen Konventikeln, unter den Pietisten, gab es damals in Wülfrath und anderswo allerlei Originale. Gottlob sind diese auch heute hin und her im Lande noch nicht ganz ausgestorben. Funcke ist der Ansicht, daß
„es überhaupt unter 50 lebendigen Christen mehr Originale gibt als unter 500 Weltleuten, die sich nur vom Weltgeist, dem Zeitgeist und der öffentlichen Meinung bestimmen lassen."
Aber was sollen wir theoretisch von diesen Dingen reden? Wir wollen lebendigen Anschauungsunterricht nehmen und den jungen Otto Funcke in eine „Stunde" begleiten.
Wir befinden uns in der guten Stube eines bergischen Bauernhauses. Auf dem Tisch dampft der große „Kaffee-Pott". Der „Platz", das selbstgebackene Weißbrot, lädt zum Schmaus ein. Unter den Gästen am Tisch sitzt auch Mutter Funcke mit ihrem nun vierzehnjährigen Otto. Der Besitzer des Hofes ist ein Konventikelmann Er hat etliche seiner „Bruder" für den Nachmittag eingeladen. Zunächst wird das Genie des Hoferben bewundert,
der ganz aus eigenem Antrieb eine kleine Dampfmaschine zusammengebastelt hat Die Besucher raten alle dem Vater: „Du
mußt den Jungen lernen, studieren, Seine Gaben entwickeln las-
sen. Der kann noch einmal ein großer Erfinder werden." Der Bauer widerspricht lächelnd, aber bestimmt: „Der Junge wird
Bauer wie seine Väter und ich. Der Hof braucht ihn." (Der junge Künstler ist aber nie Bauer geworden, sondern wenig später an der Schwindsucht gestorben.)
Die Gäste widersprechen: Es wäre ein Jammer, wenn die schönen Anlagen des Jungen sich nicht entfalten könnten. Da.
beginnt der Vater eine längere Rede: „Die Anlagen verkümmern nicht. Die wird der Junge im Himmel gut gebrauchen können.
Auf Erden aber wird er Bauer. Hier auf Erden bleiben tausend
und abertausend edle Keime unentwickelt Vieles bleibt hier in den Anfängen stecken und kommt niemals zur Reife, zur Frucht,
zur vollen Ausgestaltung Aber Gott wäre ein unverantwortlich
schlechter und kümmerlicher Haushalter, wenn er all diese Anlagen und Keime; die er doch selber in die Menschen hineingelegt hat, für immer unentfaltet und verkümmert ließe. Darum ist die Ewigkeit da. In ihr kommen alle Anfänge zur Vollendung, wird aus dem Ringen und Mühen hier unten die herrliche Klarheit Dort oben ist die beste Luft und der beste Boden für jede Pflanze."
Da hat aber der junge Otto die Ohren gespitzt! Das waren ja ganz neue Gedanken, die da ausgebreitet wurden! Wir wissen,
durch wieviel Krankheit und Entbehrung es in Ottos Jugendjahren ging. Da waren dann oftmals allerlei Tröster erschienen und hatten den Jungen auf den Himmel verwiesen. Der aber hatte solche Reden nicht allzu erbaulich gefunden. Ihm kam - ehrlich gesagt - der Himmel ziemlich öde und gar nicht begehrenswert vor. „Immer nur Gott schauen und dreimal heilige Lieder singen, das schien mir doch langweilig", lesen wir in Funckes Lebenserinnerungen
Zwar war es nicht eigentlich das Spielen und Toben, das jedem gesunden Kind Wonne und Lebenselement ist, das Otto
im Himmel zu kurz zu kommen schien. Er war ja inzwischen
in die Jahre gekommen, wo sich übers Spielen hinaus die Freude am Schaffen und Gestalten in einem Jungen kräftig regt. Aber  dieser Schaffenstrieb wurde immer wieder durch all die körperlichen Hemmungen und Rückschläge aufgehalten. Und nun sitzt
Verlag: Liebenzeller Mission 
Jahr: 1982 
Einband: Paperback 
Seitenzahl: 80 
Format: 12 x 18,5 
Gewicht: 98 g

Pagel Arno, Krebs Hans, Du hast mein Leben so reich gemacht

06/28/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

In Mittelfranken, einem Teil des Freistaates Bayern, liegt das schöne, liebliche Altmühltal und in diesem Tal meine Heimatstadt Gunzenhausen. Dort erblickte ich als elftes von insgesamt vierzehn Kindern am 23. Mai 1902 das Licht der Welt. Meine Mutter hatte es in der Zeit vor meiner Geburt nicht leicht. Es lastete eine große Arbeitsfülle auf ihr, und es ging durch viele Sorgen und Nöte. Da blieb es nicht aus, daß sie manchmal traurig war, und es kam sie die Angst an, daß auch das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, von trauriger, schwermütiger Wesensart sein könnte.

Meine Eltern hatten 1901 ein Haus gekauft. Mein Vater - Georg Kreb - war Töpfer und Ofensetzer. Um das Töpferhandwerk ausüben zu können, mußte er eine Werkstatt mit Brennofen anbauen. Dazu mußte ein Stück von dem angrenzenden Teich aufgefüllt werden. Es ging damals nicht so einfach wie heute, daß ein Lastkraftwagen den benötigten Schutt an die betreffende Stelle heranfuhr und dort auskippte. Die Arbeit mußte mit Schubkarren erledigt werden, und auch meine Mutter, die ihr elftes Kind erwartete, war an dieser schweren Mühe beteiligt. Dazu kam der ganze große Haushalt. Zu jener Zeit wurden kinderreiche Familien nicht unterstützt wie heute. Meine Eltern gingen durch viel finanzielle Not.

So kam es, daß meine Mutter oft mit wenig frohen Blicken nach mir Meinem Jungen schaute. Ich selber machte ihr aber auch dadurch Kummer, daß ich so winzig und elend war. Als ich geboren wurde, war ich gewissermaßen nur halb fertig. Ich wog kaum dreieinhalb Pfund. Heute würde man ein solches kümmerliches Wesen in den Kinderbrutkasten legen und fertig »ausbak-ken«, aber den gab es damals noch nicht. Mutter hat oft erzählt, daß sie manchmal fast vergessen hätte, mich zu füttern, weil ich mich nicht gerührt hätte. Ich hätte immer mit meinen Fingern und meinen Zehen gespielt und wäre immer zufrieden dagelegen.
Als ich sie dann aber nach einigen Monaten mit meinem ersten Lächeln erfreute, war ihr das ein besonderes Geschenk. 

Erst nach einem Jahr bin ich eigentlich richtig lebendig geworden. So lange brauchte ich, um »fertig« zu werden. Es war meiner Mutter ein richtiges Wunder, daß so ein winziges Geschöpf überhaupt durchkam. Mein bin ich immer geblieben, und noch Jahre später hat Mutter oft zu meinen Geschwistern gesagt: »Ich bin bloß gespannt, was aus unserm Hans wird!«
Bei dem kärglichen Einkommen meines Vaters in seiner Töpferei und seinem Ofensetzergeschäft und bei der großen Kinderzahl war es selbstverständlich, daß wir Kinder zur Ernährung und Bekleidung mithelfen mußten. Ich kleiner, aber flinker Knirps hütete schon mit drei Jahren Gänseküken. Wir zogen jedes Jahr 50-60 solcher Küken auf. Ich kann mich noch gut an eine ältere Frau erinnern, die auch Gänse hütete. Zu der sagte meine Mutter: »Paß ein wenig auf den Kleinen auf!«
In Gunzenhausen liegt das bekannte Diakonissen-Mutterhaus »Hensoltshöhe«. Es wurde 1908 gegründet. In seiner Anfangszeit haben die jungen Schwestern auch Gänse gehütet, oft in meiner Nähe. Ich war inzwischen schon ein paar Jahre älter. Sie gaben mir öfter »Bildle« zum Anschauen.
Die Arbeit war nicht so sehr schwierig. Man mußte sich nur ab und zu ein wenig rühren, dann waren die Gänse ganz zufrieden und blieben beieinander. Nach der Schule kamen die größeren Geschwister dazu, hallen beim Hüten und sammelten Futter. Es wurden Brennesseln und Disteln gesucht und heimgebracht. Anschließend war noch einmal Schulunterricht bis 15 oder 16 Uhr. Die Gänse wurden großgezogen, bis sie das erstemal gerupft wurden. Danach wurden die meisten verkauft. Wir selber hatten viele Betten, und es wurden viele Federn gebraucht. Das Geld von den verkauften Gänsen mußte z. B. herhalten, um Kleider und Anzüge für die Konfirmation zu kaufen. Bei unserer großen Schar war ja jedes Jahr jemand »dran«, und das ging ganz schön ins Geld!
Gänsehüten war aber nur eine unserer Beschäftigungen. Eine andere war das Austragen von Brötchen für verschiedene Bäckereien. Wir waren morgens von 6 bis 1/48 Uhr unterwegs. Auf diese Weise verdienten wir schulpflichtigen Kinder uns das Frühstück und ein kleines Taschengeld. Wenn im Wald die Heidel-, Preisel-und Himbeeren— reif wurden, wurde jede schulfreie Stunde zum Pflücken ausgenutzt. Das war für die Kinderhände oft ein harter
Zwang, aber wenn dann am Abend die Körbe voll waren, zog die ganze Schar fröhlich singend mit ihrer Ausbeute nach Hause. Als Belohnung für den Fleiß gab es ein Ei, und dann machten wir uns an die Schularbeiten.

Mitte August war die Beerenzeit vorüber. Dann wurden wir Kinder zu verschiedenen Bauern zum Hopfenpflücken gegeben. Hier verdienten wir uns unser Essen und einige Mark, je nach Alter und Fleiß. Weiter folgte im Ablauf des Jahres das Ährenlesen und das Holzlesen. Bei dem letzteren achteten die Eltern scharf darauf, daß die Kinder nichts stahlen, um ihren Wagen rascher voll zu bekommen.
Einmal glaubte ich, beim Holzsammeln ein besonderes Glück zu haben, als ich im Spätherbst an ein kleines Wäldchen von jungen Lärchenbäumen kam. Diese waren zu jener Jahreszeit ohne Nadeln und sahen aus, als wären sie alle dürr. Ich hatte damals keine Ahnung, daß die Lärchen im Herbst ihre Nadeln verlieren. Das hatte uns Kindern nie jemand gesagt. Darum mein Irrtum: »Die Lärchen sind wertlos und nur noch als Brennholz zu verwenden.«
Ich machte mich mit einigen meiner Geschwister über die Bäumchen her, um sie abzuhauen. Ich freute mich sehr, daß der Wagen bald gefüllt sein würde. Aber o weh, da erschien auf einmal der Waldaufseher, und das war gut! Als wir heimkamen, setzte es eine solche Tracht Prügel, daß an diesem Abend keiner mehr sitzen konnte. Zu essen bekamen wir auch nichts mehr. Der Vater mußte eine Strafe von 20 Mark an das Forstamt bezahlen. 

Das war damals viel Geld. Es waren noch mancherlei andere »Tätigkeiten«, die dafür sorgten, daß wir Krebskinder nie »arbeitslos« wurden. Wir kehrten Straßen und halfen im Winter beim Schneeräumen. Wir hüteten Ziegen, eigene und die von Nachbarn. Es waren oft 30-40 in unserer Herde. Wir hatten Kaninchen und mußten für sie Futter holen. Wir sammelten Alteisen, Lumpen und Knochen, und was es sonst noch gab. Wo Telegraphenarbeiter ihre Werkstatt hatten, wühlten wir in den Abfallhaufen herum nach jedem Zentimeter Kupferdraht oder nach Messing und anderm Metall. Das wurde alles verkaüft, und wir freuten uns, wenn wir 50 Pfennige oder eine Mark heimbringen konnten.
Während unserer Kinder- und Schulzeit halfen wir auch in der
Töpferwerkstatt mit. Damals wurde alles noch im Hand- und Fußbetrieb gemacht. Der Ton wurde zwei- bis dreimal durch die Tonwalze gedreht und dann wiederholt mit den Füßen durchgetreten, bis er fein und rein und ohne Unrat war. Dazu war viel Kraft und Mühe nötig.. Dann wurde er noch auf der Würgebank öfter durchgeknetet, bis er ganz teigartig war. Außerdem drehten wir oft stundenlang, meist zu zweien, die Glasurmühle. Das war eine Steinmühle, welche die Erzglasur fein mahlte.
Wir halfen Tiere: Hunde, Katzen, Pferde, Löwen usw. formen, zum Teil mit Gipsformen, zum Teil aber auch freihändig, und sie auch mit Grundton oder Glasur bemalen. Damit waren wir im Winter voll beschäftigt, und wir waren sehr froh, wenn wir z. B. auf dem Weihnachtsmarkt einige Hundert Tiere oder Kinderspiel-Zeuge, wie Tassen, Kaffeekännchen, Schüsselchen usw., die schön bemalt waren, verkaufen konnten. Zu unserer Kinderzeit waren alle diese Sachen noch sehr primitiv und einfach.
Der Ton wurde früher von den Töpfern in bestimmten Äckern gesucht und mit großer Mühe mit der Handschaufel ausgegraben. Ich habe das in meiner Lehrzeit noch selber gemacht. Es gab damals noch keine Bagger, die den Humus abheben konnten. Deshalb wurde der Acker vollkommen durchwühlt, um die Tonadern, die manches Mal metertief lagerten; mit der Schaufel auszuheben. Aus diesem Grunde wurden solche Äcker zum größten Teil unfruchtbar und waren die billigsten im Ortsgebiet. In den meisten Fällen wurden sie als Friedhofsacker verwendt.
Diese Tatsache hilft zum Verständnis von Matthäus 27, 7. Mit dem Verrätergeld des Judas wurde der billige Töpfersacker gekauft. Dieser sogenannte Blutacker wurde zum Begräbnis der Pilger verwandt. Er war sicherlich der billigste Acker in der ganzen Umgebung.
Nun muß ich noch den Pflasterzoll erwähnen. Unsere Eltern mußten ja alles daran setzen, um ihre zahlreichen Kinder zu ernähren. So hatten sie auch drei Jahre lang zwei Straßen ersteigert, um dort den sog. Pflasterzoll einzukassieren. Für eine solche Straße mußten 1500-1800 Mark an die Stadtkasse entrichtet werden. Das war damals eine große Summe. Es sollte bei der Sache ja auch noch etwas verdient werden. Den Pflasterzoll mußten die Bauern bezahlen, wenn sie von den Dörfern in die Stadt kamen. Die Summen waren genau festgelegt: Ein Pferd kostete 15, eine Kuh 10, ein Leiterwagen 5 und eine Schubkarre 3 Pfennige. Der betreffende Bauer erhielt eine Quittung mit Tagesstempel.
Bei Brücken- und Straßeneingängen war jeweils ein kleines Zollhäuschen errichtet. Dort, wo die Nürnberger Straße und die Ansbacher Straße aufeinander stießen, hatte das Zollhäuschen vier Fenster, so daß man in beide Richtungen sehen und für beide Straßen den Zoll kassieren konnte. In diesem Häuschen verbrachten wir Kinder viele Stunden und erledigten dort auch unsere Schularbeiten. Wenn wir Jungen in der Schule waren, mußten die Mutter oder eine Schwester den Zoll »eintreiben«.
An guten Tagen, z. B. wenn Wochenmarkt war, betrug unsere Einnahme 12-15 Mark. Den besten Erfolg hatten wir jedoch zur Zeit der Pferdemusterungen im Ersten Weltkrieg. Den Rekord erbrachte ein Dezembertag im Jahre 1915: 37 Mark! Ich stand an einer Ecke, von wo ich auch die Fuß- und Feldwege übersehen konnte. Es gab nämlich Bauern, die gerne auf Um- und Nebenwegen angeritten kamen, um dem Zoll zu entgehen. Vor lauter Freude über die. große Einnahmequelle an jenem Tage ließ ich mein Frühstück und Mittagessen im Zollhäuschen unberührt stehen. Weil ich mich von sechs Uhr in der Frühe bis zum Abend draußen in der Kälte aufhielt, zog ich mir einige schmerzhafte Erfrierungen zu.
Nicht nur an jenem Rekordtag, auch sonst mußten wir scharf aufpassen, daß uns kein »sparsamer« Bauer entwischte. Entkam aber doch einer und wurde bei einer Kontrolle durch einen städtischen Beamten oder einen Polizisten ertappt, dann mußte er 10-20 Mark Strafe bezahlen.
Die Erfahrungen meiner Kindheit am Zoll ließen mich später meinen Freund Zachäus, den Oberzöllner von Jericho, mit dem ich die körperliche Kleinheit teilte, besser verstehen, als das die meisten vermögen, die von ihm lesen oder hören. Er mußte ja auch eine gewiß nicht kleine Summe aufbringen, die von der römischen Besatzungsmacht, von der er den Zoll gepachtet hatte, von ihm verlangt wurde. Dabei griff er auch zu betrügerischen und ausbeuterischen Mitteln. Durch die Begegnung mit Jesus aber wurde sein Leben neu.
All das Geschilderte macht deutlich, auf wie mannigfache Weise wir Kinder zum täglichen Brot in der großen Familie
beitrugen, und das machte uns glücklich. Ich will allerdings nicht verschweigen, daß sich meine Geschwister auch manchmal geärgert und über die Eltern geschimpft haben, weil sie so wenig Zeit zum Spielen hatten und immer zum Arbeiten angehalten wurden. Ich selber habe das nie so empfunden, weil ich am Arbeiten Spaß hatte. Auch die dreckigsten Sachen habe ich mit Freuden getan. Schon von frühester Jugend an habe ich jede Arbeit als Spiel betrachtet. So ist mir eigentlich nie im Leben eine Aufgabe schwer gefallen oder gar zuwider gewesen - in der Jugend nicht und auch später nicht. Ich habe oft zu meinen Kindern gesagt: »Ihr müßt jede Arbeit als Spiel ansehen, dann fällt euch keine schwer, und wenn sie noch so mühselig und schmutzig ist.«
Ich ziehe Bilanz: Ich sehe auf meine arbeitsreiche Kindheit und Jugend ohne Ärger und Bitterkeit, vielmehr mit Dank und Freude zurück. Sie hat mir nicht geschadet.

Mein erster Flug
Jetzt muß ich noch von einem Erlebnis berichten, das für die damalige Zeit eine einzigartige Sensation darstellte. Ich bin als Dreizehnjähriger zum erstenmal geflogen! Und das kam so:
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bekamen wir Kinder selten einmal ein Auto zu sehen. Es wurden die ersten offenen Mercedes-Benz-Wagen gebaut, deren Höchstgeschwindigkeit etwa 30-40 Kilometer in der Stunde betrug. 1912 flog eins der ersten Zeppelin-Luftschiffe über Gunzenhausen hinweg. Da stand fast die ganze Einwohnerschaft auf den Straßen und bestaunte die großartige technische Errungenschaft. Am allersel-tensten waren damals Flugzeuge, meist als Eindecker konstruiert. Und solch ein Eindecker, der zu der kleinen Luftwaffe des Ersten Weltkrieges gehörte, mußte ausgerechnet in der Nähe unseres Städtchens im Sommer 1915 notlanden!
Das geschah ganz in der Nähe des Waldes, in dem wir gerade beim Heidelbeerpflücken waren. Schnell ließen wir unsere Körbe stehen und rannten zu dem in einer Wiese heranrollendcn Flugzeug. Es war das erste, daß wir so nahe sehen und beobachten konnten. Kaum war der Pilot ausgestiegen, da fragte er uns, ob einer von uns sich in das Flugzeug setzen und darauf aufpassen wolle. Er selber wollte sich in Brand, dem nächsten Ort, ein Fahrrad leihen. Mit diesem wollte er die vier Kilometer bis nach Gunzenhausen radeln und dort einen Schutzmann als Wachtposten holen. Wir hatten damals bei einer Einwohnerschaft von 5000 nur zwei Polizisten. Ich meldete mich sofort, die Wachaufgabe war mir lieber als Heidelbeerptlücken. Wie ich mich fühlte, in einem Flugzeug zu sitzen, zumal bald von allen Seiten die Leute herbeigeeilt kamen, um die Maschine zu bestaunen!
Von Gunzenhausen aus mußte der Pilot seinen Standort (Fliegerhorst) anrufen, um einen Monteur und Ersatzteile anzufordern. Am nächsten Tag erschienen sämtliche Schüler aus der Stadt und der Umgebung, um das notgelandete Flugzeug zu bewundern. Noch einen Tag später stellten auch wir uns mit unserer Klasse ein. Der Pilot wollte wissen, ob der »Kleine« dabei war, der

@1981 Francke-Buchhandlung

Petersen Jim,Evangelisation ein Lebensstil

05/20/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Der Autor Jim Petersen ist Leiter der Navigatorenarbeit in Lateinamerika, wo er seit 1963 mit seiner Familie in Brasilien lebt. Er hat dort erlebt, wie viele junge Leute aus einer vollkommen säkularisierten Gesellschaft zum lebendigen Glauben an Christus gefunden haben. Er bietet keine Patentrezepte an, sondern eine biblische Fundierung und praktische Beispiele, wie das Evangelium in einer säkularisierten Gesellschaft vermittelt werden kann.

Einleitung
Einige Beobachtungen zu den herkömmlichen Evangclisationsmethoden
- Unser Evangelisationsstil ist in Traditionen steckengeblieben

I. Teil: Einige Schwierigkeiten
1. Sich der Wirklichkeit einer unerreichten Welt stellen - Bewegen wir uns in die richtige Richtung?
2. Schlimmes Erwachen - Sind wir geduldig genug?
3. Unser missionarischer Übereifer - Sind wir zu sehr erfoigsorientiert?
4. Wirkliche Verständigung - Verstehen die Menschen unsere Sprache?

II. Teil: Evangelisation durch Verkündigung
5. Verkündigung des Evangeliums - Biblisch, am Wesentlichen orientiert
6. Das religiöse Erbe - Bestandsaufnahme: Voraussetzung für wirksame Verkündigung
7. Reichweite der Verkündigung - Grenzen der Wirksamkeit

III. Teil: Evangelisieren durch ein gelebtes Zeugnis
8. Die rätselhaften Briefe der Apostel - Wo werden wir in den Briefen aufgefordert, zu verkündigen?
9. Israel - ein lebendiges Zeugnis an die Welt - Das auserwählte Volk Gottes
10. Das Zeugnis der Gemeinde Jesu - Ein einzigartiges Volk

IV. Teil: Evangelistischer Lebensstil - praktisch
11. Ein gutes Zeugnis - Oft nur eine Karikatur
12. Eine attraktive Alternative anbieten - Das Christsein praktisch vorleben
13. Einheit von Glaube und Leben - Das Wertsystem der Christen
14. Die Gefahr der Abkapselung - Wenn Absonderung zur Abkapselung wird
15. Angst voreinander - Ein Hindernis für ehrliche Beziehungen
16. Wer paßt sich wem an? - Eine offene Atmosphäre für den anderen schaffen
17. Das Prinzip des Leibes Christi Ergänzung durch verschiedene Gaben
18. Drei Bereiche, die zusammenwirken - Leben, Gemeinschaft und gesprochenes Zeugnis
19. Die biblische Grundlage für den Glauben - Bewußter Gehorsam gegenüber Gott durch sein Wort
20. Die dynamischen Kräfte bei der Bekehrung Der Christ, der Heilige Geist und die Bibel
21. Das Beispiel von Abrahao - Ihr könnt meine Fragen nicht beantworten
22. Einige Tips für die Praxis - Wie fangen wir an?

Noch ein Buch über Evangelisation?
Um das Anliegen dieses Buches zu verstehen, muß man sich einige Tatsachen und Beobachtungen vor Augen führen, die jeden verantwortungsbewußten Christen bewegen sollten.
1. Die letzten 10 Jahre sind in Deutschland gekennzeichnet von einer evangelistischen Großoffensive: Überall gibt es große und kleine Evangelisationen; evangelistische Verteilschriften werden zu Hunderttausenden gedruckt und verteilt; fast keine Fußgängerzone ohne singende Jugendgruppe im Einsatz. Dabei hat sich ein ganz bestimmtes Verständnis von Evangelisation entwickelt. „Mission als Sonderaktion, die -.der Name sagt es schon - nicht im normalen Leben zu Hause ist, sondern zusätzlich, extra geleistet wird. Der gute Christ engagiert sich dem ‚Ideal' folgend an Feiertagen, Wochenenden und Abenden: Er steht an Informationsständen, geht mit Traktaten von Haus zu Haus und findet sich abends im Evangelisationszelt ein, wo er ‚Zeugnis gibt'. Das Gespräch über den Gartenzaun, der Abend in der Familie, das Plauderstündchen mit Bekannten und Nachbarn (bei denen man ja auch über Gott reden könnte, und zwar sehr glaubwürdig) werden zweitrangig, es lebe die ‚Action' ‚das Besondere, Außergewöhnliche." *
2. Laut einer Umfrage, die „der Spiegel" 1967 und 1979 in Auftrag gegeben hat, haben innerhalb des letzten Jahrzehntes ca. „12 Millionen Deutsche (d. h. jeder Fünfte) ihre christliche Überzeugung oder ihre prochristliche Einstellung aufgegeben zugunsten der Haltung: Christsein? Das bringt mir nichts!"**

In keinem anderen Bereich unserer Gesellschaft hat sich in so kurzer Zeit ein so drastischer Wandel vollzogen. Menschen, die so weit säkularisiert (d. h. verweltlicht) sind, können mit den oben beschriebenen Aktionen nicht erreicht werden. Sie gehen vollkommen an ihnen vorbei. Das führt zu der erschreckenden Situation, daß alle evangeli-stischen Bemühungen auf einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung beschränkt bleiben (ca. 20-30%, nämlich die, bei denen durch das Elternhaus noch christliche Vorstellungen gelebt und gelehrt wurden). 70-80% der Menschen bleiben trotz aller Einsätze und Aktionen vom Evangelium unberührt!
Vor einigen Jahren lautete die Jahreslosung: „Gott will, daß die r: Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1. Tim. 2,4). Wenn wir dieses Anliegen wirklich ernstnehmen, ist eine tiefgreifende Neubesinnung im Bereich der Evan-gelisation nötig. Gott möchte, daß alle Menschen gerettet werden - nicht nur der kleine Prozentsatz derer, denen ein religiöses Erbe mitgegeben worden ist.

Ansatzpunkt für diese Neubesinnung bietet das schlichte Gleichnis Jesu aus Matthäus 13, Vers 33: „Das Himmelreich ist einem Sauerteig gleich, den ein Weib nahm und vermengte ihn unter drei Scheffel Mehl, bis daß es ganz durchsäuert ward". In diesem Gleichnis Jesu geht es um das Wachstum des Reiches Gottes, dabei werden die Christen mit Sauerteig verglichen, die Welt mit Mehlteig; die Form, in der die Christen die „Welt" beeinflussen sollen, ist das „Unter-gemengt-sein", das Ziel st die vollständige „Durchsäuerung". Dieses Gleichnis ist eine radikale Aufforderung zum Leben in der Welt; nicht durch Anpassung, sondern durch Beeinflussung. Es ist der Aufruf wider den Rückzug in die frommen Kreise, wo die Evangeli-sation zum „Blitzkrieg" wird, zu einer Aktion, mit der man sich punktuell in die Welt vorwagt, um schnell in die Geborgenheit der christlichen Gemeinschaft zurückzukehren.

„Untermischen" ist keine Rechtfertigung für die Halbherzigen, denen die ganzen evangelistischen Programme schon immer suspekt waren, weil sie selbst zu den gehören, denen die Welt mehr bedeutet als die gehorsame Nachfolge, Stattdessen ist es die Anfrage an die, denen es am Herzen liegt, daß Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Es ist die Anfrage, wie weit ich bereit bin, die Abgrenzung und Bewahrung aufzugeben, liebgewor-dene Sprachweisen, Denkstrukturen und Verhaltensweisen abzulegen, um des anderen willen. Wie weit will ich den anderen wirklich verstehen und annehmen? Wie weit will ich die Gemeinschaft mit ihm suchen, um Gemeinsamkeiten aufzubauen? Wie weit öffne ich mein Leben, meine Familie, mein Haus, damit andere sehen können, wie es bei mir wirklich aussieht?

Wieviel Geduld habe ich, jemandem mit Ausdauer und Glauben über Monate und Jahre schrittweise zum Vertrauen in das Evangelium zu helfen. Fragen, zu deren Beantwortung dieses Buch helfen will - nicht durch Patentrezepte, sondern durch biblische Fundierung und - durch viele Beispiele aus einer reichen Erfahrung.
Horst Günzel
Leiter der Navigatorenarbeit

Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit mit den Navigatoren. Die Navigatoren wollen bei der Erfüllung des Missionsbefehls mithelfen, indem sie Menschen für Christus gewinnen und ihnen Hilfe in der Jüngerschaft anbieten. 2. Timotheus 2,2: '>Und was du vor vielen Zeugen von mir gehört hast, das vertraue zuverlässigen Menschen an, die fähig sind, auch andere zu lehren«, kennzeichnet ihre Arbeit.
Sie arbeiten unter Schülern, Studenten und Berufstätigen. Sie tun dies innerhalb des Leibes Christi, im Rahmen der evangelischen Allianz in Verbindung mit anderen christlichen Werken und Gemeinden. Sie sind Mitglied im RMJ (Ring missionarischer Jugendbewegungen), einem Zusammenschluß vieler evangelikaler Missionswerke Deutschlands.
Die verschiedenen Materialveröffentlichungen sollen dazu dienen, daß Gläubige die biblischen Prinzipien der Jüngerschaft kennenlernen und dazu motiviert werden, sie in ihrem Leben und im Dienst für den Herrn anzuwenden.
Weitere Informationen über die Arbeit der Navigatoren erhalten Sie von:
DIE NAVIGATOREN
Seufertstr. 5 5300 Bonn 2

Einleitung
Einige Beobachtungen zu den herkömmlichen Evangelisationsmethoden
Unser Evangelisationsstil ist in Traditionen steckengeblieben
1963 reisten wir als Familie mit dem Schiff von Amerika nach Brasilien. Wie erwartet stellte diese Reise für uns einen Neuanfang dar. Aber wir hatten nicht damit gerechnet, daß wir schon während der 16 Tage auf dem Schiff entscheidende, neue Erkenntnisse sammeln würden. Dieser Lernprozeß dauert bis heute an. Das vorliegende Buch ist der Versuch, das weiterzugeben, was ich seit dieser Reise darüber gelernt habe, wie man das Evangelium weitergeben kann. Wir waren 120 Passagiere an Bord, eine Hälfte Touristen, die andere Hälfte Missionare - 60 Touristen und 60 Missionare! Ein ideales Verhältnis! An Bord kann man nicht vielmehr unternehmen als spazieren gehen, lesen oder Gespräche führen. Daher konnte ich mir nicht vorstellen, daß auch nur ein Tourist an das Ziel der Reise gelangen konnte, ohne nicht gründlich mit der christlichen Botschaft konfrontiert worden zu sein. Idealere Bedingungen, um das Evangelium weiterzugeben, konnte es nicht geben.

Während der ersten drei Tage versuchten meine Frau und ich, die anderen Passagiere kennenzulernen. Unsere Gespräche standen nicht unter Zeitdruck und schon bald diskutierten wir ernsthaft mit unseren Bekannten über Christus. Am dritten Tag wurde mir klar, daß wir die Passagiere bald total überfordern würden, wenn alle anderen 58 Missionare dasselbe tun würden wie wir. 

Ich entschloß mich, mit den anderen darüber zu reden, wie wir unsere evangelistischen Bemühungen aufeinander abstimmen könnten. Die erste Gelegenheit zu einem solchen Gespräch ergab sich, als ich sechs Missionare traf, die auf dem Oberdeck zusammensaßen. Ich setzte mich zu ihnen und erzählte ihnen von meinen Überlegungen. Mein Vorschlag war, daß wir uns absprechen sollten, wie wir die Passagiere am besten erreichen könnten, ohne sie dabei zu überrennen.

Ich hatte die Lage völlig falsch eingeschätzt. Als ich ihnen erklärte, was mir auf dem Herzen lag, haben sich die sechs befremdet ange-Schaut. Anscheinend war es ihnen noch nicht in den Sinn gekom-män, mit den anderen 60 Passagieren über Christus zu sprechen. Schließlich sagte einer von ihnen: „Wir haben gerade erst unser Theologiestudium hinter uns gebracht. Wir haben dort nicht gelernt, wie man so etwas macht." Ein anderer sagte: „Ich weiß nicht so recht. In mir sträubt sich alles gegen die Vorstellung, daß man sich bekehren soll." Ein Dritter sagte: „Ich bin jetzt seit drei Jahren Pastor, aber ich habe noch nie jemand persönlich auf den Glauben hin angesprochen. Ich glaube, ich weiß auch nicht, wie man das macht."

Ich sagte ihnen daraufhin, daß wir die 95 Millionen Brasilianer vergessen könnten, wenn es uns nicht gelingen würde, diesen 60 Leuten innerhalb von 16 Tagen und mit so vielen Missionaren das Evangelium nahezubringen. Dann sollten wir doch lieber gleich das nächse Schiff zurück nach Hause nehmen.
Nach einigen Stunden klopfte es an unserer Kabinentür. Da waren drei der sechs, mit denen ich gerade gesprochen hatte. Sie wollten mir mitteilen, daß sie vom Kapitän die Erlaubnis bekommen hätten, am Sonntag einen Gottesdienst für die Schiffsmannschaft durchzuführen. Sie baten mich, die Predigt zu halten.

Als sie mir ihr Vorhaben erklärten, kam mir ein Gespräch in den Sinn, das ich vor drei Wochen mit einem befreundeten Pfarrer geführt hatte. Dieser Pfarrer erzählte mir, daß seine Gemeindeglieder kürzlich angefangen hätten, Zeugnis von ihrem Glauben abzulegen. Die jungen Leute gingen jetzt jeden Sonntag in ein Altersheim, um dort einen Gottesdienst zu halten. Einige der Gemeindeglieder hielten jede Woche Gefängnisgottesdienste; am Ende dieser Gottesdienste boten sie den Gefangenen persönliche Seelsorge an.

Natürlich ist nichts Falsches daran, Gottesdienste in Gefängnissen irnd Altersheimen zu halten. Aber wenn das allein den evangelisti-schen Einsatz einer Gemeinde ausmacht, dann entsteht ein Problem. Ich fragte den Pfarrer: »Laufen Sie nicht Gefahr, Ihrer Gemeinde beizubringen, daß das Evangelium nur für Menschen in schwierigen Umständen bestimmt ist, für diejenigen, bei denen uns das Zeugnis-geben leichter fällt? Sollten Christen nicht lernen, die Botschaft gerade auch den Menschen zu bringen und sich um die zu kümmern, mit denen sie es täglich zu tun haben?"
Diese Gedanken gab ich an die drei Missionare in meiner Kabine weiter. Hieran Bord standen wir in der Gefahr, in das gleiche Denken zu verfallen. Ich sagtei „Durch unser Gespräch haben Sie Gewissensbisse bekommen. Da haben Sie sich jetzt diese armen Seeleute ausgesucht, die nie zur Kirche gehen, und haben einen Gottesdienst für sie geplant. Das ist gut. Aber ich denke, wir können uns vor der Verantwortung für die anderen Passagiere nicht drücken." Sie verstanden, was ich sagen wollte. Aber sie hatten jetzt schon zugesagt, diesen Gottesdienst für die Mannschaft zu halten. Der Kapitän machte einen Anschlag in den Mannschaftsunterkünften und der Speisesaal wurde für den Anlaß hergerichtet. Ich sagte zu, zu kommen, aber nicht um zu predigen.

Wir vier Missionare waren rechtzeitig im Speisesaal. Es war niemand gekommen. Hin und wieder liefen Seeleute ganz geschäftig durch den Raum. Sie waren jedoch sehr darauf bedacht, nicht von uns „abgefangen" zu werden. Schließlich kam ein Seemann herein und setzte sich. Er war Baptist. Das war also unser Gottesdienst. Vier Missionare und ein baptistischer Seemann. Nach diesem Abend fingen meine drei Freunde an, ernsthaft darüber nachzudenken, wie sie auf die Touristen zugehen könnten.
Unter den Passagieren befand sich auch ein älteres, gläubiges Ehepaar. Der Mann hatte Geburtstag, und aus diesem Anlaß veranstalteten die drei Missionare einen traditionellen Liederabend. Ich wußte, was einen da erwartete und hielt es für besser, weg zu bleiben, um nicht die Beziehungen zu den Leuten, mit denen ich im Gespräch über den Glauben war, aufs Spiel zu setzen. Als sie mit ihrem Abendprogramm anfingen, war ich auf dem Oberdeck. Ein anderer Passagier wollte wie ich die Abendluft genießen. Wir fingen an, uns über das Neue Testament zu unterhalten, das ich zum Lesen bei mir hatte.

Wir hörten deutlich, was unten vor sich ging. Es wurden zunächst Volkslieder gesungen, dann kamen geistliche Lieder, und schließlich wurden Glaubenszeugnisse gegeben und eine Ansprache gehalten. Meine drei Freunde waren hinterher ganz begeistert. Es war ihnen gelungen, zu fast allen Passagieren zu »predigen". Natürlich organisierten sie am übernächsten Abend wieder einen Liederabend. Wieder ging ich auf das Oberdeck, aber dieses Mal leisteten mir noch 60 andere Passagiere Gesellschaft. Sie wollten nicht ein zweites Mal in dieselbe Falle gehen!

Als ich später noch einmal über diese 16 Tage nachdachte, ging mir auf, daß unsere Situation auf dem Schiff die Situation der Kirche im Kleinen widerspiegelte. Durch diese Erkenntnis und die Erlebnisse der darauffolgendenJahre, in denen mein missionarischer Dienst die Eingewöhnung in eine neue Kultur mit einer neuen Sprache notwendig machte, ergaben sich Hunderte von Fragen. Seitdem bin ich auf der Suche nach Antworten. Ich möchte herausfinden, wie man das Evangelium wirklich in die Welt hineintragen kann. Das ist der Gegenstand dieses Buches.

1. Teil: Einige Schwierigkeiten
1. Sich der Wirklichkeit einer unerreichten Welt stellen
Bewegen wir uns in die richtige Richtung?

„Gehet hin in alle Welt" (Markus 16,15). Wenn Sie diese WorteJesu lesen, wie stellen Sie sich diese Welt vor?.
Sie könnten sich z. B. darunter ein riesiges Gebiet vorstellen, das von mehr als 4 Milliarden Menschen bewohnt wird, die sich einzig und allein dadurch voneinander unterscheiden, ob sie eine Beziehung zu Gott durch Jesus Christus haben oder nicht. Wir haben eine Main-mutaufgabe vor uns, die sich allerdings auf eine leichte Formel bringen läßt: die Botschaft des Evangeliums all denen zu bringen, die Christus nicht kennen. Oder aber Sie haben eine geographische Vorstellung von der Welt. Es gibt heute 165 unabhängige Länder auf der Welt. Wir müssen nationale Grenzen überschreiten, unsere Arbeit in so vielen dieser Länder wie nur möglich aufnehmen und dort als Zeugen Christi leben. 

Wie oft messen wir den Erfolg unserer missionarischen Arbeit an der Zahl der Länder, in denen wir arbeiten! Die Aufgabe der Weltmission wird dann dahingehend vereinfacht, daß lediglich schon bestehende Formen und Ausprägungen von missionarischer Arbeit in andere Länder der Welt getragen und überall dieselben evangelistischen Methoden angewandt werden.
Statt dessen sollten wir unser Augenmerk mehr auf die einzelnen Menschen richten. In einem Bericht der Organisation „World Vision" heißt es u. a.:
„Gott hat in Christus jeden Menschen zur Mission verpflichtet, nicht zur Mission der Länder der Welt, sondern der ta ethne, der Volksgruppen der Welt.
Die Sünde, die tief in unseren Herzen wohnt, hat uns für die wunderbare Tatsache blind gemacht, daß Gott nicht nur alle
Völker der Welt liebt, sondern daß er sie gerade in ihrer Verschiedenheit voneinander liebt - so wie sich ein Gärtner über die verschiedenen Farben und Arten der Blumen, die Gottfür
seinen Garten geschaffen hat, freut.
Das missionarische Konzept des Apostels Faulus hatte vor allem die Volksgruppen im Blick. (...) Erarbeitete als Jude mit dem gebührenden Respekt vor der jüdischen, kulturellen Tradition. (...) Er respektierte den Lebensstil der Griechen, solange wie dieser Jesus Christus als Herrn in einem tiefen biblischen und geistlichen Sinne unterworfen war.

Mission sollte die Farben und Schattierungen, die Grundzüge und Wesensarten der verschiedenartigen Völker ernst rieb-men. Viele Missionare haben die Tatsache, daß Gott alle Völker ohne Unterschied liebt, mißverstanden und setzen sich statt dessen für ein falsches Ideal derAusräumung aller Unterschiede ein. (...) Glücklicherweise wächst die Wertschätzung der vielen verschiedenen und erstaunlich reichen Sprachen und Kulturen auf der ganzen Welt. Es ist von ungeheurer Wichtigkeit, daß wir in der Mission das rechte Feingefühlfür die Verschiedenartigkeit der Völker entwickeln.
Dr. Charles R. Taber, Herausgeber der Zeitschrift „Practical Anthropology" und Übersetzungsberater für die „United Bible So-cieties", kommt auch in diesem Bericht zu Wort: „Da Gesellschaften, Kulturen und Menschen derart große Unterschiede aufweisen, geht man am besten an die Mission heran, indem man sich möglichst genau auf die jeweilige Situation des Zuhörers einstellt. Der Evangelist muß herausfinden, von welchen Voraussetzungen der Zuhörer in bezug auf Begriffe wie Realität und Wahrheit ausgeht und welche Wertvorstellungen er hat."

Es ist sehr ermutigend, daß in der heutigen Mission eine evangelisti-sche Strategie betont wird, die an die jeweilige Situation angepaßt ist. Wir brauchen solche, biblisch fundierten Missionsstrategien, die die ethnischen und kulturellen Unterschiede sowie die Denkvoraussetzungen in bezug auf Begriffe wie Realität, Wahrheit und Wertmaßstäbe mit einbeziehen. Ein Mitarbeiter von World Vision hat es so formuliert: »MARC hat richtig erkannt, daß man nur mit einer klar umrissenen Strategie zur Erreichung der unerreichten Völker mis-
sionarische Durchschlagskraft haben kann. MARC fordert, daß im Mittelpunkt einer solchen Missionsstrategie das einzelne Volk und nicht der Evangelist oder Missionar stehen sollte."

Bei all diesen Betrachtungen geht es darum, wie das Evangelium weitergesagt werden kann. Dr. Taber drückt das folgendermaßen aus: „Wir sollten uns darum bemühen, daß wir bei der Darstellung des Evangeliums möglichst genau auf die Bedürfnisse des Zuhörers eingehen." In diesen zitierten Untersuchungen geht es hauptsächlich darum, daß die „Völker" und ihre Kultur verstanden werden, damit wir fähig werden, die verbale Verkündigung des Evangeliums der jeweiligen Ausgangssituation genau anzupassen.
Mit diesem Buch möchte ich eine biblisch fundierte Strategie für Evangelisation darstellen. Ich bin jedoch der Meinung, daß wir noch einen Schritt über das bloße Verkündigen hinausgehen müssen, um eine wirkungsvolle Strategie zu finden, die sich auf die Schrift stützt. Wir müssen erkennen, daß die Verkündigung des Evangeliums nur der erste Schritt in der Missionsstrategie des Paulus war. Wir brauchen für diese unerreichten Völlker etwas, was über die bloße Verkündigung hinausgeht und mehr Durchschlagskraft besitzt.
Heute leben 800 Millionen Menschen in Ländern mit Namenschri-stentum - dieser Begriff „Namenschrist" ist zum Synonym für die westliche Zivilisation geworden. MARC ordnet die anderen 3,2 Milliarden Menschen in sieben Kategorien ein: Animisten, Buddhisten, christlich-heidniche Synkretisten, Hinduisten, Mohammedaner, Menschen mit traditionellem Stammesglauben, und die säkularisierten Menschen.
Die Verwendung des Begriffes »säkularisiert" finde ich besonders interessant. In meinem Buch behandele ich die Frage, wie die unerreichten Menschen mit dem Evangelium erreicht werden können. Hierzu habe ich in Amerika und in den entwickelten Gebieten Brasiliens reichliche Erfahrungen gesammelt. Die größte unerreichte Gruppe ist in beiden Ländern der säkularisierte Teil der Bevölkerung. In diesem Buch geht es darum, wie die säkularisierten Menschen mit dem Evangelium angesprochen werden können. Wir verwenden dieses Wort „säkularisiert" an einigen Stellen in einer neuen Bedeutung. Deshalb sollten wir es erst einmal genau definieren.
„Säkular" wird definiert als „zur Welt gehörend, oder zu Dingen, die nicht als religiös, geistlich oder heilig angesehen werden können". „Säkularisiert" bedeutet „profan geworden, losgelöst von jeglicher Religion oder geistlichen Zusammenhängen oder Einflüssen, weltlich oder ungeistlich geworden", Die erste Definition beschreibt
ein Leben ohne einen Glauben. Die zweite beinhaltet, daß sich ein Gesinnungswandel von einem gottesfürchtigen Leben zu einem un-geistlichen Leben vollzogen hat.
Wir können diese Definitionen miteinander verknüpfen und damit einen großen Teil der Weltbevölkerung wie folgt beschreiben: »Menschen, die außerhalb eines christlichen Rahmens leben." Der christliche Glaube ist kein wichtiger Bestandteil ihres Lebens mehr. Ihre persönliche Lebensphilosophie gründet sich nicht auf christli-
che Vorstellungen. -
Mit dieser Definition hätten wir die rein „weltlichen" Menschen - jene, die nach einer nichtchristlichen Philosophie leben - umfaßt Sie
würde aber auch die Atheisten, die Agnostiker und diejenigen mit einschließen, für die der Materialismus zur Pseudo-Religion geworden ist - sowie auch der Marxismus eigentlich eine Pseudo-Religion ist.
Sie würde auch die untschließen, die erst später weltlich „geworden" sind, bei denen sich ein Gesinnungswandel von einer christlichen
Philosophie zu einer nichtchristlichen Lebensauffassung vollzogen
hat. Einige Menschen haben diesen Wandel selber erlebt. Aber meist erstreckt er sich über mehrere Generationen, die vom Christentum
enttäuscht wurden Bei vielen ist es schon mehr als 25 Jahre her, daß sie ein Leben innerhalb christlicher Strukturen kennengelernt haben. Sie sind der Meinung, daß der christliche Glaube als gültiges Fundament für eine persönliche Lebensphilosophie ausgedient hat. Sie leben in einem nachchristlichen Zeitalter.
Sie wissen vielleicht traditionsgemäß einiges über den Glauben, aber das hat keine Auswirkungen auf ihr persönliches Leben. Einige die-
ser Leute verfügen vielleicht sogar über ein breites Wissen in bezug auf Glaubensinhalte. Sie haben z. B. den Katechismus gelernt. Wenn man sie auf den christlichen Glauben hin anspricht, werden sie die „richtigen" Antworten geben. Aber diese Glaubensinhalte haben für sie persönlich keine Bedeutung mehr.
Andere wissen überhaupt nichts von Glaubensinhalten oder davon, daß es den christlichen Glauben gibt. Viele von uns können sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, daß das sogar noch auf ganze Bevölkerungsschichten Nordamerikas zutrifft.
Es gibt natürlich verschiedene Grade der Säkularisierung. Die Extreme lassen sich immer leicht aufzeigen - aber oft sind die Unterschiede nicht so deutlich erkennbar. Zwischen Schwarz und Weiß gibt es unendlich viele Grauzonen. Viele Menschen sind teilweise säkularisiert und teilweise christlich.
Wie viele Nordamerikaner könnten als säkularisiert bezeichnet werden? Bei einer Meinungsumfrage der Zeitschrift „Christianity Today" unter Nordamerikanern über 18 im Jahre 1979 wurde festgestellt, daß 94% der Amerikaner an Gott oder an ein höchstes Wesen, das sie als Gott ansehen, glauben. Die Hälfte von ihnen sagte, daß dieser Glaube ihnen großen Trost spendet. Ungefähr ein Viertel glaubte, daß Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. 45% sagten, daß ein persönlicher Glaube an Christus die einzige Hoffnung der Erlösung ist.

In Amerika gehören heute 67% der Bevölkerung einer Kirche an. Die Hälfte dieser Leute geht zumindest einmal im Monat zur Kirche. Diese Zahl behinhaltet Protestanten, Katholiken und andere christliche Gemeinschaften. Jeder fünfte amerikanische Erwachsene bezeichnet sich selber als evangelikal.*
Wie können wir die Ergebnisse dieser Umfrage auswerten? Sie zeigen ganz deutlich, daß die christliche Botschaft guten Anklang gefunden hat. Aber was ist mit der Hälfte dieser 94%, die wenig oder keinen Trost in dem Gott finden, an den sie glauben. Scheinbar sind sie Anhänger eines einfachen Deismus, eines Glaubens an einen Gott, der vielleicht einmal die Welt erschaffen hat, sich dann aber zurückgezogen hat; für sie ist Gott nicht jemand, der aktiv in das Leben der Menschen eingreift.
In dem angeführten Bericht stellt Dr. Taber die Frage: „Wie sehen diese unerreichten Volksgruppen aus?" Er führt weitet aus: „Damit sind nicht winzige und einheitliche Volksgruppen gemeint, ähnlich den entlegenen Dschungelstämmen, sondern hier handelt es sich vielmehr um klar abgrenzbare Untergruppen innerhalb schon gründlich missionierter Gesellschaftsgruppen oder um Gruppen, die in einer früheren Generation oder in einem anderenJahrhundert missioniert wurden. Unter ihnen befinden sich z. B. viele Kirchgänger aus den reichen westlichen Ländern, die trotz all ihrer Kirchlichkeit nie das Evangelium klar und deutlich gehört haben... In der Praxis sind dieseMenschen eigentlich genauso wenig erreicht wie die Dschungelstämme oder die in den Ghettos unserer Städte lebenden (,ne Chrisdanicy Today-Gailup Pol An Overview", Christianity Today Vol. XXItt, Decernber 24, 1979, S. 12.)
Menschenmassen."
Der Theologe Reinhold Niebuhr hat uns davor gewarnt, „uns nicht mit der allgemein vorherrschenden Religiosität unseres Volkes zufrieden zu geben. Sehr vieles davon ist einfach eine Verfälschung der christlichen Botschaft."'
Ich möchte gerne aus meiner Erfahrung heraus die Lage wie folgt be-urteilen: Angesichts solcher Statistiken, meiner eigenen Erfahrung und unserer Definition des Wortes „säkular", müssen wir da nicht konsequenterweise die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung als „säkularisiert" ansehen - als Menschen, die dem Christentum fern stehen?
Ich habe meine Erfahrungen als Missionar unter säkularisierten Menschen gemacht. Ich stehe im Dienst einer christlichen Organisation, die weltweit arbeitet. Meine Freunde, die unter anderen unerreichten Völkern arbeiten, machen ähnliche Erfahrungen wie ich. Ich glaube, daß die gleichen Prinzipien angewendet werden können, wann und wo immer wir unsere Gesellschafts- und Kulturschicht verlassen und versuchen, den Menschen die gute Nachricht zu bringen; und zwar zu den Menschen, die nicht die gleichen Denkvoraussetzungen wie wir haben und bei denen noch keine Vorarbeit geleistet würde, die eine Tür für das Evangelium geöffnet hätte. Wir tun uns schwer damit, diese kulturellen Grenzen zu überschreiten. Es findet keine echte Kommunikation statt - wir reden eigentlich nur zu uns selber!
Das Evangelium ist die Kraft Gottes zur Errettung, für heute und für morgen. Nur das Evangelium bietet grundlegende Antworten auf persönliche und gesellschaftliche Probleme. Das Evangelium ist die gute Nachricht, daß Gott durch seine Gnade die Versöhnung all derer, die durch den Sündenfall verdorben waren, möglich gemacht hat (vgl. Röm. 8,19-32).
Wenn das so ist, dann sollten wir uns genau überlegen, wie wir diese Sache andern vermitteln können. Es gibt kein schwierigeres Pro-
blem. Eine wirkungsvollere Verkündigung des Evangeliums wird vor allem dadurch beeinträchtigt, daß wir glauben, wir hätten im Grunde die Patentlösung gefunden, wie wir die Verlorenen gewinnen können. Das ist aber nicht der Fall. Wir scheinen genau zu
* (Reinhold Niebuhr, ‚Religiosity and the Christian Faith", Christianity in Cd ay
28, 1951.)

*Idea 23/81 Kommentar von Thielmann ‚Das Miss.Jahr 1980—Die Abkehrvon Holzwegen"
*Spiegel 52/79

*Unreached Peoples Directory', Monrovia, California, MARC, 1974, S. 12— vorgelegt  auf dem Weltevangelisationskongreß in Lausanne (Schweiz)

@ der deutschsprachigen Ausgabe
1983 hy Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH,

Plock Wilfried, Gott ist nicht pragmatisch

05/16/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Was ist Pragmatismus?

Kapitel 1 - Die Geschichte des Pragmatismus
Es war einmal eine christliche Gemeinde. Jahrzehntelang ging sie treu ihren Weg. Ihre Glieder bezeugten Jesus Christus in ihrem persönlichen Umfeld. Immer wieder bekehrten sich Menschen, ließen sich taufen und wurden der Gemeinde hinzugetan. Die Zusammenkünfte der Gemeinde waren von der Verherrlichung Gottes geprägt. Das Wort der Schrift wurde reichlich verkündigt. Gesunde Lehre hatte ihren festen Platz im Gemeindeleben. Die Gläubigen dienten einander mit ihren Gaben. Die Gemeinde wurde erbaut. Sie wuchs unspektakulär, aber sie wuchs.


Eines Tages kam ein neuer Wind in die Versammlung. Einige Christen hatten bestimmte Bücher gelesen. Andere hatten Kongresse besucht. Die Veränderer gewannen langsam die Oberhand. Eine neue Philosophie wurde eingeführt: wir wollen jetzt »Gemeinde für Entkirchlichte« sein. Völlig unbemerkt vollzog sich ein Denkmusterwechsel. Die sonntäglichen Zusammenkünfte wurden schrittweise zu »Gästegottesdiensten« umgebaut. Die Musik wurde lauter. Die Predigt kürzer. Der Mensch eroberte den Mittelpunkt des Geschehens. Die Lehre wurde angepasst.
Einige zumeist ältere Christen verließen schweren Herzens die Gemeinde. Sie konnten nicht fassen, was sich binnen weniger Jahre ereignet hatte.
Was ich mit wenigen Sätzen beschrieb, ereignete sich in den letzten zehn Jahren in vielen Gemeinden des deutschsprachigen Europa. Das könnte ich mit einer Anzahl trauriger Briefe dokumentieren.

Wie kam es zu dieser Entwicklung? Brach sie aus heiterem Himmel über die Gemeinden herein? Oder gab es eine Vorgeschichte? Gibt es Zusammenhänge, die das Auftreten der »besucherfreundlichen Bewegung« erklären könnten? Ich meine, ja. Ein vorbereitendes und zugleich verbindendes Element ist die Philosophie des »Pragmatismus«.
Die Geschichte des Pragmatismus
Pragmatismus kommt von dem griechischen Begriff »pragma« und bedeutet Tat, Handlung. Im weitesten Sinn ist Pragmatismus zunächst einmal eine philosophische Richtung. Sie meint ein Absehen von einer vorgegebenen Wahrheit zugunsten von Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit. »Wahr« ist, was nützt und was sich gerade bewährt.
»Das Große Neue Fremdwörterbuch« erklärt:
»Pragmatismus« ist die Überzeugung, dass nur »wahr« ist, was für das Handeln zweckmäßig ist.'
John MacArthur dient bereits seit etwa fünfunddreißig Jahren der »Grace Church« in Los Angeles. Er schrieb weit über sechzig Bücher. Viele Amerikaner kennen ihn von seinen Radiopredigten. In Deutschland wurde er den Christen durch einige seiner Bücher sowie durch die MacArthur-Studienbibel bekannt. Er definiert wie folgt:
Pragmatismus ist die Behauptung, Bedeutung und Wert einer Sache würden durch ihre praktischen Konsequenzen bestimmt. Er ist nahe verwandt mit dem Utilitarismus, dem Glauben, dass alles, was nützt, auch gut ist. Für einen Pragmatiker und Utilitaristen ist jede Technik oder jede Methode gut, wenn sie nur den gewünschten Erfolg hat. Wenn's nicht funktioniert, muss die Sache schlecht sein.2
Dieser weit gefasste Pragmatismus findet sich bereits bei den Philosophen der Aufklärung und deren Nachfolgern. So meinte etwa Friedrich Nietzsche, dass in dem Augenblick, wo ein Begriff seine praktische Bedeutung verlöre, ein neuer erschiene.
Wahrheit sei folglich nicht etwas, das zu entdecken und aufzufinden, sondern vielmehr etwas, das zu schaffen wäre.

Von Immanuel Kant zu Charles Peirce
Die engere Fassung des Begriffes Pragmatismus entstammt der jüngeren amerikanischen Philosophie. Charles S. Peirce (1839-1914) führte den Begriff »pragmatisch« ein. Aber Peir-ce war nicht im eigentlichen Sinn originell. Er übernahm den Terminus von Immanuel Kant, der damit seine experimentale, auf mögliche Erfahrung bezogene Denkweise beschrieben hatte. Peirce, von Haus aus Chemiker, war vor allem von Kants »Kritik der reinen Vernunft« angetan und nannte sie seine »Muttermilch in der Philosophie«. Der Pragmatiker Peirce betonte wie Kant die enge Verbindung von Mittel und praktischem Zweck. Jedoch wehrten sich beide dagegen, den Pragmatismus als Anweisung zum nützlichen Handeln in Einzelfällen aufzufassen. Höchster Zweck war bei Kant und Peirce die »Entwicklung korrekter Vernünftigkeit«, nicht die zweckmäßige Einzelhandlung.
Peirce entwickelte seine Lehre übrigens in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts aus einer agnostischen Grundhaltung heraus.3 Als zusätzliche Quellen des Pragmatismus nannte er Platon, Sokrates, Aristoteles, Spinoza, Berkeley und den englischen Psychologen Bain.
David F. Wells stellt fest, dass sich um die damalige Jahrhundertwende ein Denkmusterwechsel vollzog. Während im 18. und 19. Jahrhundert die dominanten Namen noch die der Theologen waren (Jonathan Edwards, Charles Hodge, etc.), glänzten im Amerika des 20. Jahrhundert vor allem die der Philosophen: Peirce, James, Dewey, und andere.4 Diese Wende sollte in der Folgezeit noch einen erheblichen Beitrag zur Schädigung der Gemeinde Jesu Christi leisten.

Wihiam James
Der Peirce-Schüler William James (1842-1910) studierte zunächst Chemie und Medizin. Er promovierte 1868 an der Harvard-Universität in Boston. Zwölf Jahre später wurde er dort Professor für Psychologie und Philosophie. Sein berühmtester Schüler war übrigens John B. Watson, der Begründer der Verhaltenspsychologie. James baute den Pragmatismus zu einer weithin bekannten philosophischen Richtung aus. Seit seinen Pragmatismus-Vorlesungen von 1906 galt James vielfach als Begründer dieser Richtung. Er wies aber stets auf Peirce als den wirklichen Urheber des Pragmatismus hin.

Während Peirce noch die traditionelle Wahrheitsauffassung vertrat, nach der Wahrheit die Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit ist, schuf William James eine neue Wahrheitstheorie. 1907 schrieb er sein Hauptwerk »Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking«.5 Die Kernaussage lautete folgendermaßen:
Die Wahrheit einer Behauptung oder einer Theorie steckt völlig in ihrer praktischen Wirkung. Wenn eine bestimmte Behauptung wirkt, so liegt darin nicht nur ihre Bedeutung, sondern auch ihre Wahrheit. Indem sie wirkt, wird sie zur Wahrheit. Wenn sie nicht wirkt, so ist sie unwahr.'
Und weiter:
Die Wahrheit einer Idee ist nicht ein fester, innewohnender Besitz. Wahrheit geschieht einer Idee. Sie wird wahr, wird wahr gemacht durch Ereignisse. Ihr Wahrheitsgehalt ist in der Tat ein Ereignis, ein Prozess: nämlich der Prozess der Selbstbewahrheitung, ihre Verifikation (Hervorhebungen im Original) .7
Fortan wurde Wahrheit als »Verifikation« (Bewahrheitung) verstanden. Diese vollzieht sich durch Handlungen. Sind die Handlungen von praktischer Bedeutung, also lebensfördernd, so erweisen sich die Ausgangsvorstellungen als »wahr«.
James definierte Wahrheit als »eine Art des Guten«. Das Wahrheitskriterium besteht für ihn allein in dem Nützlichen und Lebensförderlichen. In diesem Zusammenhang gebrauchte er den heftig kritisierten Ausdruck »cash value« (Barwert): »Truth is the cash value of an idea« (Wahrheit ist der Barwert einer Idee) .8 Für James lag also die Wahrheit einer Vorstellung allein in ihren praktischen Wirkungen. Wahrheit wurde für ihn zum Mittel der Befriedigung von Lebensbedürfnissen.

Pragmatismus und Religion
William James scheute sich nicht, diesen Denkansatz auch auf religiöse Weltanschauung anzuwenden. Er lehrte: »Nach pragmatischen Grundsätzen ist die Hypothese von Gott wahr, wenn sie im weitesten Sinn des Wortes befriedigend wirkt.«9
In seinem berühmten Buch »Varieties of Religious Experi-ence« (Vielfalt religiöser Erfahrungen) führt er Folgendes aus:
Wenn sich jemand in seiner Lebenspraxis .mit dem Gedanken tröstet, dass es eine Seelenwanderung oder einen Gott gibt, dann ist ein solcher Glaube für den Beteiligten nützlich und somit wahr (Hervorhebung vom Verf.), auch wenn weder der Glaube an eine Seelenwanderung noch der Glaube an einen Gott objektiv-wissenschaftlich verifizierbar ist.'°
James bekannte sich zwar zum »Glauben an Gott«, blieb jedoch immer bei einem sehr diffusen Glauben. Am Ende seiner Vorlesung über »Pragmatismus und Religion« sagte er den Studenten:
Sie sehen, dass Pragmatismus »religiös« genannt werden kann, wenn Sie der Religion erlauben, dass sie pluralistisch sein kann ... Pragmatismus muss dogmatische Antworten hinten anstellen, da wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sicher wissen, welcher Typ von Religion auf lange Zeit gesehen am besten funktionieren wird.1'
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Theorien von Peirce und James wiederum von John Dewey (1859-1952) aufgegriffen und weitergeführt wurden. Dewey, ebenfalls ein überzeugter Evolutionist, übertrug Darwins Ideen in die amerikanischen Erziehungswissenschaften und behauptet bis heute einen verheerenden Einfluss auf dem Gebiet der Ethik.
Weitere Bedeutungen des Begriffs »Pragmatismus«
Zur babylonischen Sprachenverwirrung unserer Tage gehört der Umstand, dass ein und derselbe Begriff je nach Bezug verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Damit befasst sich die wissenschaftliche Disziplin der »Semantik«, die Wortbedeutungen erforscht und festlegt.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich hier wenigstens zwei alternative Bedeutungen erwähnen. Im Umfeld der Sozialwissenschaften versteht man unter »pragmatisch« in der Regel »das Gegenteil von ideologisch, auf praktische Vorteile ausgerichtet, realitätsnah«. So beschreiben zum Beispiel die Autoren der 14. Shell-Jugendstudie den Wertewandel der »pragmatischen Generation« wie folgt:
Im Unterschied zu den 80er Jahren nehmen Jugendliche heute eine stärker pragmatische Haltung ein. Sie wollen praktische Probleme in Angriff nehmen, die aus ihrer Sicht mit persönlichen Chancen verbunden sind. Übergreifende Ziele der Gesellschaftsreform (das wäre ideologisch - Anm. d. V.) oder die Ökologie stehen hingegen nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der meisten Jugendlichen.12
Im technisch-betriebswirtschaftlichen Bereich kann »pragmatisch« durchaus die Bedeutung von »geschäftskundig, sachkundig, tüchtig« annehmen. Das Wort beschreibt in diesem Zusammenhang sogar manchmal das Gegenteil von »theoretisch«.

Der Pragmatismus und die Währheitsfrage
Der bibel- und christusgläubige holländische Philosophieprofessor Jacob Klapwijk kommt zu folgender Bewertung:
Der Pragmatismus bindet das Denken an die Pseudonorm der Anpassung, des Wachstums und des praktischen Erfolges. Das Denken ist aber an eine eigene Norm, die Wahrheitsnorm gebunden. Irrtümer bleiben Irrtümer, auch wenn sie gedeihen wie Unkraut und auch wenn praktischer Erfolg gewährleistet ist ... Umgekehrt bleibt Wahrheit immer Wahrheit, auch dann, wenn sie vergessen oder in den Staub getreten wird.13
Selbst wenn der Pragmatismus insgesamt mit Recht gezeigt hat, dass theoretisches Denken und praktisches Handeln nicht
auseinander gerissen werden dürfen, so lehrt er leider auf der anderen Seite ein völlig falsches Wahrheitsverständnis. In der Heiligen Schrift ist Wahrheit immer an Gottes Offenbarungshandeln in der Geschichte gebunden - und nicht zuletzt an die Person Jesus Christus (Job 14,6; 17,17).

Pragmatischer Glaube
Im Ergebnis ist der Pragmatismus weit von der Wahrheit der Bibel entfernt. Glaube hat hier nichts mehr mit realen Tatsachen zu tun. Er verkümmert zu einer Erziehungshilfe für Kinder, zu einer Sterbehilfe für Alte und zu einer Krücke für Versager, die mit dem Leben nicht zurechtkommen. Glaube ist für den Pragmatiker nur noch ein Pülverchen zur Daseinsbewältigung.
Os Guinness, ein brillanter Denker, ein gläubiger Intellektueller und Schüler des Theologen und Philosophen Francis Schaeffer, unterscheidet »schlechten Glauben« und »armen Glauben«. Letzteren beschreibt er wie folgt:
Während die Bibel: und die besten Denker der Kirchengeschichte die Suchenden einluden, an Gott zu glauben, weil die Botschaft, welche diese Einladung transportiert, wahr ist, glauben ungezählte Christen heute aus verschiedenen anderen Gründen. Zum Beispiel glauben manche, der Glaube sei wahr »weil er funktioniert« (Pragmatismus), andere, weil sie »spüren, er ist wahr in ihrer Erfahrung« (Subjektivismus), wieder andere, weil sie ernstlich glauben, er sei »wahr für sie persönlich« (Relativismus), und so weiter.14
Guinness beschreibt das Wahrheitsverständnis der Bibel in prägnanter Weise:
sie (die Wahrheit) ist überall wahr, für jedermann, unter allen Bedingungen. ... Geschaffen von Gott, nicht von uns, wird sie schrittweise entdeckt und erschlossen. Sie steht im Singular (»Wahrheit«), nicht im Plural (»Wahrheiten«); gewiss, nicht zweifelhaft, absolut und bedingungslos, nicht relativ; und sie gründet in Gottes unbegrenztem Wissen, nicht in unserer winzigen Fähigkeit, irgendetwas zu wissen."

@2004 Plock W.

Führen oder ver-führen? Führungsmodelle im modernen Management, Walter Paulsen

04/26/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Unternehmenskultur und ganzheitliches Denken Unternehmenskultur und Wertewandel im Management


Ob wir die Philosophie derVernetzung alles Seins anerkennen wollen oder nicht, wir kommen nicht an der Tatsache vorbei, daß Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Umwelt unmittelbar im Zusammenhang betrachtet werden müssen. Industrie, Handel und Dienstleistung haben mit der Politik viele Gemeinsamkeiten, ebenso mit der durch alle geprägten Umwelt. Unternehmer ziehen aus diesen Zusammenhängen ihre Schlüsse und gründeten beispielsweise den Bundesdeutschen Arbeitskreis für Umweltbe-wußtes Management (B .A.U.M. e.V.) oder machen sich innerhalb des Umweltausschusses im Bundesverband der Deutschen Industrie für eine umweltorientierte Unternehmensführung stark.

Allerdings können sich vorausdenkende Unternehmer nicht in allen Bereichen durchsetzen. Nach wie vor erkennt etwa die chemische Industrie nicht die Gefährdung der Ozonschicht durch FCKWan. Sie kann sich nur mühsam zu einem endgültigen Stop der Produktion von Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen durchringen. Anders dagegen der Chef des großen amerikanischen Konzerns Johnson & Son (Johnson Wax), Samuel Curtis Johnson. Er hatte bereits 1975 den sofortigen Stop der FCKW-Produktion angeordnet, nachdem er erfahren hatte, das dieses Mittel im Verdacht steht, die Ozonschicht der Erde zu gefährden! 

Damais brachte ihm diese konsequente Haltung viel Unmut unter der eigenen Führungsmannschaft ein. Ähnliches Verantwortungsbewußtsein läßt sich auch bei dem größten Computerhersteller der Welt bzw seinem deutschen Tochterunternehmen erkennen. Hier stellt die Geschäftsleitung quasi als Leihgabe seit 1985 ausgewählte Mitarbeiter im Rahmen des „Secondment"-Programmes gemeinnützigen Organisationen zurVerfügung. Das Gehalt bekommen die „Gastarbeiter" weiter von ihrem Unternehmen ausgezahlt. Bisher haben 14 Mitarbeiter (darunter eine Frau) als Secondee eine Aufgabe übernommen, davon vier in Sport und Kultur, drei im Umweltschutz, drei zur Nachwuchsförderung und einer in der Wissenschaft. Geplant ist, einen Secondee-Kandidaten für je tausend Mitarbeiter zurVerfügung zu stellen. Um zu belegen, daß es nicht um Geschäftsinteressen, sondern um „gesellschaftlicheVer-antwortung" geht, dürfen mit Secondments keinerlei Vertriebsaktivitäten vermischt sein (2)

Es gibt jedoch auch Zeitgenossen, die diese Entwicklung zu mehr ethischem Handeln bei Konzernen und deren Führungskräften mit recht großem Argwohn beobachten. Ist dies alles nicht nur ein Zeichen dafür, daß die Manager wieder einmal am Ende ihres Lateins sind und neue Leitbilder suchen? Lohnt es sich für Arbeitnehmer und Arbeitgeber überhaupt, das eigene Denken und Handeln ethisch auszurichten? Kommt nicht der weiter, der sich über Werte, Normen und Grenzen hinwegsetzt?
Diese und weitere Fragen wurden kürzlich auf einerVeran-staltung der Schweizerischen Studiengesellschaft für Kommunikation und Administration (SSKA) gestellt und, wie es weiter heißt, aus kompetentem Munde auch beantwortet. Dabei wurde bemerkt, daß sich heute nicht nurTheologen und Philosophen, sondern auch Naturwissenschaftler, Ökonomen und Wirtschaftler mit Ethik beschäftigen.Wie die Literatur zeige, werde offenbar der Glaube zunehmend durch Erkenntnis ersetzt. Ethik solle aber nicht nur „erdacht" werden, sie müsse vielmehr vor- und ausgelebt werden.(3)
Das betrifft auch Christen. Sie sollten sich nun nicht einfach beleidigt abwenden, sondern selbstkritisch nachhaken, um festzustellen, woraus diese negative Feststellung erwachsen sein könnte. Daß es im christlichenWesteuropa - besonders bei pietistischer Prägung - und in den USA immer schon Unternehmer gegeben hat, die sich von ihrem Gott verantwortlich zu ethisch einwandfreiem Handeln führen ließen, ist unbestreitbar.4 Über Jahrzehnte hinweg ist es jedoch nicht gelungen, diese Haltung und die Wurzeln dieses Handelns der großen Mehrheit der Gesellschaft deutlich zu machen. Erst seit kurzer Zeit scheinen sich einige Beobachter im Zusammenhang mit der Diskussion um Unternehmensethik auch auf die Grundlage der Heiligen Schrift zu besinnen, wenngleich ihre Überlegungen oft über die besondere Stellung der Zehn Gebote nicht hinausgehen.
Kritischen Menschen fällt es schwer zu glauben, die Kapitaleigner bzw. deren Vertreter hätten plötzlich ihre Verantwortung für all ihrTun und Handeln auch über den Bereich des Unternehmens hinaus erkannt. Sind es nicht vielmehr rein kapitalistische Zwänge, die zu einer verstärkten Hinwendung zur Verantwortung führen? Nach welcher Moral treffen Unternehmer ihre Entscheidungen? Welchen Einfluß hat eine religiöse Orientierung auf ihr Gewissen? Lassen ihnen die wirtschaftlichen Sachzwänge überhaupt noch genügend Freiheit für ethische Überlegungen? Diese Fragen wurden in einer aktuellen Umfrage unter Managern gestellt und erstaunlich offen und ehrlich beantwortet. Wir leben in einer Zeit der Gegensätze: zum einen wird über Sonntagsarbeit diskutiert, zum anderen über Kultur in Unternehmen, die auf ethisch einwandfreier Grundlage aufgebaut sein soll!

Von der Stamineskultur zur Kreditkultur
Zunächst muß einmal festgehalten werden, daß die allgemeine Unternehmenslehre im Gegensatz zu christlich geprägten Wissenschaftlern von einer wertneutralen Kultur der Unternehmen ausgeht. Diesem Begriff wird demnach in den Institutionen keine tiefere innere Bedeutung zugemessen. Die meisten Unternehmensführer werden jegliche Abhängigkeit von weltanschaulichen Systemen bestreiten, die überwiegende Mehrheit nicht aus böser Absicht, sondern schlicht aus Unwissenheit.

Fragen wir also, was unter „Unternehmenskultur" zu verstehen ist. Sie wird charakterisiert als „konsistente Gesamtheit aus Werten, Normen und Symbolen, die sich in einer Unternehmung als Antwort auf Anforderungen an die Unternehmung sowie Bedürfnisse der in ihr arbeitenden Menschen im Verlaufe der Unternehmungsgeschichte entwik-kelt, neuen Unternehmungsmitgliedern über das symbolhafte Verhalten von Vorbildern (dominanten Kulturträgern) bewußt oder unbewußt vermittelt wird und die Denk-undVerhaltensweise der in der Unternehmung tätigen Menschen auf unverwechselbare Weise prägt. "6 Diese konsistente - d.h. dichte, haltbare - Gesamtheit von Werten, Normen und Symbolen hat ihre besondere Bedeutung. So bilden die Werte den Kern einer Unternehmenskultur und bezeichnen das grundsätzlich Wünschenswerte in einer Unternehmung. Normen leiten sich aus denWerten ab und formulieren bestimmte Verhaltenserwartungen in definierten, typischen Situationen des Unternehmensalltags. In Symbolen konkretisieren sich Werte und Normen in Form von Sprache, wiederkehrenden Handlungen und Gegenständen; Symbole bilden daher den direkt wahrnehmbaren Bereich einer Kultur.
Letzteres nun läßt Ethnologen vermuten, dieses direkt Sichtbare einer Unternehmenskultur, die Symbole, verberge tiefgehende Erkenntnisse. Sie behaupten kurzerhand, zwischen Firmen- und Stammeskulturen mehr oder weniger exotischer Völker gebe es vielfältige Übereinstimmungen, so daß die eingehende Beschäftigung mit Stam-messymbolen, Mythen, Clanzeichen, Initiationen oder Ritualen der Stammesabgrenzung zu wertvollen Hinweisen für die Pflege von Firmenkulturen führt. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Symposium der Initiative für Industriekultur e.V. und des Rates für Formgebung, auf dem Gemeinsamkeiten zwischen Firmenkulturen und Stammeskulturen festgestellt worden sind. So werden zum Beispiel gegenübergestellt:
N Konferenzen und geheiligte Rituale
N das Firmenemblem und das Stammessymbol
N die Firmenkrawatte und die stammesübliche Körperbemalung
N das Logo und dasTotem der Firmenname und das Clanzeichen
Man kann solcheVergleiche belächeln und muß sie nicht unbedingt weiter beachten. Aber was wird mit diesem „magischen Brimboriüm117 eigentlich bezweckt? Der Personalchef eines großen Kaufhauses brachte es auf den Punkt:
denn Mitarbeiter wie Stammesangehörige sind Gemeinwesen, die ein und dasselbe wollen: einem Winning Team angehören und stolz darauf sein!"
Allerdings gibt es auch hierzu kritische Stimmen. So befürchten manche Praktiker und Wissenschaftler, mit der Kulturdiskussion werde der gleiche (gefährliche) Unfug angerichtet wie nach dem Ersten Weltkrieg mit Volks- und Be-triebsgemeinschaftsgedanken. Heute wie damals fühlten sich die arbeitenden Menschen entfremdet, zerfielen vertraute Umgebungen und Sozialbindungen durch fortschreitende Technisierung und Automation, herrschte Sehnsucht nach der überschaubaren Idylle, nach dem kleinen Glück im Winkel,  nach sinnstiftender Betätigung, wie es das Jagen, Fischen oder Speereschmieden in früheren Kulturen angeblich noch war. Die Geschichte habe immer wieder gezeigt, daß mit solchen Bewegungen irrationalerArt ganz bestimmten Leuten - und hierbei denkt man an das Dritte Reich - gedient wurde. Auch hier erhebt sich die Frage nach der Verantwortung der Christen in unserer Gesellschaft.

Geben sie den nach Gemeinschaft strebenden und nach Sinn fragenden Mitmenschen Wegweisung? Selbst Exper-
die dem christlichen Glauben fernstehen, sehen in dem Rückgriff auf Stammeskulturen erneut die Tendenz, sich selbst für unmündig erklären zulassen.
Mittlerweile haben die Befürworter einer ausgeprägten Unternehmenskultur in allen Fachbereichen Anhänger gewonnen. Interessanterweise steht in allen Kulturdiskussionen der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtungen. Es geht nicht primär um den Einsatz bestimmter Technik, sondern um die Beeinflussung des Mitarbeiters, um mit seiner dann „richtigen" Einstellung zu mehr Erfolg zu kommen. „Nur mit guten Setzlingen läßt sich eine starke Kultur entwickeln." Ein Beispiel für diese Aussage eines Verantwortlichen kann die Neuorientierung im Kreditgeschäft der Banken und Sparkassen sein.8 Die starke Per-sonenbezogenheit des Kreditgeschäftes setze die Beachtung kultureller Fragestellungen voraus. Der ganzheitlichen Betrachtungsweise des Kreditgeschäftes komme eine immer größere Bedeutung zu. Aus der Unternehmens-wird eine Kreditkultur. Dies stecke bereits im Begriff selbst: Kredit bedeutet nämlich —Vertrauen! Die Kultur im Kreditgeschäft zu verändern heißt nichts anderes, als die Wertvorstellungen vieler Mitarbeiter im Kreditgeschäft zu verändern.
Nachdem sich die Diskussion um Unternehmenskultur bisher fast ausschließlich aus der Praxis entwickelt hat, beschäftigt sich nun auch dieWissenschaft mit diesemThema. Dabei fällt auf, daß in einem Atemzug Fritjof Capra und sein Buch Wendezeit sowie Gedankengebäude und übergeordnete Ansätze der New-Age-Bewegung oder auch von Religions- und Sektengemeinschaften zur Erklärung herangezogen werden. Unternehmenskultur habe sich in den vergangenen Jahren als besonders aussagekräftiges Konzept durchgesetzt, das neben den bekannten, „rationalen" Konzepten „Organisation", „Strategie" und „Führung" erkläre, wie Unternehmen unter dem Einfluß situativer Fak toren ihre Ziele erreichen und damit (langfristig) ihren Fortbestand sichern könnten.
Die alten kaufmännischenWerte, etwa das Handeln nach „Treu und Glauben", die nicht zuletzt aus der christlichen Soziallehre abgeleitet wurden, scheinen ihre Bedeutung verloren zu haben. Eine „postchristliche" Orientierung setzt ein. In diesem Zusammenhang finden sich Behauptungen, „postmaterialistischeWerte" seien im Kommen, wobei „postmaterialistisch". bedeutet: mehr Sinn für zwischenmenschliche Beziehungen, Treue, Verläßlichkeit undTrans-zendenz, damit aber auch mehr Sinn für Religion, wenngleich nicht für die christliche. Daß gesamtgesellschaftlich eine völlig gegenteilige Entwicklung - nämlich weniger Treue im partnerschaftlichen Zusammensein, weg von Ehe und Trauschein - im Gange ist und Befragungen von Führungskräften ebenfalls in andere Richtungen zeigen, scheint die Befürworter eines Wertewandels nicht zu beeindrucken. Was in der Tat im Kommen ist, ist stärkere Ich-Zentrierung und innerhalb dieser Ich-Zentrierung wiederum eine auf Erfolg, Güter und Genuß eingeengte Sicht. Zumindest bei der gesellschaftlichen Elite entpuppt sich damit der vielgepriesene Wertewandel eher als ein geschickt verschleierter Egotrip.
Wertewandel in Gesellschaft und Unternehmen
Auch führende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft leben nicht in abgeschlossenen, antiseptischen Räumen. Sie werden beeinflußt durch die sie umgebende Umwelt. Folgerichtig ist an dieser Stelle die Frage nach dem Wertewandel in unserer Gesellschaft. Nur so können das Handeln und die zugrunde liegenden Motive der Verantwortlichen verstanden werden.
Unerwartete Ereignisse, wie die Katastrophe vonTscher-nobyl, und erwartete Entwicklungen, etwa die voranschreitende Genforschung, zwingen uns dazu, grundsätzlich über unsere Werte in Theorie und Praxis nachzudenken.

Immer stärker scheinen die rein wirtschaftlich geprägtenWerte hinter den ethischen, kulturellen und moralischen Werten zurückzubleiben. Capras „Wendezeit", Ingelhardts „Silent Revolution" oder FrommsWandel von „Haben-" zu „Sein-Werten" zeigen diese Tendenz an. Management hat sich heute auch mit nicht-wirtschaftlichen Werten auseinander-zusetzen.9
Und zu solchen nicht-wirtschaftlichen Werten wird auch die Unternehmenskultur gezählt. Firmen nehmen moralisch-ethische Werte in ihre Leitbilder auf und verpflichten Mitarbeiter zu moralisch-ethisch bestimmten Verhaltensweisen. Dazu gehören denn auch praktische Konsequenzen wie der Rückzug aus bestimmten Geschäftsgebieten (zum Beispiel Südafrika) und der Verzicht auf die Herstellung bzw. Verwendung von bestimmten Materialien (zum Beispiel Asbest und DDT). Für den Erfolg, der mit der Besinnung auf moralisch-ethische Werte angestrebt wird, wird auch schon mal eine christliche Gemeinde als Vorbild herangezogen. Diese und andere karitative Organisationen erlangen nämlich innerhalb kürzester Zeit für bestimmte Projekte Finanzierungspotentiale, die mit solchen erwerbswirtschaftlicher Organisationen unvergleichbar sind.
Wer jetzt allerdings annimmt, diese Erkenntnis würde zu einer starken Ausrichtung an christlichen Werten führen, sieht sich getäuscht. Vielmehr erfolgt eine stärkere Hinwendung zu allem Transzendentalen. Dabei spielt das Gedankengut derAnthroposophie und des NewAge eine entscheidende Rolle.

Das Weltbild der neuen Kultur
Wenn von dem „Weltbild einer neuen Kultur" gesprochen wird, bedeutet dies, daß es eine wie auch immer geartete „alte" Kultur geben muß. Die beiden Begriffe bergen bereits eineWertung in sich. Mit der alten Kultur ist die christ-
hohe gemeint. Sie ist angeblich vergangen bzw. im Übergang begriffen. In der Managementliteratur liest sich das zum Beispiel so: „Im Laufe der letzten 2000 Jahre hat sich das Göttliche im offiziellen Christentum von Natur, Erde und dem Weiblichen getrennt. Vereinfacht gesagt ist das Göttliche in den Himmel erhöht, und das Teuflische, d. h. unter anderem ‚unpassende' Seiten unserer menschlichen Naturhaftigkeit, unter die Erde verbannt und verdrängt worden. Die Religion wurde somit zu einer fast ausschließlich geistigen und zum Teil intellektuellen Angelegenheit mit ausgesprochen ‚männlichen' Aspekten .....10 Da die Astrologie von jeher davon ausgeht, daß alle 2000 Jahre ein neues Weltzeitalter anbricht, und zwar analog dem Frühlingspunkt, der sich in diesen Zeitabständen von einem Sternbild ins nächste verschiebt, spricht man heute von einer „Wendezeit". Danach sind die Menschen eben im Begriff, vom Fischezeitalter, dem „Zeitalter des Christentums" und zugleich jenem „der Kriege und Ängste", ins Wassermannzeitalter zu wechseln, das sich durch Werte wie Brüderlichkeit, Frieden, Einheit und Ganzheit auszeichnen soll. „Viele Menschen verbinden diese Wende mit dem positiven Glauben an einen bevorstehenden, tiefgreifenden geistigen Entwicklungsschritt des Menschen, hin zu einem ganzheitlichen Leben, zur Einheit von Mensch und Natur, zurVereinigung des individuellen Ichs mit dem höheren kosmischen Sein.''°
Von Rudolf Steiner bis Jack Rosenberg alias Werner Erhard
Auf welchen Grundlagen basiert nunmehr die angeblich „neue" Kultur? Um dieser Frage nachzugehen, reicht es nicht aus, in einem Buch nachzuschlagen. Vielfältig und nur für aufmerksame Beobachter nachvollziehbar ist das Geflecht von Wurzeln und geistigen Ursachen des Weltbildes, das hinter der neuen Kultur steht. Rudolf Steiner und Jack Rosenberg wurden deshalb auch nur exemplarisch ausgewählt, um nachzuspüren, worauf sich die neue Kultur gründet


Inhalt
Vorwort 7
L Unternehmenskultur und ganzheitliches Denken 13
Unternehmenskultur ündWertewandel im Management 13
Das Weltbild der neuen Kultur 20
Die Notwendigkeit der Neu-Orientierung 27
Kultur als Unternehmensstrategie 31
Beispiele aus der Praxis 36
Die Gestaltung der Unternehmenskultur 42
Personalentwicklung als Folge neuen Denkens 48
2. Management und ganzheitliches Denken . 73
Führung 74
Führungsmodelle / Führungsstile und ihre geistigen Grundlagen 79
3. Psychotechniken im Personalbereich 107
Situationsbeschreibung und Versuch der Zuordnung 107
Menschenbilder 110
Psychotechniken (Auswahl) 122
Kritische Stellungnahme 134
4. Konsequenzen und Alternativen aus christlicher Sicht 139
DieVerantwortung der Manager und Mitarbeiter 147
Veränderung durch Glauben 151
Biblische Aus- und Weiterbildung 156
Praktische Ausübung christlicher Ethik in Unternehmen und Beruf 166
Anmerkungen 169

ISBN 3-89437-168-4
1 Auflage 1991
Umschlaggestaltung: Wolfram S.C. Heidenreich, Mainz
Satz:Typostudio Rücker & Schmidt
Druck und Verarbeitung: Ebner Ulm
Priated in Germäny

Ein Lächeln auf dem Gesicht Gottes Das ungewöhnliche Leben des Philip Ilott, Adrian Plass

04/22/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

1. Kapitel Kriegsfolgen - ein missbrauchtes Kind (1936-1945)BV30107.jpg?1682158876942

Klein-Philip hasste Adolf Hitler. Nicht, weil er einer anderen politischen Ideologie angehangen hätte; noch nicht einmal deshalb weil der wahnsinnige Diktator drohte, einen Großteil der freien westlichen Welt zu besetzen und zu unterdrücken. Nichts so Triviales war der Grund für den tiefen Zorn, den der Sechsjährige für den Führer Nazideutschlands empfand. Philip Ilott hasste Hitler, weil Papa seinetwegen nicht mehr die ganze Zeit zu Hause sein konnte. Papa war als Soldat im Krieg. Aber Philip brauchte ihn gerade jetzt, weil merkwürdige und schreckliche Sachen passierten. Sie geschahen nachts und sie machten ihm Angst.

Es gab nur zwei Dinge, die sie aufhalten konnten.
Das eine waren Adolf Hitlers Flugzeuge, die kamen, um Newcastle zu bombardieren. Wenn das geschah, heulte eine Sirene, und jeder musste schnell nach unten in die Luftschutzräume, um dort die Nacht zu verbringen. Philip hatte keine Angst vor den Bomben. Lieber wäre er in die Luft gejagt worden, als die Nacht in seinem eigenen Haus verbringen zu müssen - viel lieber. Manchmal, wenn das Licht des Tages langsam verblasste, saß er ordentlich in seinem ordentlichen Schlafzimmer und bat Gott, dass Herr Hitler doch seine Bomber zum Angriff auf Newcastle schicken möge. Es wäre ihm auch egal gewesen, wenn eine Bombe auf sein Haus gefallen wäre, während er drin war. Dann wäre alles zu Ende, das wäre gut!
Die andere Sache, die die Furcht einflößenden Nächte abwenden konnte, war, dass Papa nach Hause kam. Das war aufregend.

Philip kriegte so ein lustiges, ungewöhnlich warmes Gefühl im Bauch, wenn er sah, wie ein „Ich hab dich lieb - ich bin so froh, dich zu sehen" aus Papas Augen kam. Aber das hielt nicht lange an, weil als Nächstes die Streitereien wieder losgingen und - wenn sie einmal angefangen hatten - Papa nicht mehr richtig mit Philip zusammen sein durfte. Er durfte ihn dann nur noch anlächeln und ihn fragen, ob es ihm gut ginge. Aber diese Zeiten, wenn Papa nach Hause kam, waren wunderbar, besonders, wenn er ihn ganz fest in den Arm nahm und sagte: „Hallo, mein Käfer!" Das war Papas Name nur für ihn. 

Niemand sonst nannte ihn Käfer - niemand. Aber das Beste an Papas Rückkehr, das, was die Sorge, die ihn sonst den ganzen Tag begleitet hatte, und die furchtbare Angst nachts wegnahm, war, dass, solange Papa Heimaturlaub hatte, Philip in seinem eigenen Bett und in seinem eigenen Schlafzimmer schlafen konnte - und nicht bei Mama
Er hatte es einfach nicht verstehen können. Am Anfang, als Papa in den Krieg zog, war er froh, dass Mama ihn zu sich in ihr großes Bett holte, auf die Seite, wo Papa normalerweise lag. Er war froh, weil er dachte, dass das vielleicht bedeutete, dass Mama ihn doch lieb hatte.
Er gab sich große Mühe, Mama zu gefallen, ganz große Mühe. Im Haus ging er nur äußerst vorsichtig umher, passte auf, dass er keinen der wertvollen Gegenstände kaputt machte, und gab sein Bestes, so sauber und gepflegt zu sein wie sie. Mama war eine sehr gepflegte Lady mit glänzendem Haar, die tote Füchse trug und Schuhe mit großen, langen Absätzen. Sie rauchte vornehme Zigaretten an einem langen, dünnen, schwarzen Röhrchen, und ihre Fingernägel waren leuchtend rot, als ob sie sie in eine Schüssel voller Blut getaucht hätte.

Er wusste, wie wichtig es für Mama war, dass alles gut aussah, und er versuchte ihr immer dabei zu helfen. Aber wie leicht machte er etwas falsch! Dann schrie sie ihn an oder sagte etwas, sodass er sich klein und dumm vorkam, oder sie schloss ihn in sein Zimmer ein oder in den Schrank unter der Treppe ohne Licht, bis er seine Lektion gelernt hatte. Das war das Schlimmste; wie eine Statue in der Dunkelheit zu stehen mit weit aufgerissenen Augen,
unfähig, etwas zu sehen - und zu ängstlich, sich zu bewegen, weil er dann etwas umstoßen könnte und sie wieder wütend wurde, wenn sie zurückkam.
Er hasste das.
Manchmal dachte er, dass er einmal vor langer Zeit seiner Mama etwas so Schlimmes, etwas so furchtbar Unrechtes getan haben musste, dass sie ihn für immer bestrafen würde, indem sie ihn nicht wichtig sein ließ; indem sie ihn immer im Weg oder eine Plage sein ließ. Er fragte sich, was das wohl gewesen sein mochte.
Vielleicht das, was er damals im Kinderwagen gesagt hatte. Er wurde innerlich immer ganz blass, wenn er an diesen schrecklichen Tag zurückdachte - das Erste, woran er sich überhaupt erinnern konnte.
Er war ein ganz kleiner Junge gewesen, der in seinem Kinderwagen in der Sonne vor dem Haus gesessen hatte. Eine Dame kam auf dem Bürgersteig entlangspaziert. Er beobachtete sie, während sie immer näher kam. Sie hatte eine große Hakennase und ein hervorstehendes Kinn, so wie die Hexen in seinen Bilderbüchern. Er mochte sie nicht. Als sie auf der Höhe seines Hauses war, blieb sie stehen und beugte sich über den Kinderwagen. Sie sagte: „Hallo, mein Schatz, du bist aber ein süßes kleines Baby, was?"
Philip wollte, dass die Frau wieder ginge, und so sagte er das Erste, was ihm einfiel: „Zieh Leine!"
Die Gesichtszüge der Hexe verhärteten sich. Sie klopfte an die Haustüre und Mama kam raus. Sie entschuldigte sich und versuchte einen kleinen unechten Lacher, als die Hexe ihr erzählte, was passiert war. Danach, drinnen, war Mama sehr böse gewesen, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, was sie gesagt hatte. Er fragte sich, woher er dieses schlimme Wort kannte. Er war doch immer nur bei Mama gewesen.
Vielleicht war das ja das furchtbare Unrecht, das Mama ihm nie vergeben hatte. Aber er glaubte es eigentlich nicht.
Es gab noch etwas anderes, etwas, das sogar noch früher passiert war. Er konnte sich nur nicht daran erinnern, aber manchmal, wenn er in den Spiegel sah, um zu kontrollieren, ob er für Mama in Ordnung war, fühlte er mit seinen Fingerspitzen eine komische kleine Beule an der Wange, und dann war es so, als ob er sich wieder daran erinnerte. Aber nur fast.

Vielleicht hatte es ja damit etwas zu tun. Vielleicht ... Vielleicht auch nicht. Und es gab da noch etwas, noch tiefer und weiter zurück, etwas, das er nicht mit seinen Augen oder seinem Gedächtnis sehen konnte. Nach einem wirklich schlimmen Tag konnte er es nachts fühlen, wenn er in der Dunkelheit wach lag - eine tiefere Dunkelheit in ihm, angefüllt mit einem verlorenen, hoffnungslosen Schluchzen, das niemals an die Oberfläche kam und niemals richtig Mut fasste. Es hatte was mit Zugehörigkeit zu tun, oder, besser gesagt, mit Nichtzugehörigkeit. Etwas ganz am Anfang...
Wenn er neben Mama schlief, schien es, als ob schließlich doch alles wieder in Ordnung kommen würde. Vielleicht könnte er ja hier wieder glücklich werden. Vielleicht würde Mama ihn wieder beachten und sich erneut mit ihm beschäftigen. Es würde so sein, wie es sein sollte zwischen einer Mama und ihrem kleinen Jungen. Aber nach einer Zeit schienen die Dinge, die passierten - die Sachen, die Mama machte -‚ falsch und schlimm zu sein. Seine Stirn legte sich in sorgenvolle Falten, wenn er daran dachte. Er wollte nicht Mamas Teddybär sein.
Warum musste es am Ende eines jeden Tages eine Nacht geben? Warum konnte der Krieg nicht zu Ende sein und Papa für immer nach Hause kommen?

Später, als er anfing, in die Schule zu gehen, und Mama einen Job bekam, zu dem sie jeden Tag ging, gab es etwas Neues, an das er sich gewöhnen musste: den Schuppen.
Mamas Haus war mit Sicherheit das Wichtigste überhaupt in der Welt. Sie putzte es und wischte Staub und stellte alles genau so, wie sie es haben wollte. Manchmal schob sie einen Gegenstand mit der Spitze eines ihrer roten Fingernägel ein ganz, ganz kleines Stückchen weiter auf dem Kaminsims, bis er sich genau an der richtigen Stelle befand.

Es schien sie nicht besonders glücklich zu machen, alles so sauber und ordentlich zu haben, aber wenn irgendetwas bewegt oder dreckig gemacht wurde, dann war das schlimmer als alles, was Mister Hitler tun konnte- Sie sagte Philip oft, wie schwierig und lästig es wäre, einen kleinen Jungen zu haben, der immer darauf bestünde, die Stühle zu zerknittern, indem er sich draufsetzte, oder der Wände oder die Tischplatte oder Türgriffe mit Fingern anfassen wollte, die möglicherweise nicht so sauber waren, wie sie eigentlich sein konnten. Manchmal dachte er, dass sie ihn am liebsten morgens in der Mitte des Wohnzimmerteppichs abstellen und ihn dann bis zur Schlafenszeit dort stehen lassen würde, wo sie schließlich eine Verwendung für ihn hatte.

Nun, da sie zur Arbeit ging, sagte Mama Philip, dass sie ihn nach der Schule unmöglich ins Haus lassen könne. Er müsse in die Gartenlaube gehen und dort warten, bis sie abends nach Hause käme. Auf diese Weise könne dem Haus kein Schaden zugefügt oder es in ihrer Abwesenheit in Unordnung gebracht werden. Er solle sich selbst Zugang zu dem Schuppen verschaffen mit einem Schlüssel, den sie ihm geben wolle, sich dann mitten auf den Boden an den kleinen Tisch Setzen und ein paar Brote mit Marmelade schmieren, die sie ihm bereitstellen würde. 

Und wenn Papa zum nächsten Heimaturlaub aus: dem Krieg zurückkommen würde, dürfe Philip ihm nichts davon sagen, dass er jeden Tag in den Schuppen ginge; und er dürfe ihm nicht sagen, was mit Mami und ihm nachts passierte; und er dürfe ihm nicht sagen, dass Mami die Haustüre immer zuschließt, sodass Philip nicht auf dem weißen Klavier mit seinen möglicherweise nicht ganz sauberen Fingern üben könnte; und er dürfe ihm nicht sagen, dass seine Spielsachen - besonders das Fort und das Marionettentheater, das Papa extra für ihn gemacht hatte - weggeräumt wurden, sobald Papa wieder in den Krieg zog; und ganz besonders dürfe er ihm nicht erzählen, wie traurig und einsam er sich fühlte, weil das etwas von Papas Freundlichkeit aufbrauchen würde, denn Papas ganze Freundlichkeit gehörte Mama und sonst niemandem.
Am Anfang war es schlimm im Schuppen. Es war Winter und deshalb schon ziemlich dunkel, wenn Philip nach der Schule nach Hause kam. Nachdem er die Schuppentür aufgeschlossen hatte, schlich er immer ängstlich in die Dunkelheit und suchte mit seinem Fuß nach dem Tisch.

 Darm tastete er mit seiner Hand auf der flachen Tischplatte nach der Streichholzschachtel, die sich immer dort befand. Es war eine riesige Erleichterung, wenn er sie gefunden hatte, sie in die Hand nahm und die Streichhölzer rascheln hörte. Dann gab es immer eine kleine blendende Explosion, wenn er den Streichholzkopf an der rauen gelben Fläche an der Seite der Schachtel entlanggerieben hatte. Es zischte ein bisschen, wenn er die Flamme an den Docht seines Kerzenstummels hielt. Er wedelte das Streichholz aus und legte es vorsichtig auf den Boden des Kerzenständers.
Dann war es Zeit für das Brot und die Marmelade. Das Schneiden, das Bestreichen und das Essen - alles musste sehr vorsichtig geschehen.
Während er in dem kleinen Lichtkegel saß, den die Kerze warf, langsam sein Brot mampfte und das Hüpfen und Tanzen der Schatten an den Wänden beobachtete, war Philip sich bewusst, dass Mama später den Boden nach Krümeln absuchen würde. (Der Schuppen war innen fast genauso penibel sauber wie das Innere des Hauses.) Wenn er seinen Mund vorsichtig abgeputzt hatte, während er sich über den Teller beugte, stand er auf, nahm den Kerzenständer in die Hand und kontrollierte jeden Quadratzentimeter unter und um den Tisch, damit Mama bloß keinen Grund hätte, sich zu beschweren.
Schließlich setzte er sich wieder auf seinen Stuhl, nahm Sebby in seine Arme und wartete darauf, dass Mama nach Hause kommen würde. Sebby war ein Panda, der ihn liebte und der nie etwas sagte. Eigentlich hieß er Sebastian. Philip hatte einmal eine Geschichte über ein Pferd namens Sebastian gelesen. Der Name hatte ihm gefallen.
Erst nachdem Philip eine ganze Zeit regelmäßig den Schuppen aufgesucht hatte, bemerkte er, dass er nicht nur traurig war, sondern langsam auch wütend wurde. Das Gefühl war zunächst ganz klein, wie ein Kitzeln im Hals, bevor man husten muss, aber dann wurde es immer größer, bis es schließlich irgendwie rausmusste.
Er war wütend auf Papa, weil er sich Mama gegenüber nie behauptete, wenn sie ihre Launen hatte. Als Papa das letzte Mal zu Hause gewesen war, war er in Philips Schlafzimmer gekommen.

Weil er dachte, dass Philip schlafen würde, kniete er sich an sein Bett und weinte und weinte, wie ein kleines Baby. Warum hatte er das getan? Warum konnte er nicht stark und souverän sein, so wie Papas das sein sollten?
Philip war auch auf sich selbst wütend, weil er sich gegenüber Mama ebenfalls nicht behaupten konnte. Er wurde immer zu Wackelpudding, wenn er vor seiner Mutter stand und versuchte, das zu sagen oder zu tun oder zu sein, was er wollte. Sie war stark und groß, wie ein Riese. Er war klein und dumm und zählte eigentlich gar nicht.
Am meisten war er wütend auf Mama - wütend, weil sie ihn nicht lieb hatte, nicht merkte, wie sehr er sich Mühe gab, ihn immer nur so sein ließ, wie sie ihn haben wollte, und auch Papa daran hinderte, ihn richtig lieb zu haben; weil er sich immer innerlich verkrampfte, wenn er an die Nächte dachte, wo sie ihn wie eine Puppe benutzte, ohne etwas zu fühlen
Er beschloss, sie zu feuern.
Manchmal, samstagabends, saßen er und Mama vor dem Radio und hörten sich das Saturday Night Theatre an. Philip verstand nicht immer, worum es ging, aber das war auch nicht so wichtig. Es war eines der ganz wenigen Male, wo er das Gefühl hatte, dass er und Mama tatsächlich etwas zusammen taten, selbst wenn sie dabei noch nicht einmal redeten. Eines der Stücke handelte von jemandem, der seinen Job verloren hatte und jemandem erzählte, dass sein furchtbarer Chef ihn „gefeuert" hatte.
Philip wurde zum furchtbaren Chef des Schuppens. Jeden Abend, wenn er das Marmeladenbrot aufgegessen und den Boden nach Krümeln abgesucht hatte, saß er kerzengerade auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch und stellte Mama zur Rede. Mama kroch durch die Tür, ganz blass und zitternd, kniete vor seinem Schreibtisch und flehte, doch bleiben zu dürfen.
„Nein!", schrie der furchtbare Chef. „Sie sind gefeuert! Ich feuere Sie, weil Sie nicht gut waren! Verstanden? Sie sind gefeuert! Gefeuert! Gefeuert! Raus hier!"
Das Gefühl, Mama zu feuern, war wunderbar. Es kam tief aus seinem Bauch und schoss aus seinem Mund wie das Öl, das auf

Vorwort
1. Kriegsfolgen - ein missbrauchtes Kind (1936-1945)
2. Kirche, Kaufhaus und „Nellie aus der Mietwohnung" (1945-1954)
3. Durchbruch in Deutschland - Die Bekehrung des Gefreiten ilott (1954-1956)
4. London - eine andere Armee (1956-1958)
5. Margaret ziert sich
6. Cornwall - Persönlichkeiten (1958-1959)
7. Ashford - Ein Fahrrad, eine Braut und ein Baby (1959-1962)
8. Leavesden - Ein Ruf, ein dunkles Geheimnis und eine Gabe Gottes (1962-1971)
9. Isle of Wight - Härten und Heilung (1971-1978)
10. Isle of Wight —Wunder
11. Isle of Wight - Erinnerungen
12. Die „Filymead-Erfahrung" (1978-1981)
13. Bexhill - Durch die Tür des Leids (1981-1989)
14. Ein unerwartetes Nachwort

ISBN 3-87067-853-5
C 2001 by Brendow Verlag, D 47443 Moers
Originalausgabe: "A smile on the face of God"
Copyright © 2000 by Adrian Plass

Pagel Arno, Er weiß den Weg

04/21/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Nun haben sich aus dem Leserkreis Stimmen erhoben, die gefragt haben: »Warum diese engeBN0176.jpg?1682056960298 zeitliche Beschränkung? Wir würden gern in ähnlich gestraffter Form weitere Mitarbeiter Gottes in dem Wichtigsten ihres Wesens und Wirkens kennenlernen.« Das macht mir Mut, drei weitere Bände herauszugeben.

Wieder sind Gestalten aus dem Raum des neueren Pietismus berücksichtigt. Auch dieses Mal muß eine zeitliche Begrenzung festgehalten werden. Der Heimgang der dargestellten Männer und Frauen fällt in die Jahre 1914-1945 (Beginn des Ersten und Ende des
Zweiten Weltkrieges). .
Allerdings sind von dieser Regel zwei Ausnahmen gemacht worden, die in einem Anhang ihren Platz finden. Es lag nahe, dem Lebensbild von Alfred Christlieb das seines Vaters Theodor (gest.1889) hinzuzufügen. Dieser ist einer der bedeutendsten evangelikalen Theologen des 19. Jahrhunderts gewesen und hat sehr nachhaltig und höchst praktisch in den Bereich der Evangelisation und Gemeinschaftsbildung hineingewirkt. - Von Carl Lange, dem Gründer des Brüderhauses Preußisch Bahnau, ist nicht zu trennen sein Mitarbeiter, Lehrer Ernst Aeschlimann (gest. 1963). Beide haben Generationen von Brüdern weit über die Ausbildungszeit hinaus geprägt. Sie erscheinen in diesem Band noch einmal Seite an Seite.
»Er weiß den Weg.« So heißt der Titel des Buches. Ja, unser Gott hat für jedes seiner Kinder und jeden seiner Boten einen besonderen Plan und W ego WeIcher Reichtum seiner Führungen wird sichtbar! Auch wir, von denen nie ein gedrucktes Lebensbild vorliegen wird, dürfen uns dessen freuen und getrösten. Die beiden weiteren Bände werden die Titel tragen: »Er bricht die Bahn« und »Er führt zum Ziek Beiträge sind u. a. vorgesehen über: Johannes Seitz, ütto Stockmayer, Georg von Viebahn,

Johannes Warns, Christi an Dietrich, Traugott Hahn (Vater und Sohn), Ernst Lohmann, Dora Rappard, Minna Popken. Wenn Gott auch diese zweite Reihe gelingen läßt, dann liegen nach Abschluß in insgesamt sechs Bänden 126 Kurzbiographien vor. Damit ist dann ein großer Teil des neueren Pietismus im landes- und freikirchlichen Raum in Lebensbildern dargestellt und zugänglich.                                                Arno Pagel


Fritz Coerper
Geb. 10. 5. 1847 in Meisenheim am Glan als Sohn eines Pfarrers. Studium der Theologie in Erlangen, Utrecht, Tübingen und Bonn. Nach der ersten theol. Prüfung Vertreter für den erkrankten Pfarrer in Eschweiler bei Düren. 1870 Oberhelfer am Rauhen Haus in Hamburg. Oktober 1871 Vikar in Boppard am Rhein und ab Februar 1873 Pfarrvikar, später Pfarrer in der Diasporagemeinde Köln Ehrenfeld. Im März 1885 Inspektor der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland und ab November 1887 Pfarrer der Unterbarmer Gemeinde in Wuppertal-Barmen. 36 Jahre Präses der Ev. Gesellschaft. Gest. 12. 11. 1924.

Das schönste Bild
Im heimatlichen Pfarrhaus wurde der vierzehnjährige Fritz Coerper von einer schweren Krankheit - wahrscheinlich Typhus - ergriffen. Er schwebte lange Wochen zwischen Leben und Tod. Die Mutter gab ihm in dieser Zeit das Neue Testament und das Büchlein über die Nachfolge Christi von Thomas a Kempis zu lesen. über das letztere schrieb er später als Student von Utrecht nach Hause: » Wie oft danke ich Dir, liebe Mutter, für dies herrliche Buch im Stillen, das mir Deine Liebe schenkte!« Tiefer und bleibender noch wirkte aber auf das Herz des kranken Jungen das Bild Jesu aus den Evangelien. »Blitzartig« leuchtete ihm die göttliche Herrlichkeit des Heilandes auf. Die rettende Wahrheit drückte sich ihm in die Seele: »Wer an den Sohn Gottes glaubt, der hat das ewige Leben.« Hören wir seine spätere Erinnerung an diese erste Begegnung mit Jesus:
»Ein Maler des Altertums hatte ein so schönes Bild gemalt, daß ein Dichter meinte, wer das Bild ansähe, der werde in seinem Elend seines Elendes, in der Krankheit seiner Krankheit, ja im Sterben des Todes vergessen. Schade, daß wir dies schöne Bild nie gesehen haben und nie sehen werden. Ich kenne aber ein anderes Bild, von dem wirklich wahr ist, was jener Dichter von dem Bild des Malers sagte. Ich habe es selbst erfahren; ins tiefste Dunkel des Unglücks leuchtete es mir wie die Sonne in einen Abgrund. Als ich vor den Pforten des Todes stand, vergaß ich die Schrecken des Sterbens über dem Anblick dieses Bildes. Und welches ist das Bild? Es ist das Bild, das der Heilige Geist durch die Evangelisten uns gezeichnet hat von unserem Heiland Jesus Christus, ja, das er selbst uns gezeichnet hat durch seine Taten und Worte, durch die wir einen Blick tun dürfen in sein gottmenschliches Heilandsherz.«

Fritz Coeper ist damals wieder genesen. Das Bild Jesu, das sich in jener kindheitlichen Erweckung in sein Herz senkte, ist ihm später immer heller und schöner aufgeleuchtet. Es gab auch Zeiten der Verdunkelung, der Anfechtungen und der Glaubenskämpfe. Aber das Licht brach immer wieder durch. Oder um ein anderes Bild zu gebrauchen: Immer wieder ragte der Fels des Glaubens aus dem Meer der Fragen und Zweifel. In einem Brief aus Utrecht an den Vater hieß es: »Wie steht's mit Christus? Das ist doch der Kernpunkt von all dem Streit, der die bedeutendsten Köpfe in der Wissenschaft beschäftigt. Und doch ist die Hauptfrage die, ob sich Christus nach den Köpfen oder die Köpfe nach ihm richten sollen. Wenn wir eben von einem Katheder zum andern gehen, so finden wir da einen Christus, der von dem andern, den wir dort kennenlernen, so verschieden ist wie Tag und Nacht. Ich brauche Dir nicht zu sagen, dass da der Kampf im Inneren gleichen Schritt hält, wenn ich auch trotzdem zugeben muß, daß, wie oft auch der kleine Fels des Glaubens vom Meer verschlungen scheint, er doch immer wieder herausragt. Schon oft dachte ich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich
Naturwissenschaft oder irgendein anderes Studium ergriffen hätte, und doch, wenn ich an eine Vorsehung glaube, kann es nur gut für mich sein, daß ich hier in Holland Theologie studiere.«
Der erst zweiundzwanzigjährige Gehilfe des erkrankten Pfarrers von Eschweiler zeigt schon erstaunliche geistliche Erkenntnisse: »Ich habe einsehen gelernt, daß, wenn wir stehen, wir am kleinsten sind, wenn wir knien größer, und wenn wir uns in den Staub beugen, am größten sind.« Dem Oberhelfer im Rauhen Haus in Hamburg - auf den die Begegnung mit Johann Hinrich Wichern, dem Vater der Inneren Mission, einen tiefen Eindruck machte - sind schwierig zu erziehende Kinder aus sozial höhergestellten Familien anvertraut. Er vergißt aber nicht, wie sehr er selber der Erziehung durch den größten Pädagogen, den Heiligen Geist, bedarf: »Wer den Geist Gottes betrübt, dem wird er nicht beistehen. Wer um ihn bittet, der muß ihn auch in sich und andern wirken lassen und nicht die Spitze abbrechen.«

Hat es der Steinklopfer besser?
Der Vikar in Boppard verlegt sich eifrig auf Hausbesuche. Er will dabei nicht bloßer Unterhalter, sondern Zeuge J esu sein Und stellt sich die Gewissensfrage: »Es gibt Häuser, wo man gewünscht wird und wo doch Christus nicht gewünscht wird. Rücke ich wirklich mit meinem Bekenntnis noch nicht heraus? Bin ich noch zu vorsichtig?« Manchmal zeigt er einen tapferen Freimut. Ein wohlhabender Mann, der ein großer Freund der Jagd und der Waffen ist, hört davon, daß der Vikar Coerper nach und nach alle seine Gemeindeglieder besucht. Er trumpft im Wirtshaus wild auf: »Wenn der Pfaffe zu mir kommt, dann schieße ich ihn nieder!« Bald aber ist er an der Reihe, und der Besucher schellt an seiner Tür. Es wird ihm auch aufgetan. Die beiden Männer gehen die Treppe hinauf ins Wohnzimmer. überall hängen die Wände voller Waffen. Der Jäger stellt sich vor den Vikar und schreit ihn mit großer Stimmkraft an: »Nichts hat in der Welt mehr Unheil angerichtet als der Glaube!«

Hören wir Coerper zu, wie es weiterging:
Herr. . ., Sie haben ganz recht, wenn Sie dem Wort Glaube nur ein paar Silben vorsetzen: Unglaube und Aberglaube. Der Aberglaube hat gewiß schon großes Unheil angerichtet. Denken Sie an die Tausende, die in Spanien von der Inquisition hingerichtet und verbrannt worden sind! Und denken Sie an die Hunderttausende, die der Unglaube in der französischen Revolution auf die Guillotine, unter das Fallbeil brachte! Aber daß der wahre, lebendige Christenglaube der Welt geschadet hätte, davon habe ich noch nie gehört. Wir müssen unterscheiden zwischen dem Glauben und seinen bösen Stiefbrüdern, dem Aberglauben und dem Unglauben. Einen Augenblick besinnt sich der Hausherr, dann geht er zur Tür und
ruft seiner Haushälterin zu: Katharin, mach Kaffee! Wir unterhalten uns noch weiter über das Thema, dann entläßt er mich im Frieden aus seinem waffenstarrenden Haus.« - Diese Begebenheit zeigt die volksmissionarische, schlagfertige Art, die Fritz Coerper eigen war.

Begleiten wir ihn nun in die Arbeit in der Kölner Vorstadt Ehrenfeld! Die evangelische Gemeinde dort war erst im Werden, und Coerper hat sie aufbauen helfen. Sein klares Zeugnis rief bei vielen lebhaften Widerspruch hervor. Leute blieben weg, weil der junge Pfarrer zu ernst und zu entschieden von Sünde, Bekehrung und Glauben predigte. Gerade diesen Widerwilligen galten seine Hausbesuche. Einen Mann hatte er veranlassen können, einige Male die Gottesdienste zu besuchen. Dann blieb er jedoch weg. Coerper fragte ihn, als er ihm auf der Straße begegnete, warum er nicht mehr komme, nachdem er doch einen Anfang gemacht habe. Die Antwort lautete: »Herr Prediger, ich merkte, wenn ich noch ein paarmal käme, dann müßte ich mich bekehren, und das will ich nicht!«

Gott sei Dank, manche andere wollten! Coerpers Arbeit blieb nicht ohne Frucht. Aber es gab auch tiefe Stunden der Verzagtheit, wie wir sie von Elia und vielen andern Gestalten der Bibel und der Reichgottesgeschichte kennen. Lassen wir ihn davon erzählen: »Als ich Pfarrer in Ehrenfeld war, kam ich einst in große Anfechtung, so daß ich alles, auch mein Amt, aufgeben wollte. Ich wäre so gern etwas Tüchtiges geworden: ein ordentlicher Prediger, ein treuer Seelsorger, ein gesegneter Lehrer. Jeder Tag lehrte mich aber mehr, dass ich nicht wurde, was ich werden sollte. So kam ich in Not und wollte verzagen. Ich dachte, der Steinklopfer auf der Straße hat's besser als du. Er sieht doch, was er schafft. Ich dachte daran, einen der Geschäftsherren zu bitten, mich auf seinem Kontor zu beschäftigen. Da besuchte mich Stadtmissionar Pfenniger aus Köln, der aus der Brüdergemeine stammte. Ich klagte ihm meine Seelennot. Als Antwort schüttete er eine ganze Fülle von Liederversen über mich aus, die meiner Seele Balsam waren. Als er zur Tür hinausgegangen war, lief ich hinter ihm her und bat ihn, mir das Büchlein zu leihen, in dem diese Trostworte standen. Es war der Psalter von Ernst Gottlieb Woltersdorf. Er versprach mir, das Buch noch am selben Tage zu bringen. Am Abend hatte ich es schon in den Händen. Ich las und las die ganze Nacht durch. über dem Lesen der herrlichen Lieder von der Gnade kam mir die Frage in die Seele: Was willst du denn doch eigentlich? Was willst du sein und werden? Ich fand die Antwort: Nichts, gar nichts als ein armer, verlorener, aber durch Gottes Erbarmen begnadigter Sünder. Als mir das recht klar geworden war, hatte ich das köstliche Ding, das in der Gnade fest werdende Herz wiedergefunden und konnte fröhlich und getrost weiterarbeiten.«

Der »Inspektor« und die »Boten«
Zweieinhalb Jahre ist Fritz Coerper Inspektor der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland, eines der größten innerkirchlichen Gemeinschaftsverbände, gewesen. In diesem Amt mußte er viel reisen: »Wenn ich an die gemeinsamen Wanderungen denke über Berg und Tal, über Schnee und Eis, bei Sonnenschein und Regen, durch die schönsten Gaue unseres Landes, an all das gemeinsam Erlebte in Kirchen, in Gemeinden und Vereinshäusern, in Bauernhütten, in großen Hallen, in Feld und Wald, auf der Dorfstraße oder in den engen Straßen großer Städte, an Krankenbetten, bei Angefochtenen, in Vereinen und Gemeinschaften, so möchte ich unsern schlimmsten Widersachern wünschen, sie dürften nur einmal ein Jahr Inspektor der Evangelischen Gesellschaft sein. Ich wünschte es ihnen, weil ich ihnen Gutes gönne. Die Arbeit blieb darum immer doch eine einfache und einheitliche, weil es sich im Grunde nie um etwas anderes handeln konnte, als das Wort zur Geltung zu bringen in mannigfacher Weise. Auf solchen Wegen lernt man erstaunt, wie reich das Wort unseres Gottes ist.«
Immer wieder betont Coerper in seinen Inspektorberichten: »Das Wort muß es tun, und das Wort tut es.« Hören wir ihn: »Wer sollte sich nicht freuen, vor allerlei Volk in den Kirchen die großen Taten Gottes verkündigen zu dürfen? Und doch, mir schien oft in den kleinen Hütten der Himmel noch näher und die Wahrheit kräftiger und mächtiger. Einmal weinte nach einer Versammlung ein Junge die hellen Tränen. Niemand konnte herausbringen, warum er weinte. Endlich sagte er: >Weil meine Schwester nicht dabei war.< Ein anderer Junge war ein anderes Mal dabei gewesen. An einem der nächsten Abende quälte er seine Mutter so lange, bis die den weiten Weg mit ihm ging, um noch einmal dabei sein zu dürfen. Es ist ein
Irrtum, wenn man meint, man müsse Mummenschanz treiben, um die Jugend zu fesseln. Was einfach, aber wahr ist, das ist dazu auch das Beste.«

An der Seite des Inspektors standen die »Boten«. Das waren schlichte Männer aus dem Volk, voll brennender Jesusliebe. Eine Ausbildung, wie sie heute unseren Predigern und Stadtmissionaren zuteil wird und zuteil werden muß, hatten sie in den seltensten Fällen erfahren. Sie hingen sich die Büchertasche um, machten eifrig Hausbesuche und boten dabei Bibeln und christliche Schriften an. Sie waren treu in der Einzelseelsorge. Es öffneten sich ihnen hin und her Häuser zu Versammlungen. Aus diesen gingen im Lauf der Zeit dann organisierte Gemeinschaften hervor. Am Beginn des Inspektorats von Coerper standen 23 Boten im Dienst der Evangelischen Gesellschaft, davon 15 in der Rheinprovinz, 6 in Westfalen, außerdem je einer in Lippe-Detmold und in Thüringen. Prachtvolle Originale waren darunter. Einer pries seinen Beruf mit den folgenden
Worten: »Ich kann mir keine schönere Aufgabe denken, als ein Bibelbote zu sein. Ein Fürst oder König kann keine gesegneteren Stunden haben, nicht fröhlicher in seinem Gott sein als solch ein geringer Bibelbote . . . Die Tage meiner Leiden wie die Tage meiner Gesundheit, jeder einzelne hat mir das Lob Gottes unseres Heilandes gemehrt.« So voll vom Lob Gottes war auch der gesegnete Bruder Scheffels aus dem Oberbergischen, der einmal seinem Inspektor schrieb: »Ich habe in den Meinigen hinlängliche Kräfte für mein Haus und meine Ackerwirtschaft, so daß ich unbesorgt hinaus auf mein Arbeitsfeld wandern kann. Die Büchertasche auf dem Rücken und den Frieden Gottes im Herzen, so wandert sich's gut in Mesechs Land, wenn der Herr, unser Gott, vorangeht und die Harfe unseres Herzens stimmt und wir singen können: ,Die Sach' ist dein, Herr Jesu Christ, die Sach', an der wir stehn, und weil es deine Sache ist, kann sie nicht untergehn.«<
Der Inspektor schärfte es seinen Boten ein: »In der letzten Zeit ist es mir besonders wichtig geworden, daß demütige Liebe doch für alle Arbeit das Größte ist. Es ist mir ein Anliegen, daß uns der Herr durch seinen Heiligen Geist mehr davon gebe als bisher.« Frei sollten die Boten auftreten, auch den Herren Pfarrern gegenüber. Aber Freiheit sollte nie in Frechheit ausarten. Wie Inspektor Coerper sich seine Boten geistlich wünschte, dafür das folgende Beispiel: »Einer unserer Boten kam zu einem Schuhmacher und bot ihm seine Bücher an. Der schimpfte ihn und sagte: ,Du Faulenzer, du Taugenichts!< Der Bote sagte: ,Lieber Freund, beruhigen Sie sich. Sie sagen mit leider gar nichts Neues. Das weiß ich schon seit Jahren, dass ich nicht tauge. Aber gerade deshalb freue ich mich so sehr, daß ich einen Heiland habe, und wenn Sie auch nicht taugen und gern einen Helfer hätten, dann dürften wir uns noch etwas unterhalten.< Der Schuhmacher, der zuvor dem Boten den Hammer an den Kopf werfen wollte, rief ihn nun herein, unterhielt sich und kaufte ein Buch.«
Nach der kurzen Zeit als Inspektor blieb Coerper 36 Jahre lang der nebenamtliche Präses (Vorsitzende) der Evangelischen Gesellschaft. Er kehrte nie den Vorgesetzten bei den Boten heraus, er war immer ihr Bruder und Seelsorger. Er mahnte sie: »Benutzt eure Zeit und wagt alle Kräfte des Leibes und der Seele an die Sache des Königs! Es ist gut, wenn wir die Gläubigen besuchen und uns mit ihnen im Glauben stärken. Aber das Sitzen in gläubigen Kreisen kann und darf nur unsere Erholung sein. Unsere eigentliche Arbeit ist unter den in der Irre Gehenden, zum Teil noch ganz Fernstehenden.« Völlige Hingabe und Drangabe hieß aber nicht nur, sich mit aller Kraft in die Arbeit werfen. Das hielt Coerper noch für verhältnismäßig leicht. Er wies auf das Wichtigere hin: »Die größte und schwierigste Arbeit ist doch die Drangabe des eigenen Ichs. Diese Arbeit darf nicht ruhen, bis wir ganz daheim beim Herrn sind. Aber in dem Maße, als wir Gemeinschaft mit ihm haben, wird sie doch gelingen. Wer bereit ist, den untersten Weg zu gehen, wird immer noch einen Weg finden. Laßt uns unsern alten Menschen da halten, wo er hingehört, am Kreuz!«

Die Evangelische Gesellschaft sah sich in der Landeskirche zum Dienst, zum Aufbau von Gemeinschaften und zum Bau des Reiches Gottes berufen. Coerper hielt seine Boten an, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, was zu einem guten Verhältnis mit den Gemeindepfarrern beitrug. Diese aber erinnerte er daran: »Es hängt unendlich viel davon ab, ob die Pastoren ReichsteIlung aus Gnaden oder Amtsstellung mit Verfügungsrecht über Seelen haben! Hier liegt der Kardinalpunkt, an dem sich vieles zum Heil oder Unheil der Kirche entscheidet. «

»Haltet euch herunter zu den Niedrigen!«
Diese biblische Mahnung hat Fritz Coerper sein Leben hindurch gehört und zu praktizieren versucht. Das gilt für die Stationen seines Lebens und Dienstes, die wir schon haben vorüberziehen sehen. Das bezieht sich auch auf den langen Zeitraum von Jahrzehnten, den er als Gemeindepfarrer in Unterbarmen verbrachte. So sehr ihn der freie Reisedienst in der Gemeinschaftsarbeit lockte, es zog ihn dann wieder die härtere Aufgabe der Gemeindearbeit an einem Ort an. Er dachte auch an die Familie, von der er so viel getrennt gewesen war. Da er zum Präses gewählt wurde, blieb der Kontakt mit der Gemeinschaftsarbeit sehr eng.
In Unterbarmen lebten überwiegend Arbeiter, einfache Leute. Ihnen galt Coerpers ganze Liebe. Wie er es von früher her gewohnt war, so besuchte er auch jetzt die Gemeinde durch, so gut er konnte. So sehr ihm die ewige Errettung der Menschen am Herzen lag, so hatte er doch auch ein waches Auge und ein offenes Herz für die allgemeinen Nöte sozialer und politischer Art. Seine persönliche Anspruchslosigkeit, die ihm viel Gutestun an andern erlaubte, war stadtbekannt. Auch im Wuppertal war die zu einem großen Teil sozialdemokratisch gesinnte Arbeiterschaft voller - z. T. berechtigter - Kritik an der Kirche und ihren Pfarrern. Aber »unser Fritz« - wie Coerper volkstümlich oft genannt wurde - wurde dabei meistens ausgenommen. Ein Genosse sagte, auf die Revolution anspielend, von der man träumte: »Wenn der große Kladderadatsch kommt, dann geht es den Pfaffen an den Kragen. Wer aber unsern Fritz antastet, dem schlage ich alle Knochen kaputt!«
»Gott schenkte seinen Sohn nicht in die Staatsstube, sondern in den Stall- also unter das Volk! Meine Lage weist mich zu den Kleinen und Kleinsten. Haltet euch herunter zu den niedrigen!« So und ähnlich hörte man Fritz Coerper immer wieder reden, so sah man ihn immer wieder handeln. Dazu zählten auch die Kinder in der Kinderlehre. Wenige Wochen vor seinem Tode kam er mit bestaubtem Mantel nach Hause. »Was hast du nur gemacht?« fragte ihn seine Gattin. Er sah sich die Bescherung verwundert an. Endlich sagte er: »Ich habe nach der Kinderlehre meine Knie noch gebeugt, um die Kinder alle dem Herrn zu bringen.«
Welch treuen Freund hatten die Kranken an ihm! Und der Gebundenen nahm er sich an. Oft weilten Trinker, denen er helfen wollte, für längere Zeit in seinem Hause. Es lebte in ihm die Liebe, die keinen aufgibt. Sein Herz war weit für alle Menschen, ganz gleich ob sie schon den Heiland kannten oder noch vor der engen Pforte standen: »Ich meine, je mehr Menschen wir kennenlernen, umso weiter müßte unser Herz werden. Jeder Mensch hat irgend ein Leid oder einen Schmerz, um deswillen er unsere Anteilnahme braucht. Und jeder hat auch irgend etwas, was ihn liebenswert macht. . . Wir haben keinen Grund, mutlos zu sein. Im Laufe der Jahre habe ich mit so vielen Menschen verkehrt. Ich habe viele kirchenlose gefunden,
aber ganz christuslose kaum. Es ist merkwürdig, wie sie doch noch mit Jesus Christus zusammenhängen.«

Auch Coerper hat den Kampf der Heiligung kämpfen müssen. Auch bei ihm gelüstete das Fleisch immer noch und immer wieder gegen den Geist. Sein von Hause aus leidenschaftliches und rasches Temperament konnte sich im Wort und Urteil manchmal jäh und heftig äußern. Auch er brauchte die Erziehung durch seinen Herrn. Dabei halfen auch die eigenen Kinder mit. Was er einmal sagte, haben viele andere Eltern ebenso erfahren: »Nichts demütigt mehr als die Erziehung der eigenen Kinder.« So wie Fritz Coerper war und wirkte, haben ihn seine Gemeindeglieder geliebt. Der Unterbarmer Kirchmeister bezeugte am Grabe:
»Was einer auch bei dir suchte, den Pastor, den Freund oder den Vater, du hast ihm geholfen, und darum war dein Leben ein Dienst, den wir dir danken. Nisi Christus, frustra! (Wenn nicht Christus, dann ist alles umsonst.) Diese deine lebendige Predigt wollen wir nicht vergessen.«
Arno Pagel

Georg Dreisbachgeorg%20dreisbach.jpg

Geb. 8. 12. 1852 in dem Dörflein Rinthe im Wittgensteiner Land (Westfalen). Aufgewachsen in ländlicher Stille und Abgeschiedenheit. Nach der Schulentlassung einige Jahre Schafhirte. Später Fuhrmann und Fabrikarbeiter in Weidenau im Siegerland. Nach einer klaren Bekehrung Mitarbeiter in der Gemeinschaft und landauf, landab als Bote Jesu tätig. Gest. 26. 7. 1933.

Da hob das Danken an
Bald nach seiner Schulentlassung zog Georg mit der Einwilligung des Vaters und dem seufzenden Jawort der Mutter ein Jahr lang mit einem Schäfer als dessen Gehilfe durch das Siegerland dem Rhein zu. Das war die Erfüllung seines höchsten Wunsches und Jugendtraumes. Er lebte mit den Tieren, freute sich ihres Wohlergehens, teilte ihre Not. Es ging durch Frost und Nässe, durch Hunger und Entbehrung, durch schlaflose Nächte und mancherlei Schwierigkeiten. Das Jahr war für ihn eine harte Schule. Nach demselben hütete er zwei Jahre die Schafe eines Gast- und Landwirts im Wittgensteiner Land. Dabei hat ihn die Gastwirtschaft in mancherlei innere Gefahren gebracht. Aber über seinem Leben waltete die gute, verborgene Hand Gottes. Nach dem Abschluß seiner Militärdienstzeit begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt. Er trat die Stelle eines Fuhrmanns bei einem Fuhrunternehmer und Gastwirt in Weidenau im Siegerland an und heiratete bald. Das junge Glück der beiden wurde jedoch schon bald von Krankheitsnot überschattet. Der Ehemann wurde plötzlich von einem derartig heftigen Gelenkrheumatismus befallen, daß er steif wie ein Brett unter furchtbaren Schmerzen auf seinem Lager liegen mußte. Da kam ihm eines Tages der Gedanke: »Solltest du nicht einmal den Namen des Herrn anrufen? Er hat einst doch den Kranken in schwerer Not geholfen.« So wandte er sich nach einer langen gebetslosen Zeit an den Heiland: »Herr, erbarme dich meiner!« Und der Herr half. Plötzlich konnte er aufstehen. Das war kein Zufall, das war die gnädige Hilfe von oben, für die er von ganzem Herzen dankbar war. Sein fester Vorsatz war, es allen Leuten zu sagen, wie sich der Herr über ihn erbarmt habe. Doch dann fehlte ihm der Mut dazu. Das alte Leben begann wieder. Jörg (Georg) und seine fleißige Frau konnten es bald wagen, ein eigenes Haus zu bauen. Zu ihrem Sohn gesellte sich noch ein gesundes Töchterlein. Die Freude der Eltern war groß. Aber dann kam neue Krankheitsnot. Es stellte sich wieder Gelenkrheumatismus ein, schlimmer als das erste Mal. Doch damit nicht genug. Auch die junge Frau wurde schwer krank. Da dachte der Jörg an seine vorige Krankheit, an das herrliche Erleben der göttlichen Hilfe, aber auch an seine Undankbarkeit.

»Solltest du es nicht noch einmal wagen dürfen, Gott anzurufen?« So fragte er sich. 0, wie schämte und scheute er sich! Aber die Not wurde größer. Und sie lehrte beten: »Sieh nicht an meine Sünde, erbarme dich meiner Not und laß mich vor dir Gnade finden!« Noch während des Gebetes faßte er Vertrauen. Es wurde ihm wohl, und er empfing die Zuversicht: Gott wird helfen. Und Gott half. Nicht nur durch Heilung des Leibes, sondern vor allem durch das Geschenk des inneren Friedens und der Sündenvergebung. Da hob das Danken an und hörte nie wieder auf. Bald folgte ihm auch seine Frau auf dem neuen Wege. In dem neuen Haus wohnten nun neue Menschen und ein neues Glück.

Zeuge für Jesus
Durch seinen Beruf als Fuhrmann war der Jörg im ganzen Ort bekannt. Nach seiner Bekehrung wurde er Mitarbeiter in der örtlichen Gemeinschaft. Er suchte auch anderen Menschen den Weg zu J esus zu zeigen. Das brachte ihm manchen Hohn und Spott ein, vor allem, nachdem er Arbeiter in einer Fabrik geworden war. Unter seinen neuen Arbeitskameraden war besonders einer, der ihm hart zusetzte. »Ich habe dich immer«, so sagte dieser ihm einst in einer Frühstückspause, »für einen vernünftigen Kerl gehalten, und nun glaubst du auch an die Märc~en, die dir die Pfaffen und Mucker erzählen?« Unter viel Gebet und Seufzen versuchte der Jörg, dem Spötter zu antworten. Einmal nahte sich dieser wieder mit einigen Gleichgesinnten, um seine Bosheit an ihm auszulassen. Da sagte unser Freund: »Ich möchte dich einmal etwas fragen, sei ehrlich! Bist du wirklich deiner Sache so gewiß, wie du behauptest? Kommen dir nicht, wenn du allein bist auf dem Wege oder wenn du nachts nicht schlafen kannst, manchmal zweifelnde Gedanken an dem, was dein Unglaube behauptet und du den Leuten vormachst?«
Aller Augen schauten auf den Mann. Es folgte ein große Stille. Der Spötter war getroffen. Er drehte sich dann um und sagte nur: »Sieh an, der Dreisbach !« Von da an hatte Jörg Ruhe vor ihm. Bald wurde der Arbeitskamerad krank. Georg besuchte ihn. Erstaunt sagte er: »Du kommst? Von den andern sind noch wenige hiergewesen.« Nun hatte Georg Veranlassung, ihm zu bezeugen, wie die Welt ihre Diener lohnt und wie Jesus selig und glücklich macht. Danach sang sein mitgekommenes kleines Töchterchen dem Kranken ein Lied vom Heiland, das sie im Kindergarten gelernt hatte. Der Vater begleitete die zweite Strophe mit seiner Tenorstimme. Dem einstigen Spötter standen die Tränen in den Augen. Fortan besuchte ihn Georg öfter. Und es dauerte nicht lange, da kam er zum lebendigen Glauben. Es war die Erstlingsfrucht, die Georg für seinen Herrn gewinnen durfte. Ihr folgten viele weitere. Bald darauf ist der Mann selig heimgegangen.

Ernst Modersohn über Jörg Dreisbach
Als Pastor Ernst Modersohn, der spätere gesegnete Evangelist, 1895 als junger Pfarrer nach Weidenau kam, da hatte er schon manches gelernt und allerlei studiert. Aber Einsicht und Erfahrung in der praktischen Seelsorge fehlten ihm noch. Er war demütig genug, sich zu den Füßen der alten Brüder zu setzen und von ihnen zu lernen. Er nannte sie seine »Professoren im Schurzfell mit der schwieligen Faust«.

Modersohn erzählt darüber folgendes: »In dieser Zeit gab es in der Gemeinde hauptsächlich zwei Häuser, die man aufsuchte, wenn man in Sündennot war und Rat und Hilfe für seine Seele suchte. Das war einmal das Haus von >Ohm Michel<, dem früheren Zuchthäusler, der zehn Jahre lang im Zuchthaus in Münster gesessen hatte, bis er begnadigt wurde, und das andere war das Haus von Georg Dreisbach in der Querstraße. Wie oft, wenn ich zu Ohm Michel kam, fand ich dort Menschen, mit denen er redete, um ihnen den Weg zum Heiland zu zeigen! Er verstand es in besonderer Weise, ihnen das Heil in Christo nahezubringen und sie zu ermuntern, das Heil im Glauben anzunehmen.

ISBN: 3882240563 (ISBN-13: 9783882240566)
Verlag: Francke-Buchhandlung
Format: 20,5 x 13,5 cm
Seiten: 200
Erschienen: 1978
Einband: Paperback

ISBN: 3882240563 (ISBN-13: 9783882240566) Verlag: Francke-Buchhandlung Format: 20,5 x 13,5 cm Seiten: 200 Erschienen: 1978 Einband: Paperback