Pagel Arno, Krebs Hans, Du hast mein Leben so reich gemacht

06/28/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

In Mittelfranken, einem Teil des Freistaates Bayern, liegt das schöne, liebliche Altmühltal und in diesem Tal meine Heimatstadt Gunzenhausen. Dort erblickte ich als elftes von insgesamt vierzehn Kindern am 23. Mai 1902 das Licht der Welt. Meine Mutter hatte es in der Zeit vor meiner Geburt nicht leicht. Es lastete eine große Arbeitsfülle auf ihr, und es ging durch viele Sorgen und Nöte. Da blieb es nicht aus, daß sie manchmal traurig war, und es kam sie die Angst an, daß auch das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, von trauriger, schwermütiger Wesensart sein könnte.

Meine Eltern hatten 1901 ein Haus gekauft. Mein Vater - Georg Kreb - war Töpfer und Ofensetzer. Um das Töpferhandwerk ausüben zu können, mußte er eine Werkstatt mit Brennofen anbauen. Dazu mußte ein Stück von dem angrenzenden Teich aufgefüllt werden. Es ging damals nicht so einfach wie heute, daß ein Lastkraftwagen den benötigten Schutt an die betreffende Stelle heranfuhr und dort auskippte. Die Arbeit mußte mit Schubkarren erledigt werden, und auch meine Mutter, die ihr elftes Kind erwartete, war an dieser schweren Mühe beteiligt. Dazu kam der ganze große Haushalt. Zu jener Zeit wurden kinderreiche Familien nicht unterstützt wie heute. Meine Eltern gingen durch viel finanzielle Not.

So kam es, daß meine Mutter oft mit wenig frohen Blicken nach mir Meinem Jungen schaute. Ich selber machte ihr aber auch dadurch Kummer, daß ich so winzig und elend war. Als ich geboren wurde, war ich gewissermaßen nur halb fertig. Ich wog kaum dreieinhalb Pfund. Heute würde man ein solches kümmerliches Wesen in den Kinderbrutkasten legen und fertig »ausbak-ken«, aber den gab es damals noch nicht. Mutter hat oft erzählt, daß sie manchmal fast vergessen hätte, mich zu füttern, weil ich mich nicht gerührt hätte. Ich hätte immer mit meinen Fingern und meinen Zehen gespielt und wäre immer zufrieden dagelegen.
Als ich sie dann aber nach einigen Monaten mit meinem ersten Lächeln erfreute, war ihr das ein besonderes Geschenk. 

Erst nach einem Jahr bin ich eigentlich richtig lebendig geworden. So lange brauchte ich, um »fertig« zu werden. Es war meiner Mutter ein richtiges Wunder, daß so ein winziges Geschöpf überhaupt durchkam. Mein bin ich immer geblieben, und noch Jahre später hat Mutter oft zu meinen Geschwistern gesagt: »Ich bin bloß gespannt, was aus unserm Hans wird!«
Bei dem kärglichen Einkommen meines Vaters in seiner Töpferei und seinem Ofensetzergeschäft und bei der großen Kinderzahl war es selbstverständlich, daß wir Kinder zur Ernährung und Bekleidung mithelfen mußten. Ich kleiner, aber flinker Knirps hütete schon mit drei Jahren Gänseküken. Wir zogen jedes Jahr 50-60 solcher Küken auf. Ich kann mich noch gut an eine ältere Frau erinnern, die auch Gänse hütete. Zu der sagte meine Mutter: »Paß ein wenig auf den Kleinen auf!«
In Gunzenhausen liegt das bekannte Diakonissen-Mutterhaus »Hensoltshöhe«. Es wurde 1908 gegründet. In seiner Anfangszeit haben die jungen Schwestern auch Gänse gehütet, oft in meiner Nähe. Ich war inzwischen schon ein paar Jahre älter. Sie gaben mir öfter »Bildle« zum Anschauen.
Die Arbeit war nicht so sehr schwierig. Man mußte sich nur ab und zu ein wenig rühren, dann waren die Gänse ganz zufrieden und blieben beieinander. Nach der Schule kamen die größeren Geschwister dazu, hallen beim Hüten und sammelten Futter. Es wurden Brennesseln und Disteln gesucht und heimgebracht. Anschließend war noch einmal Schulunterricht bis 15 oder 16 Uhr. Die Gänse wurden großgezogen, bis sie das erstemal gerupft wurden. Danach wurden die meisten verkauft. Wir selber hatten viele Betten, und es wurden viele Federn gebraucht. Das Geld von den verkauften Gänsen mußte z. B. herhalten, um Kleider und Anzüge für die Konfirmation zu kaufen. Bei unserer großen Schar war ja jedes Jahr jemand »dran«, und das ging ganz schön ins Geld!
Gänsehüten war aber nur eine unserer Beschäftigungen. Eine andere war das Austragen von Brötchen für verschiedene Bäckereien. Wir waren morgens von 6 bis 1/48 Uhr unterwegs. Auf diese Weise verdienten wir schulpflichtigen Kinder uns das Frühstück und ein kleines Taschengeld. Wenn im Wald die Heidel-, Preisel-und Himbeeren— reif wurden, wurde jede schulfreie Stunde zum Pflücken ausgenutzt. Das war für die Kinderhände oft ein harter
Zwang, aber wenn dann am Abend die Körbe voll waren, zog die ganze Schar fröhlich singend mit ihrer Ausbeute nach Hause. Als Belohnung für den Fleiß gab es ein Ei, und dann machten wir uns an die Schularbeiten.

Mitte August war die Beerenzeit vorüber. Dann wurden wir Kinder zu verschiedenen Bauern zum Hopfenpflücken gegeben. Hier verdienten wir uns unser Essen und einige Mark, je nach Alter und Fleiß. Weiter folgte im Ablauf des Jahres das Ährenlesen und das Holzlesen. Bei dem letzteren achteten die Eltern scharf darauf, daß die Kinder nichts stahlen, um ihren Wagen rascher voll zu bekommen.
Einmal glaubte ich, beim Holzsammeln ein besonderes Glück zu haben, als ich im Spätherbst an ein kleines Wäldchen von jungen Lärchenbäumen kam. Diese waren zu jener Jahreszeit ohne Nadeln und sahen aus, als wären sie alle dürr. Ich hatte damals keine Ahnung, daß die Lärchen im Herbst ihre Nadeln verlieren. Das hatte uns Kindern nie jemand gesagt. Darum mein Irrtum: »Die Lärchen sind wertlos und nur noch als Brennholz zu verwenden.«
Ich machte mich mit einigen meiner Geschwister über die Bäumchen her, um sie abzuhauen. Ich freute mich sehr, daß der Wagen bald gefüllt sein würde. Aber o weh, da erschien auf einmal der Waldaufseher, und das war gut! Als wir heimkamen, setzte es eine solche Tracht Prügel, daß an diesem Abend keiner mehr sitzen konnte. Zu essen bekamen wir auch nichts mehr. Der Vater mußte eine Strafe von 20 Mark an das Forstamt bezahlen. 

Das war damals viel Geld. Es waren noch mancherlei andere »Tätigkeiten«, die dafür sorgten, daß wir Krebskinder nie »arbeitslos« wurden. Wir kehrten Straßen und halfen im Winter beim Schneeräumen. Wir hüteten Ziegen, eigene und die von Nachbarn. Es waren oft 30-40 in unserer Herde. Wir hatten Kaninchen und mußten für sie Futter holen. Wir sammelten Alteisen, Lumpen und Knochen, und was es sonst noch gab. Wo Telegraphenarbeiter ihre Werkstatt hatten, wühlten wir in den Abfallhaufen herum nach jedem Zentimeter Kupferdraht oder nach Messing und anderm Metall. Das wurde alles verkaüft, und wir freuten uns, wenn wir 50 Pfennige oder eine Mark heimbringen konnten.
Während unserer Kinder- und Schulzeit halfen wir auch in der
Töpferwerkstatt mit. Damals wurde alles noch im Hand- und Fußbetrieb gemacht. Der Ton wurde zwei- bis dreimal durch die Tonwalze gedreht und dann wiederholt mit den Füßen durchgetreten, bis er fein und rein und ohne Unrat war. Dazu war viel Kraft und Mühe nötig.. Dann wurde er noch auf der Würgebank öfter durchgeknetet, bis er ganz teigartig war. Außerdem drehten wir oft stundenlang, meist zu zweien, die Glasurmühle. Das war eine Steinmühle, welche die Erzglasur fein mahlte.
Wir halfen Tiere: Hunde, Katzen, Pferde, Löwen usw. formen, zum Teil mit Gipsformen, zum Teil aber auch freihändig, und sie auch mit Grundton oder Glasur bemalen. Damit waren wir im Winter voll beschäftigt, und wir waren sehr froh, wenn wir z. B. auf dem Weihnachtsmarkt einige Hundert Tiere oder Kinderspiel-Zeuge, wie Tassen, Kaffeekännchen, Schüsselchen usw., die schön bemalt waren, verkaufen konnten. Zu unserer Kinderzeit waren alle diese Sachen noch sehr primitiv und einfach.
Der Ton wurde früher von den Töpfern in bestimmten Äckern gesucht und mit großer Mühe mit der Handschaufel ausgegraben. Ich habe das in meiner Lehrzeit noch selber gemacht. Es gab damals noch keine Bagger, die den Humus abheben konnten. Deshalb wurde der Acker vollkommen durchwühlt, um die Tonadern, die manches Mal metertief lagerten; mit der Schaufel auszuheben. Aus diesem Grunde wurden solche Äcker zum größten Teil unfruchtbar und waren die billigsten im Ortsgebiet. In den meisten Fällen wurden sie als Friedhofsacker verwendt.
Diese Tatsache hilft zum Verständnis von Matthäus 27, 7. Mit dem Verrätergeld des Judas wurde der billige Töpfersacker gekauft. Dieser sogenannte Blutacker wurde zum Begräbnis der Pilger verwandt. Er war sicherlich der billigste Acker in der ganzen Umgebung.
Nun muß ich noch den Pflasterzoll erwähnen. Unsere Eltern mußten ja alles daran setzen, um ihre zahlreichen Kinder zu ernähren. So hatten sie auch drei Jahre lang zwei Straßen ersteigert, um dort den sog. Pflasterzoll einzukassieren. Für eine solche Straße mußten 1500-1800 Mark an die Stadtkasse entrichtet werden. Das war damals eine große Summe. Es sollte bei der Sache ja auch noch etwas verdient werden. Den Pflasterzoll mußten die Bauern bezahlen, wenn sie von den Dörfern in die Stadt kamen. Die Summen waren genau festgelegt: Ein Pferd kostete 15, eine Kuh 10, ein Leiterwagen 5 und eine Schubkarre 3 Pfennige. Der betreffende Bauer erhielt eine Quittung mit Tagesstempel.
Bei Brücken- und Straßeneingängen war jeweils ein kleines Zollhäuschen errichtet. Dort, wo die Nürnberger Straße und die Ansbacher Straße aufeinander stießen, hatte das Zollhäuschen vier Fenster, so daß man in beide Richtungen sehen und für beide Straßen den Zoll kassieren konnte. In diesem Häuschen verbrachten wir Kinder viele Stunden und erledigten dort auch unsere Schularbeiten. Wenn wir Jungen in der Schule waren, mußten die Mutter oder eine Schwester den Zoll »eintreiben«.
An guten Tagen, z. B. wenn Wochenmarkt war, betrug unsere Einnahme 12-15 Mark. Den besten Erfolg hatten wir jedoch zur Zeit der Pferdemusterungen im Ersten Weltkrieg. Den Rekord erbrachte ein Dezembertag im Jahre 1915: 37 Mark! Ich stand an einer Ecke, von wo ich auch die Fuß- und Feldwege übersehen konnte. Es gab nämlich Bauern, die gerne auf Um- und Nebenwegen angeritten kamen, um dem Zoll zu entgehen. Vor lauter Freude über die. große Einnahmequelle an jenem Tage ließ ich mein Frühstück und Mittagessen im Zollhäuschen unberührt stehen. Weil ich mich von sechs Uhr in der Frühe bis zum Abend draußen in der Kälte aufhielt, zog ich mir einige schmerzhafte Erfrierungen zu.
Nicht nur an jenem Rekordtag, auch sonst mußten wir scharf aufpassen, daß uns kein »sparsamer« Bauer entwischte. Entkam aber doch einer und wurde bei einer Kontrolle durch einen städtischen Beamten oder einen Polizisten ertappt, dann mußte er 10-20 Mark Strafe bezahlen.
Die Erfahrungen meiner Kindheit am Zoll ließen mich später meinen Freund Zachäus, den Oberzöllner von Jericho, mit dem ich die körperliche Kleinheit teilte, besser verstehen, als das die meisten vermögen, die von ihm lesen oder hören. Er mußte ja auch eine gewiß nicht kleine Summe aufbringen, die von der römischen Besatzungsmacht, von der er den Zoll gepachtet hatte, von ihm verlangt wurde. Dabei griff er auch zu betrügerischen und ausbeuterischen Mitteln. Durch die Begegnung mit Jesus aber wurde sein Leben neu.
All das Geschilderte macht deutlich, auf wie mannigfache Weise wir Kinder zum täglichen Brot in der großen Familie
beitrugen, und das machte uns glücklich. Ich will allerdings nicht verschweigen, daß sich meine Geschwister auch manchmal geärgert und über die Eltern geschimpft haben, weil sie so wenig Zeit zum Spielen hatten und immer zum Arbeiten angehalten wurden. Ich selber habe das nie so empfunden, weil ich am Arbeiten Spaß hatte. Auch die dreckigsten Sachen habe ich mit Freuden getan. Schon von frühester Jugend an habe ich jede Arbeit als Spiel betrachtet. So ist mir eigentlich nie im Leben eine Aufgabe schwer gefallen oder gar zuwider gewesen - in der Jugend nicht und auch später nicht. Ich habe oft zu meinen Kindern gesagt: »Ihr müßt jede Arbeit als Spiel ansehen, dann fällt euch keine schwer, und wenn sie noch so mühselig und schmutzig ist.«
Ich ziehe Bilanz: Ich sehe auf meine arbeitsreiche Kindheit und Jugend ohne Ärger und Bitterkeit, vielmehr mit Dank und Freude zurück. Sie hat mir nicht geschadet.

Mein erster Flug
Jetzt muß ich noch von einem Erlebnis berichten, das für die damalige Zeit eine einzigartige Sensation darstellte. Ich bin als Dreizehnjähriger zum erstenmal geflogen! Und das kam so:
In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bekamen wir Kinder selten einmal ein Auto zu sehen. Es wurden die ersten offenen Mercedes-Benz-Wagen gebaut, deren Höchstgeschwindigkeit etwa 30-40 Kilometer in der Stunde betrug. 1912 flog eins der ersten Zeppelin-Luftschiffe über Gunzenhausen hinweg. Da stand fast die ganze Einwohnerschaft auf den Straßen und bestaunte die großartige technische Errungenschaft. Am allersel-tensten waren damals Flugzeuge, meist als Eindecker konstruiert. Und solch ein Eindecker, der zu der kleinen Luftwaffe des Ersten Weltkrieges gehörte, mußte ausgerechnet in der Nähe unseres Städtchens im Sommer 1915 notlanden!
Das geschah ganz in der Nähe des Waldes, in dem wir gerade beim Heidelbeerpflücken waren. Schnell ließen wir unsere Körbe stehen und rannten zu dem in einer Wiese heranrollendcn Flugzeug. Es war das erste, daß wir so nahe sehen und beobachten konnten. Kaum war der Pilot ausgestiegen, da fragte er uns, ob einer von uns sich in das Flugzeug setzen und darauf aufpassen wolle. Er selber wollte sich in Brand, dem nächsten Ort, ein Fahrrad leihen. Mit diesem wollte er die vier Kilometer bis nach Gunzenhausen radeln und dort einen Schutzmann als Wachtposten holen. Wir hatten damals bei einer Einwohnerschaft von 5000 nur zwei Polizisten. Ich meldete mich sofort, die Wachaufgabe war mir lieber als Heidelbeerptlücken. Wie ich mich fühlte, in einem Flugzeug zu sitzen, zumal bald von allen Seiten die Leute herbeigeeilt kamen, um die Maschine zu bestaunen!
Von Gunzenhausen aus mußte der Pilot seinen Standort (Fliegerhorst) anrufen, um einen Monteur und Ersatzteile anzufordern. Am nächsten Tag erschienen sämtliche Schüler aus der Stadt und der Umgebung, um das notgelandete Flugzeug zu bewundern. Noch einen Tag später stellten auch wir uns mit unserer Klasse ein. Der Pilot wollte wissen, ob der »Kleine« dabei war, der

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