Siebenbrodt Dorothee, Christin Halbachs wundersamer Weg

07/05/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Der Winter kam früh in diesem Jahr mit Eis und Schneetreiben. Schneidende Ostwinde drangen der kleinen Christin bis ins Mark, während sie, wie jeden Morgen, den dreiviertelstündigen Schulweg in das im Tal liegende Weißenbach antrat. Bis zur Kreuzung brachte sie der Großvater. „Mach's gut, Kind", rief er ihr mit seiner rauhen Stimme nach. Vor der nächsten Wegbiegung blickte sie sich noch einmal um. Sie sah die massige Gestalt des alten Försters, neben ihm Tell, den Jagdhund, und Waldmann, den Dackel. Das vertraute Bild prägte sich dem Mädchen tief in die Seele und begleitete es in die Schule, wo es blaugefroren und zerzaust ankam. Fräulein Kunstmann holte ihren eigenen Stuhl vom Katheder und schob ihn vor den eisernen Ofen. „Du mußt ja erst wieder auftauen, Kind", sagte sie in ihrer stillen, gütigen Art.

Der Rückweg zur Mittagszeit war noch anstrengender als der Hinweg zur Schule. Es ging steil aufwärts, und der Großvater blieb unsichtbar. Aber Christin wußte, daß daheim die Großmutter wartete mit gutem Essen, gewärmten Hausschuhen und zischenden Bratäpfeln in der Ofenröhre. Unverzagt stapfte sie vorwärts wie jeden Tag. Sie wurde groß und kräftig dabei, viel größer und kräftiger als die meisten Mädchen ihres Alters, gar nicht zu vergleichen mit der kleinen Marei, die den ganzen Tag über bei der Großmutter hinter dem Ofen hockte und sich fürchtete, wenn der Sturm, in den hohen Bäumen heulte, die das Forsthaus überschatteten, und des Abends die Eulen schrien. Marei war ja auch erst sechs Jahre alt, man hätte sie bei ihrer Zierlichkeit für vier halten können, während Christin schon das zehnte Lebensjahr überschritten hatte.
Mitte November, schlug das Wetter um. Der Wind wehte aus Nordwest und führte Schneemassen mit sich, die sich hoch um das Forsthaus türmten und den Weg versperrten. „Du kannst nicht zur Schule gehen", sagte der Großvater am Morgen zu Christin. Er zog gerade seine gewaltigen Stiefel an. Vor Ungeduld zitternd standen die beiden Hunde an der Tür und witterten.
„Gehen wir heute zur Futterstelle?" bettelte Christin.
Wohlgefällig glitten des Großvaters Augen über die Gestalt seiner ältesten Enkelin. „Wart noch bis Mittag, der Alfons muß erst schaufeln." Alfons war der Jägerbursche. Er bahnte während des Vormittags einen Weg in den Wald und einen schmalen Pfad ins Dorf. Es ging ja nicht an, daß Christin länger als einen Tag Schneeferien machte.
Gleich nach dem Mittagessen standen Großvater und Enkelin zum Ausgehen bereit vor der Haustür. An kurzer Leine führte Christin den Dackel, der japsend und kläffend daran zerrte, so daß sie schnell laufen mußte,
Der Förster stapfte mit dem Jagdhund hinterher. Den Schlug, bildete Alfons mit dem Futtersack.
Durch das Fenster der behaglichen Wohnstube blickte die Försterin dem kleinen Zug nach. Ein stilles Lächeln glitt über ihr schmales, früh gealtertes Gesicht. „So hat er doch noch sein Glück, der Konrad", sagte sie leise vor sich hin; „und er meinte, es sei alles zu Ende - damals - vor sechs Jahren, als unser Hannel starb." Ihr Blick streifte das Bild einer jungen Frau, das auf der Kommode stand.
Franziska Amman setzte sich in den Ohrenstuhl neben den Ofen. Eine tiefe Stille lag über dem Zimmer. Nichts war zu hören als das leise Knistern der Holzscheite im Ofen und das Ticken der Schwarzwälder Uhr an der Wand. Ihr fielen die Augen zu.
Eine leise Berührung weckte sie auf. Erschrocken fuhr sie zusammen. Das jüngste Enkelkind stand vor ihr, eine alte, häßliche Puppe im Arm. „Stranzes Arm ist kaputt, du mußt ihn nähen."
„Ja, nachher", erwiderte die Großmutter müde, und schon wieder fielen ihr die Augen zu.
„Nicht nachher - gleich!" begehrte das Kind auf und sah die Großmutter mit jenem Blick an, der die alte Frau schon manchmal erschreckt hatte. „Siehst du denn nicht, daß sie blutet?" Tatsächlich drang ein feiner Strahl Sägmehl aus dem Arm des verwundeten Puppenkindes.
„Lege die Puppe auf meinen Nähtisch und nimm deine Armgard, bis ich sie heil gemacht habe", redete
ihr die Großmutter freundlich zu. „Ich will nicht Arm-gard, ich will Stranze", beharrte das Kind eigensinnig.
Seufzend stand Frau Amman auf. Sie wußte, daß Marei mit leidenschaftlicher Liebe an der alten Puppe hing, die noch aus der Kinderzeit der verstorbenen Mutter stammte.
Die Försterin setzte sich an den Nähtisch, der zwischen den beiden Fenstern stand. Sie blickte, bevor sie mit der Arbeit begann, auf den Weg, der vom Dorf heraufführte. Zwei Männer näherten sich der Försterei, der Postbote Lindemann und ein anderer. Frau Amman stockte der Atem: „Ist das nicht Hans?"
Es kam nicht oft vor, daß der Schwiegersohn den Weg zur Försterei fand, seitdem er sich vor zwei Jahren wieder verheiratet hatte. Daß es einmal so kommen würde, hatten beide gewußt, sie und ihr Mann. Ein Mann in den Dreißigern konnte nicht ewig allein bleiben. Aber weshalb mußte es gerade diese Frau sein, diese Thekla Großkopf?
Was mochte der Schwiegersohn wollen? Ohne besonderen Grund kam er nicht zu ihnen, die alte Frau wußte es genau, und eine Unruhe erfaßte ihr Herz.
„Weshalb nähst'du nicht?" fragte das Kind.
Hastig strich ihm die Großmutter über das dunkle Haar.,, Der Vater komtk Marei, wir müssen Kaffee für ihn kochen."
Hans Halbach schüttelte sich den Schnee von den Füßen und begrüßte verlegen die Schwiegermutter.
Dann beugte er sich zu seiner Tochter nieder. Gleichgültig, beinahe ablehnend blickte die Kleine den großen Mann an. Sie kannte den Vater kaum. Ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt jener schweren Grippeepidemie erlegen, die in den letztenMonaten des Jahres 1916 viele Menschen dahinraffte, zu allermeist die jungen und werdenden Mütter. Der. Vater kehrte nach dem Krieg wohl noch in das Großelternhaus zurück, aber damals war Maiei noch klein gewesen. Später zog er ins Dorf zu Verwandten und heiratete vor zwei Jahren eine fremde Frau. Marei blieb im warmen heimatlichen Nest bei den Großeltern und vermißte nichts.
Christin, die Ältere, stand in einem anderen Verhältnis zu ihrem Vater. Sie liebte ihn mit einer scheuen, verhaltenen Zärtlichkeit. Sie kannte ihn ja auch viel besser als die kleine Schwester und konnte sich auch noch an die eigene Mutter erinnern, um deren Bild sie lichte Kränze der Verehrung wand.
„Ist der Vater daheim?" fragte Hans Halbach seine Schwiegermutter.
„Er ist gerade mit Christin bei den Futterplätzen. Es kann nicht allzulange dauern, bis er heimkommt. - Setz dich, ich koche dir eine Tasse Kaffee" Eilig lief die Försterin in die Küche und entfachte das Herdfeuer. „Bleib beim Vater, Marei", rief sie dem Kinde zu. Die Kleine schüttelte den Kopf und schmiegte sich an die Großmutter.
„Was mag er nur wollen, der Hans? Geht es um die Kinder?" grübelte Franziska Amman. „Er hat uns doch sein Wort gegeben - damals -‚ als er seine Sachen abholte, sein Ehrenwort, daß er uns die Kinder lassen wollte - Hannels Kinder - unser ein und alles."
Unruhig ging Hans Halbach im Zimmer auf und ab, von der Tür zum Fenster, vom Ofen zum Sofa. Ob er sich ein wenig in die Sofaecke setzte? - Nein, lieber nicht. Dort hatte er mit Hannel gesessen in so mancher schönen Stunde. Das Sofakissen lag noch in derselben Ecke, auf dem ihr dunkler Kopf einst geruht. - Nein, dort wollte er nicht sitzen. Am Fenster stand ein harter Stuhl, auf ihm ließ er sich nieder. Er blickte zur Kommode hinüber. Dort stand Hannels Bild und sah ihn mit einem ernsten Lächeln an. Er wandte den Kopf und erhob sich wieder, aber der Blick verfolgte ihn und ließ ihn nicht los.
„Ich kann nichts dafür, Hannel, ich hab' es nicht gewollt", verteidigte er sich gegen die Anklage, die aus diesem Blick sprach.
„Du bist der Mann. Du brauchst nichts zu tun, was du nicht willst. Du bist der Vater deiner Kinder."
Der Mann stöhnte -auf: „Du kennst Thekla nicht."
Inder Stube begann ä zu schummern. Aus den Ecken krochen die Schatten. Scheü blickte Hans Halbach wieder zu Hannels Bild hinüber. t*te er sich, oder war ihr Blick noch ernsthafter geworden5, hoch dunkler und fragender? Leise ging er zur Kommode und drehte das Bild zur Wand.
In diesem Augenblick trat die Schwiegermutter mit dem Kaff eetablett in der Hand ein. Wie ein ertappter Sünder wandte er sich ab. Hinter dem faltigen Rock der Großmutter lugte das Kind hervor. Scheu, ernst und dunkel ruhte sein Blick auf dem Antlitz des Vaters. Hans Halbach gewährte zum ersten Mal, wie ähnlich seine jüngste Tochter seiner verstorbenen Frau war. „Sie gleicht ihrer Mutter", sagte er beklommen.
„Im Innern nicht", erwiderte die Försterin.
Die Stimme des Försters wurde vor den Fenstern laut. Christins helles Lachen und das Bellen der Hunde mischten sich ein. „Der Vater ist da", jubelte eine -fröhliche Stimme im Flur. Die Tür wurde aufgerissen, und mit glänzenden Augen und glühenden Wangen eilte die Tochter auf den Vater zu.
„Bist du aber groß geworden!" staunte Hans Halbach und schloß sein Kind in die Arme.
Der alte Förster trat geräuschvoll ein und brachte einen Hauch von Winterkälte mit sich in die Stube. „Mir auch eine Tasse", rief er seiner Frau zu und ließ sich dröhnend auf das Sofa fallen.
„Was führt dich her?" fragte er seinen Schwiegersohn geradeheraus und schaute ihn durch seine Brillengläser scharf an.
Halbach ließ seine Tochter los und sah verlegen vor sich nieder. „Wir wollen umbauen", begann er zögernd.
„Der alte Kasten hat es nötig", stimmte Konrad Amman zu und bestrich sich eine dicke Landbrotscheibe mit goldgelber Butter. „Woher habt ihr das Geld?" fragte er mißtrauisch.

„Das Geschäft lohnt sich, und auch ich bringe jeden Monat das Meinige", erwiderte der Schwiegersohn, „aber es ist - es fehlt an Arbeitskraft. Da dachte ich - da dachte sie - da meinte Thekla -"
Der Alte legte das Jagdmesser, mit dem er aß, zur Seite und musterte den Schwiegersohn von oben bis unten. „Sag gerade heraus, was du willst", herrschte er ihn an.
„Christin", antwortete Hans Halbach leise.
Das Gesicht des Försters begann sich erschreckend zu verändern, es lief dunkelrot an. Kein Laut kam über seine Lippen. Aus der Ofenecke klang leises Schluchzen; dort saß die Försterin, das Kind Marei auf dem Schoß. Das Mädchen Christin stand mitten im Zimmer. Seine großen, klugen Augen blickten ernsthaft vom Vater zur Großmutter und blieben auf dem Gesicht des Großvaters haften, dieses Großvaters, der bis zur Stunde der Halt und die Stütze ihres jungen Lebens gewesen war. Schrecklich sah er aus in diesem Augenblick.
„So hältst du dein Wort", brachte der Alte schließlich mühsam hervor. „Erinnere dich: vor zwei Jahren hast du an derselben Stelle* gesessen und versprochen, daß die Kinder bei uns bleiben ilJten. Dein Wort gabst du! Dein Ehrenwort!"
Wie ein Peitschenhieb traf es den anderen. „So hör mich doch an, Vater, die Thekla verlangt es. Sie ist jetzt meine Frau, auch sie hat ein Recht. Sie braucht die Hilfe, sie kann die Arbeit nicht zwingen, und Christin ist groß und stark. - Ihr seid ja nicht allein. Ihr habt noch die kleine Marei. Ihr sollt sie für immer behalten. Ich sage es euch, ich schwöre es euch zu'
„Was ist schon ein Schwur von dir?" Der Förster rief es mit eisigem Hohn. „Ein gebrochenes Wort mehr - darauf kommt es nicht an. Meinst du, man kann die zwei auseinanderreißen, die zusammengehören, doppelt zusammengehören, weil sie beide Eltern verloren haben - die Mutter und den Vater?"
Hans Halbach begehrte auf: „Sie haben einen Vater, die zwei."
„Einen Vater!" Es lag Verachtung und Bitterkeit in dem Wort. „Und was für einen Vater!"
Wie ein gehetztes Tier lief der Förster im Zimmer auf und ab. Die Stirnadern geschwollen, die Fäuste in der Tasche geballt, blieb er vor seinem Schwiegersohn stehen. „Heut sagst du: Behaltet die Marei. Sie ist ja auch noch klein, und ihr könnt nichts mit ihr anfangen. Aber du wirst wiederkommen, wenn es deine Frau von dir verlangt, du wirst sie von uns fordern, wenn sie herangewachsen ist. - Du schüttelst den Kopf? Ich sage dir, du wirst es tun. Doch dazu soll es nicht kommen, hörst du? Nimm sie beide - aber nimm sie schnell - nimm sie gleich. Ich will es. Und wenn ich etwas will, so tue ich es auch und lasse mir von niemandem dareinreden, denn ich bin nicht wie du."
@1960 Christliches Verlagshaus