Schmidt-Eller Berta, O diese Gabriele

07/10/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Der Brief lag zusammengefaltet mitten auf dem Näh= tisch, ein kleines, weißes Viereck. Frau Frisius hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihn noch einmal zu lesen.

Die Hand griff jedoch nicht nach dem Brief, sondern nach dem Wäschestück, das auf der rechten Seite des Nähtisches lag. Sie nahm es auseinander und hielt es gegen das Fenster, um dann die fadenscheinige Stelle sorgfältig mit feinstem Garn in kleinen Stichen zu wiebeln.
Der Kanarienvogel im Käfig auf der breiten Fensterbank neben den Kakteen wetzte seinen Schnabel und begann einen Triller. Dann lugte er mit geneigtem Köpfchen zu der alten Dame hin. Er wünschte, angesprochen zu werden.


Frau Frisius mußte mit ihren Gedanken weit weg sein, daß sie auf dieses Signal des Vögelchens nicht achtete. Hansi wetzte energischer und setzte wieder mit seinem zarten Triller an. Als die Frau auch jetzt den Kopf nicht hob, gab er es auf und hüpfte an seinen Futternapf.
Ehe Frau Frisius das Küchentuch zusammenlegte, prüfte sie noch einmal mit kritischem Blick, ob es auch keine dünne Stelle mehr habe. Dann faltete sie es und legte es auf den Wäschepacken links auf dem Nähtisch, wo seit eh und je die fertige Arbeit zu liegen hatte.
Ihr Blick streifte den Brief, aber auch jetzt griff sie nicht danach, um ihn ein zweites Mal zu lesen. Sie pflückte ein paar Flusen und die Reste der Stopffäden vom Kleid und tat sie in die blaue Schale, die nur zu dem Zweck auf dem Nähtisch stand, Nähfäden und Garnreste aufzunehmen, damit nur ja keines den dunkelroten Teppich verunziere.
Lag es an dem Brief, daß Frau Frisius jetzt daran denken mußte, wie Annemarie einmal diese blaue Schale mit leuchtenden, gelben Himmelsschlüsselchen gefüllt hatte? Nur einmal war das geschehen. Hübsch hatte es ausgesehen, das war nicht zu bestreiten gewesen. Aber sie hatte ihrer Tochter - acht Jahre mochte Annemarie damals alt gewesen sein - eindringlich klar gemacht, daß diese Schale nicht für Blumen bestimmt sei. Es mußte ja schließlich Ordnung herrschen, wo kam man sonst hin! Außerdem gab es genug Vasen im Haus.
Frau Frisius schob diese Erinnerung gewaltsam beiseite.
Der Twist wurde aufgerollt, die Stopfnadel kam in die zierliche, geschnitzte Nadelbüchse, an deren oberem Knopf eine kleine Glaskugel eingelassen war, nicht größer als ein bunter Stecknadelkopf aus Glas. Wenn man in diese Kugel schaute, sah man den Eiffelturm.
Wie viele Male hatte Annemarie, ein Auge zukneifend, andächtig und wie verzaubert in diese kleine Kugel geschaut.
Annemarie.
Der Brief mußte vom Nähtisch verschwinden, Solange dieser Brief dort lag, gingen die Gedanken, wo= hin sie wollten, und ließen sich nicht zwingen.
Frau Frisius nahm ihn nun doch zur Hand, aber nicht, um ihn noch einmal zu lesen. Sie ging zum Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm ein Kästchen heraus. Es war ein Karton, in dem ehemals
Briefpapier mit passenden Umschlägen gewesen war. Obenauf prangten drei Rosen, die mit den Jahren allerdings an Glanz und Frische eingebüßt hatten.
Jetzt lagen Briefe in dem Karton.
Es störte Frau Frisius jedesmal, wenn sie den Kasten öffnete, um wieder einen Brief hineinzulegen, daß die Briefbogen nicht immer das passende Format hatten. Dieser letzte, den sie in der Hand hatte, paßte zufällig genau hinein. Das gab also wenigstens einen glatten Abschluß. In Zukunft würden diese Briefe nicht mehr kommen.
Die alte Dame schob den Deckel über die Briefe und blickte eine Weile auf die verblichenen Rosen.
Keinen dieser Briefe hatte sie zweimal gelesen. Sechs Jahre lang waren sie mit regelmäßiger Pünktlichkeit gekommen, Weihnachten und zu ihrem Geburtstag.
Einmal war einer außer der Reihe da.
Darin stand, daß Annemarie ein kleines Mädel bekommen hatte.
„Liebe Mutter, willst Du nicht kommen und es Dir ansehen?" Sie hatte es sich nicht angesehen. Auch die sen Brief hatte sie nicht beantwortet, so wie sie keinen von Annemaries Briefen seit deren Hochzeit beantwortet hatte.
Nun kam sie also mit ihrem Mann und dem Kind zurück in die Heimatstadt. Briefe würden nun wohl kaum noch geschrieben werden. Dafür musste man damit rechnen, daß man sich eines Tages begegnete, irgendwo, in der Stadt, wenn man Einkäufe machte, bei den Geschwistern, in der Straßenbahn...