Plock Wilfried, Gott ist nicht pragmatisch

05/16/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Was ist Pragmatismus?

Kapitel 1 - Die Geschichte des Pragmatismus
Es war einmal eine christliche Gemeinde. Jahrzehntelang ging sie treu ihren Weg. Ihre Glieder bezeugten Jesus Christus in ihrem persönlichen Umfeld. Immer wieder bekehrten sich Menschen, ließen sich taufen und wurden der Gemeinde hinzugetan. Die Zusammenkünfte der Gemeinde waren von der Verherrlichung Gottes geprägt. Das Wort der Schrift wurde reichlich verkündigt. Gesunde Lehre hatte ihren festen Platz im Gemeindeleben. Die Gläubigen dienten einander mit ihren Gaben. Die Gemeinde wurde erbaut. Sie wuchs unspektakulär, aber sie wuchs.


Eines Tages kam ein neuer Wind in die Versammlung. Einige Christen hatten bestimmte Bücher gelesen. Andere hatten Kongresse besucht. Die Veränderer gewannen langsam die Oberhand. Eine neue Philosophie wurde eingeführt: wir wollen jetzt »Gemeinde für Entkirchlichte« sein. Völlig unbemerkt vollzog sich ein Denkmusterwechsel. Die sonntäglichen Zusammenkünfte wurden schrittweise zu »Gästegottesdiensten« umgebaut. Die Musik wurde lauter. Die Predigt kürzer. Der Mensch eroberte den Mittelpunkt des Geschehens. Die Lehre wurde angepasst.
Einige zumeist ältere Christen verließen schweren Herzens die Gemeinde. Sie konnten nicht fassen, was sich binnen weniger Jahre ereignet hatte.
Was ich mit wenigen Sätzen beschrieb, ereignete sich in den letzten zehn Jahren in vielen Gemeinden des deutschsprachigen Europa. Das könnte ich mit einer Anzahl trauriger Briefe dokumentieren.

Wie kam es zu dieser Entwicklung? Brach sie aus heiterem Himmel über die Gemeinden herein? Oder gab es eine Vorgeschichte? Gibt es Zusammenhänge, die das Auftreten der »besucherfreundlichen Bewegung« erklären könnten? Ich meine, ja. Ein vorbereitendes und zugleich verbindendes Element ist die Philosophie des »Pragmatismus«.
Die Geschichte des Pragmatismus
Pragmatismus kommt von dem griechischen Begriff »pragma« und bedeutet Tat, Handlung. Im weitesten Sinn ist Pragmatismus zunächst einmal eine philosophische Richtung. Sie meint ein Absehen von einer vorgegebenen Wahrheit zugunsten von Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit. »Wahr« ist, was nützt und was sich gerade bewährt.
»Das Große Neue Fremdwörterbuch« erklärt:
»Pragmatismus« ist die Überzeugung, dass nur »wahr« ist, was für das Handeln zweckmäßig ist.'
John MacArthur dient bereits seit etwa fünfunddreißig Jahren der »Grace Church« in Los Angeles. Er schrieb weit über sechzig Bücher. Viele Amerikaner kennen ihn von seinen Radiopredigten. In Deutschland wurde er den Christen durch einige seiner Bücher sowie durch die MacArthur-Studienbibel bekannt. Er definiert wie folgt:
Pragmatismus ist die Behauptung, Bedeutung und Wert einer Sache würden durch ihre praktischen Konsequenzen bestimmt. Er ist nahe verwandt mit dem Utilitarismus, dem Glauben, dass alles, was nützt, auch gut ist. Für einen Pragmatiker und Utilitaristen ist jede Technik oder jede Methode gut, wenn sie nur den gewünschten Erfolg hat. Wenn's nicht funktioniert, muss die Sache schlecht sein.2
Dieser weit gefasste Pragmatismus findet sich bereits bei den Philosophen der Aufklärung und deren Nachfolgern. So meinte etwa Friedrich Nietzsche, dass in dem Augenblick, wo ein Begriff seine praktische Bedeutung verlöre, ein neuer erschiene.
Wahrheit sei folglich nicht etwas, das zu entdecken und aufzufinden, sondern vielmehr etwas, das zu schaffen wäre.

Von Immanuel Kant zu Charles Peirce
Die engere Fassung des Begriffes Pragmatismus entstammt der jüngeren amerikanischen Philosophie. Charles S. Peirce (1839-1914) führte den Begriff »pragmatisch« ein. Aber Peir-ce war nicht im eigentlichen Sinn originell. Er übernahm den Terminus von Immanuel Kant, der damit seine experimentale, auf mögliche Erfahrung bezogene Denkweise beschrieben hatte. Peirce, von Haus aus Chemiker, war vor allem von Kants »Kritik der reinen Vernunft« angetan und nannte sie seine »Muttermilch in der Philosophie«. Der Pragmatiker Peirce betonte wie Kant die enge Verbindung von Mittel und praktischem Zweck. Jedoch wehrten sich beide dagegen, den Pragmatismus als Anweisung zum nützlichen Handeln in Einzelfällen aufzufassen. Höchster Zweck war bei Kant und Peirce die »Entwicklung korrekter Vernünftigkeit«, nicht die zweckmäßige Einzelhandlung.
Peirce entwickelte seine Lehre übrigens in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts aus einer agnostischen Grundhaltung heraus.3 Als zusätzliche Quellen des Pragmatismus nannte er Platon, Sokrates, Aristoteles, Spinoza, Berkeley und den englischen Psychologen Bain.
David F. Wells stellt fest, dass sich um die damalige Jahrhundertwende ein Denkmusterwechsel vollzog. Während im 18. und 19. Jahrhundert die dominanten Namen noch die der Theologen waren (Jonathan Edwards, Charles Hodge, etc.), glänzten im Amerika des 20. Jahrhundert vor allem die der Philosophen: Peirce, James, Dewey, und andere.4 Diese Wende sollte in der Folgezeit noch einen erheblichen Beitrag zur Schädigung der Gemeinde Jesu Christi leisten.

Wihiam James
Der Peirce-Schüler William James (1842-1910) studierte zunächst Chemie und Medizin. Er promovierte 1868 an der Harvard-Universität in Boston. Zwölf Jahre später wurde er dort Professor für Psychologie und Philosophie. Sein berühmtester Schüler war übrigens John B. Watson, der Begründer der Verhaltenspsychologie. James baute den Pragmatismus zu einer weithin bekannten philosophischen Richtung aus. Seit seinen Pragmatismus-Vorlesungen von 1906 galt James vielfach als Begründer dieser Richtung. Er wies aber stets auf Peirce als den wirklichen Urheber des Pragmatismus hin.

Während Peirce noch die traditionelle Wahrheitsauffassung vertrat, nach der Wahrheit die Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit ist, schuf William James eine neue Wahrheitstheorie. 1907 schrieb er sein Hauptwerk »Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking«.5 Die Kernaussage lautete folgendermaßen:
Die Wahrheit einer Behauptung oder einer Theorie steckt völlig in ihrer praktischen Wirkung. Wenn eine bestimmte Behauptung wirkt, so liegt darin nicht nur ihre Bedeutung, sondern auch ihre Wahrheit. Indem sie wirkt, wird sie zur Wahrheit. Wenn sie nicht wirkt, so ist sie unwahr.'
Und weiter:
Die Wahrheit einer Idee ist nicht ein fester, innewohnender Besitz. Wahrheit geschieht einer Idee. Sie wird wahr, wird wahr gemacht durch Ereignisse. Ihr Wahrheitsgehalt ist in der Tat ein Ereignis, ein Prozess: nämlich der Prozess der Selbstbewahrheitung, ihre Verifikation (Hervorhebungen im Original) .7
Fortan wurde Wahrheit als »Verifikation« (Bewahrheitung) verstanden. Diese vollzieht sich durch Handlungen. Sind die Handlungen von praktischer Bedeutung, also lebensfördernd, so erweisen sich die Ausgangsvorstellungen als »wahr«.
James definierte Wahrheit als »eine Art des Guten«. Das Wahrheitskriterium besteht für ihn allein in dem Nützlichen und Lebensförderlichen. In diesem Zusammenhang gebrauchte er den heftig kritisierten Ausdruck »cash value« (Barwert): »Truth is the cash value of an idea« (Wahrheit ist der Barwert einer Idee) .8 Für James lag also die Wahrheit einer Vorstellung allein in ihren praktischen Wirkungen. Wahrheit wurde für ihn zum Mittel der Befriedigung von Lebensbedürfnissen.

Pragmatismus und Religion
William James scheute sich nicht, diesen Denkansatz auch auf religiöse Weltanschauung anzuwenden. Er lehrte: »Nach pragmatischen Grundsätzen ist die Hypothese von Gott wahr, wenn sie im weitesten Sinn des Wortes befriedigend wirkt.«9
In seinem berühmten Buch »Varieties of Religious Experi-ence« (Vielfalt religiöser Erfahrungen) führt er Folgendes aus:
Wenn sich jemand in seiner Lebenspraxis .mit dem Gedanken tröstet, dass es eine Seelenwanderung oder einen Gott gibt, dann ist ein solcher Glaube für den Beteiligten nützlich und somit wahr (Hervorhebung vom Verf.), auch wenn weder der Glaube an eine Seelenwanderung noch der Glaube an einen Gott objektiv-wissenschaftlich verifizierbar ist.'°
James bekannte sich zwar zum »Glauben an Gott«, blieb jedoch immer bei einem sehr diffusen Glauben. Am Ende seiner Vorlesung über »Pragmatismus und Religion« sagte er den Studenten:
Sie sehen, dass Pragmatismus »religiös« genannt werden kann, wenn Sie der Religion erlauben, dass sie pluralistisch sein kann ... Pragmatismus muss dogmatische Antworten hinten anstellen, da wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sicher wissen, welcher Typ von Religion auf lange Zeit gesehen am besten funktionieren wird.1'
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Theorien von Peirce und James wiederum von John Dewey (1859-1952) aufgegriffen und weitergeführt wurden. Dewey, ebenfalls ein überzeugter Evolutionist, übertrug Darwins Ideen in die amerikanischen Erziehungswissenschaften und behauptet bis heute einen verheerenden Einfluss auf dem Gebiet der Ethik.
Weitere Bedeutungen des Begriffs »Pragmatismus«
Zur babylonischen Sprachenverwirrung unserer Tage gehört der Umstand, dass ein und derselbe Begriff je nach Bezug verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Damit befasst sich die wissenschaftliche Disziplin der »Semantik«, die Wortbedeutungen erforscht und festlegt.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich hier wenigstens zwei alternative Bedeutungen erwähnen. Im Umfeld der Sozialwissenschaften versteht man unter »pragmatisch« in der Regel »das Gegenteil von ideologisch, auf praktische Vorteile ausgerichtet, realitätsnah«. So beschreiben zum Beispiel die Autoren der 14. Shell-Jugendstudie den Wertewandel der »pragmatischen Generation« wie folgt:
Im Unterschied zu den 80er Jahren nehmen Jugendliche heute eine stärker pragmatische Haltung ein. Sie wollen praktische Probleme in Angriff nehmen, die aus ihrer Sicht mit persönlichen Chancen verbunden sind. Übergreifende Ziele der Gesellschaftsreform (das wäre ideologisch - Anm. d. V.) oder die Ökologie stehen hingegen nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der meisten Jugendlichen.12
Im technisch-betriebswirtschaftlichen Bereich kann »pragmatisch« durchaus die Bedeutung von »geschäftskundig, sachkundig, tüchtig« annehmen. Das Wort beschreibt in diesem Zusammenhang sogar manchmal das Gegenteil von »theoretisch«.

Der Pragmatismus und die Währheitsfrage
Der bibel- und christusgläubige holländische Philosophieprofessor Jacob Klapwijk kommt zu folgender Bewertung:
Der Pragmatismus bindet das Denken an die Pseudonorm der Anpassung, des Wachstums und des praktischen Erfolges. Das Denken ist aber an eine eigene Norm, die Wahrheitsnorm gebunden. Irrtümer bleiben Irrtümer, auch wenn sie gedeihen wie Unkraut und auch wenn praktischer Erfolg gewährleistet ist ... Umgekehrt bleibt Wahrheit immer Wahrheit, auch dann, wenn sie vergessen oder in den Staub getreten wird.13
Selbst wenn der Pragmatismus insgesamt mit Recht gezeigt hat, dass theoretisches Denken und praktisches Handeln nicht
auseinander gerissen werden dürfen, so lehrt er leider auf der anderen Seite ein völlig falsches Wahrheitsverständnis. In der Heiligen Schrift ist Wahrheit immer an Gottes Offenbarungshandeln in der Geschichte gebunden - und nicht zuletzt an die Person Jesus Christus (Job 14,6; 17,17).

Pragmatischer Glaube
Im Ergebnis ist der Pragmatismus weit von der Wahrheit der Bibel entfernt. Glaube hat hier nichts mehr mit realen Tatsachen zu tun. Er verkümmert zu einer Erziehungshilfe für Kinder, zu einer Sterbehilfe für Alte und zu einer Krücke für Versager, die mit dem Leben nicht zurechtkommen. Glaube ist für den Pragmatiker nur noch ein Pülverchen zur Daseinsbewältigung.
Os Guinness, ein brillanter Denker, ein gläubiger Intellektueller und Schüler des Theologen und Philosophen Francis Schaeffer, unterscheidet »schlechten Glauben« und »armen Glauben«. Letzteren beschreibt er wie folgt:
Während die Bibel: und die besten Denker der Kirchengeschichte die Suchenden einluden, an Gott zu glauben, weil die Botschaft, welche diese Einladung transportiert, wahr ist, glauben ungezählte Christen heute aus verschiedenen anderen Gründen. Zum Beispiel glauben manche, der Glaube sei wahr »weil er funktioniert« (Pragmatismus), andere, weil sie »spüren, er ist wahr in ihrer Erfahrung« (Subjektivismus), wieder andere, weil sie ernstlich glauben, er sei »wahr für sie persönlich« (Relativismus), und so weiter.14
Guinness beschreibt das Wahrheitsverständnis der Bibel in prägnanter Weise:
sie (die Wahrheit) ist überall wahr, für jedermann, unter allen Bedingungen. ... Geschaffen von Gott, nicht von uns, wird sie schrittweise entdeckt und erschlossen. Sie steht im Singular (»Wahrheit«), nicht im Plural (»Wahrheiten«); gewiss, nicht zweifelhaft, absolut und bedingungslos, nicht relativ; und sie gründet in Gottes unbegrenztem Wissen, nicht in unserer winzigen Fähigkeit, irgendetwas zu wissen."

@2004 Plock W.

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