Steven Hugh, Manuel Botschafter der Totonacs

05/13/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Das Elternhaus

Zuerst sah sie den geflochtenen Korb voll Süßbrot und den Krug mit dem Branntwein, die nebeneinander in der• Ecke standen - und dem Mädchen erstarrte beinahe das Blut in den Adern.
Totonac-Mädchen heiraten früh, im Alter von elf bis fünfzehn Jahren. Ihre Rolle als „willenlose Kinder" ist ihnen bekannt, und sie akzeptieren sie. Naht die Zeit ihrer Verheiratung, dann wissen sie, daß die Eltern den Ehemann wählen werden. Das Einverständnis zur Hochzeit wird mit dem gegenseitigen Austausch von Branntwein und Süßbrot besiegelt..
Die zwölfjährige Luz rieb sich mit den Handballen den Schlaf aus den Augen; dann rollte sie ihre Schlafmatte aus Maisstroh zusammen und legte sie in eine Ecke des Dachbodens. Danach setzte sie vorsichtig einen ihrer kleinen nackten Füße auf die oberste Leitersprosse und stieg hinunter auf den Fußboden der Lehmhütte.


„Kleine Mutter, wer ist in der Nacht gekommen und hat das Süßbrot gebracht?" fragte sie ängstlich.
Die Mutter kauerte neben dein kleinen Feuer, das in der Mitte des Raumes brannte. Geschickt formte sie die pfannkuchenartigen Tortillas und legte sie auf ein Blech, das auf drei rußgeschwärzten Steinen ruhte. Langsam kroch der Rauch unter das dicke Strohdach, wo er wie Nebel hängenblieb.
„Ach so, meine faule Tochter ist es, die so fragt", brummte sie. „Du schläfst immer über die Zeit des Hahnenschreis hinaus. Aber bald wirst du aufstehen, bevor der Hahn kräht.":
„Was willst du damit sagen, kleine Mutter?" fragte Luz beklommen. „Das Süßbrot und der Branntwein - bedeutet es, daß ich heiraten soll
Die Mutter wischte sich mit dem Handrücken die Nase, dann antwortete sie: „Ja, meine kleine Luz. Dein Onkel ist vergangene Nacht gekommen und hat uns erzählt, daß Mariano dich zur Frau wünscht."
Luz zuckte zusammen, als sie den Namen ‚Marian& hörte. Mit sechs Monaten verwaist, war er von Luz' gütigem, aber allzu weichherzigem Onkel aufgezogen worden und in fünfzehn Jahren zu einem verwöhnten, selbstsüchtigen, unerzogenen Jungen herangewachsen.
„Aber, kleine Mutter", wandte Luz ein, „ich bin doch erst zwölf Jahre alt. Ich mag Mariano nicht. Ich habe für ihn kein Gefühl in mir. Alle meine Gefühle gehören
Alejandro, ihn möchte ich heiraten." -
Luz kannte das strenge Totonac-Gesetz, das Mädchen und Jungen im heiratsfähigen Alter verbot, mehr als nur einen Gruß zu wechseln. Doch irgendwie hatte sie alle Stammes- und Familiengsetze vergessen, als Alejandro am Wasserloch auf sie gewartet und sie um einen Schluck Wasser aus ihrem Krug gebeten hatte. Als er ihr dann wilde Orchideen aus dem Wald gebracht und beim Sammeln von Feuerholz geholfen hatte, waren sie ihr vollends aus dem Gedächtnis entschwunden; ja sie hatte sich sogar schon ausgemalt, welch guter Ehemann er sein würde!
„Daß du für Mariano keine Gefühle in dir hast, ist nicht wichtig", brummte die Mutter ärgerlich. „Dein
Vater und ich sehen Mariano gern. Wir mögen Alejandro nicht. Nach Allerheiligen wirst du heiraten."
Luz' inständigen Bitten, Alejandro als ihren Ehemann zu wählen, erging es wie Wassertröpfchen auf heißen Steinen: sie vergingen wie Dampf. Ein kräftiger Schlag auf ihren feingeformten Mund ließ Luz völlig verstummen.
„Es ist eine Sünde, vor der Hochzeit mit einem Jungen zu sprechen. Erwähne davon kein Wort vor deinem Vater, sonst wirst du auf deinem Rücken das Gewicht seiner Tumpline* spüren. Geh jetzt an den Fluß und wasche das Korn; und nimm deinen kleinen Bruder mit, damit ich erfahre, ob du mit Alejandro ges&watt hast!'
Luz hob eines der von Hand behauenen Bretter hoch, die als Tür dienten, schob es beiseite und schlüpfte durch die Offnung in die kalte, vordämmrige Dunkelheit hinaus. Zwar war ihr Körper noch immer der eines Kindes, doch die Natürlichkeit und Schönheit ihrer Haltung ließen einen ungewöhnlichen Charakter vermuten. Graziös hob sie einen mit goldgelben Maiskörnern gefüllten Korb auf ihren kleinen Kopf und schlug den Weg zum Fluß ein. Der Pfad, den sie wählte, war zwar der längste, aber auch der malerischste. Man traf dort kaum einen Menschen. Von zwölfjährigen Totonac-Mädchen erwartet man, daß sie nicht weinen; es sollte daher niemand die Tränen sehen, die auf ihren Wangen glitzerten. -
Luz liebte diesen Pfad zum Fluß.' Kaum hatte man den Dschungel betreten, waren die Laute von bellenden
* Tumpline = Stirnband
Hunden, schreienden Kindern und maisstampfenden Frauen wie ausgelöscht. Hier vermischten sich die Stimmen der Nachtigallen, Kanarienvögel und Drosseln mit dem Gezwitscher buntgefiederter Papagaien und Aras und einem ganzen Orchester tropischer Vögel.
Für einen Moment vergaß Luz ihren Schmerz und verweilte, um den starken Duft der Vanille-Orchideen einzuatmen. Als sie dann den Pfad entlang ging, schien es ihr, als ob eine mächtige Hand jeden einzelnen Baumriesen in vollkommener Anordnung den Weg entlang gepflanzt habe und dann - gewissermaßen als nachträglichen Einfall - die Aste mit langen, herabhängenden Ranken bedeckt, von denen jede zusätzlich mit riesigen orangefarbenen, blauen und roten Trompetenblumen übersät war. Ober dem Träumen bemerkte sie kaum das Zerren an ihrem langen Rock.
„Unsere Mutter wird zornig sein", drängte der kleine Bruder ungeduldig. „Sie wird denken, du redest wieder mit Alejandro. Wir müssen uns beeilen. Es sind nur noch sieben Tage bis Allerheiligen. Bis dahin bleibt noch viel, zu tun.
Der Bürgermeister holte von einem staubigen Regal das dicke, braune Buch herunter und legte es auf einen mit Tintenklecksen, Kerzentropfen und Wasserringen von Limonadenflaschen übersäten rohen, hölzernen Tisch.
„Es ist recht, daß ihr dem Gesetz der Republik gehorcht und zuerst zur Ziviltrauung kommt", hob der Bürgermeister feierlich an, während er sein Stoppelkinn rieb. Er genoß es sichtlich, den Eltern von Luz, die vor dem Pult standen, seine Autorität vorführen zu können.
Ein wichtiger Platz, dieses Gemeindehaus mit seinem Lehmfußboden! Im Dorf mit den mehr als zweitausend Einwohnern war es das einzige Gebäude, in dem Papier, Tinte und eine Schreibmaschine zu finden waren. Es störte niemand, daß die Maschine kein Farbband hatte und überdies so alt war, daß sie als Museumsstück dienen konnte. Sie gehörte dem Dorf, und alle Bewohner waren stolz darauf.
Luz stand neben Mariano auf der einen Seite des Pultes. Den Kopf hielt sie gesenkt, die tiefschwarzen Augen starrten ratlos zu Boden; noch immer konnte sie nicht fassen, was ihr geschah.
Sie sah rührend aus und war - für andere Maßstäbe - überbekleidet. Ein langes, weißes Kleid reichte bis zu den Knöcheln. Die weiße Stickereibluse wurde von einer kastanienbraunen Schärpe zusammengehalten, die für ihre schmale Taille viel zu weit war. Um den schlanken Hals trug sie sechs Reihen gelber, roter, blauer und orangefarbener Glasperlen. Das schwarze Haar war in der Mitte des Kopfes gescheitelt und straff nach hinten gezogen, wo es in zwei dicken Zöpfen über ihren Rücken hing. Zusammengehalten wurden sie von dem zweifarbigen orange-gelben Band, das durch jeden der Zöpfe geflochten war. An ihren kleinen Ohren hingen trop-fenförmige, von Hand gearbeitete Silberohrringe. Ober diese ganze Pracht war ein weißer, bis zu den Knien reichender Spitzenschal gebreitet.
Marianos Bluse, Hemd und Hose waren vollkommen weiß, ebenso das Tuch, das er um seinen dicken, bron-zefarbenen Hals trug. Seine schwarze Haartracht, die knapp über den Augenbrauen begann und mit Fett in Form gebracht worden war, versuchte bereits wieder, sich ihre normale, stadhelschweinartige Erscheinung zu erkämpfen.
Nach kräftigem Räuspern fing der Bürgermeister an, Marianos zukünftige Pflichten aufzuzählen: ein eigenes Maisfeld bestellen und Geld und Obdach für die junge Frau beschaffen. Die lange Liste der Aufgaben schloß er mit der Frage an den Bräutigam, ob er Luz liebe, worauf Mariano scheu nickte. Sich an Luz wendend, verlas der Bürgermeister eine Reihe weiblicher Pflichten, die solch wichtige Punkte einschloß wie: Feuerholz sammeln, früh aufstehen, um das Maisbrot zuzubereiten und die Tortillas * nicht zu verbrennen. Als er zu der Routinefrage kam: „Liebst du Mariano?" hob Luz ihren Kopf und schaute den Bürgermeister an.
Es folgte eine lange Stille - und dann, bevor Maria-no und die Eltern wußten, was geschah, schrie Luz ein trotziges »Nein". Sie rannte aus dem Gemeindehaus den Hügel hinauf zu ihrer Hütte, um dort auf das Unabwendbare zu warten.
Schneller als sie gedacht hatte, polterte ihr Vater durch die Tür und riß die gewobene Tumpline von der Wand. Wortlos tauchte er sie in den Wasserkrug und wartete, bis die Fasern dick und schwer wurden.
Luz duckte sich in eine Ecke. Sie sagte kein Wort, nur ihre Augen flehten um Erbarmen. Beim ersten Schlag wußte sie, daß sich ihr Vater nicht mehr unter Kontrolle hatte. Schlag um Schlag sauste auf ihren schlanken Körper, und es hörte erst auf, als er außer Atem geriet. Dann war die Reihe an der Mutter, das unbarmherzige Werk fortzusetzen. Erst als auch sie ermüdete,
Tortillas = Maisbro
war die Bestrafung zu Ende. Beim Hinausgehen rief der Vater. zurück: „Wenn dich der Bürgermeister das nächste Mal fragt, ob du Mariano liebst, wirst du Ja sagen!"
Drei Tage später - Luz war kaum fähig, aufrecht zu stehen - nickte sie auf die ernste Frage des Bürgermeisters. Darauf wurden die Namen von Mariano und Luz Vasques Arenas in großer Schrift ins Zivilstandsregister des Dorfes eingetragen. Noch aber fehlte eine abschließende Zeremonie, bevor die Ehe als legal erklärt werden konnte: die feierliche Bestätigung durch den Priester.
„Liebst du Mariano?" fragte auch der Priester.
Sie hob den Kopf, um zu antworten. Die Bewegung allein genügte, ihr Schmerzen zu bereiten; und sie wußte, daß ein Leben mit Mariano dauernden Schmerz bedeuten würde. In einem letzten Versuch, ihre Eltern davon., zu überzeugen, daß sie diesen Mann nicht wollte, sagte Luz: „Nein, ich habe in mir kein Gefühl für Mariano. Ich liebe ihn nicht!" Und zum zweitenmal innerhalb von drei .Tagen rannte sie weg aus der Gegenwart einer Autorität, die nicht in Frage gestellt werden durfte.
„Mein Onkel war es, der mich rettete", erzählte sie in späteren Jahren. »Mein Vater war wütend wie ein Bulle; er schlug mich so lange, bis ich die Schläge nicht mehr spürte."
»Wenn du schon etwas schlagen mußt, dann schlag mich", tönte die Stimme des kleinen, aber stämmigen Mannes, der bewegungslos im Hütteneingang stand. Ihr Onkel war der Dorfälteste. Zwar hatte man einen Bürgermeister, der gewählt wurde, doch es war dieser unauffällige,. derbe, kleine, barfüßige Mann, der die endgültigen Entscheidungen traf.
„Ist es nicht unklug, Luz jetzt zur Heirat zu zwingen?” fragte er ruhig „Mit fünfzehn wird sie eine Frau sein wollen, und Mariano wird mit achtzehn ein besserer Ehegatte sein. Damit eure Ehe gerettet bleibt, und ihr - durch die Rückgabe der Geschenke - nicht Schande über euch bringt, sollen sie heiraten Doch behaftet Luz so lange in eurem Haus, bis sie fünfzehn Jahre alt ist.«
Es war eine ungewöhnliche. Bitte; doch sie schien den Eltern vernünftig zu sein. Sie erklärten sich damit einverstanden. An ihrem fünfzehnten Geburtstag war Luz noch immer unglücklich; da sie aber nicht fähig war, gegen den Druck der Tradition anzukämpfen, beugte sie sich.
In schneller Folge gebar Luz eine Tochter und zwei Söhne. Bei jeder Geburt assistierten Totonac-Hebammen mit ihren ungewaschenen Händen. Als die vierte Niederkunft bevorstand, war es dunkel und kalt. Es regnete. Im Innern der Hütte brannte auf dem Lehmboden ein kleines Feuer, das bei jedem Windstoß aufflackerte, der sich zwischen den Pfählen der Außenwand durchzwängte. Mariano schlief auf einer dünnen Strohmatte, die auf einer hölzernen Plattform lag. Die drei Kinder schliefen ebenfalls auf Strohmatten, doch in der Nähe des Feuers. Sie kuschelten sich eng zusammen. Neben dem Eingang hockten .drei ältere Frauen auf ihren rissigen, lederharten Fersen. Flüsternd unterhielten sie sich über ihre Erfolge als Hebammen des Dorfes.
Luz kauerte ebenfalls auf ihren Fersen, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Trotz der Außentemperatur, die um den Gefrierpunkt lag, perlten auf ihrer bronzefar-
benen Stirn große Sdiweißtropfen. Ihre kleinen Hände klammerten sich um ein Seil, das von dem Balken herunterhing, der das Strohdach stützte. Bei jedem Schmerz gab sie mit ihrem Becken den üblichen Stoß; und dann - aus einer tiefen Finsternis heraus, die einen schwarzen Schleier über ihre Augen breitete, und unter Schmerzen, die an jeder Faser ihres schmächtigen Körpers zerrten - gebar sie einen Sohn.
Jetzt kam Bewegung in die alten Frauen. Eine schnitt zwei lange Quasten von ihrem Schal und schnürte damit gewandt die Nabelschnur ab.
Eine andere hielt eine alte Machete * über das Feuer, bis die Klinge schwarz war, und trennte mit einem fachmännischen Schnitt das Kind von der Mutter.
Beim ersten Wimmern stützte Mariano sich etwas auf und fragte schlaftrunken, was es sei.
„Ein Sohn, der deine Maisfelder bearbeiten wird", gab die eine der Hebammen zur Antwort.
„0, ein Sohn! Die Götter sind gut! Er soll Leopoldo heißen." Damit zog er die dünne Wolldecke über seine Schultern und legte sich wieder schlafen.
Luz, erschöpft, aber glücklich, nahm das/Kind, und während sie sein zerknittertes Ohrchen liebkoste, flüsterte sie: „Für deinen Vater bist du Leopoldo, ich aber werde dich Manuel nennen."
*Maete = Buschmesser

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