Petersen Jim,Evangelisation ein Lebensstil

05/20/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Der Autor Jim Petersen ist Leiter der Navigatorenarbeit in Lateinamerika, wo er seit 1963 mit seiner Familie in Brasilien lebt. Er hat dort erlebt, wie viele junge Leute aus einer vollkommen säkularisierten Gesellschaft zum lebendigen Glauben an Christus gefunden haben. Er bietet keine Patentrezepte an, sondern eine biblische Fundierung und praktische Beispiele, wie das Evangelium in einer säkularisierten Gesellschaft vermittelt werden kann.

Einleitung
Einige Beobachtungen zu den herkömmlichen Evangclisationsmethoden
- Unser Evangelisationsstil ist in Traditionen steckengeblieben

I. Teil: Einige Schwierigkeiten
1. Sich der Wirklichkeit einer unerreichten Welt stellen - Bewegen wir uns in die richtige Richtung?
2. Schlimmes Erwachen - Sind wir geduldig genug?
3. Unser missionarischer Übereifer - Sind wir zu sehr erfoigsorientiert?
4. Wirkliche Verständigung - Verstehen die Menschen unsere Sprache?

II. Teil: Evangelisation durch Verkündigung
5. Verkündigung des Evangeliums - Biblisch, am Wesentlichen orientiert
6. Das religiöse Erbe - Bestandsaufnahme: Voraussetzung für wirksame Verkündigung
7. Reichweite der Verkündigung - Grenzen der Wirksamkeit

III. Teil: Evangelisieren durch ein gelebtes Zeugnis
8. Die rätselhaften Briefe der Apostel - Wo werden wir in den Briefen aufgefordert, zu verkündigen?
9. Israel - ein lebendiges Zeugnis an die Welt - Das auserwählte Volk Gottes
10. Das Zeugnis der Gemeinde Jesu - Ein einzigartiges Volk

IV. Teil: Evangelistischer Lebensstil - praktisch
11. Ein gutes Zeugnis - Oft nur eine Karikatur
12. Eine attraktive Alternative anbieten - Das Christsein praktisch vorleben
13. Einheit von Glaube und Leben - Das Wertsystem der Christen
14. Die Gefahr der Abkapselung - Wenn Absonderung zur Abkapselung wird
15. Angst voreinander - Ein Hindernis für ehrliche Beziehungen
16. Wer paßt sich wem an? - Eine offene Atmosphäre für den anderen schaffen
17. Das Prinzip des Leibes Christi Ergänzung durch verschiedene Gaben
18. Drei Bereiche, die zusammenwirken - Leben, Gemeinschaft und gesprochenes Zeugnis
19. Die biblische Grundlage für den Glauben - Bewußter Gehorsam gegenüber Gott durch sein Wort
20. Die dynamischen Kräfte bei der Bekehrung Der Christ, der Heilige Geist und die Bibel
21. Das Beispiel von Abrahao - Ihr könnt meine Fragen nicht beantworten
22. Einige Tips für die Praxis - Wie fangen wir an?

Noch ein Buch über Evangelisation?
Um das Anliegen dieses Buches zu verstehen, muß man sich einige Tatsachen und Beobachtungen vor Augen führen, die jeden verantwortungsbewußten Christen bewegen sollten.
1. Die letzten 10 Jahre sind in Deutschland gekennzeichnet von einer evangelistischen Großoffensive: Überall gibt es große und kleine Evangelisationen; evangelistische Verteilschriften werden zu Hunderttausenden gedruckt und verteilt; fast keine Fußgängerzone ohne singende Jugendgruppe im Einsatz. Dabei hat sich ein ganz bestimmtes Verständnis von Evangelisation entwickelt. „Mission als Sonderaktion, die -.der Name sagt es schon - nicht im normalen Leben zu Hause ist, sondern zusätzlich, extra geleistet wird. Der gute Christ engagiert sich dem ‚Ideal' folgend an Feiertagen, Wochenenden und Abenden: Er steht an Informationsständen, geht mit Traktaten von Haus zu Haus und findet sich abends im Evangelisationszelt ein, wo er ‚Zeugnis gibt'. Das Gespräch über den Gartenzaun, der Abend in der Familie, das Plauderstündchen mit Bekannten und Nachbarn (bei denen man ja auch über Gott reden könnte, und zwar sehr glaubwürdig) werden zweitrangig, es lebe die ‚Action' ‚das Besondere, Außergewöhnliche." *
2. Laut einer Umfrage, die „der Spiegel" 1967 und 1979 in Auftrag gegeben hat, haben innerhalb des letzten Jahrzehntes ca. „12 Millionen Deutsche (d. h. jeder Fünfte) ihre christliche Überzeugung oder ihre prochristliche Einstellung aufgegeben zugunsten der Haltung: Christsein? Das bringt mir nichts!"**

In keinem anderen Bereich unserer Gesellschaft hat sich in so kurzer Zeit ein so drastischer Wandel vollzogen. Menschen, die so weit säkularisiert (d. h. verweltlicht) sind, können mit den oben beschriebenen Aktionen nicht erreicht werden. Sie gehen vollkommen an ihnen vorbei. Das führt zu der erschreckenden Situation, daß alle evangeli-stischen Bemühungen auf einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung beschränkt bleiben (ca. 20-30%, nämlich die, bei denen durch das Elternhaus noch christliche Vorstellungen gelebt und gelehrt wurden). 70-80% der Menschen bleiben trotz aller Einsätze und Aktionen vom Evangelium unberührt!
Vor einigen Jahren lautete die Jahreslosung: „Gott will, daß die r: Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1. Tim. 2,4). Wenn wir dieses Anliegen wirklich ernstnehmen, ist eine tiefgreifende Neubesinnung im Bereich der Evan-gelisation nötig. Gott möchte, daß alle Menschen gerettet werden - nicht nur der kleine Prozentsatz derer, denen ein religiöses Erbe mitgegeben worden ist.

Ansatzpunkt für diese Neubesinnung bietet das schlichte Gleichnis Jesu aus Matthäus 13, Vers 33: „Das Himmelreich ist einem Sauerteig gleich, den ein Weib nahm und vermengte ihn unter drei Scheffel Mehl, bis daß es ganz durchsäuert ward". In diesem Gleichnis Jesu geht es um das Wachstum des Reiches Gottes, dabei werden die Christen mit Sauerteig verglichen, die Welt mit Mehlteig; die Form, in der die Christen die „Welt" beeinflussen sollen, ist das „Unter-gemengt-sein", das Ziel st die vollständige „Durchsäuerung". Dieses Gleichnis ist eine radikale Aufforderung zum Leben in der Welt; nicht durch Anpassung, sondern durch Beeinflussung. Es ist der Aufruf wider den Rückzug in die frommen Kreise, wo die Evangeli-sation zum „Blitzkrieg" wird, zu einer Aktion, mit der man sich punktuell in die Welt vorwagt, um schnell in die Geborgenheit der christlichen Gemeinschaft zurückzukehren.

„Untermischen" ist keine Rechtfertigung für die Halbherzigen, denen die ganzen evangelistischen Programme schon immer suspekt waren, weil sie selbst zu den gehören, denen die Welt mehr bedeutet als die gehorsame Nachfolge, Stattdessen ist es die Anfrage an die, denen es am Herzen liegt, daß Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Es ist die Anfrage, wie weit ich bereit bin, die Abgrenzung und Bewahrung aufzugeben, liebgewor-dene Sprachweisen, Denkstrukturen und Verhaltensweisen abzulegen, um des anderen willen. Wie weit will ich den anderen wirklich verstehen und annehmen? Wie weit will ich die Gemeinschaft mit ihm suchen, um Gemeinsamkeiten aufzubauen? Wie weit öffne ich mein Leben, meine Familie, mein Haus, damit andere sehen können, wie es bei mir wirklich aussieht?

Wieviel Geduld habe ich, jemandem mit Ausdauer und Glauben über Monate und Jahre schrittweise zum Vertrauen in das Evangelium zu helfen. Fragen, zu deren Beantwortung dieses Buch helfen will - nicht durch Patentrezepte, sondern durch biblische Fundierung und - durch viele Beispiele aus einer reichen Erfahrung.
Horst Günzel
Leiter der Navigatorenarbeit

Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit mit den Navigatoren. Die Navigatoren wollen bei der Erfüllung des Missionsbefehls mithelfen, indem sie Menschen für Christus gewinnen und ihnen Hilfe in der Jüngerschaft anbieten. 2. Timotheus 2,2: '>Und was du vor vielen Zeugen von mir gehört hast, das vertraue zuverlässigen Menschen an, die fähig sind, auch andere zu lehren«, kennzeichnet ihre Arbeit.
Sie arbeiten unter Schülern, Studenten und Berufstätigen. Sie tun dies innerhalb des Leibes Christi, im Rahmen der evangelischen Allianz in Verbindung mit anderen christlichen Werken und Gemeinden. Sie sind Mitglied im RMJ (Ring missionarischer Jugendbewegungen), einem Zusammenschluß vieler evangelikaler Missionswerke Deutschlands.
Die verschiedenen Materialveröffentlichungen sollen dazu dienen, daß Gläubige die biblischen Prinzipien der Jüngerschaft kennenlernen und dazu motiviert werden, sie in ihrem Leben und im Dienst für den Herrn anzuwenden.
Weitere Informationen über die Arbeit der Navigatoren erhalten Sie von:
DIE NAVIGATOREN
Seufertstr. 5 5300 Bonn 2

Einleitung
Einige Beobachtungen zu den herkömmlichen Evangelisationsmethoden
Unser Evangelisationsstil ist in Traditionen steckengeblieben
1963 reisten wir als Familie mit dem Schiff von Amerika nach Brasilien. Wie erwartet stellte diese Reise für uns einen Neuanfang dar. Aber wir hatten nicht damit gerechnet, daß wir schon während der 16 Tage auf dem Schiff entscheidende, neue Erkenntnisse sammeln würden. Dieser Lernprozeß dauert bis heute an. Das vorliegende Buch ist der Versuch, das weiterzugeben, was ich seit dieser Reise darüber gelernt habe, wie man das Evangelium weitergeben kann. Wir waren 120 Passagiere an Bord, eine Hälfte Touristen, die andere Hälfte Missionare - 60 Touristen und 60 Missionare! Ein ideales Verhältnis! An Bord kann man nicht vielmehr unternehmen als spazieren gehen, lesen oder Gespräche führen. Daher konnte ich mir nicht vorstellen, daß auch nur ein Tourist an das Ziel der Reise gelangen konnte, ohne nicht gründlich mit der christlichen Botschaft konfrontiert worden zu sein. Idealere Bedingungen, um das Evangelium weiterzugeben, konnte es nicht geben.

Während der ersten drei Tage versuchten meine Frau und ich, die anderen Passagiere kennenzulernen. Unsere Gespräche standen nicht unter Zeitdruck und schon bald diskutierten wir ernsthaft mit unseren Bekannten über Christus. Am dritten Tag wurde mir klar, daß wir die Passagiere bald total überfordern würden, wenn alle anderen 58 Missionare dasselbe tun würden wie wir. 

Ich entschloß mich, mit den anderen darüber zu reden, wie wir unsere evangelistischen Bemühungen aufeinander abstimmen könnten. Die erste Gelegenheit zu einem solchen Gespräch ergab sich, als ich sechs Missionare traf, die auf dem Oberdeck zusammensaßen. Ich setzte mich zu ihnen und erzählte ihnen von meinen Überlegungen. Mein Vorschlag war, daß wir uns absprechen sollten, wie wir die Passagiere am besten erreichen könnten, ohne sie dabei zu überrennen.

Ich hatte die Lage völlig falsch eingeschätzt. Als ich ihnen erklärte, was mir auf dem Herzen lag, haben sich die sechs befremdet ange-Schaut. Anscheinend war es ihnen noch nicht in den Sinn gekom-män, mit den anderen 60 Passagieren über Christus zu sprechen. Schließlich sagte einer von ihnen: „Wir haben gerade erst unser Theologiestudium hinter uns gebracht. Wir haben dort nicht gelernt, wie man so etwas macht." Ein anderer sagte: „Ich weiß nicht so recht. In mir sträubt sich alles gegen die Vorstellung, daß man sich bekehren soll." Ein Dritter sagte: „Ich bin jetzt seit drei Jahren Pastor, aber ich habe noch nie jemand persönlich auf den Glauben hin angesprochen. Ich glaube, ich weiß auch nicht, wie man das macht."

Ich sagte ihnen daraufhin, daß wir die 95 Millionen Brasilianer vergessen könnten, wenn es uns nicht gelingen würde, diesen 60 Leuten innerhalb von 16 Tagen und mit so vielen Missionaren das Evangelium nahezubringen. Dann sollten wir doch lieber gleich das nächse Schiff zurück nach Hause nehmen.
Nach einigen Stunden klopfte es an unserer Kabinentür. Da waren drei der sechs, mit denen ich gerade gesprochen hatte. Sie wollten mir mitteilen, daß sie vom Kapitän die Erlaubnis bekommen hätten, am Sonntag einen Gottesdienst für die Schiffsmannschaft durchzuführen. Sie baten mich, die Predigt zu halten.

Als sie mir ihr Vorhaben erklärten, kam mir ein Gespräch in den Sinn, das ich vor drei Wochen mit einem befreundeten Pfarrer geführt hatte. Dieser Pfarrer erzählte mir, daß seine Gemeindeglieder kürzlich angefangen hätten, Zeugnis von ihrem Glauben abzulegen. Die jungen Leute gingen jetzt jeden Sonntag in ein Altersheim, um dort einen Gottesdienst zu halten. Einige der Gemeindeglieder hielten jede Woche Gefängnisgottesdienste; am Ende dieser Gottesdienste boten sie den Gefangenen persönliche Seelsorge an.

Natürlich ist nichts Falsches daran, Gottesdienste in Gefängnissen irnd Altersheimen zu halten. Aber wenn das allein den evangelisti-schen Einsatz einer Gemeinde ausmacht, dann entsteht ein Problem. Ich fragte den Pfarrer: »Laufen Sie nicht Gefahr, Ihrer Gemeinde beizubringen, daß das Evangelium nur für Menschen in schwierigen Umständen bestimmt ist, für diejenigen, bei denen uns das Zeugnis-geben leichter fällt? Sollten Christen nicht lernen, die Botschaft gerade auch den Menschen zu bringen und sich um die zu kümmern, mit denen sie es täglich zu tun haben?"
Diese Gedanken gab ich an die drei Missionare in meiner Kabine weiter. Hieran Bord standen wir in der Gefahr, in das gleiche Denken zu verfallen. Ich sagtei „Durch unser Gespräch haben Sie Gewissensbisse bekommen. Da haben Sie sich jetzt diese armen Seeleute ausgesucht, die nie zur Kirche gehen, und haben einen Gottesdienst für sie geplant. Das ist gut. Aber ich denke, wir können uns vor der Verantwortung für die anderen Passagiere nicht drücken." Sie verstanden, was ich sagen wollte. Aber sie hatten jetzt schon zugesagt, diesen Gottesdienst für die Mannschaft zu halten. Der Kapitän machte einen Anschlag in den Mannschaftsunterkünften und der Speisesaal wurde für den Anlaß hergerichtet. Ich sagte zu, zu kommen, aber nicht um zu predigen.

Wir vier Missionare waren rechtzeitig im Speisesaal. Es war niemand gekommen. Hin und wieder liefen Seeleute ganz geschäftig durch den Raum. Sie waren jedoch sehr darauf bedacht, nicht von uns „abgefangen" zu werden. Schließlich kam ein Seemann herein und setzte sich. Er war Baptist. Das war also unser Gottesdienst. Vier Missionare und ein baptistischer Seemann. Nach diesem Abend fingen meine drei Freunde an, ernsthaft darüber nachzudenken, wie sie auf die Touristen zugehen könnten.
Unter den Passagieren befand sich auch ein älteres, gläubiges Ehepaar. Der Mann hatte Geburtstag, und aus diesem Anlaß veranstalteten die drei Missionare einen traditionellen Liederabend. Ich wußte, was einen da erwartete und hielt es für besser, weg zu bleiben, um nicht die Beziehungen zu den Leuten, mit denen ich im Gespräch über den Glauben war, aufs Spiel zu setzen. Als sie mit ihrem Abendprogramm anfingen, war ich auf dem Oberdeck. Ein anderer Passagier wollte wie ich die Abendluft genießen. Wir fingen an, uns über das Neue Testament zu unterhalten, das ich zum Lesen bei mir hatte.

Wir hörten deutlich, was unten vor sich ging. Es wurden zunächst Volkslieder gesungen, dann kamen geistliche Lieder, und schließlich wurden Glaubenszeugnisse gegeben und eine Ansprache gehalten. Meine drei Freunde waren hinterher ganz begeistert. Es war ihnen gelungen, zu fast allen Passagieren zu »predigen". Natürlich organisierten sie am übernächsten Abend wieder einen Liederabend. Wieder ging ich auf das Oberdeck, aber dieses Mal leisteten mir noch 60 andere Passagiere Gesellschaft. Sie wollten nicht ein zweites Mal in dieselbe Falle gehen!

Als ich später noch einmal über diese 16 Tage nachdachte, ging mir auf, daß unsere Situation auf dem Schiff die Situation der Kirche im Kleinen widerspiegelte. Durch diese Erkenntnis und die Erlebnisse der darauffolgendenJahre, in denen mein missionarischer Dienst die Eingewöhnung in eine neue Kultur mit einer neuen Sprache notwendig machte, ergaben sich Hunderte von Fragen. Seitdem bin ich auf der Suche nach Antworten. Ich möchte herausfinden, wie man das Evangelium wirklich in die Welt hineintragen kann. Das ist der Gegenstand dieses Buches.

1. Teil: Einige Schwierigkeiten
1. Sich der Wirklichkeit einer unerreichten Welt stellen
Bewegen wir uns in die richtige Richtung?

„Gehet hin in alle Welt" (Markus 16,15). Wenn Sie diese WorteJesu lesen, wie stellen Sie sich diese Welt vor?.
Sie könnten sich z. B. darunter ein riesiges Gebiet vorstellen, das von mehr als 4 Milliarden Menschen bewohnt wird, die sich einzig und allein dadurch voneinander unterscheiden, ob sie eine Beziehung zu Gott durch Jesus Christus haben oder nicht. Wir haben eine Main-mutaufgabe vor uns, die sich allerdings auf eine leichte Formel bringen läßt: die Botschaft des Evangeliums all denen zu bringen, die Christus nicht kennen. Oder aber Sie haben eine geographische Vorstellung von der Welt. Es gibt heute 165 unabhängige Länder auf der Welt. Wir müssen nationale Grenzen überschreiten, unsere Arbeit in so vielen dieser Länder wie nur möglich aufnehmen und dort als Zeugen Christi leben. 

Wie oft messen wir den Erfolg unserer missionarischen Arbeit an der Zahl der Länder, in denen wir arbeiten! Die Aufgabe der Weltmission wird dann dahingehend vereinfacht, daß lediglich schon bestehende Formen und Ausprägungen von missionarischer Arbeit in andere Länder der Welt getragen und überall dieselben evangelistischen Methoden angewandt werden.
Statt dessen sollten wir unser Augenmerk mehr auf die einzelnen Menschen richten. In einem Bericht der Organisation „World Vision" heißt es u. a.:
„Gott hat in Christus jeden Menschen zur Mission verpflichtet, nicht zur Mission der Länder der Welt, sondern der ta ethne, der Volksgruppen der Welt.
Die Sünde, die tief in unseren Herzen wohnt, hat uns für die wunderbare Tatsache blind gemacht, daß Gott nicht nur alle
Völker der Welt liebt, sondern daß er sie gerade in ihrer Verschiedenheit voneinander liebt - so wie sich ein Gärtner über die verschiedenen Farben und Arten der Blumen, die Gottfür
seinen Garten geschaffen hat, freut.
Das missionarische Konzept des Apostels Faulus hatte vor allem die Volksgruppen im Blick. (...) Erarbeitete als Jude mit dem gebührenden Respekt vor der jüdischen, kulturellen Tradition. (...) Er respektierte den Lebensstil der Griechen, solange wie dieser Jesus Christus als Herrn in einem tiefen biblischen und geistlichen Sinne unterworfen war.

Mission sollte die Farben und Schattierungen, die Grundzüge und Wesensarten der verschiedenartigen Völker ernst rieb-men. Viele Missionare haben die Tatsache, daß Gott alle Völker ohne Unterschied liebt, mißverstanden und setzen sich statt dessen für ein falsches Ideal derAusräumung aller Unterschiede ein. (...) Glücklicherweise wächst die Wertschätzung der vielen verschiedenen und erstaunlich reichen Sprachen und Kulturen auf der ganzen Welt. Es ist von ungeheurer Wichtigkeit, daß wir in der Mission das rechte Feingefühlfür die Verschiedenartigkeit der Völker entwickeln.
Dr. Charles R. Taber, Herausgeber der Zeitschrift „Practical Anthropology" und Übersetzungsberater für die „United Bible So-cieties", kommt auch in diesem Bericht zu Wort: „Da Gesellschaften, Kulturen und Menschen derart große Unterschiede aufweisen, geht man am besten an die Mission heran, indem man sich möglichst genau auf die jeweilige Situation des Zuhörers einstellt. Der Evangelist muß herausfinden, von welchen Voraussetzungen der Zuhörer in bezug auf Begriffe wie Realität und Wahrheit ausgeht und welche Wertvorstellungen er hat."

Es ist sehr ermutigend, daß in der heutigen Mission eine evangelisti-sche Strategie betont wird, die an die jeweilige Situation angepaßt ist. Wir brauchen solche, biblisch fundierten Missionsstrategien, die die ethnischen und kulturellen Unterschiede sowie die Denkvoraussetzungen in bezug auf Begriffe wie Realität, Wahrheit und Wertmaßstäbe mit einbeziehen. Ein Mitarbeiter von World Vision hat es so formuliert: »MARC hat richtig erkannt, daß man nur mit einer klar umrissenen Strategie zur Erreichung der unerreichten Völker mis-
sionarische Durchschlagskraft haben kann. MARC fordert, daß im Mittelpunkt einer solchen Missionsstrategie das einzelne Volk und nicht der Evangelist oder Missionar stehen sollte."

Bei all diesen Betrachtungen geht es darum, wie das Evangelium weitergesagt werden kann. Dr. Taber drückt das folgendermaßen aus: „Wir sollten uns darum bemühen, daß wir bei der Darstellung des Evangeliums möglichst genau auf die Bedürfnisse des Zuhörers eingehen." In diesen zitierten Untersuchungen geht es hauptsächlich darum, daß die „Völker" und ihre Kultur verstanden werden, damit wir fähig werden, die verbale Verkündigung des Evangeliums der jeweiligen Ausgangssituation genau anzupassen.
Mit diesem Buch möchte ich eine biblisch fundierte Strategie für Evangelisation darstellen. Ich bin jedoch der Meinung, daß wir noch einen Schritt über das bloße Verkündigen hinausgehen müssen, um eine wirkungsvolle Strategie zu finden, die sich auf die Schrift stützt. Wir müssen erkennen, daß die Verkündigung des Evangeliums nur der erste Schritt in der Missionsstrategie des Paulus war. Wir brauchen für diese unerreichten Völlker etwas, was über die bloße Verkündigung hinausgeht und mehr Durchschlagskraft besitzt.
Heute leben 800 Millionen Menschen in Ländern mit Namenschri-stentum - dieser Begriff „Namenschrist" ist zum Synonym für die westliche Zivilisation geworden. MARC ordnet die anderen 3,2 Milliarden Menschen in sieben Kategorien ein: Animisten, Buddhisten, christlich-heidniche Synkretisten, Hinduisten, Mohammedaner, Menschen mit traditionellem Stammesglauben, und die säkularisierten Menschen.
Die Verwendung des Begriffes »säkularisiert" finde ich besonders interessant. In meinem Buch behandele ich die Frage, wie die unerreichten Menschen mit dem Evangelium erreicht werden können. Hierzu habe ich in Amerika und in den entwickelten Gebieten Brasiliens reichliche Erfahrungen gesammelt. Die größte unerreichte Gruppe ist in beiden Ländern der säkularisierte Teil der Bevölkerung. In diesem Buch geht es darum, wie die säkularisierten Menschen mit dem Evangelium angesprochen werden können. Wir verwenden dieses Wort „säkularisiert" an einigen Stellen in einer neuen Bedeutung. Deshalb sollten wir es erst einmal genau definieren.
„Säkular" wird definiert als „zur Welt gehörend, oder zu Dingen, die nicht als religiös, geistlich oder heilig angesehen werden können". „Säkularisiert" bedeutet „profan geworden, losgelöst von jeglicher Religion oder geistlichen Zusammenhängen oder Einflüssen, weltlich oder ungeistlich geworden", Die erste Definition beschreibt
ein Leben ohne einen Glauben. Die zweite beinhaltet, daß sich ein Gesinnungswandel von einem gottesfürchtigen Leben zu einem un-geistlichen Leben vollzogen hat.
Wir können diese Definitionen miteinander verknüpfen und damit einen großen Teil der Weltbevölkerung wie folgt beschreiben: »Menschen, die außerhalb eines christlichen Rahmens leben." Der christliche Glaube ist kein wichtiger Bestandteil ihres Lebens mehr. Ihre persönliche Lebensphilosophie gründet sich nicht auf christli-
che Vorstellungen. -
Mit dieser Definition hätten wir die rein „weltlichen" Menschen - jene, die nach einer nichtchristlichen Philosophie leben - umfaßt Sie
würde aber auch die Atheisten, die Agnostiker und diejenigen mit einschließen, für die der Materialismus zur Pseudo-Religion geworden ist - sowie auch der Marxismus eigentlich eine Pseudo-Religion ist.
Sie würde auch die untschließen, die erst später weltlich „geworden" sind, bei denen sich ein Gesinnungswandel von einer christlichen
Philosophie zu einer nichtchristlichen Lebensauffassung vollzogen
hat. Einige Menschen haben diesen Wandel selber erlebt. Aber meist erstreckt er sich über mehrere Generationen, die vom Christentum
enttäuscht wurden Bei vielen ist es schon mehr als 25 Jahre her, daß sie ein Leben innerhalb christlicher Strukturen kennengelernt haben. Sie sind der Meinung, daß der christliche Glaube als gültiges Fundament für eine persönliche Lebensphilosophie ausgedient hat. Sie leben in einem nachchristlichen Zeitalter.
Sie wissen vielleicht traditionsgemäß einiges über den Glauben, aber das hat keine Auswirkungen auf ihr persönliches Leben. Einige die-
ser Leute verfügen vielleicht sogar über ein breites Wissen in bezug auf Glaubensinhalte. Sie haben z. B. den Katechismus gelernt. Wenn man sie auf den christlichen Glauben hin anspricht, werden sie die „richtigen" Antworten geben. Aber diese Glaubensinhalte haben für sie persönlich keine Bedeutung mehr.
Andere wissen überhaupt nichts von Glaubensinhalten oder davon, daß es den christlichen Glauben gibt. Viele von uns können sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, daß das sogar noch auf ganze Bevölkerungsschichten Nordamerikas zutrifft.
Es gibt natürlich verschiedene Grade der Säkularisierung. Die Extreme lassen sich immer leicht aufzeigen - aber oft sind die Unterschiede nicht so deutlich erkennbar. Zwischen Schwarz und Weiß gibt es unendlich viele Grauzonen. Viele Menschen sind teilweise säkularisiert und teilweise christlich.
Wie viele Nordamerikaner könnten als säkularisiert bezeichnet werden? Bei einer Meinungsumfrage der Zeitschrift „Christianity Today" unter Nordamerikanern über 18 im Jahre 1979 wurde festgestellt, daß 94% der Amerikaner an Gott oder an ein höchstes Wesen, das sie als Gott ansehen, glauben. Die Hälfte von ihnen sagte, daß dieser Glaube ihnen großen Trost spendet. Ungefähr ein Viertel glaubte, daß Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. 45% sagten, daß ein persönlicher Glaube an Christus die einzige Hoffnung der Erlösung ist.

In Amerika gehören heute 67% der Bevölkerung einer Kirche an. Die Hälfte dieser Leute geht zumindest einmal im Monat zur Kirche. Diese Zahl behinhaltet Protestanten, Katholiken und andere christliche Gemeinschaften. Jeder fünfte amerikanische Erwachsene bezeichnet sich selber als evangelikal.*
Wie können wir die Ergebnisse dieser Umfrage auswerten? Sie zeigen ganz deutlich, daß die christliche Botschaft guten Anklang gefunden hat. Aber was ist mit der Hälfte dieser 94%, die wenig oder keinen Trost in dem Gott finden, an den sie glauben. Scheinbar sind sie Anhänger eines einfachen Deismus, eines Glaubens an einen Gott, der vielleicht einmal die Welt erschaffen hat, sich dann aber zurückgezogen hat; für sie ist Gott nicht jemand, der aktiv in das Leben der Menschen eingreift.
In dem angeführten Bericht stellt Dr. Taber die Frage: „Wie sehen diese unerreichten Volksgruppen aus?" Er führt weitet aus: „Damit sind nicht winzige und einheitliche Volksgruppen gemeint, ähnlich den entlegenen Dschungelstämmen, sondern hier handelt es sich vielmehr um klar abgrenzbare Untergruppen innerhalb schon gründlich missionierter Gesellschaftsgruppen oder um Gruppen, die in einer früheren Generation oder in einem anderenJahrhundert missioniert wurden. Unter ihnen befinden sich z. B. viele Kirchgänger aus den reichen westlichen Ländern, die trotz all ihrer Kirchlichkeit nie das Evangelium klar und deutlich gehört haben... In der Praxis sind dieseMenschen eigentlich genauso wenig erreicht wie die Dschungelstämme oder die in den Ghettos unserer Städte lebenden (,ne Chrisdanicy Today-Gailup Pol An Overview", Christianity Today Vol. XXItt, Decernber 24, 1979, S. 12.)
Menschenmassen."
Der Theologe Reinhold Niebuhr hat uns davor gewarnt, „uns nicht mit der allgemein vorherrschenden Religiosität unseres Volkes zufrieden zu geben. Sehr vieles davon ist einfach eine Verfälschung der christlichen Botschaft."'
Ich möchte gerne aus meiner Erfahrung heraus die Lage wie folgt be-urteilen: Angesichts solcher Statistiken, meiner eigenen Erfahrung und unserer Definition des Wortes „säkular", müssen wir da nicht konsequenterweise die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung als „säkularisiert" ansehen - als Menschen, die dem Christentum fern stehen?
Ich habe meine Erfahrungen als Missionar unter säkularisierten Menschen gemacht. Ich stehe im Dienst einer christlichen Organisation, die weltweit arbeitet. Meine Freunde, die unter anderen unerreichten Völkern arbeiten, machen ähnliche Erfahrungen wie ich. Ich glaube, daß die gleichen Prinzipien angewendet werden können, wann und wo immer wir unsere Gesellschafts- und Kulturschicht verlassen und versuchen, den Menschen die gute Nachricht zu bringen; und zwar zu den Menschen, die nicht die gleichen Denkvoraussetzungen wie wir haben und bei denen noch keine Vorarbeit geleistet würde, die eine Tür für das Evangelium geöffnet hätte. Wir tun uns schwer damit, diese kulturellen Grenzen zu überschreiten. Es findet keine echte Kommunikation statt - wir reden eigentlich nur zu uns selber!
Das Evangelium ist die Kraft Gottes zur Errettung, für heute und für morgen. Nur das Evangelium bietet grundlegende Antworten auf persönliche und gesellschaftliche Probleme. Das Evangelium ist die gute Nachricht, daß Gott durch seine Gnade die Versöhnung all derer, die durch den Sündenfall verdorben waren, möglich gemacht hat (vgl. Röm. 8,19-32).
Wenn das so ist, dann sollten wir uns genau überlegen, wie wir diese Sache andern vermitteln können. Es gibt kein schwierigeres Pro-
blem. Eine wirkungsvollere Verkündigung des Evangeliums wird vor allem dadurch beeinträchtigt, daß wir glauben, wir hätten im Grunde die Patentlösung gefunden, wie wir die Verlorenen gewinnen können. Das ist aber nicht der Fall. Wir scheinen genau zu
* (Reinhold Niebuhr, ‚Religiosity and the Christian Faith", Christianity in Cd ay
28, 1951.)

*Idea 23/81 Kommentar von Thielmann ‚Das Miss.Jahr 1980—Die Abkehrvon Holzwegen"
*Spiegel 52/79

*Unreached Peoples Directory', Monrovia, California, MARC, 1974, S. 12— vorgelegt  auf dem Weltevangelisationskongreß in Lausanne (Schweiz)

@ der deutschsprachigen Ausgabe
1983 hy Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH,