Roy Kristina, Glück

06/28/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

1. Unter dem Murtin
„Man könnte durch die ganze Welt gehen", so sagten die Leute, „und man würde keine zwei solchen Brüder wie Pavel und Andrej Murtin finden, die so einträchtig miteinander lebten und sich so lieb hätten wie diese beiden!
Ihr Vater war gestorben, als sie noch nicht 14 Jahre alt waren, und seitdem hatten sie der Mutter geholfen, die kleine Wirtschaft zu besorgen, die er ihnen hinterlassen hatte; als auch die Mutter starb, wirtschafteten sie allein, so gut sie es eben verstanden.
Sie wohnten in den entlegensten Kopanitzen, die zum Städtchen Z. gehörten, am Fuße des Berges. Ihr Stück Land, eine Wiese und ein hübscher Obstgarten umgaben das Häuschen. Weil auch der Feldrain der Gemeinde, von üppigem Grün bewachsen, in der Nähe war, konnten sie ihn für geringes Geld pachten und leicht zwei gute Kühe und manches Stück Jungvieh halten; jedes Jahr pflegten sie etwas davon zu verkaufen. Zur Mühle hatten sie es nicht weit, sie liefen nur den Hügel hinab ins Tal zum Müller Lehotsky.

Es machte keine große Mühe, Wasser für das Vieh zu holen, denn in der Nähe ihres Hauses floss ein kristallklarer Bach vorbei, dort tränkten sie ihr Vieh. Sie hielten auch einige Schafe, besonders der Wolle wegen; was sie den Winter über spannen, das ließen sie alle zwei Jahre weben und entweder Mäntel oder Hosen und Jacken daraus arbeiten.
Als sie bereits zu jungen Männern herangewachsen waren, gingen sie stets sehr gut gekleidet. So wie die Bäume im Wald der Sonne entgegenstreben und von keiner Hand gestützt, an keinen Pfahl gebunden, gerade emporwachsen, so wuchsen auch sie gerade auf, ohne Turnunterricht, denn in der kleinen Dorfschule, welche sie fleißig besuchten, wurde dieses Fach noch nicht gelehrt. Ja, sie wuchsen gerade und stark auf, mit breiten Schultern und schön. gewölbter Brust. Jeder der beiden hätte mit Leichtigkeit einen schwachen Städter auf den Gipfel des Murtins - so hieß der Berg, unter dem ihre Hütte lag -‚ getragen und wäre dabei selbst nicht außer Atem gekommen.
Andrej Martin liebte sehr ihr Hüttchen, er kannte nichts Schöneres auf der Welt. Nicht, als ob er noch keine großen, hohen Häuser gesehen hätte - er ging ja mitunter auf Viehmärkte -‚ aber er hätte für keines seine Hütte tauschen mögen. In den Städten standen die Häuser dicht nebeneinander, Stein auf Stein, und die Leute sahen aus ihren Fenstern nichts anderes als den Schmutz der Straße. Stets schien es dem Jungen und später dem Mann, als müsse er dort ersticken und als hätten die Leute keine Freiheit. Es ist wahr, sie hatten in ihrer Hütte kleine Fenster; aber wenn er hinausblickte, dann jubelte das Herz über die schöne Gotteswelt, die er sah, sei es im Frühling, wo der Obstgarten einem Paradies glich, oder im Sommer, wo das Obst an den Bäumen reifte, oder im Herbst, wo die Apfel- und Pflaumenbäume unter der Last ihrer Früchte zu brechen drohten.
In der Stadt musste man alles kaufen und sie hatten hier alles in Hülle und Fülle. Vom Frühling bis zum Winter lebten sie größtenteils nur von Obst, Milch und Pilzen, die sie nicht weit zu suchen brauchten. Fleisch aßen sie nur, wenn sie einen Hammel oder ein Kaninchen schlachteten. Solange die Mutter lebte, hatten sie wirklich genug Geflügel gehabt, aber das hatten sie dann in die Stadt verkauft und dafür allerlei Notwendiges für das Haus angeschafft.
Pavel Murtin war nicht immer mit allem zufrieden, er meinte, dass es nötig sei, die Hütte zu vergrößern. Häufig machte er Pläne und besah sich andere Gebäude. Gerade als sie sich ans Werk machen wollten, traf es sie wie ein Schlag aus heiterem Himmel Sie mussten beide zur Musterung, denn 
sie waren Zwillinge, und was niemand gedacht hät te: Pavel musste zu den Soldaten!
Hätte man wenigstens alle beide genommen— aber sie so zu trennen! Manches Mal hatten sie sich ge
sagt: „Wenn wir zu den Soldaten müssen, dann werden wir auch dort beisammen sein und es gemeinsam ertragen." Aber sie hatten sich dennoch der Hoffnung hingegeben, dass das Los sie verschonen würde, aber dass der eine gehen . und der andere zurückbleiben müsste, das war ihnen nie in den Sinn gekommen Was wussten die Herren von der Kommission . - die Andrej auslachten, als er sie zu bitten begann, ihn doch nun auch als Soldat zu nehmen,
da Pavel Soldat sein musste -‚ was wussten jene Herren davon, wie es den .beiden Jünglingen zumute war, Pavel, weil er ohne, Andrej gehen musste, und Andrej, weil er allein bleiben sollte!
Beiden wurde es dunkel vor den Augen; hätte nicht das übermütige junge Volk um sie her getobt, sie hätten am liebsten geweint.
„Warum bin ich nur als Kind gefallen und habe mir einen Schaden geholt; ich könnte heute Soldat
sein", jammerte Andrej. „Oder warum ist nicht auch Pavel gefallen, dann müssten sie uns in Frieden lassen! Sehr betrübt kehrten sie heim.
„Fürchte dich nicht", sprach Pavel, als der erste Schmerz ein wenig nachgelassen hatte, „es kann sich noch alles zum Guten wenden; hätten sie uns beide genommen, dann wäre uns die Hütte ganz verwildert; und wenn wir sie vermietet hätten, wäre sie uns nicht so instand gehalten worden, wie du es nun tun wirst. Und was ich dort lernen werde, das wird so sein, als ob du es auch wüsstest. Bis Gott gibt, dass ich wiederkomme, werden wir wieder so leben, ja noch besser als zuvor."
‚ja", sprach Andrej, etwas getröstet; „ich will in den drei Jahren alles so besorgen, was wir • zusammen ausführen wollten."
„So viel wirst du nicht fertig bringen, das wäre zu viel für dich",: erwog Pavel, „und allein kannst du auch nicht bleiben. Ich denke, du könntest Tante Zvara zu dir nehmen, die Arme hat nichts zum Leben, weil der unglückliche Onkel alles durchgebracht hat, und nun ist auch ihr zweiter Mann gestorben."
„Da hast du Recht, sie ist eine gute Frau, sie hat nur ein Kind von dem Onkel. Nun, wie Gott will, wenn es nicht anders ist, müssen wir uns damit abfinden, du dort, ich hier, so gut es eben geht."
So trösteten sich die Brüder. Und weil Pavel nicht sofort gehen musste, erschien es ihnen endlich wie ein böser Traum.

Aber Woche um Woche verging und der Traum wurde Wirklichkeit.
Als Andrej den Bruder ausgerüstet hatte und als sie nun wortlos miteinander vor dem Haus standen und er ihm in das blasse Gesicht blickte, da war es Andrej, als habe er ihn lebend für das Grab ausgerüstet. Es schien ihm, als stürbe in diesen Augenblicken ihr schönes brüderliches Glück. Er nahm den Bruder um den Hals und weinte und Pavel schmiegte sich an ihn und weinte gleichfalls, auch ihm war es, als würde er nie mehr wiederkehren. - Wer weiß, wie lange sie noch geweint hätten, wenn nicht einige Freunde, die gekommen waren, um sich von Pavel zu verabschieden, sie gestört hätten.
Andrej begleitete den Bruder bis zur Bahn, weiter konnte er nicht mit ihm gehen, aber eines tröstete ihn: „Es gehen so viele junge Männer, die ebenso dran sind wie Pavel, die werden ihn wohl aufheitern." An sich dachte er nicht.
Er begab sich gleich zur Tante Zvara und half ihr, die wenigen Sachen umzuräumen, das Übrige wollte er mit dem Wagen holen. Es war ihm lieb, dass er nicht allein heimkehren musste. Frau Zvara segnete den Neffen in ihrem Herzen, dass er sie zu sich nahm Sie hatte als Witwe einen Witwer geheiratet, der
Mann war gestorben und seine Kinder aus der ersten Ehe hatten die Stiefmutter, und besonders deren Tochter, sehr schlecht behandelt. Die kleine Ilenka Zvara - die ifir ihre 14 Jahre sehr zurückgeblieben war, atmete beim Verlassen des Hauses auf wie ein in die Freiheit versetzter Vogel.
Sie war ein blasses, zartes Kind, aus dessen magerem, eingefallenem Gesicht zwei große, blaue Augen traurig und scheu in die Welt blickten. Man sah es dem Kind an, dass es schon viel Böses erlebt hatte. Der Mutter gab es, sooft sie es anblickte, einen Stich ins Herz, denn sie musste sich sagen, dass sie durch ihre unbesonnene zweite Heirat ihr Kind ins Unglück gebracht hatte. Doch nun waren sie beide glücklich.
Als sie im Haus unter dem Murtin heimisch geworden waren, lief das Mädchen hinter dem guten Vetter - der sie weder schlug noch schalt -‚ her wie ein Hund, der in seiner Verlassenheit einen gütigen Herrn gefunden hatte. Es dauerte lange genug, bevor sich die Seele des Kindes an die schöne Freiheit und an das große, unverhoffie Glück gewöhnt harte. Aber die veränderte Umgebung und Lebensweise wirkte so auf diesen zarten Menschen, wie wenn man eine im Schatten verkümmerte Pflanze ins volle Sonnenlicht versetzte - o, wie rasch holt sie das Versäumte nach!
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Auch begann das Mädchen zu wachsen und kräftiger zu werden; die Wangen wurden rosig und rund. Da es nichts zu fürchten gab, verloren die Augen ihren scheuen Ausdruck; ein Lächeln umspielte den Meinen Mund, der inmitten des Gesanges der Vögel gleichfalls zu singen begann. Sie ging der Mutter und dem Vetter emsig zur Hand und ihre Dankbarkeit erfüllte die Hüfte mit hellem Glanz.
„Ach, Tantchen", meinte Andrej, „ich habe gar nicht gewusst, wie ich es überleben würde, ohne Pavel zu bleiben, es schien mir, als würde mir ein Tag wie ein Jahr werden, und sieh, nun ist bald ein Jahr um, so hat Gott uns geholfen."
„Das kommt daher, mein Sohn, weil du uns so wohl getan hast", seufzte die dankbare Frau.
Große Freude bereiteten in der Hütte immer Pavels Briefe. Anfangs waren es nur Grüße, und er schrieb, wie bange ihm sei, aber dann schrieb Pavel je länger je mehr, und Andrej bewunderte ihn nicht wenig, dass er die Sätze zusammenstellen konnte, als läse man sie aus einem Buch. Unwillkürlich schrieb auch er ausführlich, wie sie lebten und was sie machten.
„Ihr werdet sehen, Tante", sprach er, „unser Pavel wird dort viel lernen, und es wird noch gut sein, dass er gehen musste." Er selbst hatte gleich im ersten Winter begonnen, Ilenka im Lesen und Schreiben zu unterrichten; sie war auch darin sehr zurück, während die Brüder Murtin in der Schule stets die Ersten gewesen waren. Indem er mit ihr durchnahm, was er selbst einst in der Schule gelernt hatte, prägte es sich ihm aufs Neue und besser in sein Gedächtnis ein. Frau Zvara holte eine Bibel von ihrem Vater her, daraus lasen sie sich nun vor und wunderten sich über so manches.. Es waren schöne, aber auch ernste Geschichten darin.
Sie gingen gern zur Kirche, und obwohl sie gute zwei Stunden Weg dahin hatten, gingen sie im Sommer ziemlich häufig, und sie freuten sich, wenn. der Herr Pfarrex irgendeinen Text vorlas, den sie schon daheim in dem heiligen Buch gefunden hatten. Zwar verstanden sie von der Predigt ebenso wenig wie von dem Gelesenen, aber es verstand sicherlich keiner von den übrigen Zuhörern mehr davon, und es ging ja den Menschen auch so gut auf der Welt, und was nach dem Tod mit ihnen werden würde - das wusste Gott allein.
Sie waren unter dem Murtin anständige und rechtschaffene Leute, kein Mensch konnte ihnen etwas Böses nachsagen. Sie beteten ihre auswendig gelernten Gebete und sangen ihre Gesangbuchlieder. Drei-bis viermal im Jahr gingen sie zur . Beichte. An diesen Tagen fühlten sie sich stets sehr bedrückt, und sie waren froh, wenn sie diese christliche Pflicht wieder erfüllt hatten. Dabei dachten sie so wie ihre übrigen Nachbarn, etwas sehr Gutes, Gott Wohlgefälliges getan zu haben, wofür sie vielleicht einmal in den Himmel kommen würden
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Und was tat Pavel? Nun, er trug eben alle die Beschwerden, wie sie der Soldatenstand mit sich bringt. Oft kam er sich vor wie ein Gefangener; oft beneidete er die Reitpferde, wie wurden sie gepflegt! Und während die Offiziere die hübschen Tiere streichelten und ihnen schöne Namen gaben, waren den Soldaten gegenüber die gemeinsten Schimpfworte nicht zu schlecht, sie mochten schuldig sein oder nicht. - Der in der freien Bergeinsamkeit aufgewachsene junge Mann litt unter dem gemeinsamen Wohnen in den Kasernen, unter der harten, strengen Zucht, unter der fremden Sprache, die er lernen musste, unter der oft rohen, aller menschlichen Würde widersprechenden Behandlung, wie sie ihm zuteil wurde - vor allem aber darunter, dass sie ihn aus seinem Heimatböden gerissen und hierher verpflanzt hatten, wo er nie Wurzeln schlagen konnte. Ja, er litt sehr, mehr als er sagen, mehr als er ermessen konnte, er litt an Seele und Leib, Gemüt und Geist.
Er hörte hier Worte und Redensarten, über die er am Anfang errötete. Manchmal überstiegen die Pflichten seine Kräfte und dann wieder hatte er sehr viel Zeit zum Mflßiggang. Die ungewohnte, hauptsächlich aus Fleisch bestehende Nahrung bekam ihm nicht, und in seinen müßigen Stunden kamen ihm Gedanken in diesen dumpfen Zellen, wo im Sommer die Hitze drückte, Gedanken und Vorstellungen, von denen er unter dem Murtin bei seiner freien, harten Arbeit keine Ahnung gehabt hatte.
Später dachte er, dass er sich eingewöhnt, dass er sich abgefunden habe, und er wusste nicht, dass er sich gewöhnte, weil er - starb. Sein ganzes urwüchsiges, unverdorbenes Wesen starb und es wurde ein ganz gewöhnlicher, roher Soldat aus ihm
Und doch war etwas in ihm, was sich gegen jenes Ersterben sträubte, und dieses Etwas trieb ihn zu lernen, so viel er nur konnte, hatte er es doch Andrej versprochen. Jahr für Jahr verging, und er hatte immer nur den einen heißen Wunsch, zurück, zurück zu Andrej. Es schien ihm mitunter, als würde er dann wieder jener Pavel sein, der er war, ehe er die Heimat verließ, als würde er mit dem Soldatenrock auch jenes fremde Wesen ablegen, das von ihm Besitz ergriffen hatte.
Sie hatten ihn zur Militärkapelle gegeben; es zeigte sich, dass er von Gott große Gaben erhalten hatte. Er lernte leicht, so dass manche ihn beneideten seine Lehrer lobten ihn. Dabei rückte er auf, bis er alle Dienstgrade erlangt hatte, die ein Soldat erreichen kann.

Im zweiten Jahr war er eine Zeit lang an der Grenze, dann in Bosnien, und im dritten Jahr hielt er sich in der Großstadt auf, wo er die Möglichkeit hatte, mit den anderen alle öffentlichen, dem Militär zugänglichen Lokale zu besuchen.
Er erfuhr, dass er sich für wenig Geld Bücher leihen könne, Zeit hatte er genug, auch an Mitteln fehlte es ihm nicht, so lieh er sich und las. Die Welt begann sich vor ihm aufzutun und sich ihm in einem neuen Licht zu zeigen. Und weil er nun wusste, wie man mit den Rekruten und Reservisten aus dem Bauernstand umging und wie man am allerwenigsten einen slowakischen achtete, kam er zu der Überzeugung, dass es gut sein würde, Rock und Lebensweise zu ändern. „Auch ich will ein Herr sein", sagte er sich, und „Andrej soll auch einer werden, warum sollten wir uns vor jemandem bücken? Wir werden uns unsere Wirtschaft in der Weise vergrößern, wie ich es an anderen Orten gesehen habe. Wir werden uns Bücher und Zeitschriften halten, ja, wir werden Herren sein wie alle anderen, es soll nicht jeder mit uns umspringen dürfen wie mit gewöhnlichen Bauern."
Und Pavel begann auf einen Herrenanzug zu spa- ren, was ihm umso leichter fiel, als er in den Dienst eines hohen Offiziers getreten war, bei dem er einige Monate über die vorgeschriebene Dienstzeit blieb.
„Wenn ich erst Herrenkleider habe, dann muss ich es lernen, so zu gehen und so zu sprechen wie ein Herr", grübelte er weiter und bemühte sich, seinen Offizier nachzuahmen Sie waren etwa gleich groß, gleich schlank; in kurzer Zeit hatte Pavel gelernt, sich zu verneigen, sich zu setzen, sich die Zigarre anzuzünden, mit denselben Worten zu sprechen wie sein Herr, und sehr mit sich selbst zufrieden, sah er seiner Heimkehr unter dem Murtin entgegen.
„Wie sie alle auf mich sehen werden", dachte er voll Stolz. „Ich will nicht, dass mich je wieder einer ‚PaIo Murtinov' nenne!"
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