Schulte Anton, Nur ein kleiner Dicker Lehr- und Wanderjahre eines Evangelisten

05/12/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

„Sind Sie derselbe Anton Schulte, den ich in einem amerikanischen Holzfällerlager kennengelernt habe?”
Statt einer Einführung
Der Sommer 1964 war noch das, was man damals unter einem Sommer verstand. In Württemberg jedenfalls waren die Julitage heiß. Auf den Fudern, südwestlich von Stuttgart, hatten wir zwei Missionszelte so zusammengebaut, daß eine Halle entstand, die etwa 2000 Menschen Platz bot. 

Die evangelische Kirchengemeinde in Ruit, die Landeskirchliche Gemeinschaft und benachbarte freikirchliche Gemeinden hatten mich zu dieser Evangelisation eingeladen. Ich war damals 39, und ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als so vielen Menschen wie nur irgend möglich zu sagen, wo die eigentliche Wurzel ihrer Lebensprobleme lag, und ihnen Mut zu machen, es auch mit diesem Jesus zu wagen.
Und an den Abenden kamen sie: mit Bussen und Privatautos, aus der ganzen Umgebung. Am Ende der 14 Tage füllten sie das Zelt bis auf den letzten Platz. Und manch einer war darunter, der schon jahrelang keine Kirche von innen gesehen hatte, der sich aber von seinem Nachbarn hatte einladen und mitnehmen lassen. Die Zahl der Menschen, die sich in diesen Tagen entschlossen, ihr Leben Jesus Christus anzuvertrauen, wuchs ständig. Und im gleichen Ausmaß stieg die Bereitschaft der Christen, sich mit dieser Zeitmission zu identifizieren. „Das ist unser Zelt und unsere Arbeit", sagten sie.
Die Tage waren angefüllt mit seelsorgerlichen Gesprächen, mit der Aufnahme von Rundfunkansprachen für unsere wöchentliche Rundfunksendung über Radio Luxemburg, und dazu kamen jene Spannungen und Kämpfe, aus denen ein Evangelist während eines solchen Einsatzes praktisch nie entlassen wird: Welche Themen sollte ich für die Abendansprachen wählen, wie ausführlich sie behandeln, welche Beispiele verwenden? Welches war in dieser Situation die geeignetste und wirksamste Weise, den Menschen die Gelegenheit zu einem seelsorgerlichen Gespräch anzubieten, um ihre Entscheidung für Christus festzumachen?
Zum Abschluß der Evangelisation - inzwischen hatten bei uns die Schulferien begonnen - kam auch meine Frau mit unseren beiden Söhnen Peter und Wilfried nach Ruit. Sie waren damals 11 und 9 Jahre alt, und wir haben immer jede Gelegenheit wahrgenommen, um als Familie zusammenzusein. Eines der großen Probleme im Leben eines Evangelisten ist ja die häufige Trennung von der Familie. Briefe und Telefongespräche können das einfach nicht wettmachen. Also hatte ich im Hospiz zwei Doppelzimmer reserviert, auf das eine Blumen, auf das andere eine große Schale mit Obst gestellt, und als Hermine dann endlieh ankam, konnten die beiden Buben kaum verstehen, daß ich nicht alle drei gleichzeitig in die Arme nehmen konnte.

Außerdem brachte mir meine Frau einen Brief mit. Ein Mann aus der Nähe von Ansbach fragte darin:
„Sind Sie derselbe Anton Schulte, den ich während der Kriegsgefangenschaft in einem amerikanischen Holzfällerlager kennengelernt habe?" Und dann fuhr er fort: „Ich kenne einen Anton Schulte, der spricht an jedem Mittwochmorgen in einer evangelistischen Sendung über Radio Luxemburg. Ich höre seine Sendungen jetzt schon viele Jahre. Aber ich habe gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in amerikanischer Kriegsgefangenschaft auch einen Anton Schulte kennengelernt: in dem Holzfällerlager Red Bridge in der Nähe von Cane in Pennsylvanien. Bisher bin ich nie auf die Idee gekommen, diese beiden miteinander in Verbindung zu bringen. Aber jetzt habe ich Ihr Foto gesehen, und nun muß ich Sie doch fragen: ‚Sind Sie derselbe Anton Schulte oder nicht?'
Ich schrieb zurück: „Ich bin derselbe Anton Schulte, aber in meinem Leben hat sich vieles geändert. In einem Brief kann ich Dir das nicht erklären. Auf der Rückfahrt von der Zeitmission, die ich gerade durchführe, besuche ich Dich und erzähle Dir alles."
Am Montagmorgen, als das Zelt bereits abgebaut wurde, packte ich dann meine Familie ins Auto, und wir fuhren quer durch Schwaben in Richtung Nürnberg. Dies sollte ein freier Tag sein, an dem wir miteinander Schönes sehen und uns freuen wollten. Wir kamen an den Nordausläufern der Schwäbischen Alb mit ihren Kreidefelsen vorüber, passierten schmucke Dörfer mit ihren rotbedachten Häusern.
Dann kamen wir nach Franken. Jeder Ort, der etwas auf sich hält, weist hier einen historischen Marktbrunnen auf, der den idyllischen, von Fachwerkhäusern umgebenen Marktplatz ziert. Phantastisch Freilichttheater könnte man hier spielen, oder vor dieser Kulisse eine evangelistische Freiveranstaltung durchführen. Aber richtig, heute wollte ich mich ja ganz meiner Familie widmen.
Ich hatte meinen Überlegungen mit Mühe Einhalt geboten, da begann meine Frau zu fragen: Ob den Menschen hier das Evangeli-
8 um auch klar verkündigt worden sei, und wie es in den schmucken Städtchen und malerischen Dörfern wohl mit dem geistlichen Leben stünde.
So ist das nun mal bei Evangelisten. Auch an freien Tagen begleiten einen die Fragen, die mit Beruf und Berufüng entscheidend verknüpft sind. Auch hier ergeht es Evangelisten nicht besser als anderen Leuten. Wenn man alte Kirchen besichtigt, die darin aufgestellten Kunstwerke bewundert, dann fragt man unwillkürlich, was von dem Glauben, der die Vorfahren Dome und Kunstwerke schaffen ließ, denn bis in unsere Zeit übriggeblieben ist. Gibt es hier entschiedene Christen? Leben sie so, daß ihre Nachbarn sie nach dem Grund ihres Glaubens fragen? Wird das Evangelium so gepredigt, daß jeder eine Chance erhält, sein Leben Christus anzuvertrauen?
Schließlich erreichten wir die mittelfränkische Stadt Ansbach. Auf dem Stadttor hatte, hoch oben auf einem Wagenrad, ein Storch sein Nest. Wir fuhren hindurch und erfragten den Weg zu dem Dorf, in dem mein Kriegskamerad zusammen mit seiner Frau einen Aussiedlerhof bewirtschaftete.
Das gab ein freudiges Wiedersehen! Wir waren zwar ein paar Jahre älter geworden, aber er war im Grunde derselbe geblieben, als den ich ihn kannte. Wie vieles hatte sich dagegen bei mir verändert!
Georg Aumüller war von Jugend an ein überzeugter Christ gewesen. Auch hier gehörte er der Landeskirchlichen Gemeinschaft an. Ich hatte gedacht, wir würden uns an diesem Abend im kleinen Kreis unterhalten, aber schon kurz nach unserer Ankunft eröffnete er mir: „Weißt du, als ich im Dorf erzählte, daß du kommen würdest, mußte ich für 20.00 Uhr eine Versammlung ansetzen. Hier kennen dich viele Menschen durch deine Rundfunkvorträge. Eine Frau, die früher nichts vom Glauben wissen wollte und nie in der Kirche zu sehen war, besuchte eines Tages unsere Bibelstunde. Als sich das mehrmals wiederholte, fragten wir sie vorsichtig nach dem Grund. Da erzählte sie, daß sie deine Sendungen gehört, deinen Bibelfernkurs bestellt und durchgearbeitet habe. Daraufhin habe sie ihr Leben Christus anvertraut. ‚Und jetzt will ich auch dort hingehen, wo die Bibel gelesen wird', erklärte sie. Sie wird heute abend ebenfalls kommen und einige Nachbarn mitbringen."
Schließlich kamen sie nicht nur aus dem Ort, sondern auch aus dem Nachbardorf. Eine Diakonisse hatte sich einen Trecker geliehen und brachte eine ganze Fuhre voll Menschen mit.
Es war ein heißer Tag gewesen, und auch am Abend war es schwül. Die große Küche war voll von Menschen. Auf dem weißen

Tisch, vor dem ich saß, häuften sich die Fliegenleichen, die der Petroleumlampe zu nahe gekommen waren. Wir sangen ein Lied, ich sprach ein Dankgebet. Dann begann ich meinem Kriegskameraden und seinen Gästen zu erzählen, wie es dazu gekommen war, daß ich zwar noch derselbe Anton Schulte, aber eigentlich doch nicht mehr derselbe bin. Ich war ein anderer geworden, weil Gott mich verändert hatte.

Müllergeselle, RAD-Mann, Fallschirmjäger, Kriegsgefangener
Die Vorgeschichte
Zum erstenmal war ich Georg Aumüller im Sommer 1946 in einem der vielen Holzfällerlager begegnet, die man für deutsche Kriegsgefangene in den USA eingerichtet hatte. Im Lager „Red Bridge" befanden sich etwa 200 Männer, die zu je 50 in einer Holzbaracke untergebracht waren. An jedem Werktagmorgen, nach dem Zählappell, brachten uns LKW's in ein großes Waldgebiet. Dort wurden wir in kleine Gruppen eingeteilt, erhielten Handsägen, Äxte und Keile. Wir hatten ein bestimmtes Tagessoll zu erfüllen.
Um 17.00 Uhr fuhren wir ins Lager zurück, und um 18.00 Uhr gab es Abendessen. Anschließend konnte jeder machen, was er wollte. Die einen spielten Karten, andere wurden nicht müde, sich gegenseitig ihre „Heldentaten" zu erzählen, die sie im Krieg vollbracht haben wollten. Die meisten beteiligten sich an irgendwelchen Diskussionsgruppen. Jetzt konnte man ja wieder offen seine Meinung sagen, ohne Furcht über die unterschiedlichsten Lebensauffassungen, über politische und wirtschaftliche Zukunftsaussichten miteinander reden.
Einige Ingenieure befaßten sich mit der Frage, wie man aus dem Schutt der deutschen Städte neues Baumaterial gewinnen könnte. Andere Lagerinsassen besuchten Vorträge über amerikanische Geschichte und amerikanische Rechtskunde oder Englischkurse in verschiedenen Lehrstufen. Es gab eine Art kleine Volkshochschule im Lager. Außerdem hatte uns der CVJM eine stattliche Bibliothek zur Verfügung gestellt, in der ich mich bald heimisch fühlte.
Gelegentlich besuchten uns evangelische oder katholische Geistliche. Aber nach der Ankündigung des ersten Gottesdienstes erschienen nur drei Mann. Daraufhin ging der Pfarrer beim nächstenmal von Baracke zu Baracke und lud jeden einzeln zum Gottesdienst ein. Nun kamen zwar einige mehr, aber die meisten Kriegsgefangenen standen allem, was Staat und Kirche hieß, mit gleicher Skepsis, wenn nicht Verbitterung, gegenüber.
Ich selbst bezeichnete mich damals als Atheist. Ich wollte nicht an die Existenz eines Gottes glauben. Aber das Bekenntnis zum Atheismus entspricht ja auch einer Art Glaubensaussage; denn es setzt voraus, daß man die These, daß es keinen Gott gibt, für wahr hält. Und damit hatte ich ebenfalls meine Schwierigkeiten.