Roy Kristina, In der Verbannung

05/02/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

In der Verbannung - Kristina Roy

Die Erzählungen der slowakischen Verfasserin

Kristina Roy

Kristina Roys Erzählung: «Drei Kameraden» gibt mir Veranlassung, mich über die Kristina Royschen Schriften, die ich sehr liebe, auszusprechen und sie den deutschen Lesern dringend zu empfehlen. Ich darf wohl sagen, daß mein Leben durch das Lesen dieser Erzählungen bereichert worden ist.BN0319-5.jpg?1683022545716

Zuerst sei hervorgehoben, daß die Erzählungen in wahrhaft christlichem Geiste geschrieben sind, man kann sie getrost und ruhig jedem in die Hand geben. Sie enthalten auch keine versteckte, sozusagen christlich gefirnißte oder überzuckerte Sinnlichkeit, wie es bei sogenannten christlichen Romanen wohl oftmals der Fall ist. Ein weltlich gesinntes junges Mädchen äußerte einmal: «Ich lese ganz gerne diese christlichen Romane; sie sind so interessant; das ‚Christliche' nehme ich mit in Kauf.» Das Christliche in den Kristina Royschen Schriften kann man nicht so einfach liegen lassen, es dringt in das Gewissen und zieht hinauf.

Und doch sind diese Erzählungen keine Traktate. Sie dürfen es ja auch nicht sein, wenn sie Anspruch darauf erheben wollen, ein künstlerisches Gebilde zu sein. Der Traktat predigt, zeugt, appelliert an das Gewissen, will zur Bekehrung erwecken, zum Glauben führen, im Glauben fördern, und das in schlichter, gerader Rede. Die christliche Kunst, also auch die christliche Erzählungs-Kunst, will indirekt dasselbe erreichen, aber auf anderem Wege, auf dem Wege des Schönen. Sie will zeigen, daß wenn der Herr Jesus der Schönste unter den Menschenkindern und «aller Schönheit Meister» ist, so auch die Welt, in welche er uns hineinführt, die Welt der Harmonie ist, mit anderen Worten, daß das Leben, zu dem er uns führt, ein glückliches, im tiefsten Sinne des Wortes ein schönes ist. -

Man muß wohl eingestehen, daß die Helden der Kristina Royschen Erzählungen stark idealisiert sind. Aber warum auch nicht? Man läßt sich, wenn die Schilderung sympathisch ist, auch gern von einem Engel des Lichts in menschlicher Gestalt erbauen und aufwärts heben. -

Kristina Roy hat ein sehr offenes Auge für die Schönheit der Natur; feine, intime Stimmungsbilder erwachsen unter ihren Händen in natürlicher Weise aus der Situation heraus. Wer also empfänglich ist für Natur-Romantik oder, besser gesagt, für die Schönheit der von dem Herrn, unserem Gott, geschaffenen Welt, der wird bei Kristina Roy auf seine Kosten kommen.

lind wie hat die Verfasserin ihr Land und Volk, das so gering geschätzte Slowakenvolk, so lieb! Fast liegt das Land für den Leser als eine Art Märchenland da! Wie Selma Lagerlöf besonders durch ihr Buch «Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen» einen duftigen Kranz um ihre schwedische Heimat geschlungen hat, so hat Kristina Roy durch ihre Erzählungen ihr Siowakeriland bekränzt und verherrlicht.

In meinen Augen sind die Erzählungen: «Ohne Gott in der Welt», «Der Knecht», «Glückliche Menschen», die besten. Sie sind im Aufbau die einfachsten, aber darum auch die natürlichsten.

Wer ein kindliches Gemüt hat, und das kann man auch im Alter noch haben, und wer mit einem kindlichen Gemüt sich gern in eine schöne, ideale Welt hineinführen' lassen will, der wird es einem danken, wenn man ihn auf die Kristina Royschen Schriften aufmerksam gemacht bat.

Flensburg in Schleswig.

Pastor ein. Nie. Nielsen.

Erstes Kapitel

Zaroie *) war, wenn auch kein großes, so doch ein ansehnliches Dorf. Zwischen Wäldern und Hügeln eingebettet, hatte es mehrere Bäche und Mühlen, in die man von weit und breit her das Korn zum Mahlen brachte. Die Bevölkerung war fleißig; die Männer trieben neben Landwirtschaft auch Wagnerei; sie bauten Hanf und Flachs an, und die Frauen webten daraus sehr geschickt Leinwand. Die Gemeinde war wohlhabend, aber sie hatte eine große Sorge mit der Oberen Mühle. Diese war nämlich vor längerer Zeit auf Gemeindekosten gekauft worden, und nun konnte man keinen Pächter für sie finden. Nicht, daß es an Wasser gefehlt hätte - nein, es rauschte Sommer und Winter an der Mühle vorbei, aber - es ging dort um, und jeder Pächter entfloh schon nach kurzer Zeit.

Wie groß war also die Freude der Gemeinde, als unerwartet ein Fremder kam, der die Mühle nach kurzer Besichtigung kaufte. Am ersten Tage seiner Anwesenheit brach im Orte ein großes Feuer aus, dem wohl das halbe Dorf zum Opfer gefallen wäre, wenn nicht der neue Müller mit seinem guten Rat und mit tatkräftiger Hilfe eingesprungen wäre.

Mit dieser Tat hatte der Fremdling die Herzen der Bevölkerung gewonnen. Sie überschüttete ihn förmlich mit Korn zum Mahlen, um so mehr, als gerade die übrigen Mühlen wegen Wassermangels stillstanden. Kaum konnte er die

*) Sprich: Saroschje.

Arbeit bewältigen, obwohl er einen Gesellen mitgebracht und auch gleich zwei Lehrlinge angenommen hatte.

Der Müllerbursche war ein hübscher, junger Mann, aber er war stumm; reden ließ sich also nicht mit ihm. Daß er seinen Meister aber sehr verehrte und ihm alles zuliebe tat, das konnte jedermann bald merken. Der Müller mochte etwa vierzig Jahre alt sein, hatte einen leichten Schritt und fast soldatische Haltung. Haar und Bart trug er auch nach Soldatenart, und das grobe Müllergewand paßte seiner starkgebauten Gestalt wie angegossen. Viel Redens war nicht mit ihm, dagegen hatte er eine eigene Art des Zuhörens. Sie zwang die Leute förmlich, ihm alle ihre Nöte und Schwierigkeiten anzuvertrauen. Sein Rat war immer gut. Er nannte sich Kozima (lies Kosima), und der Geselle hieß Onclrej (Andreas).

Am unteren Ende des Dorfes wohnte eine alte Frau, die Witwe des ehemaligen Hilfslehrers *) Somora. Dieser bot Kozirna in seiner Mühle die Stelle der Wirtschafterin an. In jungen Jahren hatte Frau Somora in der Stadt gedient, verstand also gründlich das Kochen und Haushalten. Da ihre Kinder bereits verheiratet oder schon verstorben waren und sie ganz allein wohnte, kam ihr das Anerbieten Kozimas ganz gelegen. Nur die Spukgeschichte beunruhigte sie. Allein Wochen vergingen, ohne daß die Geister etwas von sich hören ließen.

Bei Kozima befand sich die alte Frau sehr wohl, und sie war mit allem zufrieden. Eins schien ihr allerdings sonderbar, nämlich, daß der Müller mit seinem Gesellen wie mit einem Sohne umging. Die beiden bewohnten gemeinsam ein Zim-

*) Die Stellen der Hufs- oder sogenannten Notlehrer haben in Ungarn bis zur neuesten Zeit hin immer nur intelligentere Bauern eingenommen. mer, hatten dort aber jeder seinen eigenen Schrank. Oft sah Frau Somora, wie sie sich durch die Fingersprache unterhielten; doch konnte sie das leider nicht verstehen.

Der stumme Ondrej tat ihr recht leid, denn er war ein tüchtiger und fleißiger Arbeiter. Wenn es aber keine Arbeit gab, konnte er oft stundenlang auf den Felsen oberhalb der Mühle sitzen, wo er in das brausende Wehr hinab starrte oder auch in einem Buche las. Es war aber weder ein Gebetbuch noch eine Postille; so etwas gab es bei Kozima nicht. Trotzdem konnte Frau Somora nicht sagen, daß Kozima ein gottloser Mensch gewesen wäre. Nie hörte man ein böses Wort von seinen Lippen, und wo es nur möglich war, da half er überall und jedermann.

Im Hintergebäude der Mühle war eine dunkle Kammer, die ließ Kozima reinigen, und Ondrej zimmerte Dielen und ein Fenster herein. Man stellte ein Bett mit frischem Stroh auf, bedeckte es mit reinem Leinen und einer grobwollenen Soldatendecke, dazu kam noch ein Tisch und Stuhl; und wenn ein Wanderer oder Bettler um Obdach bat, so ließ man ihn dort schlafen.

•Einst kam ein kranker Bettler und lag fast über eine Woche in der Kammer. Ondrej kochte ihm verschiedene Kräuter und pflegte den Mann gesund. Der Arme konnte, als er fortging, kaum Worte finden, um für alle erfahrene Liebe zu danken.

Bald nach seiner Ankunft baute Kozima ein Häuschen und stellte in diesem eine Leinwandmangel auf. Dann machte er bekannt, daß die Frauen ihre Leinwand nicht mehr soweit fortzutragen brauchten. Die Bewohner von Zaroie freuten sich sehr darüber. Bei Kozima bezahlten sie weniger als anderswo, und man hatte sie ganz nahe bei der Hand.

Eines Abends, Anfang Herbst, saßen Meister und Geselle lange Zeit beisammen und besprachen sich. Die Folge davon war, daß der Müller am anderen Tage Leuten, die Korn brachten, mitteilte, er wolle einen Ofen zum Obstdörren 

bauen. Sie hätten ja hier reichlich Obst und auch Holz. Es wäre besser, wenn man das Obst trocknete, als es halb umsonst vom Baume zu verkaufen. Die wohlhabenden Besitzer wunderten sich, daß ihnen dieser gute Gedanke nie von selbst gekommen war. Sie riefen einen tüchtigen Hafner, halfen fleißig beim Bauen mit und lobten Kozimas Gesellen, hatte der doch beim Bau alles genau ausgemessen gerade wie ein ausgebildeter Ingenieur.

Der Bau war fertig. Man war gerade mitten beim Pflaumendörren, da bekam Frau Somora von ihrer in H. verheirateten Tochter einen Brief. Sie ließ ihn abends Kozima lesen. Er lautete:

«Meine vielgeliebte Mutter! Wir wünschen Euch gute Gesundheit und schicken hundert schöne Grüße. Es ginge uns sonst recht gut, auch gesund wären wir, gottlob, nur die Anna macht uns große Not. Meine liebe Mutter, denkt Euch, ein neuer Glaube ist in unserem Dorfe aufgetaucht. Die Leute kommen zum Wort Gottes zusammen. Nun, ich bin auch ein paarmal dort gewesen und muß zugeben, daß sie eigentlich nichts Schlechtes tun. Mir gefällt nur nicht, daß jeder, der länger hingeht, gleich über seine Sünden weint, und dann sagen sie, Jesus Christus habe ihnen diese Sünden vergeben, und sie seien zu Gott zurückgekehrt. Ich kann das von mir wirklich nicht sagen, obwohl ich von jeher fromm und gut gewesen bin. Ihr kennt mich ja. Nur der Pharisäer konnte sich derart vor Gott loben. Schließlich können ja die Leute reden, was sie wollen, aber sie haben auch unsere Anna verführt. Der Vater ist darüber sehr böse. Zweimal hat er sie deswegen geschlagen, doch sie will und will nicht ablassen. Es hätte sich ihr schon eine gute Heirat geboten, da sagte sie, einem gottlosen Manne könne sie ihre Hand nicht reichen. - Ach, liebes Mütterchen, ich bitte Euch schön, nehmt die Anna wenigstens für ein halbes Jahr zu Euch. Ihr seid eine fromme, schriftkundige Frau, werdet ihr gut zureden können, und sie wird den neuen Glauben vergessen. Wir wollen Euch ja alle Unkosten erstatten, und Anna kann Euch bei der Arbeit helfen.»

Mit etlichen Grüßen schloß der Brief.

«Was sagen Sie dazu, Herr Müller?» fragte die alte Frau verzweifelt. - «Meine Tochter weiß ja noch gar nicht, daß ich bei Ihnen in Stellung bin, und sie will mir das Mädchen schicken. Was soll ich Ärmste ihr antworten? Sie haben die Anna von Kind auf städtisch gehalten, weil sie in der Schule gut gelernt hat. Alle feine Arbeit ließ man sie lernen. Oft sagte ich ihnen: Kleidet die Anna nicht städtisch, sie wird nur verhätschelt - und jetzt dieses.»

Kozima legte den Brief, den er nochmals durchgelesen hatte, zur Seite «Was ich dazu sage? Nun, daß Eure Kinder töricht sind, wenn sie meinen, man könne einen Menschen mit Strafen auf den rechten Weg bringen. Was er einmal mit Kopf und Herz aufgenommen hat, das sitzt fest, ob gut oder böse, das geht auch nicht so leicht wieder hinaus. Schreibt Eurer Enkelin, sie möge nur kommen. Wenn sie in feiner Arbeit bewandert ist, so gibt's bei uns genug zum Nähen, und auch im Dorfe findet sich schon Arbeit, sie kann sich ihr Brot verdienen. In Eurer früheren Wohnung habt Ihr noch ein Bett stehen, das laßt herüberschaffen und dort neben dem Euren aufstellen. Platz ist genug.»

«Sie sind ein sehr guter Mann, Herr Kozima», dankte die Alte erfreut. «Aber, wenn Anna hier ein Ärgernis anstiftet? Sie ist zwar meine Enkelin, aber der neue Glaube?»

«Bah! » Der Müller schüttelte den Kopf. «Wir lassen sie glauben, was sie will. Wenn sie vergessen kann, vergißt sie; wenn nicht - die Welt ist ja doch groß genug. Da können auch Leute, die sich nicht verstehen, nebeneinander leben. So oder so weiß ja nur Gott, was gut und böse ist.»

Frau Somora schrieb nun der Tochter, beruhigte sie und ließ die Enkelin kommen. Dann aber wartete sie mit einer Angst, die ihr fast den Schlaf raubte, auf das ungeratene Kind und dachte: Was werde ich nur mit ihr anfangen?

Zweites Kapitel

Ein Herbstabend senkte sich über die Erde nieder. Leichte Nebel umhüllten Berg und Tal. Von den Bäumen fiel langsam das Laub. Das melancholische Sausen der Tannenbäume mischte sich mit dem Rauschen des Baches, der sich um Kozimas Mühle schlängelte und dann, die Wiesen durchschneidend, durch das Dorf weiterfloß.

Es war Sonntag. In der Dorfschenke unten spielte die Musik zum Tanz. Dieselbe Jugend, die vormittags in der Kirche gewesen war und hier den ernsten Text vom letzten Gericht gehört hatte, tanzte dort. Wer von ihnen dachte jetzt an das Weltgericht? Der Tag war ja noch in veiter, weiter Ferne. Und überhaupt, wer kam denn vom Jenseits, um zu sagen, wann und ob das überhaupt jemals sein werde?

Über dem Wehr bei der Mühle saß nach seiner Gewohnheit Ondrej im Schatten der Tannen und las. Plötzlich fiel ein Schatten auf sein Buch. Er blickte auf, und es dauerte eine gute Weile, bis er die Augen wieder abwandte. Auf der ins Dorf führenden Holzbrücke stand das unerwartete Hindernis in der Gestalt eines jungen Mädchens.

Es war eine unbekannte Erscheinung und, wie es schien, ganz fremd hier. So hübsch, wie etliche dort unten, die die Herzen der jungen Leute höher schlagen ließen, war das Mädchen nicht, aber es hatte seinen eigenen Liebreiz der Jugend und der Güte. Der Ausdruck ihres Gesichts schien zu bezeugen: «Ich bin sehr glücklich.» Die einfache städtische Kleidung stand ihr gut, wenn diese sie auch nicht so schmückte, wie die gestickte Nationaltracht der Dorfmädchen ihre Eigentümerinnen.

Die Fremde schaute zum Dorf hinunter. Plötzlich legte sich ein Schatten der Trauer über das liebliche Gesicht. Die großen Augen blickten zum Himmel, als wollten sie dort etwas fragen oder sich etwas erbitten. Der junge Mann wandte seinen Blick erst von ihr ab, als sie sich umwandte und grüßte. Ihre Stimme war geradeso anmutig wie die ganze Erscheinung. Onclrej verneigte sich tief, fast wie ein Herr, doch ohne einen Laut von sich zu geben. «Bitte, ist das die Mühle von Herrn Kozima?» Die Wangen des Angeredeten bedeckte ein Rot, als er wieder stumm nickte. Damit sie ihn aber verstehe, legte er sich die Finger an die Lippen und schüttelte mit dem Kopf. «Soll ich nicht hingehen?» fragte die Fremde verständnislos. «Ich bin Anna Somora, meine Großmutter wohnt bei Herrn Kozima, und ich komme zu ihr.» Da nahm der Jüngling ein kleines Notizbuch aus der Tasche, schrieb hinein: «Man erwartet Sie» und gab es ihr.

«Können Sie nicht sprechen?» fragte das junge Mädchen mitleidig. Er nickte. «0 seien Sie nicht traurig, der Herr Jesus bat alles wohlgemacht, die Tauben ließ er hören und die Stummen reden. Wenn wir ihn bitten werden, kann er auch Sie gesund machen.» Man sah, daß ihn ihre Worte sehr ergriffen, aber ihre Unterhaltung wurde abgebrochen, denn vor der Mühle erschien Frau Somora, und Anna eilte auf sie zu. Die alte Frau hatte Kozima versprochen, der Enkelin wegen ihres Glaubens gar nichts zu sagen. Sie sollte unbehelligt bleiben, solange sie sich in der Fremde nicht eingelebt hätte. Freilich betrachtete sie das Kind ihrer Tochter recht aufmerksam, fand aber nichts Außergewöhnliches an ihm.

Es zeigte sich, daß Blut kein Wasser ist. *) Das alte Herz

*) Slowakische Redensart.

taute in der Umarmung der Jugend auf. Anna richtete die Grüße ihrer Eltern aus, dann gingen beide hinein.

Im Hofe begegnete ihnen der Müller. Er grüßte die neue Bewohnerin seines Hauses mit ernster Freundlichkeit. Sie bekam gleich ein Nachtessen, das sie sich wohl schmecken ließ, war sie doch von früh bis jetzt gewandert.

So kam Anna Somora nach Zaroie. Wie wtirde es sein, wenn sie einmal wieder fortging? Würde man dann auch so wenig Notiz von ihr nehmen, nur die Wälder und das Was-. ser, die sie jetzt begrüßten? -

Drittes Kapitel

Die Tage und Wochen des Lebens gleichen dem Wasser; niemand kann seinen Lauf hemmen. ins Meer rauschen die Wellen. Ja, ins Meer der Ewigkeit fliehen die Wochen hin. Nur das, was sie mitbrachten, Gutes oder Böses, bleibt.

Auch in Zaroie vergingen vier 'Sonntage seit jenem, wo Anna Somora auf der Holzbrücke erschien; und die Menschen erlebten in dieser Zeit mancherlei. Man hatte Obst und• Kartoffeln geerntet. Die Frauen fingen an, sich mit Hanf und'. Flachs zu beschäftigen, während die Männer Holz für den Winter einfuhren; jeder hatte alle Hände voll zu tun.

Auch bei Kozima gab es viel Arbeit, nur schritt sie diesmal wunderbar gut voran - ja, wie früher nie. Man spürte nur zu gut, daß es in der Mühle zwei junge fleißige Hände mehr gab.. Frau Somora konnte sich nicht genug verwundern, was denn ihre Tochter eigentlich gegen Anna haben' könne. Das Mädchen war flink wie ein Reh, dabei lieb und' fröhlich, und was sie auch immer anfaßte, alles gelang ihr. Daß sie morgens und abends länger betete und in der Bibel las, das schadete doch niemandem. Die Großmutter merkte, daß sie die Enkelin nicht zu belehren habe, las ihr diese doch selber das Evangelium vor, 'und es war eine Freude anzuhören, wie sie die Sache verstand.

Frau Somora hielt ihr Versprechen und sprach mit der Enkelin nie über ihre Glaubensverirrungen. Sie würde ja gewiß das alles hier vergessen; denn da war niemand, der sie an diese Dinge erinnerte, so dachte sie und beruhigte sich dabei.

Obwohl Anna in jeder Arbeit bewandert war, verstand sie doch am besten, mit der Nadel umzugehen. Sie nähte alles, was für die Mühle nötig war. Kozima entlieh von der Jüdin Kohn im Dorfe eine Nähmaschine für sie. Die Jüdin war schon lange krank und schuldete ihm Geld; es war ihr ganz angenehm, auf diese Weise etwas von der Schuld abtragen u können.

Die Männer kümmerten sich nicht viel um Anna. Kozima sprach wenig, Ondrej gar nichts; doch lebten sie friedlich und einträchtig beieinander. Wenn das junge Mädchen irgend eine nötige Frage an sie richtete, wurde diese freundlich beuntwortet, und was der Großmutter nicht möglich gewesen war, das erlernte die Enkelin sehr bald, nämlich die Finger-und Zeichensprache. *

Das Laub war schon gefallen, und in der Natur herrschte eine Traurigkeit, ähnlich der, die ein vereinsamtes Herz, dem alle Lieben weggestorben sind, empfindet, als Kozima mit Anna durch den Wald ging. Sie kamen von einem Begräbnis Im Nachbardorfe. Einer von den Kunden des Müllers war gestorben, und so ging dieser ihn nach dortiger Sitte heimbegleiten; und weil Frau Somora schlecht gehen konnte, hatte sie die Enkelin geschickt.

Die beiden gingen ganz still. Vorher hatten sie über die verlassene Familie des Verstorbenen geredet. Anna, tief in Gedanken versunken, bemerkte gar nicht, daß die ernsten Augen des Müllers schon lange auf ihrem Antlitz ruhten,

@1993 Francke Buchhandlung