Roy Kristina, Die Verlorenen

06/29/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

1. Kapitel

Es war Frühling, ein herrlicher Frühling. Die Nachtigallen sangen voller Lebensfreude, und Tausende von Blumen bedeckten die Wiesen, und Blüten zierten die Bäume. Die Erde sah aus wie eine ihren Bräutigam sehnsüchtig erwartende Braut. Überall war es schön, aber die Umgebung von Zaradskys Mühle glich dem Paradies, das einst für zwei heilige Leute geschaffen war, dann aber von den Wogen der Sintflut vernichtet wurde. Hinter der Mühle lag ein gtünbe-wachsener Bergabhang. Ihm zu Füßen floß ein tiefer kristallheller Bach. Man hätte sich in ihm den Strom des Lebens vorstellen können, der vorn Thron des Lammes fließt. Jenseits des Baches breiteten sich Wiesen aus, und an diese grenzten grüne Wälder, die die weitere Aussicht verdeckten. Die Mühle war alt, aber vergrößert und erneuert.

Die alte Frau Zaradsky führte, obwohl sie die Mühle ihrem einzigen Sohn bereits übergeben hatte, trotzdem dort noch immer das Regiment. Sie gehörte zu jenen Menschen, die meinen, ihre Tage auf Erden nähmen kein Ende. Sie war eine rechtschaffene und gute Hausfrau, so fleißig, daß sie sich selbst kaum ein Stündchen Ruhe gönnte, aber auch niemanden ruhen ließ
Dabei war sie auch fromm; jeden Sonntag sah man sie in der Kirche und hörte beim Gesang ihre laute Stimme. Die Predigt hindurch schlief sie zwar immer, aber das ließ sich wohl durch die Anstrengungen der Woche entschuldigen. Sie kannte auch viele Sprüche der Heiligen Schrift; doch was und wie sie glaubte, danach fragte niemand.

Jung verwitwet, hatte sie sich, obwohl viele Freier kamen, nicht mehr binden wollen, sondern erzog ihre zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, wie sie selbst sagte, in Gottesfurcht. Die Tochter verheiratete sie noch jung in ein großes
Bauerngut. Zwar hatte das Mädchen sich geweigert, weil
sein Herz einem armen Müllerburschen gehörte, der früher bei der Mutter gearbeitet hatte. Sie gebrauchte Zwang, und die Ehe wurde geschlossen. Als der Sohn vom Militär heimkam, suchte sie auch für ihn im Nachbardorf eine Braut. Die Mühle benötigte dringend eine Reparatur, so daß eine reiche Schwiegertochter ins Haus mußte. Sie suchte und wählte lange, bis sie endlich eine reiche Waise fand; und wie sie früher die Tochter gezwungen hatte, so zwang sie nun auch den Sohn. Sie wußte sehr gut, wie sie das machen mußte. Sie drohte ihm, fortzugehen und ihr Teil mitzunehmen. Wie hätte der junge Müller einen solchen Verlust ertragen können! Dann malte sie ihm aus, was er mit dem Vermögen seiner Frau alles ausrichten könne; und so überredete sie ihn endlich.
Es wurde eine rauschende Hochzeit gefeiert, die, wie üblich, eine ganze Woche dauerte, und dann folgte das neue Leben. Aber was für ein Leben!
Thomas Zaradsky verheimlichte nicht, daß seine Frau ihm nur eine Last sei, und daß er aus der ganzen Bibel am besten die Worte kannte: „Er soll dein Herr sein", wahrscheinlich deshalb, weil sie in der Bibel ziemlich am Anfang stehen. Bis jetzt hatte er ja niemals Zeit gehabt, in das alte große Buch hineinzuschauen, das sich vom Großvater auf Sohn und Enkel vererbt hatte. Es war so sauber, als ob es die vielen Jahre in einer Buchhandlung gelegen hätte.
Der sechzehnjährigen Eva ging es wie tausend anderen um ihrer Mitgift willen geheirateten Frauen. Anfangs überwand sie ihre Schüchternheit und bemühte sich, ihrem Mann und der Schwiegermutter alles recht zu machen. Diese lobte sie sogar vor ihrem Sohn und vor anderen Leuten. Da ihr Mann aber immer gleich unfreundlich blieb, verließ sie der Mut und die körperliche und seelische Kraft. Man verlangte von ihr die Arbeit von zwei Mägden. 

Das Grasbündel, das sie vom Feld heimbrachte, war der Schwiegermutter nie groß genug, obgleich die arme Eva oft dachte, in ihrem Innern müsse etwas zerreißen. Wenn ihr Mann ihr auftrug, schwere Säcke zu heben, machte sie es ihm nie schnell und geschickt genug; nie hörte sie ein Wort der Ermunterung oder Anerkennung. Durch nichts konnte sie die Liebe ihres Mannes und der Schwiegermutter erringen.
Aber das hatte seinen besonderen Grund. Es stellte sich nämlich heraus, daß ihre Mitgift nicht so groß wie versprochen war, ja, daß ihre Mutter die Müllerin betrogen hatte. Thomas stritt sich deswegen mit seiner Mutter öfter und sie mit ihm. Auch zwischen ordentlichen und ehrbaren Leuten entsteht ja oft Zank und Streit, daß das Haus erzittert! Eva mußte für die Tat ihrer Mutter von ihrem Mann und von ihrer Schwiegermutter viel erleiden. Hatte ihr Mann ihr schon früher kein gutes Wort gegönnt, und sie oft, wenn sie in der Mühle zusammen arbeiteten, grob angefahren, so schritt er jetzt, aufgestachelt durch den Zorn der Mutter, zu noch grausamerer Behandlung. Mehr als einmal hörte man in dem lieblichen Tal Schmerzensschreie, die bewiesen, daß hier das Paradies nicht war. Unter solchen Verhältnissen kam der wundervolle Frühling.
Es war Sonntag morgen. Die Müllerin war mit ihrem Sohn in die Kirche gegangen. Die Mühle stand, nicht etwa, weil es Sonntag war, sondern weil das Rad beschädigt war, und der Steilmacher es gestern nicht hatte wieder herstellen können.
Der Kuhhirte trieb das Vieh auf die Weide, der Lehrling
war zum Wassergegangen, um Meine Fische zu fangen, und über dem Wehr, die Hände in den Schoß gelegt, saß eine junge Frau.

Hätte jemand eine verwelkte Blume malen wollen, in ihr hätte er das Modell gefunden. Aus einem marmorweißen Gesicht schauten große schwarze Augen starr in das Wasser.
Sie schauten und schauten - und es war ein sonderbarer Blick! In der einen Hand hielt die junge Frau krampfhaft an die Brust gedrückt ein Stück Kinderwäsche. Die bleichen Lippen waren schmerzhaft verzogen. Von dem ungeordneten Haar hing das Tuch ab, die Kleider waren schmutzig und nachlässig umgeworfen - alles zeugte davon, daß die Seele dieses Wesens nicht in Ordnung war, und daß in ihrem Innersten ihr Herz vor Schmerz erstarrt war. Kein Wunder! Hatten sie doch gestern ihr Meines schwaches Kindlein in der dunklen Erde begraben, und mit ihm ihre ganze Hoffnung und Freude.
Sie bedauerte es nicht, daß man die kleine Eva begraben hatte; dort war ihr wohl, ganz wohl! Niemals würde ihr Mann sie schlagen, niemals würde die Schwiegermutter sie quälen und ihr vorwerfen, sie verdiene das Essen nicht, wenn sie nicht arbeiten könnte. Dem süßen Kind war dort wohl; aber was sollte jetzt aus ihr werden, wo sollte sie hingehen mit ihrem Kummer, da sie hier niemanden hatte, dem sie ihr Leid Magen konnte?

„Sei nur froh, daß das Kind gestorben ist, du hättest was zu pflegen gehabt; denn es war so krank! Du hast keinen Grund zum Weinen," hatte die Schwiegermutter leichthin gesagt; „es war ja gar nicht tauglich für die Welt!" Niemand hatte Mitleid mit ihr; kein Mensch war da, der ihr Liebe erwiesen hätte.
- Weißt du, warum die Blumen zwischen Felsen und Disteln verwelken? Sie haben keine Sonne. Wie aber soll ein Mensch, den Gott erschaffen hat, um lieben zu können und geliebt zu werden, ohne Liebe leben? ‚Wozu soll ich noch leben", dachte Eva, „da mir das, was ich liebe, und was auch mich geliebt hätte, gestorben ist?" Sie drückte das kleine Häubchen, das vor dem Tod das Meine kostbare Köpfchen bedeckt hatte, an ihre Lippen und Wangen. Ach, wieviel Nachte hatte sie durchwacht um heimlich die Kinderwäsche nahen zu können, da man ihr am Tag kerne Zeit dazu gelassen hatte - und nun war alles umsonst! Die Meine Eva nahm nur ein Kleidchen mit sich, und das wurde ihr für immer genügen.
„Mir wäre auch wohl, wenn ich sterben könnte; was soll ich noch im Leben?" Sie schaute verzweifelt in das Wasser.
Plötzlich kam ihr in ihrer Verlassenheit ein finsterer Gedanke. „Und warum sollte ich nicht sterben? Das Wasser hier ist so tief; wenn ich hineinspringe, wird es mich fortreißen, es fließt so wild, es wird mich weit davontragen, dem Evehen nach! Vielleicht finden sie mich und werden mich neben es betten; sie wissen es ja nicht, daß ich es absichtlich getan habe."
Wie oft, wenn sie erst spät in der Nacht schlafen ging und schon um drei Uhr wieder aufstehen mußte, hatte sie sich gewünscht, nur einmal richtig ausschlafen zu können. Dort würde sie sich ausruhen können! 0, wird das gut tun! - Der Hahnenschrei schreckte die junge Frau auf und erinnerte sie an ihre -Pflicht. „Ich werde alles besorgen," dachte sie mit einer wilden Sehnsucht nach Freiheit, „und dann werde ich mich freimachen."

„Ach, Mutter, Mutter, welch einen schweren Stein hast du mir um den Hals gehängt, so schwer, daß er mich in die Tiefe hinabzieht," sprach sie und stand auf. Dabei erblickte sie ihr Bild im Wasser. „Ach, wie schaue ich aus! Als man meine 'Schwester in den Sarg legen wollte, wusch man sie vorher und zog ihr reine Kleider an; auch ich muß mich ankleiden!"
Die Hoffnung auf baldige Befreiung flößte der jungen Frau neue Kraft ein.
Im Hof versorgte sie die Hühner, schaffte Ordnung im Zimmer und in der Küche. Sie ging bis auf den Boden; überall räumte sie auf. Sie öffnete die Truhe, glättete ihr schönes blondes Haar und wand es in zwei Flechten um ihren Kopf, nahm ihre Sonntagskleider und verschloß die Truhe wieder. Dann ging sie hinunter, wusch sich, kleidete sich sonntäglich an und eilte zum Wehr. Aber als sie über dem Wasser stand, durchfuhr sie ein eigentümliches Gefühl. Es war ihr, als rief eine Stimme- »Eva, was machst du?"

Erschreckt blickte sie auf - aber nirgends war ein Mensch zu sehen. Sie fühlte plötzlich, daß das, was sie tun wollte, Sünde sei. Sie wußte nur wenig von Gott;nur zwei Winter war sie in die Schule gegangen, und zwar zu einem betrunkenen Bauern, der sie zwar gut lesen und etwas schreiben lehrte, aber von Gott selber wenig wußte und nie an ihn dachte.
Als sie zwölf Jahre alt wurde, besuchte sie den Konfirman-denunterricht. Doch hier konnte sie nie etwas auswendig lernen, da sie nichts verstand. Weil die Zahl der Schüler groß war, schrieb man es ihrer Schüchternheit zu.
Später war sie in die Kirche gegangen, wo sie, gerade so, wie hundert andere, von der Predigt nichts verstand. Dann hatte sie geheiratet.
Ein trauriges Leben hatte begonnen, und es war niemand da, der, der armen Seele das Licht gezeigt hätte. Aber eins
wußte sie doch, nämlich das, was auch die Heiden fühlten:
Es gab einen Gott.
In diesem schrecklichen Augenblick fühlte sie plötzlich seine Gegenwart, daher der Schrecken. Gestern hatte sie singen hören: „Selig sind die Kinder, die nach Gottes Willen gelebt haben und dann in dem Herrn sterben!" Evchen hatte gelebt, solange es Gott gewollt hatte, dann war sie gestorben. ‚Wenn ich mich ertränke, wird das auch nach Gottes Willen sein?" erwog sie bei sich. „Aber ich kann nicht leben, ich kann nicht! Thomas wird heute abend wieder betrunken heimkommen, er wird mich schlagen, und ich bin so elend. Die Müllerin wird mich zur Arbeit treiben, und ich kann nicht. Ach, warum sollte es Gott nicht wollen, daß ich mich ertränke? Ist denn Gott so hart? Aber wohin werde ich dann kommen?"
Ratlos irrten ihre dunklen Augen über das Wasser, über die Wälder und über den Himmel.
„Evchen ist dort, und ich, ich werde nach dem Tod nicht hinkommen, ich werde sie nicht finden. Ich möchte selbst in die Hölle fliehen, denn schlechter als hier kann es auch dort nicht sein, aber Evchen ist nicht in der Hölle; solche kleinen Kinder nimmt Gott zu sich. 0, wenn ich es nur wüßte! Wüßte ich nur, ob es ihr gut geht!"
Von dem Augenblick an, wo Eva zu der Überzeugung gekommen war, daß Gott ihr Kind zu sich genommen hatte und es, von aller Not erlöst, bei ihm war, stand ihr Gott näher. Eine tiefe Sehnsucht ergriff sie nach einem Menschen, mit dem sie über Gott sprechen könnte.
In ihrem Gedanken wurde sie durch nahende Schritte gestört. Der Kuhhirte kam mit dem Vieh und suchte die Hausfrau. Er war ein schöngewachsener Bursche, aber mit einem ungewöhnlich häßlichen, narbigen Gesicht; dazu war

Die Verlorenen/Kristina Roy. - Marburg an der Lahn:
Francke, 1993
(Edition C: Ii, Heimatlicht; Nr. 64)
ISBN 3-86122-059-8
NE: Edition C/H
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