Schmidt-Eller Berta, Ab heute hab ich Zeit

06/06/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Der Regen klopfte an die Scheiben, trommelte auf das Blech der Fensterbretter. Nanette lauschte mit geschlossenen Augen und dachte: Wie schön, daß ich bei diesem Wetter nicht aus dem Haus gehen muß. Die Osterferien waren zu Ende, Nanette aber hatte für den ganzen Rest ihres Lebens Ferien. Sie wachte zwar aus jahrelanger Gewohnheit noch immer um halb sieben auf, und auch heute gelang es ihr nicht, wieder einzuschlafen, aber... Der Rektor hatte recht gehabt, als er bei der Abschiedsfeier sagte, sie sei noch so quicklebendig und frisch, daß sie als Endfünfzigerin durchginge. Er hatte sie überreden wollen, nach ihrer Pensionierung wenigstens noch ein paar Unterrichtsstunden zu geben. 

Doch sie hatte abgelehnt. „Wenn man mir meine sechsundsechzig Jahre auch nicht ansieht, in den Akten stehen sie doch und sind nicht wegzuleugnen. Ich werde die noch vorhandene Frische dazu benutzen, mir ein wenig die Welt anzusehen. Leider habe ich dazu bisher viel zu wenig Gelegenheit gehabt." Nanette Bruckbeuer hörte den Regen klopfen und trommeln und vernahm zugleich all die warmen Worte, die zu ihrer Abschiedsfeier gesprochen worden waren - morgens von den Schulkindern in Gedichten und Liedern, hier und da auch ein persönliches Wort einer Schülerin der Oberstufe, und am Abend die Reden der Kolleginnen, vom Schulrat und dem Rektor.


Da der Schlaf nicht noch einmal kommen wollte, schlug Nanette die Augen auf, erhob sich und zog die Vorhänge zurück. Unten auf der Straße lief Fräulein Meißner vorbei, die Turnlehrerin.
„Sie ist wieder einmal spät dran und rennt wie Nurnii", murmelte Nanette vor sich hin. Nurmi war der einzige Sportler und Olympiasieger, der bleibend in ihr Gedächtnis eingegangen war. Sie sah der Dahineilenden mit einem teils belustigten, teils wehmütigen Lächeln nach. Ihr wurde mit einem Male bewußt, daß sie nun nicht mehr dazugehörte. Sie hatte sich danach gesehnt, die Arbeit niederlegen zu können, hatte sich darauf gefreut, pensioniert zu werden. Jetzt, da es soweit war, freute es sie gar nicht so sehr, wie sie erwartet hatte, obwohl ihr das letzte Dienstjahr ein wenig schwergefallen war.
Vor fünfundvierzig Jahren, als sie anfing zu unterrichten, waren andere Zeiten. Damals herrschte in der Schule strenge Disziplin, von antiautoritärer Erziehung keine Spur. Obwohl Nanette Strenge und absolute Autorität nicht lagen, hatte sie sich in den letzten Jahren manch mal nach jener Disziplin zurückgesehnt, die sie selber allerdings nie ganz beherrscht hatte, die aber die Arbeit in einer Schulklasse wesentlich erleichterte.
Woran einen doch eine vorübereilende frühere Kollegin zu erinnern vermochte!
Über sich selber den Kopf schüttelnd, ging Nanette hinüber ins Bad. Sie drehte die beiden blitzenden Wasserhähne auf, den kalten bis zum Anschlag, den warmen nur zweimal herum. Seit Dr. Eigen ihr vor zwei Jahren geraten hatte, nicht mehr kalt zu duschen, war sie zu dem Kompromiß mit dem warmen Wasserhahn gekommen. Nanette hatte; als der Arzt die kranke Mutter besuchte, ganz nebenbei erwähnt, sie habe ab und zu Schmerzen in der Schulter. Nach einer kurzen Untersuchung, gegen die sie sich zunächst ärgerlich gewehrt hatte, auf der aber die Mutter bestand, hatte der Arzt gesagt: „Ihr Herz ist fabelhaft intakt, Fräulein Bruckbeuer. Aber irgendwo packt es doch jeden mit zunehmendem Alter. Auch Sie sind nicht grundsätzlich gegen jede Krankheit gefeit."
Nanette hatte erwidert, er wolle die Schmerzen in ihrer Schulter doch nicht etwa eine Krankheit nennen. „Rheuma ist es, ein handfestes Rheuma, und Sie müssen etwas dagegen tun."

Nanette hielt Rheuma keineswegs für eine Krankheit. Nach einigem Hin- und Herreden, bei dem die tägliche kalte Dusche zur Sprache gekommen war, hatte er dringend davon abgeraten.
Als ob der immerhin noch recht kühle Regen aus der Brause alle Gedanken an die Vergangenheit abgespült hätte, kehrte Nanette in die Gegenwart zurück.
„Man muß das, was man sich vorgestellt hat, nur getreulich ausführen", sprach Nanette vor sich hin. Seit dem Tode ihres Vaters vor drei Monaten hatte sie sich angewöhnt, ab und zu Selbstgespräche zu führen.
„Bis gestern", murmelte sie weiter, „hatte ich regulär Ferien. Jetzt beginnt der Ernst des pensionierten Daseins. Jetzt heißt es ausführen, was ich mir vorgenommen habe: Reisen! Die Frage ist nur, wohin. Wie gut, daß ich genug Zeit habe, in Ruhe Pläne zu machen."
Gegen zehn Uhr betrat Nanette das Reisebüro. Ein junges, schüchternes Mädchen, an das sie sich wandte, meinte verlegen: „Wenn Sie sich bitte einen Augenblick gedulden wollen, gnädige Frau, ich habe hier erst gestern angefangen und weiß noch nicht Bescheid. Die Kollegin dort, die den Herrn abfertigt, wird gleich frei sein."
„Mein liebes Kind", Nanette hatte diese Form der Anrede noch zu sehr im Blut, als daß sie davon hätte abgehen können, „irgendwann fängt jeder Mensch irgendwo irgend etwas an und weiß
noch nicht Bescheid. Da bin ich gerade die richtige Kundin für Sie. Ich möchte verreisen und gern irgendeinen Prospekt haben, der über Kurorte Auskunft gibt. Da drüben in den Regalen hinter Ihnen liegen bunte Hefte .
„Vielen Dank", sagte das Mädchen lächelnd und reichte die gewünschten Prospekte herüber.
Nanette las halblaut: „Touropa, hm, diese Plakate sieht man überall. Ist das zu empfehlen?"
„Wenn Sie noch nicht viel gereist sind, fahren Sie am besten mit einer Reisegesellschaft. Hier ist ein Prospekt von Scharnow .
„Sind Sie schon einmal mit so einer Reisegesellschaft gereist? Heute fahren junge Leute ja schon wer weiß wohin. Darf man fragen, wohin Sie reisen, wenn Sie Ferien haben?"
„Ich fahre nicht mit der Bahn. Mein Vater hat einen Wagen."
„Ich verstehe. Soundso viel Kilometer am Tage, in drei Ferienwochen um die halbe Welt. Ich kenne das vom Hörensagen. Meine Schülerinnen mußten sich erst mal vier Wochen lang erholen, wenn die Ferien zu Ende waren. Nun, ich bin jetzt pensioniert und habe Zeit, mich nach einer anstrengenden Reise zu erholen. Lassen Sie sehen, was Sie sonst noch haben."
„In diesem Heft sind vorwiegend Schiffsreisen."

„Nein, mein liebes Kind, mag der Ausdruck ‚vorwiegend' auch in den Sprachgebrauch eingegangen sein, er ist nicht richtig, nicht sinngemäß. Es muß heißen ‚überwiegend', wenn man in Verbindung mit ‚wiegen' spricht, gibt es kein ‚vor' und ‚nach', sondern nur ‚Ober- und Untergewicht'. Das nur nebenbei. Lassen Sie sehen. Eine Schiffsreise könnte mich reizen."
„Oder wenn Sie fliegen möchten? Nehmen Sie' doch auch dieses Heft mit den besonderen Flugprogrammen mit."
„Sieh mal einer an, wie gut Sie das können! Ihre Kollegin hätte mich gar nicht besser bedienen können."
Nanette blätterte und las: „Schweiz - Zermatt - Matterhorn - Berner Alpen - Italien - Capri - ja, die Blaue Grotte möchte ich sehen. Aber so im Handumdrehen kann ich mich nicht entscheiden. Ich werde die Prospekte zu Hause. in Ruhe durchblättern."
Die ältere Kollegin war nun frei und wandte sich an Nanette: ‚;Haben Sie einen besonderen Wunsch, gnädige Frau?"
„Danke, Ihr kleines Fräulein hat mich gut bedient. Zwei - drei Prospekte - und diesen hier - Afrika, herrlich! Diese Hefte möchte ich mitnehmen. Was habe ich zu zahlen?"
„Das kostet nichts, gnädige Frau. Wenn Sie sich entschieden haben, dürfen wir Sie gewiß im einzelnen beraten."
„Danke sehr! Sie werden von mir hören. Auf Wiedersehn!"
Munter schritt Nanette ihrer Wohnung zu. Im Treppenhaus traf sie mit Frau Becker, ihrer Hauswirtin, zusammen.
„Wie geht's, Fräulein Bruckbeuer? Waren Sie einkaufen? Zum Spazierengehen ist das ja kein Wetter. Was treiben Sie nun so den ganzen Tag? Wenn Sie Langeweile haben, kommen Sie nur zu mir. Nachmittags sitze ich meist allein am Fernseher."
„Langeweile, Frau Becker, die lasse ich nicht aufkommen. Schönen Dank für die Einladung! Vielleicht komme ich mal darauf zurück."
„Fernseher", murmelte Nanette, als sie ihre Wohnung betrat, „das ist heutzutage das A und 0 jeglicher Unterhaltung. Jetzt werde ich erst mal in Ruhe die Prospekte studieren."
Sie setzte sich ans Fenster in den Sessel, der früher ihrer Mutter und zuletzt ihres Vaters Lieblingsplatz gewesen war, und breitete die bunten Hefte auf dem Nähtisch vor sich aus.
Taunus, Schwarzwald, Rhein und Mosel überschlug sie. Dorthin wollte sie reisen, wenn sie keine Kraft mehr haben würde, in ferne Länder zu fliegen oder mit dem Schiff zu fahren. Allgäu - Italien - weiter, viel weiter wollte sie.
„Teneriffa - ob Sie in einem Erste-Klasse-Hotel wohnen oder in einer gemütlichen Familienpension -" sagte der Prospekt. „. . in den Häusern läßt es sich behaglich leben, es herrscht eine familiäre Atmosphäre..."
Nanette suchte nach Angaben über die Gegend. Das war, was sie wissen wollte.
„Man promeniert unter Palmen und zwischen üppigen Blumenbeeten, über romantische Uferstraßen... durch blühende Gärten.. vorbei an Eukalyptusbäumen... terrassenförmigen Hängen..."
Die Umwelt, ihr Zimmer, versank. Nanette war weit weg, blätterte, schaute und las:
„Djerba - wo die Sonne am wärmsten scheint...'
„Mallorca - das Kleinod der Balearen. ..„
„Tunesien - Wunderwelt Afrikas. .
„Tanger - Fez - Meknes - Casablanca - Rabat—"
Welche Möglichkeiten! Aber auch welche Qual der Wahl!
Und wieder glitten ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit. Wieviel einfacher war es gewesen, wenn sie mit den Eltern reiste. Jedes Jahr hatten sie in Freudenstadt die gleichen Zimmer belegt. Die Koffer wurden aufgegeben, und man stieg acht Uhr zwanzig in den D-Zug. In den beiden letzten Jahren war sie mit ihrem Vater allein nach Freudenstadt gefahren. Auf allen Wegen hatte sie ihn begleiten müssen. Auf be sondere Ausflugsfahrten, die ihr etwas Abwechslung geboten hätten, mußte sie verzichten. Nicht, daß sie diesen Verzicht besonders empfunden hatte, aber jetzt, angesichts der Bilder naher und ferner Länder war sie schier überwältigt von dem Gedanken, frei wählen zu können, wohin sie reisen wollte. Am liebsten wäre sie einfach drauflosgefahren, aber sie war vernünftig genug, um einzusehen, daß es zu gewagt war, ohne Vorbereitung in: Länder zu reisen, die eine fremde Währung hatten, dazu andere Sitten und unbekannte Bräuche, Länder, in denen Sprachen gesprochen wurden, die sie nicht kannte. Darum war es wohl besser, sich einer Reisegesellschaft anzuvertrauen.
„Ja, ich will Palmen sehen und Zypressen, Agaven und die riesigen Kamelienbüsche, die hier abgebildet sind. Afrika. Nachts aufwachen vom Gebrüll der Löwen und dabei doch in Sicherheit sein."
Wer Nanettes Selbstgespräch belauscht hätte, wäre erstaunt und belustigt gewesen. Sie blätterte, und ihre Stimme wurde vor Begeisterung lauter: „Ha, ein Ausflug zum Kilimandscharo! Das ist nahe beim Äquator, wo Tag und Nacht ohne Dämmerung unmittelbar ineinander übergehen. Das weiß ich nur aus dem Erdkundetm-terricht; aber es zu sehen und zu erleben muß einzigartig sein."

Umschlaggestaltung: Franz Reins, Detmold
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ISBN 3-7675-0315-8