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Bodie Thoene, Zion Chroniken 5 Das Tor nach Zion,

04/04/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Prolog: Jerusalem 70 n. Chr.

Von Zehntausenden römischen Lagerfeuern bedeckt, blinkten die Hänge des Skopusberges wie der Sternenhimmel. Dunkler Qualm stieg langsam gen Himmel und hüllte den blutroten Mond in einen bedrohlich wirkenden Nebel.
Im Tempelhof herrschte eine unnatürliche Stille, die nur dann und wann von einem schmerzerfüllten Schrei durchbrochen wurde, wenn eine Mutter entdecken musste, dass ihr Kind im Schlaf gestorben war, oder wenn ein Sohn in der Dunkelheit nach seinem ausgemergelten Vater tastete und nur noch einen kalten Leichnam vorfand. Das Stöhnen der Menschen, die von Albträumen gequält wurden, aus denen sie nie wieder erwachen würden, ließ die Stille noch vollkommener erscheinen.
Eli Bar-Jehuda lehnte mit dem Rücken an einer Säule in der Halle Salomos und blickte unverwandt über den Vorhof der Heiden. Um ihn herum lagen die letzten Verteidiger Jerusalems, all die, die das Glück gehabt hatten, sich in den Tempel retten zu können, als die ersten römischen Legionäre die Mauer zur Oberstadt durchbrachen.

Aber dadurch hatten sie im besten Falle einen Aufschub ihres unausweichlichen Todes erreicht, dachte Eli bitter und legte die Hand auf seinen vor Hunger schmerzenden Leib.
Vielleicht wäre es einfacher gewesen, einen schnellen Tod durch das Schwert zu erleiden als dieses grausam langsame Sterben durch den Hunger. Aber die Römer, erinnerte sich Eli, hatten es nicht eilig gehabt, sie zu verfolgen oder gar die Tore des Tempels zu stürmen. Während sie im Angesicht der ausgemergelten Juden genüsslich die Schafe jüdischer Schäfer über ihren Feuern rösteten, hatte der Hunger die Schlacht für sie gewonnen. Und die Verteidiger, die auch hinter diesen heiligen Mauern noch nicht Hungers gestorben waren, würden leicht zu überwältigen sein, wenn die Rammböcke die letzten Tore durchbrochen hatten.
Eli presste verzweifelt den langen eisernen Schlüssel an sich, mit dem er vor beinahe zwei Wochen die sieben Tore des Tempels verschlossen hatte. Er wusste nur zu gut, dass es keinen Schlüssel gab, mit dem man die Eroberer aussperren konnte. Seit der Verriegelung der Tore war es nicht mehr möglich gewesen, das tägliche Opfer zu vollziehen, denn es gab keine Tiere mehr, die man dem Gott Israels auf dem Altar hätte darbringen können. Nun lag nur noch sein Volk Israel selbst, gebrochen und blutend, zu seinen Füßen.
»Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?«, flüsterte Eli mit bebender Stimme. »Morgen wird dein Allerheiligstes entweiht. Wie kannst du das zulassen?«
Doch nur das Stöhnen der Hungernden antwortete ihm. Er liebkoste den Schlüssel, für den er beinahe zehn Jahre lang verantwortlich gewesen war. Morgen Abend würde er sich in den Händen von Männern befinden, die keinerlei Ehrfurcht vor den Schätzen empfanden, die er verschloss.
Eli stand auf und stützte sich schwerfällig an einer Säule ab. Ihm war, als drehe sich der ganze Tempel um ihn. Er rieb sich die Augen und wankte dann, bemüht, nicht auf die Körper der Schlafenden und Toten zu treten, in Richtung der Treppe, die zum höchsten Punkt der Tempelmauer führte. Stufe für Stufe zwang er sich die kalte Steintreppe hinauf und musste zwischendurch wohl ein Dutzend Mal erschöpft anhalten, um wieder zu Atem zu kommen.
»Wer da?«, fragte eine barsche Stimme, als er sich dem obersten Teil der Mauer näherte.
»Eli Bar-Jehuda, der Verwalter des Schlüssels«, erwiderte er keuchend.
»Was willst du?«, fragte die barsche Stimme. »Dein Schlüssel wird uns jetzt auch nicht helfen.«
Eli setzte sich schwerfällig auf die Zinnen und blickte in schweigender Verzweiflung auf das Bild der Vernichtung, das sich unter ihm auftat, auf die Kreuze, die die Straße zum Eingangstor des Tempels säumten, eine endlose Zahl, die seine Augen nicht zu fassen vermochten. »Gott hat uns verlassen!«, rief er schließlich mit erstickter Stimme.
»Jeden Tag, den wir hinter diesen Mauern aushalten, kreuzigen diese römischen Schweine eintausend Angehörige unseres Volkes«, brummte der zelotische Wachtposten voller Ingrimm. »Bald wird es niemanden mehr in Israel geben, den sie ermorden, den sie beherrschen können. Und wer soll dann deine kostbaren Tempeltore schließen, Schlüsselverwalter?«, fragte er höhnisch.
Bei diesen Worten wurde Eli von Verzweiflung ergriffen und er schrie so schmerzlich auf, als sei ihm der eigene Vater ohne ein Wort des Trostes oder des Abschieds gestorben. Sein Schrei schallte durch das Kidrontal und verhallte schließlich zwischen den Kreuzen, die die Stadt wie ein dichter Wald umgaben.
Plötzlich sprang er, den Schlüssel hoch emporhaltend, taumelnd auf und rief mit versagender Stimme: »Oh, Gott! Alles ist verloren. Alles zu Ende.« Dann warf er unter den erstaunten Blicken des Zeloten den geliebten Schlüssel weit fort und rief: »Von nun an, Allmächtiger, mögest du der Wächter des Schlüssels sein, so lange, bis dein Volk für immer nach Zion zurückkehrt!«

1. Dämmerung nach dem Tod

Rabbi Schlomo Lebowitz erhob sich schwerfällig von dem Bett, auf dem er – vollständig angezogen und mit Schuhen, die ihn nun schmerzhaft drückten – vor nur wenigen Stunden erschöpft niedergesunken und eingeschlafen war. Er fasste sich an den Kopf und blickte verwirrt in dem dämmrigen Zimmer umher.
»Oj«, murmelte er heiser, »der Alte wird wohl allmählich wirr im Kopf.« Er hustete geräuschvoll und starrte unverwandt auf das Radio, das stumm auf dem Nachttisch stand. Dann knipste er mechanisch die Nachttischlampe an, doch es blieb alles in das weiche Licht der morgendlichen Dämmerung getaucht. »Oj!«, entfuhr es ihm wieder. »Schlomo, der Strom ist weg ...«
Bei diesem Stichwort überkamen ihn schlagartig und mit dumpfem Entsetzen die Erinnerungen an die letzte Nacht. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Die Knie wurden ihm weich und er musste sich wieder aufs Bett setzen. Dann drückte er erneut mehrfach den Einschaltknopf des Radios, aber es gelang ihm nicht, dem Gerät irgendein Lebenszeichen zu entlocken.
Verzweifelt schlug er die Hände vors Gesicht, als er sich wieder an die bangen Stunden erinnerte, die er in der vergangenen Nacht, erfüllt von Schmerz und zunehmendem Entsetzen, am Radio zugebracht hatte, um das furchtbare Geschehen vor dem Hadassah Krankenhaus zu verfolgen. Zu seinem Leidwesen war jedoch nichts darüber berichtet worden, wie viele Menschen den Angriff überlebt hatten und auch von Rachel und Howard hatte er bisher noch nichts gehört. Schließlich waren jedoch die Lichter ausgegangen, als habe Gott selbst es nicht länger ertragen können und das Radio war verstummt. Noch lange hatte sich der Großvater den Kopf zermartert, bis ihn schließlich gnädige Müdigkeit übermannt hatte.
Untröstlich strich er sich nun über den Bart und starrte mit leerem Blick auf seine ausgetretenen Schuhe. Dann betrachtete er nachdenklich seine Hände mit den geschwollenen Knöcheln und der welken, von Altersflecken übersäten Haut. »Diese Hände«, murmelte er, »waren einmal jung und stark und voller Hoffnung. Und meine Augen haben einmal voll jugendlicher Lebensfreude in die Welt geblickt.« Dann senkte er niedergeschlagen den Kopf. »Ach, ich habe zu lange gelebt! Zu lange, dass ich nun mit ansehen muss, wie unschuldige Menschen auf solch grausame Weise umkommen!« Eine verstohlene Träne tropfte auf seinen weißen Bart. »Es wäre besser, wenn du mich hättest sterben lassen, Gott!«, flüsterte er. »Besser, wenn du einen alten Mann zu dir genommen hättest, nu, als die Jungen, die noch voller Hoffnung und Lebensfreude sind.«
Während die Morgensonne allmählich das Zimmer durchflutete, bäumte er sich innerlich auf: Hast du unsere Rachel aus dem Grab zurückgebracht, damit sie noch einmal stirbt? Das kann ich nicht glauben! Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er gar nicht wahrnahm, wie sich langsam die Tür öffnete und Jakov, gefolgt von seinem abgemagerten Hund, verschlafen ins Zimmer trat. Er hatte die ganze Nacht ahnungslos in Howard Monigers Bett geschlafen.
»Großvater?«, sagte der Junge erstaunt. »Du bist aber heute früh auf!« Er rieb sich das verletzte Auge. »Was ist mit Rachel und dem Professor? Sind sie gestern noch vom Krankenhaus zurückgekommen? Rachel könnte uns wieder Plätzl zum Frühstück machen.«
Der Alte schüttelte langsam den Kopf und erwiderte mit gebrochener Stimme: »Heute nicht. Nein, Jakov. Heute nicht.«
»Großvater?«, rief Jakov erschrocken und stürzte auf ihn zu.
»Lass den Hund raus, Junge!«, befahl der Alte barsch und wandte sich ab. »Ich habe dir neun Jahre lang dein Frühstück gemacht. Ein Morgen mehr oder weniger wird dir auch nicht schaden. Nu! Lass den Hund raus und dann halten wir unser Morgengebet!«
Jakov rückte sich die Jarmulke zurecht und nickte, blieb jedoch stehen und zupfte unschlüssig an seinem Nachthemd. »Meine Schwester ist also noch nicht zurück?«
»Nein«, erwiderte der Alte nun wieder beherrscht, aber bestimmt, »noch nicht.«
»Wann kommt sie denn wieder?«, bohrte Jakov mit zaghafter, ängstlicher Stimme weiter. »Und auch der Herr Professor?«
Der Großvater sah ihm fest in die Augen. Dann holte er tief Luft und sagte gefasst: »Das weiß nur Gott allein, gelobt sei sein Name, Jakov.« Er streckte die Arme nach dem Jungen aus und zog ihn fest an sich. Und dann erzählte er ihm doch, was er in der vergangenen Nacht im Radio gehört hatte. Jakov hörte regungslos zu und starrte dabei mit leerem Blick nach draußen, wo ein kleiner Spatz auf dem Zweig eines jungen Baumes unbekümmert tschilpte.
Als der alte Mann geendet hatte, meinte der Junge ruhig, aber bestimmt: »Ich möchte nach Hause, Großvater. Nach Hause in unsere kleine Kellerwohnung in der Altstadt. Ich möchte, dass es wieder so wird wie früher …«
Der Alte strich ihm behutsam über den Kopf und erwiderte leise: »Wir können zwar nach Hause, zu den heiligen Stätten hinter den Mauern, Jakov, aber so wie früher wird es nicht mehr werden. Nie wieder.«
»Wir waren doch glücklich«, wandte der Junge mit klagender Stimme ein und barg sein Gesicht an der Schulter des alten Rabbiners, »als wir nicht wussten, dass sie lebte! Wir hatten doch alle begraben, die ganze Familie, schon vor langer Zeit! Und nun ist Rachel zurückgekommen, aber nur, damit sie uns wieder weggenommen wird. Es wäre besser gewesen, wenn sie nicht zurückgekommen wäre und wir nie erfahren hätten, was sie ihr angetan haben! Ich wünschte, wir hätten es nie erfahren! Ich wünschte, wir hätten nie geliebt und nie gehofft!« Schaul, der bisher regungslos neben den beiden gesessen hatte, legte nun seinen großen Kopf auf den Oberschenkel des Jungen und trauerte mit seinem jungen Herrn, auch ohne zu begreifen, worum es ging.
Der Großvater schüttelte den Kopf. »Wir können zwar zurück, Jakov, aber es wird nie mehr dasselbe sein für uns.« Über sein Gesicht ging ein schmerzliches Zucken. »Du bist noch zu jung, um über solche Dinge nachzudenken. Viel zu jung!«
»Bring mich nach Hause, Großvater!«, rief der Junge nun verzweifelt und schluchzte. »Nach Hause zu meinem Bett und der Torahschule und – ich möchte wieder nach Hause!«
Lange saßen sie eng umschlungen zusammen, bis der Rabbiner schließlich leise zustimmte: »Ja, Jakov. Nach Hause in die Altstadt. Wenn wir schon alle sterben sollen, Alte und Junge, dann ist es besser, in der Altstadt als in der Fremde zu sterben.« Er nickte nachdrücklich. In seinem alten Herzen gab es nun keinen Zweifel mehr. »Ja. Wir werden heimgehen!«
Bei diesen Worten hob der Junge mit neuem Mut den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über sein tränennasses Gesicht. »Vielleicht lebt Rachel ja doch noch! Vielleicht sind sie und der Professor ja mit dem Leben davongekommen …«
»Das hoffe ich inständig!« Der Alte schloss für einen Moment die Augen und fuhr dann mit nachdenklich zum Fenster gerichtetem Blick fort: »Den heutigen Tag werden wir noch hierbleiben. Wir wollen auf eine Nachricht von ihr warten. Wenn sie überlebt hat, wird sie uns eine Nachricht schicken. Sie würde nicht wollen, dass wir in Ungewissheit leben. Wir werden also diesen Tag noch abwarten.«
»Und dann?«
»Noch heute Abend werden wir wieder durch die Tore Jerusalems gehen. Bevor sie die Tore Zions schließen, gehen wir nach Hause.«
»Großvater?«, fragte Jakov leise. »Werden sie uns dann nicht erschießen?«
Der Alte schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Das ist schon möglich, Jakov.«
»Wenn Rachel tot ist, so wie Mama und Papa und meine Brüder, dann macht es mir nicht so viel aus zu sterben.« Er streichelte tröstend den unglücklich winselnden Schaul. »Ich möchte nicht gern allein leben.«
Der Rabbiner zog ihn erneut an sich. »Aber ich glaube, sie werden es sich zweimal überlegen, bevor sie einen alten Mann und einen kleinen Jungen erschießen.« Er lächelte versonnen. »Vielleicht wird uns auch ein Engel begleiten, nu?«


Auch an diesem Morgen herrschte in der Altstadt ein so geschäftiges Leben und Treiben, als ob sich seit tausend Jahren nichts geändert hätte. Es war, als gäbe es weder Krieg noch Straßensperren, weder Stacheldrähte noch Soldaten, die angespannt auf den Dächern Wache hielten.
Jehudit Akiva stand am schmalen Fenster ihres Zimmers und beobachtete, wie die ersten Strahlen des Morgens die Heilige Stadt mit einem sanften Schimmer überzogen. Gleich darauf hörte sie, wie der Muezzin im benachbarten moslemischen Viertel die Gläubigen zum Gebet rief und zog fröstelnd ihren Schal enger um sich. Im nächsten Moment begannen die Glocken der Grabeskirche die christliche Karwoche einzuläuten und scheuchten eine Schar Tauben auf, die sich flatternd in einer spiralförmigen Bahn in die Lüfte erhoben und sich dann in alle Himmelsrichtungen zerstreuten. Jehudit blickte nachdenklich hinter den Vögeln her.
Dann zog die Jakobskirche mit ihrem roten Ziegeldach ein paar Hausdächer weiter westlich im benachbarten armenischen Viertel die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sich. Mit einem gespannten Lächeln auf den Lippen wartete sie darauf, dass auch von dort der ihr so vertraute Aufruf zum Gebet erschallte. Es verging keine halbe Minute, da hörte sie auch schon die dumpfen, rhythmischen Klänge, die mit einem Hammer auf einer Holzplatte erzeugt wurden. Vor Jahrhunderten hatten die Moslems den Christen verboten, ihre Gottesdienste mit Glockengeläut anzukündigen. Und obwohl das Verbot schon vor langer Zeit aufgehoben worden war, hatten die Armenier diese Sitte bis zu diesem Tage beibehalten. Traditionen halten sich lange in der Heiligen Stadt, dachte Jehudit, selbst wenn sie aus Verfolgung und Erniedrigung geboren werden.
Bald stimmten Dutzende von Kirchenglocken in den Rhythmus der Hammerschläge ein und begrüßten den Morgen. Das christliche, das armenische und das moslemische Viertel begannen ihr Tagewerk in gewohnter Weise innerhalb der knapp zwei Quadratkilometer, die den Mittelpunkt des Universums bedeuteten. Mit lautem Rufen der Händler und Käufer erwachte das Labyrinth der alten Basare zum Leben und bald mischten sich der Duft von frischem Brot und das Blöken von Schafen in diese bunte Palette mit ein.


In der Ferne breitete die Morgendämmerung ihr schimmerndes Licht über die Altstadtmauern und die Klänge der uralten heiligen Stätten wehten über die Hügel und durch die Täler nach Rehavia herüber. »Nach Hause«, sagte Jakov freudig zu seinem Hund, »nach so vielen Monaten wieder nach Hause, Schaul!«
Dann stimmte der alte Mann ein Gebet an, das seit mehr als zweitausend Jahren von Juden auf Pilgerfahrten und im Exil gebetet wurde:

Wie könnten wir des Herrn Lied singen auf fremder Erde?
Vergesse ich deiner, Jerusalem,
so müsse meine Rechte verdorren!
Die Zunge müsse mir am Gaumen kleben,
wenn ich dein nicht gedenke,
wenn ich nicht Jerusalem setze
über meine höchste Freude.

Jehudit öffnete das Fenster ein wenig, atmete mit geschlossenen Augen tief die würzige Luft ein und dachte daran, dass beinahe jeder Morgen ihres jungen Lebens wie dieser begonnen hatte. Es war alles beim Alten geblieben. Jedenfalls fast alles. Sie ließ ihren Blick über ihr eigenes, jetzt leeres Viertel schweifen. Dort standen die Soldaten von Dovs Haganah auf den Dächern und starrten über die Sandsackbarrikaden hinweg auf das bunte Treiben der Nachbarstraßen. Ihnen gegenüber standen bewaffnete britische Vorposten, die verhindern sollten, dass ein Aufruhr ausbrach oder ein Heckenschütze die alten Rabbiner auf dem Weg zur Synagoge beschoss.
Während im christlichen und im armenischen Viertel geschäftiges Treiben herrschte und es einen Überfluss an Lebensmitteln gab, war das von einer hohen rosenfarbenen Mauer umgebene jüdische Viertel still und leer und unter den fünfzehnhundert jüdischen Einwohnern ging das Gespenst des Hungers um. Seit Wochen war den Juden, die in der Altstadt geblieben waren, nun auch schon der Weg zur Klagemauer versperrt.
Hoch über der Hurva-Synagoge wehte immer noch Mosches Tallith an derselben Stelle, an der Dov ihn aufgehängt hatte. Er war für jeden Jihad-Moqhaden, der gerade eine Kugel übrig hatte, zur beliebten Zielscheibe geworden, sodass das einst so glatte, geschmeidige Gewebe nun von Kugeleinschüssen zerfetzt war. Jehudit hatte jedoch munkeln hören, dass Dov und Rabbi Vultch sich gerade deshalb ins Fäustchen lachten, denn jede Kugel, die auf diese Weise verschossen wurde, war eine weniger, die ein jüdisches Leben auslöschen konnte. Und so blieb der Tallith dort als Symbol des Widerstands hängen.
In diesem Augenblick wünschte sich Jehudit jedoch nichts sehnlicher, als dass eine dieser arabischen Kugeln den Weg in ihr Herz finden möge. Sie stand im Licht des jungen Morgens und sehnte sich danach, dass der Tod sie aus ihrer Gefangenschaft befreien möge. Seitdem sie vor drei Tagen zwangsweise zu ihrem Vater nach Hause gebracht worden war, hatte er ihr verboten, das Zimmer zu verlassen und sie hatte ihn die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Die kärglichen Mahlzeiten waren ihr von der mürrischen Alten hereingereicht worden, die ihrem Vater als Hausangestellte und Köchin diente. Niemand hatte während ihrer Gefangenschaft auch nur ein einziges Wort mit ihr gesprochen. Nur einige wenige Gesprächsfetzen waren von der Straße zu ihr heraufgetragen worden, dafür hatte sie die zornige Stimme ihres Vaters umso öfter durch die Holzdielen des Fußbodens vernommen.
»Deir Jassin ... Kastel ... Bab el Wad ...«, hatte sie aufgeschnappt, wenn ihr Vater im Zimmer unter ihr wutentbrannt mit dem britischen Hauptquartier telefoniert hatte. An diesem Morgen hatte das Telefon noch nicht stillgestanden und sie hatte das Ohr fest an den Boden gepresst, um etwas von den Gesprächen mitzubekommen.
»Was haben die Zionisten denn nach Deir Jassin erwartet?«, war die dröhnende Stimme Rabbi Akivas zu ihr heraufgeschallt. »Es war doch klar, dass sie ihre Toten rächen würden! Wie viele Juden sind umgekommen? ... Oj! So viele!« Nach einem langen Schweigen, in dem Rabbi Akiva offenbar eine weitere Hiobsbotschaft mitgeteilt wurde, hatte er ungläubig protestiert: »Sie können sie doch nicht zurückziehen! ... Nein! Nicht nach all dem, was geschehen ist! Glauben Sie denn, der Pöbel wird sich durch den Mord an fünfundsiebzig jüdischen Ärzten besänftigen lassen? Und nun sagen Sie sogar, dass die zionistischen Gangster die Bewohner eines weiteren Dorfes am Pass niedergemetzelt haben? ... Sie können sich heute nicht zurückziehen und uns dem Schutz einer Hand voll närrischer Jeschivaschüler überlassen! ... Dann werden wir überrannt. Wenn es so ist, wie Sie sagen, werden wir von den Freischärlern Haj Amins überrannt. Stewart, Sie müssen mit den Behörden sprechen! Wir Menschen in der Altstadt lieben den Frieden! Wir möchten nur …«
Akivas zornige Stimme erhob sich zu immer neuen Höhen der Verzweiflung. »Stewart! Die ganze Welt wird Ihre Regierung dafür zur Verantwortung ziehen, wenn wir abgeschlachtet werden, weil Sie sich zurückgezogen haben! ... Nur für heute? Aber warum nur für heute? Warum?«
Jehudit presste ihr Ohr noch fester an den Boden, um sich die Antwort auf diese Frage erschließen zu können. Aber es drang nur ein letzter zorniger Schrei ihres Vaters nach oben. Dann hörte sie, wie das Telefon krachend zu Boden fiel. Gleich darauf verließ ihr Vater mit stampfenden Schritten das Zimmer und dann fiel in der Ferne krachend eine Tür zu.
Jehudit setzte sich seufzend auf. Schwer gegen ihr Bett gelehnt, starrte sie auf ihre Hände und dachte nach. Die Briten ziehen sich also heute tatsächlich aus der Altstadt zurück. Nur für heute! Warum bloß?
Sie blieb lange unschlüssig sitzen, doch plötzlich erhob sie sich hastig und eilte erneut ans Fenster. Von dort beobachtete sie mit zusammengekniffenen, gegen das grelle Sonnenlicht abgeschirmten Augen, wie in der Ferne die britischen Vorposten ihre Waffen aufnahmen und ohne großes Aufsehen ihre Stellungen verließen. Diese wurden sofort von Haganahsoldaten eingenommen, die zum ersten Mal ihre Waffen offen zur Schau trugen.
»Die Engländer haben Angst«, stellte Jehudit laut fest. »Etwas kommt auf uns zu und sie haben Angst, mit hineingezogen zu werden.«
Rasch verloren sich die britischen Soldatenmützen hinter den Gebäuden. Die Männer schienen in Eile zu sein. Jehudit fasste sich nachdenklich an den Kopf und versuchte, die Nachrichtenfetzen, die sie in ihrem Gefängnis aufgeschnappt hatte, in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Alles führte nur zu dem einen Schluss: Kastel und Bab el Wad waren den jüdischen Streitkräften in die Hände gefallen und nun kamen die Freischärler Haj Amins hierher in die Altstadt, um das jüdische Viertel niederzumetzeln. Und die Soldaten Captain Stewarts würden nichts unternehmen, um sie daran zu hindern.
Plötzlich rasselte ein Schlüssel im Türschloss und Jehudit fuhr herum. Die Zimmertür öffnete sich langsam und dann erschien das runzelige Gesicht von Goldie Levy. Sie trug ein Tablett in ihren knorrigen, arthritischen Händen, schaute Jehudit nur kurz an und senkte dann sofort wieder den Blick.
»Was ist geschehen?«, fragte Jehudit und eilte ihr entgegen, um ihr das Tablett abzunehmen.
Die Alte legte einen ihrer verkrümmten Finger an die dünnen Lippen und gab ein warnendes »Sch« von sich. Nach einem ängstlichen Blick über die Schulter flüsterte sie: »Dein Vater ist sehr zornig. Die Zionisten haben die Straße nach Jerusalem geöffnet …«
»Aber das ist doch ein Grund zur Freude«, unterbrach sie Jehudit.
»Sie haben außerdem einen großen Anführer der Araber ermordet. Die Moslems werden erst trauern und dann überall Feuer legen. Dabei haben die Engländer Befehl, sich heute der Altstadt fern zu halten.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der Jeschivaschüler, die über die Dächer hasteten. »Sie überlassen uns, Gott behüte, einer Handvoll Schüler und einigen wenigen Leuten von der Haganah. Das ist für deinen Vater, Rabbi Akiva, ein Schlag ins Gesicht. Und darüber ist er sehr erbost.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ schnell das Zimmer, aber nicht ohne die Tür wieder hinter sich abzuschließen.
Jehudit trug das Tablett mit der mageren Essensration zur Fensterbank und setzte sich. Während sie den dünnen Tee trank, verfolgte sie, wie sich die Nachricht in der Altstadt verbreitete. Die Glocken im christlichen Viertel verstummten und aus den Souks erschallten zornige Rufe und Klagelaute. Die Schaufenster wurden eilig mit Rollläden vor dem Zorn der Araber verschlossen, die unweigerlich über das Viertel hereinbrechen würden. Immer mehr junge Haganahmänner strömten aus den kleinen Häusern des jüdischen Viertels. Sie sammelten sich hinter den Barrikaden und sahen von dort aus zu, wie der Zorn brodelte und sich ständig steigerte.
Und dann umfing die Heilige Stadt, das Zentrum des Universums, mit einem Mal eine tiefe, unheilvolle Stille und Jehudit Akiva saß am Fenster und betete darum, dass eine der Kugeln ihr Herz finden möge, um ihrem kurzen, unglücklichen, siebzehnjährigen Leben ein Ende zu setzen.

Tapernoux Marc, Einführung in das Studium der Prophetie

07/11/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Welche Auswirkungen soll die Erwartung des Herrn in unserem Leben haben?

Freude. Die Aussicht, bald zu unserem geliebten Herrn und Heiland entrückt zu werden, den Prüfungen der gegenwärtigen Zeit enthoben zu sein und auf ewig m die himmlische Herrlichkeit eingeführt zu werden, ist ein köstlicher Gegenstand der Freude für den Erlösten. «Denn unser Bürgertum ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesum Christum als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit» (Phil. 3, 20-21). «Indem wir erwarten die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres grossen Gottes und Heilandes Jesus Christus» (Tit. 2, 13). «Indem ihr die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus erwartet zum ewigen Leben» (Jüd. 21). «Jesus Christus; welchen ihr, obgleich ihr ihn nicht gesehen habt, liebet; an welchen glaubend, obgleich ihr ihn jetzt nicht sehet, ihr mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlocket, indem ihr das Ende eures Glaubens, die Errettung der Seele, davontraget ... Freuet euch, auf dass ihr auch in der Offenbarung seiner Herrlichkeit mit Frohlocken euch freuet» (i. Peti. 1, 8-9; 4,13).


Zu der Freude, von den Prüfungen dieser Erde befreit zu sein, die Gegenwart des Herrn zu geniessen und Seine Herrlichkeit zu teilen, kommt für die Erlösten noch eine weitere hinzu,
nämlich die, mit allen Geliebten vereint zu werden, die ihnen in die ewigen Hütten vorangegangen sind. «Auf dass ihr euch nicht betrübet wie auch die übrigen, die keine Hoffnung haben. Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird auch Gott die durch Jesum Entschlafenen mit ihm bringen... Darnach werden wir, die Lebenden, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft... So ermuntert nun einander mit diesen Worten» (i. Thess 4,13 ff.).
Die Gewissheit der Wiederkunft Christi erfüllt die Herzen derer, die für Ihn gelitten haben, mit einer ganz besonderen Freude.! «Glückselig seid ihr, wenn die Menschen euch hassen werden, und wert sie euch absondern und schmähen und euren Namen als böse verwerfen werden um des Sohnes des Menschen willen; freuet euch an selbigem Tage und hüpfet, denn siehe, euer Lohn ist gross in dem Himmel» (Ltik. 6, 22-23) - «Ihr habt ... den Raub eurer Güter mit Freuden aufgenommen, da ihr wisset, dass ihr für euch selbst eine bessere und bleibende Habe besitzet» (Hebr. 10,34).
Aber mit der nahen Wiederkunft des Herrn ist für den Gläubigen auch eine grosse Verantwortung verbunden. In der Tat, es handelt sich darum, dass der Herr uns bei Seiner Rückkehr nicht schlafend findet, noch in die Sünde verstrickt oder in die Dinge dieser Welt verwickelt. Aus dieser dreifachen Gefahr erwächst eine dreifache Verantwortung, nämlich
- wachsam zu sein, -
— eine fortwährende Heiligung zu verwirklichen,
- dem Herrn eifrig und treu zu dienen.
Wachsamkeit. Der Christ, der den Herrn wirklich erwartet, gleicht einem Soldaten, der sich mit seiner Truppe im Alarmzustand befindet. Wie diese Truppe bereit ist zum Handeln, sobald zu den Waffen gerufen wird, so hält dieser Christ sein Ohr offen, um den Ruf: «Siehe, der Bräutigam!» zu vernehmen, sobald er in der Nacht erschallt. Wachet, seid bereit! So
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lautet. die Parole, die jedem von uns gegeben ist. ifla wir die: Zeit erkennen, dass die Stunde schon da ist, dass wir aus deüt. » Schlaf aufwachen sollen; denn jetzt ist unsere Errettung näher, als da wir geglaubt haben: Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe. Lasst uns nun die Werke der Finsternis ablegen und die Waffen des Lichts anziehen» (Röm. 13, n—ia). «Wachet also, denn ihr wisset nicht, zu welcher Stunde euer Herr kommt... Deshalb auch ihr, seid bereit; denn in der Stunde, in welcher ihr es nicht meinet, kommt der Sohn des Menschen» (Matth. 24,42 und 44). «Sehet zu, wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wann die Zeit ist» (Mark. 13, 33). «Es seien eure Lenden umgürtet und die Lampen brennend; und. ihr, seid Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten, wann irgend er aufbrechen mag von der Hochzeit, auf dass, wenn er kommt und anklopft, sie ihm alsbald aufmachen. Glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend finden wird! ... Auch ihr nun, seid bereit; denn in der Stunde, in welcher ihr es nicht meinet, kommt der Sohn des Menschen» (Luk. 12,35 ff.).
Die Lenden umgürtet haben, bedeutet, jeden Augenblick zum Aufbruch bereit sein, wie die Israeliten in der Passalutacht in. Ägypten (2. Mose 12, ii). Aber, um zum Abmarsch bereit zu sein, muss man für die Reise alles vorbereitet und sich von allem befreit haben, was einen sofortigen Aufbruch verhindern könnte, ob der Herr nun heute kommt oder später. Sind wir jetzt nicht bereit, so laufen wir Gefahr, es ebensowenig zu sein, wenn der Herr kommt Wie beschämend hit uns, wenn Er uns schlafend fände! Hüten wir uns daher vor geistlichem Schlaf! «Wir sht& nicht von der Nacht, noch von der Finsternis. Also lasst uns nun nicht schlafen wie die übrigen, sondern wachen und nüchtern sein» (i. Thess. 5, 5-6). Schlafen heisst gleichgültig dahinleben, ohne sich um die Wiederkunft des Herrn zu kümmern, der Neigung des natürlichen Herzens folgen, das da sagt: «Mein Herr verzieht zu kommen» (Luk. 12,45). Es heisst
aber auch, sich von den Dingen der Erde gefangennehmen zu lassen. «Hütet euch aber, dass eure Herzen nicht etwa beschwert werden durch Völlerei und Trunkenheit und Lebenssorgen, und jener Tag plötzlich über euch hereinbreche ... Wachet nun, zu aller Zeit betend» (Luk. 21,34-36). Diese Warnung des Herrn führt uns zum zweiten Punkt unserer Ver-
antwortung im Hinblick auf Seine Wiederkehr: -
Heiligung. Für den Gläubigen besteht sie darin, sich vom Bösen in jeder Form abzusondern und alles, was ihn bei der Erwartung der Wiederkunft Christi hinderlich sein könnte, wegzuwerfen. «Da nun dies alles aufgelöst wird, welche solltet ihr dann sein in heiligem Wandel und Gottseligkeit! indem ihr er-waftet und beschleuniget die Ankunft des Tages Gottes Deshalb, Geliebte, da ihr dies erwartet, so befleissiget euch, ohne Flecken und tadellos von ihm erfunden zu werden in Frieden» (2. Fett. 3, ii ff.). «Dass der, welcher ein gutes Werk in euch angefangen hat, es vollführen wird bis auf den Tag Jesu Christi... Und um dieses bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller Einsicht, damit ihr prüfen möget, was das Vorzüglichere sei, auf dass ihr lauter und unanstössig seid auf den Tag Christi» (Phil. t, 6 ff.). Vergleiche auch i. Thessalonicher 3, 12-13; 1. Kor. 1,7-8; 1. Tim. 6, 13-14; Tit. 2, 11-13.
Aber der Gläubige, der den Herrn erwartet, ist auch berufen, Ihm mit Eifer und Treue zu dienen. Denn Wachen bedeutet zugleich Ausharren an dem Posten, den der Herr uns anvertraut hat, und den von ihm empfangenen Auftrag ausführen, sowohl in materieller als auch in geistlicher Hinsicht. «Wer ist nun der treue und kluge Knecht, den sein Herr über . sein Gesinde gesetzt hat, um ihnen die Speise zu geben zur rechten Zeit? Glückselig jener Knecht, den sein Herr, wenn er kommt,. also tuend finden wird! Wahrlich, ich sage euch, er wird ihn über seine ganze Habe setzen» (Matt. 24,45-47; lies auch 25, 14-30; Luk. 12, .42-46; 19, 11-27). Die Thessalonicher
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erwarteten nicht nur den Herrn, sondern dienten auch dem lebendigen und wahren Gott. Möchten wir mit leeren Händen vor Ihm erscheinen, weil wir uns geweigert haben, den Dienst, den Er uns anvertrauen wollte, zu erfüllen, so gering er auch sein mag? Jetzt, während der Abwesenheit des Herrn, muss man die Pfunde nutzbringend anlegen. Das ausgestreute Samenkorn bringt Frucht, das eine dreissig-, das andere sechzig-, das andere hundertfältig. Möchten wir ara Tag der Ernte dem Herrn schwere, mit Körnern reich beladene Garben darbringen, oder nur leere Ähren? Der böse Knecht in Matthäus 25 wird nicht verurteilt, weil er Böses, sondern weil er nichts getan hat.
Also arbeiten, dienen und Frucht bringen sollen wir, aber auch zeugen. Während der Nacht und der Abwesenheit seines Herrn soll der Gläubige ein Licht sein. Die einmal angezündete Lampe soll nicht unter den Scheffel gestellt werden (erstickt durch die Geschäfte des Lebens), sondern auf das Lampengestell, «und sie leuchtet allen, die im Hause sind» (Zeugnis gegenüber unseren Nächsten, Nachbarn und Arbeitskollegen) und: «auf dass die Hereinkommenden den Schein sehen» (Zeugnis hinsichtlich der Unbekannten, der Menschen im allgemeinen - Matth. 5, r und Luk. 11,33). Möge unser Licht helle leuchten um uns her und nichts in unserem Wandel unser Zeugnis trüben noch den Namen des Herrn verunehren Möchten wir, wie die klugen Jungfrauen, dem Bräutigam entgegengehen, um Ihn zu empfangen, indem wir entschieden alles aufgeben, was Ihm missfallen könnte, und die Lampe, die Er uns anvertraut hat, in hellem Glanze scheinen lassen!
Bewirkt die Erwartung des Herrn in uns wirklich Freude, Wachsamkei4'Heiligung, Eifer in Seinem Dienst und Treue im Zeugnis? Wenn diese Dinge bei uns reichlich vorhanden sind, so stellen sie uns nicht träge noch fruchtleer hin bezüglich der Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus. «Darum, Brüder, befleissiget euch um so mehr, eure Berufung und Erwählung fest-
zumachen; denn wenn ihr diese Dinge tut, so werdet ihr niemals straucheln. Denn also wird euch reichlich dargereicht werden der Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilendes Jesu Christi» (2. Fett. 1, 8-11).
«Dem aber, der euch ohne Straucheln zu bewahren und vor seiner Herrlichkeit tadellos darzustellen vermag mit Prohlok-ken, dem alleinigen Gott, unserem Heilande, durch Jesum Christum, unseren Herrn, sei Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und in alle Ewigkeit! Amen» (Jod. 24-25).
«Der diese Dinge bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald -
Amen; komm, Herr Jesus!
Die Gnade des Herrn Jesus Christus sei mit allen Heiligen!» (Offb. 22,20'-21).

Tozer A.W. Wie kann man Gott gefallen

07/06/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Kapitel 1 - Die Größe einer Seele

Menschen, die Christus nicht kennen, versuchen sich oft mit dem Gedanken zu trösten, niemals im Leben eine richtig große Sünde begangen zu haben, kleine nebensächliche Schlechtigkeiten vielleicht, aber nichts Folgenschweres. Darum werde Gott ihnen sicher ihre unbedeutenden Übertretungen nachsehen, wenn Er Sein Urteil über ihr Verhalten spricht.
Zu allererst hängt unser Verhältnis zu Gott nicht von der Menge und der Ungeheuerlichkeit unserer Sünden ab, sondern davon, ob diese Sünden vergeben sind oder nicht, ob wir auf Gottes
oder auf der Seite des Teufels stehen.
Ein Überläufer wird wegen seiner Fahnenflucht zur Verantwortung gezogen, auch wenn er nichts getan hat, als sich den Rebellen zuzugesellen. Sein Verbrechen liegt darin, mit seinen Vorgesetzten gebrochen und sich den Feinden seines Landes angeschlossen zu haben. Dass er keine besonders feindseligen Handlungen begangen hat, bedeutet vielleicht nichts weiter, als dass er ein ganz gewöhnlicher Mensch ist, der zu großen Taten irgendwelcher Art, sei es für oder gegen sein Land, gar nicht in der Lage ist.

Sünden größeren Ausmaßes weisen auf eine starke Seele hin, die es, wenn sie richtig geleitet wäre, auf dem Wege geistlicher Vollkommenheit weit gebracht hätte. Andererseits gibt es eine Seelenschwäche, die auch bei den gewöhnlichsten Tätigkeiten jegliche Zielstrebigkeit und Intensität begrenzt oder gar verhindert. Wenn sich eine solche Seele bekehrt, bleibt sie auch dort in
der Mittelmäßigkeit stecken. Nach seinen eigenen Aussagen war der Apostel Paulus vor seiner Bekehrung ein großer Sünder (1. Timotheus 1,15). 

Er verfolgte mit grimmiger Wut die Christen und tat den Nachfolgern Christi viel Böses an. Nach seiner spektakulären Umkehr übergab er dem Herrn seine überragenden Fähigkeiten, und die ganze Welt weiß, was daraus geworden ist. Die gleiche Seelenenergie, die ihn zu einem gefährlichen Feind des christlichen Glaubens werden ließ, machte ihn nun zu einem kraftvollen Fürsprecher des Glaubens, jetzt, wo seine Augen geöffnet waren.

Daraus sollten wir lernen, Schwäche und Ängstlichkeit nicht mit Gerechtigkeit zu verwechseln. Nur zaghaft zu sündigen ist nicht dasselbe wie Gutes tun. Mangel an moralischer Energie mag einem Menschen dazu verhelfen, sich beim Sündigen unwohl zu fühlen, aber er sündigt nichtsdestoweniger. Seine schwächlichen Bemühungen, sich neutral zu verhalten, können
Gott nicht hinters Licht führen; denn Er kennt alle Geheimnisse des menschlichen Herzens.
Die Größe der menschlichen Seele lässt zuverlässig auf Erfolg oder Versagen eines Menschen im rauen Konkurrenzkampf des 20. Jahrhunderts schließen. 

Und nach seiner Bekehrung zu Christus hängt davon auch seine Brauchbarkeit im Reich Gottes ab. Zweifellos gibt es viele echte Christen, die nicht viel für ihre Mitmenschen tun, auch nicht für die Gemeinde, in die sie durch das Wunder der Erneuerung des Heiligen Geistes hineingeboren sind. Diese Leute sollten die Worte Christi hören: »Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist« (Apostelgeschichte 1,8). Auch für ängstliche Herzen gibt es Hoffnung: die mächtige Einwirkung des Geistes. Er kann das Haus der Seele erweitern; aber auch nur Er allein!

Kapitel 2
Was ist mit der Erweckung? – Teil I
Dies könnte das Jahr der Erweckung werden Sehr verbreitet scheint man der Ansicht zu sein, man müsse nur viel darüber reden und darum beten, dann werde die Erweckung kommen wie Kursgewinne an der Börse oder wie eine Glückssträhne beim Baseballspielen. Es sieht aus, als erwarteten wir irgendeinen Eliaswagen aus dem Himmel, der uns auf die hohen zuckersüßen Berge religiöser Erfahrungen hinaufhebt.
Nun, wir wissen nur allzu gut, dass, wenn alle etwas behaupten, dies selten die Wahrheit ist. Oder, wenn auch etwas Wahres daran ist, so wurde es doch durch falsche Betonung dermaßen verdorben, dass im Endeffekt praktisch nichts als Irrtum dabei herauskommt. Und das gilt nach meiner Meinung auch weithin von dem Erweckungsgerede unserer Tage.

Mein Grund, an der Richtigkeit von all dem zu zweifeln, liegt darin, dass wir anscheinend die Erweckung als ein wohltuendes Wunder betrachten, als eine fieberhafte Renaissance religiöser
Aktivitäten, die über uns kommt und uns selbst so lässt, wie wir sind, nur um Vieles fröhlicher und um große Scharen vermehrt. Erweckung ist ein gutes Gesprächsthema, außerdem ist es von
der Aura überragender Frömmigkeit umgeben; leider hat dies alles einen Fehler: Es stimmt nicht. Unser Fehler ist der, dass wir wünschen, Gott möge uns Erweckung zu unseren Bedingungen senden. Wir möchten die Kraft Gottes in unsere Hand bekommen, um sie uns zuzuschreiben, damit sie uns hilft, unsere Art von Christentum zu fördern. 

Wir wollen zu bestimmen haben und den Wagen durch die religiösen Wolken in die von uns gewünschte Richtung lenken; dabei rufen wir dann selbstverständlich laut: »Preis den Herrn!«, aber im Stillen nehmen wir gern und zwar auf nette, unaufdringliche Weise, einen Teil der Ehre für uns. Wir bitten Gott, Feuer auf 10 Wie kann man Gott gefallen?
unsere Altäre zu senden und lassen völlig außer Acht, dass es unsere und nicht Gottes Altäre sind. Und wie die Baalspropheten steigern wir uns dabei in frenetisches Geschrei hinein, als könnten wir durch aggressive Beschwörungen den Arm des Allmächtigen bewegen.
Der ganze Irrtum kommt nur durch eine verdrehte Vorstellung von dem, was Erweckung ist, zustande, und dadurch, dass wir nicht erkennen können, welche moralischen Gesetze dem Reich Gottes zugrunde liegen. Gott handelt nie aus Launen heraus; Seine Wege sind weder affektbestimmt noch unberechenbar. Nie schickt Er ein Gericht, wenn nicht vorher Seine Gesetze übertreten wurden. Genauso wenig segnet Er, wenn man nicht vorher Seinen Anweisungen gehorcht hat. So präzise sind Seine Reaktionen, dass ein intelligenter Beobachter, der die Umstände überschauen kann, mit völliger Sicherheit jede Heimsuchung Gottes, sei es in Gericht oder Gnade, vorherzusagen in der Lage ist, einerlei, ob es sich dabei um ein Volk, eine Gemeinde oder eine Einzelperson handelt.

Eins ist ganz sicher: Wir können nicht fortfahren, den in der Bibel geoffenbarten Willen Gottes zu ignorieren und dann die Hilfe des göttlichen Geistes erwarten. Gott hat uns eine genaue
Beschreibung der christlichen Kirche gegeben, und Er erwartet, dass wir dieser zu 100 Prozent entsprechen. Dort finden wir die
Botschaft, die Moral und die Methoden, und wir stehen unter
der strikten Verpflichtung, allen dreien in ganzer Treue zu entsprechen. Heute stehen wir vor dem eigenartigen Phänomen,
eine Menge von Christen zu sehen, die feierlich vor Himmel und Erde die Reinheit ihres biblischen Bekenntnisses beschwören, um zu gleicher Zeit den Methoden der nicht wiedergeborenen Welt zu folgen und es kaum fertig zu bringen, irgendwelche
moralischen Maßstäbe überhaupt noch erkennbar werden zu lassen. Kälte, Weltförmigkeit, Stolz, Ruhmsucht, Lüge, Verdrehungen, Geldliebe, Zurschaustellung – all dies findet man bei
Christen, die vorgeben, die reine Lehre festzuhalten; und sie tun das nicht nur heimlich, sondern vor aller Augen und oft sogar als notwendigen Bestandteil ihrer ganzen frommen Show.

Es gehört mehr zu einer Erweckung als Gerede und Gebete. Bevor wir anfangen zu beten, müssen wir in unserer Praxis zu dem Herrn umkehren, wenn unsere Gebete im Himmel Erhörung finden sollen. Wir dürfen uns nicht weiterhin trauen, Gottes Wege zu verletzen, wenn Er die unseren segnen soll. Josua schickte seine Soldaten, um Ai zu erobern, nur um zu erleben, dass sie unter blutigen Verlusten flohen. Er »fiel auf sein Angesicht zur Erde, vor der Lade des HERRN« und jammerte vor Gott: Da sprach der HERR zu Josua: Steh auf! Was liegst du denn auf deinem Angesicht? Israel hat gesündigt, sie haben meinen Bund übertreten, den ich ihnen geboten habe. … Die Söhne Israels werden vor ihren Feinden nicht (mehr) bestehen können; … denn sie sind zum Bann geworden. Ich werde nicht mehr mit euch sein, wenn ihr nicht das Gebannte aus eurer Mitte ausrottet (Josua 7,10-12).

Wenn wir dumm genug sind, werden wir auch das folgende Jahr damit verbringen, Gott vergebens um Erweckung zu bitten, während wir blindlings an Seinen Forderungen vorbeigehen und fortfahren, Seine Gebote zu übertreten. Oder wir können heute anfangen zu gehorchen und den Segen des Gehorsams erleben. Das Wort Gottes haben wir in der Hand. Wir müssen es nur lesen und tun, was darin geschrieben steht, dann ist uns eine Erweckung sicher. Sie kommt so selbstverständlich wie die Ernte dem Pflügen und Säen folgt.
Ja, dies könnte das Jahr der Erweckung werden. Es liegt ausschließlich an uns.

Kapitel 3
Was ist mit der Erweckung? – Teil II
Persönliche Erweckung Erweckung kann auf drei Ebenen erfahren werden: auf der individuellen, auf der der Gemeinde und auf der des ganzen Ortes. Es ist unmöglich, eine Erweckung des Ortes zu erleben, wenn es vorher keine Erweckung in der Gemeinde gab, und bevor nicht wenigstens einige wenige nach einer Umgestaltung ihrer Herzen trachten, wird es keine Hoffnung für ihre Gemeinde geben; denn diese setzt sich aus einzelnen Christen zusammen. Was bedeutet es eigentlich, wenn wir singen und beten: »Herr,
sende eine Erweckung und fange bei mir an!«? Wo anders als im persönlichen Leben soll denn eine geistliche Erneuerung anfangen? Es gibt keine abstrakte »Kirche«, die losgelöst von den sie
bildenden Männern und Frauen erweckt werden könnte. Die vage Vorstellung, irgendwo gebe es einen geheimnisvollen Leib Christi, dessen Glieder unbekannt sind, eine unsichtbare Schar, auf die der Geist aufgrund unserer Gebete fallen könnte, ist ein grandioser Trugschluss, der uns nur dazu dient, uns vor der Wirklichkeit zu verstecken. Es gibt keine unerklärliche Überkirche, die
losgelöst von den einfachen und gewöhnlichen Leuten existiert, denen wir Woche für Woche in unseren Gemeinden begegnen.

Stattdessen müssen wir der Wahrheit ins Auge blicken, dass Christen Menschen sind, die man erkennen kann. Sie haben Namen und Gesichter und Häuser, sie gehen zur Schule, fahren
Lastwagen, kaufen, verkaufen, reisen, essen, gehen ins Bad und schlafen genauso wie andere Menschen. Der göttliche Same ist in ihnen und ihre Namen stehen im Himmel geschrieben; aber
sie sind nicht unsichtbar. Die Welt weiß, wer die Christen sind.
Die herrliche Schar der wenigen Erwählten, auf die der Geist zu Pfingsten kam, waren keine Geistererscheinung, noch bestanden sie aus einem besseren Menschsein, das sich auf einer höheren Ebene bewegt. 

Sie waren Menschen. Die Namen einiger sind vom Heiligen Geist aufgezählt. Wenn es auch nicht in Gottes Plan passte, uns eine vollständige Liste aller dort Anwesenden zu überliefern, so waren die Genannten wahrhaft menschlich genug. Als der Geist an jenem denkwürdigen Tag kam, konnte Er nur auf Leute fallen, die anwesend waren, die man erkennen konnte, die
einander und im ganzen Ort bekannt waren. Es gab keinen unsichtbaren Leib, in den Er kommen konnte. Er kam in die Leiber und Seelen der bei jener Gebetsversammlung Anwesenden.
Keine Gemeinde ist irgend besser oder schlechter als die einzelnen Christen, aus denen sie besteht. Nach einer geheimnisvollen Gruppe Ausschau zu halten, die hinter den bekannten
Gemeindegliedern vermutet wird und die im Geheimen auf eine Erweckung vorbereitet ist, heißt einem schrecklichen Irrtum aufzusitzen, und das auf einem Gebiet, wo Irrtümer teuer zu
stehen kommen können.
Eine Folge unseres Versagens, die wahre Natur der Erweckung zu erkennen, liegt darin, dass wir Jahr um Jahr auf etwas Übernatürliches warten, was nie eintritt, weil wir unseren Platz in
der erhofften Erweckung völlig übersehen. Was immer Gott für
eine Gemeinde tut, muss Er an den Einzelnen tun, an ganz bestimmten Männern und Frauen. Einiges widerfährt nur einzelnen, isolierten Personen und kann nicht en masse erfahren werden. Wenn statistisch auch in einer Stadt an einem bestimmten Tag hundert Babys geboren werden, so ist die Geburt jedes Babys doch eine einzigartige, ganz persönliche Erfahrung für dies Kind.
Fünfzig Menschen sterben bei einem Flugzeugabsturz; doch während alle zusammen sterben, stirbt jeder für sich allein, jeder erlebt den Akt des Sterbens in der Einsamkeit seiner Seele so
tief, als stürbe nur er allein. Beides, Geburt und Tod, erlebt das Individuum in einer Einsamkeit, die so vollständig ist, als hätte nie eine andere Person dasselbe erlebt.
Dreitausend Menschen wurden zu Pfingsten bekehrt, doch jeder begegnete seinen Sünden und seinem Heiland ganz allein. Die geistliche Geburt ist wie die leibliche für jeden eine einmalige,
14 Wie kann man Gott gefallen?
separate Erfahrung, die man mit niemand teilt. Genauso ist es mit dem Aufbruch eines geheilten Lebens, das wir Erweckung
nennen. Es kann nur den Einzelnen begegnen. Obwohl die Heimsuchung mit göttlichem Leben 75 Personen auf einmal erreichte (wie bei den Böhmischen Brüdern in Düsseldorf), so kam sie
doch auf jeden persönlich. Es gibt keine kollektive Körperschaft von Gläubigen, die außerhalb der Einzelnen besteht, aus denen
diese Körperschaft zusammengesetzt ist.
Richtig verstanden enthalten diese Wahrheiten viel Ermutigung
und große Hoffnung. Nichts kann dich oder mich daran hindern, die so nötige Erweckung zu erleben. Es ist eine Angelegenheit zwischen Gott und dem einzelnen Herzen. Nichts kann die
geistliche Erneuerung der Seele verhindern, die darauf besteht,
sie zu erlangen. Obwohl ein solcher einzelner Mensch unter geistlich Toten leben muss, kann er die große Verwandlung ebenso sicher und so augenblicklich erfahren, als gehörte er zu der
geistlichsten Gemeinde der Welt.
Ein Mensch, der Gottes Bestes haben will, wird in diesem Augenblick der Gegenstand der persönlichen Aufmerksamkeit des Heiligen Geistes. Ein solcher muss nicht warten, bis die anderen Gemeindeglieder zum Leben erweckt werden. Er wird nicht für das Versagen seiner Mitchristen bestraft, noch wird von ihm verlangt, auf den Segen zu warten, bis seine schläfrigen Brüder endlich aufwachen. Gott handelt mit dem einzelnen Herzen so exklusiv, als gäbe es nur dieses.
Wem dies eine zu individualistische Vorstellung von Erweckung zu sein scheint, der bedenke, dass Christentum immer persönlich ist, bevor es öffentlich wirksam wird. Jeder Prophet, jeder
Reformator, jeder Erweckungsprediger musste zunächst allein Gott begegnen, bevor er den großen Massen helfen konnte. Die großen Führer, die hingingen, um Tausende zu Christus zu führen, mussten erst einmal mit Gott und ihrer eigenen Seele anfangen. Der gewöhnliche Christ von heute muss persönliche Erweckung erleben, bevor er hoffen kann, seiner Gemeinde zu
erneuertem geistlichen Leben zu verhelfen.

Kapitel 4
Was ist mit der Erweckung? – Teil III
Beten reicht nicht Diese Worte sind an solche Kinder Gottes gerichtet, die von dem Pfeil unaufhörlichen Verlangens durchbohrt sind, die sich nach Gott sehnen mit unwiderstehlicher Sehnsucht, die nach Ihm so sehr verlangen, dass es ihnen Schmerzen bereitet.

»Glückselig, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden satt werden« (Matthäus 5,6). Hunger bereitet Schmerzen. Durch Gottes gnädige Vorsorge hat Er in uns einen Anreiz bewirkt, der uns in Richtung auf Nahrungsaufnahme treibt. Wenn Hunger auf Nahrung schmerzt, dann tut es Durst, also Hunger auf Wasser, hundertmal mehr, und je stärker der Mangel wird, umso größer wird der Schmerz. Es ist die letzte drastische Anstrengung des Organismus‘, das gefährdete Leben dazu zu bringen, sich selbst zu erneuern. Ein toter Körper fühlt keinen Hunger, und eine tote Seele weiß nicht von der inneren Not heiligen
Begehrens. »Wenn du Gott suchen möchtest«, sagte ein alter Heiliger, »hast du Ihn schon gefunden.« Unser Begehren nach einem erfüllteren Leben ist der Beweis, dass schon Leben vorhanden ist. Allein schon unsere Unzufriedenheit sollte uns Mut
machen, unsere noch unerfüllten Erwartungen sollten uns Hoffnung geben. »Was ich zu sein hoffte, wenn ich es auch noch nicht war, tröstete mich«, schrieb Browning in wahrer geistlicher Einsicht. Das tote Herz kann nichts erwarten. Ein totes Herz kann auf nichts hoffen.

Im natürlichen Leben bewegt sich alles in Richtung des jeweiligen Hungers. In der geistlichen Welt ist es nicht anders. Wir werden von unseren inneren Sehnsüchten angezogen, vorausgesetzt, diese Sehnsüchte sind stark genug, uns in Bewegung zu setzen. Kraftlose Träumereien reichen nicht aus. Der fromme Zug, dem kein entsprechender Willensakt folgt, ist Verschwendung seelischer Energien. Die furchteinflößende Kraft einer Blitzentladung kann sich in der Luft verlieren, während eine Taschenlampenbatterie einem Bergmann stundenlang Licht bringen kann. Das eine ist die richtungslose Entfaltung gewaltiger Energien, das andere die stille Anwendung geringer Kräfte zu einem intelligenten Zweck.

Ich bin überzeugt, dass viel, sehr viel, Beten und Reden über Erweckung heutzutage verschwendete Kraftanstrengungen sind. Obwohl mir klar ist, dass dies Bild in sich unstimmig ist, möchte ich sagen: Hier handelt es sich um Hunger, der auf keinen wirklichen Gegenstand gerichtet ist, um einen Wunschtraum, der zu schwach ist, moralische Aktivitäten zu wecken. Es ist Fanatismus auf hohem Niveau; denn, um mit John Wesley zu sprechen, ist »ein Fanatiker jemand, der eifrig einem Ziel nachjagt und dabei die zu diesem Zweck bestimmten Mittel außer
Acht lässt«.
Nehmen wir an, dass ein auf Erweckung wartender Mensch aufgehört hat, in der Mehrzahl zu denken und seinen Glaubensblick auf eine einzelne Person, auf sich selbst, verengte, was dann?
Wie kann er herausfinden, wonach seine Seele so dürstet? Wie kann er mit seinem Hunger zusammenarbeiten, damit dieser gestillt wird?
Er muss sein Herz von der falschen Ansicht befreien, Beten allein bringe den Segen. Normalerweise vollziehen sich alle Verhandlungen zwischen der Seele und Gott auf dem Wege des Gebets. Es ist richtig und biblisch und es entspricht dem Zeugnis aller Heiligen, dass jedweder Fortschritt, an welcher Front auch immer, jede Befreiung, jede Reinigung, jede Kraftausrüstung auf gläubiges Gebet hin verliehen wird. Unser Fehler besteht darin,
dass wir versuchen, diese Wohltaten allein durch Beten zu erreichen.

Die Beseitigung dieses Fehlers ist äußerst schwierig; denn dazu gehört mehr als nur die Berichtigung unserer dogmatischen Vorstellungen; sie berührt unser gesamtes Adamsleben und erfordert Selbstverleugnung, Demut und Kreuztragen; kurz gesagt: 

Gehorsam und dass wir nichts unternehmen, um dem zu entkommen. Es ist fast unglaublich, wie weit wir zu gehen bereit sind, um Gott nicht gehorchen zu müssen. Wir nennen Jesus »Herr« und bitten Ihn, unsere Seelen zu erneuern, aber wir unternehmen alles, um nicht zu tun, was Er sagt. Wenn wir es mit Sünden
oder Bekenntnis oder einer moralischen Änderung unseres Lebens zu tun bekommen, finden wir es leichter, eine halbe Nacht zu beten als Gott zu gehorchen.
Die Intensität eines Gebets sagt nichts über dessen Wirksamkeit aus. Ein Mensch mag auf seinem Angesicht liegen und vor Gott sein Elend herausheulen und trotzdem nicht die Absicht
haben, den Geboten Christi gehorsam zu sein. Starke Emotionen und Tränen brauchen nicht mehr zu sein als die Reaktionen eines beunruhigten Geistes, als das Zeichen eines hartnäckigen
Widerstands gegen den bekannten Willen Gottes. Jakob kämpfte die ganze Nacht hindurch mit dem Engel. Erst als er besiegt
war, richtete er etwas aus, indem er Gott nicht loslassen wollte.
Warum hat Jakob so lange widerstanden? Weil er sich schämte, dem Engel seinen Namen zu bekennen. Als er schließlich zusammenbrach und zugab, seinen Zustand verdrängt zu haben,
war der Sieg errungen. Er siegte, indem er verlor.
Einerlei, was ich hier schreibe, Tausende von Pastoren werden fortfahren, ihre Leute zum Beten aufzuforden in der vergeblichen Hoffnung, Gott werde sich schließlich doch erweichen lassen und eine Erweckung schicken, wenn sich Sein Volk nur tüchtig mit der Fürbitte abquält. Solchen Menschen muss Gott tatsächlich wie ein harter Fronherr vorkommen; denn die Jahre
gehen vorüber, die Jungen werden alt und die Betagten sterben, und immer noch kommt keine Hilfe. Die Räume der Gebetsversammlungen werden zu Klagemauern und die Lichter brennen lange; und doch bleibt der Regen aus.
Hat Gott vergessen, gnädig zu sein? Jeder Leser sollte anfangen, gehorsam zu sein, und er wird die Antwort erhalten. »Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer aber
mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden, und ich werde ihn lieben und mich selbst ihm offenbar machen« (Johannes
14,21).
Ist es nicht das, was wir letztlich wollen?


Inhaltsverzeichnis
Die Größe einer Seele -------------------------------------------------- 7
Was ist mit der Erweckung? – Teil I --------------------------------- 9
Was ist mit der Erweckung? – Teil II ------------------------------ 12
Was ist mit der Erweckung? – Teil III ----------------------------- 15
Was ist mit der Erweckung? – Teil IV ----------------------------- 19
Gebrauch und Missbrauch guter Bücher – Teil I--------------- 23
Gebrauch und Missbrauch guter Bücher – Teil II-------------- 26
Gebrauch und Missbrauch guter Bücher – Teil III ------------ 29
Gebrauch und Missbrauch guter Bücher – Teil IV ------------ 32
Gebrauch und Missbrauch guter Bücher – Teil V-------------- 36
Wer tut das Werk Gottes? ------------------------------------------- 40
Nicht zu viele, aber die falschen ----------------------------------- 43
Worte ohne Bedeutung sind unnütze Worte -------------------- 47
Eine nötige Reformation --------------------------------------------- 50
Fortdauerndes Opfer – oder fortdauernde Wirksamkeit? ---- 53
Die zerstörerische Wirkung eines leicht reizbaren Geistes -- 55
Keine Sünde ist Privatangelegenheit ------------------------------ 58
Eifer: Was beweist er? ------------------------------------------------- 61
Kirchenzugehörigkeit – kein Ersatz fürs Handeln ------------- 64
Hoffnung – ein universaler Schatz – Teil I ---------------------- 67
Hoffnung – ein universaler Schatz – Teil II --------------------- 70
Die Kirche erringt einen Pyrrhussieg ----------------------------- 73
Lass dir von niemand deine christliche Zuversicht rauben! 76
Die Gründe religiöser Verwirrung – Teil I ----------------------- 80
Die Gründe religiöser Verwirrung – Teil II ---------------------- 84
Die Probleme mit den großen Zahlen ---------------------------- 87
Die Gabe prophetischer Einsicht ist heute unerlässlich – Teil I - 91
Die Gabe prophetischer Einsicht ist heute unerlässlich – Teil II 95
Optimist oder Pessimist? -------------------------------------------- 98
Von Natur aus sind wir alle Ketzer ------------------------------- 101
Der Schatten der Konsequenzen ---------------------------------- 104
Es ist wesentlich, dass wir wie Gott denken ------------------- 107
Die Wiedergeburt ist ein Geheimnis----------------------------- 110
6 Wie kann man Gott gefallen?
Christ – oder einer, der das Christentum nur studiert hat? 114
Ein Wort über den Aberglauben ----------------------------------- 117
Noch mehr über den Aberglauben ------------------------------- 120
Dankbar – aber wem? ----------------------------------------------- 123
Kein Friede, sondern das Schwert -------------------------------- 126
Ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich -------------------------- 129
Kraft durch den innewohnenden Geist-------------------------- 132
Göttliche Liebe ist weder blind noch taub ---------------------- 135
Worum geht es zu Ostern? ----------------------------------------- 139


Aiden Wilson Tozer Erweckung und geistliches Wachstum
ISBN / EAN: 978-3-89397-285-2
© der Originalausgabe 1991 by Christian Publications
Originaltitel: The Size of the Soul
© der deutschen Ausgabe 2001 by clv

Witter Traudel, Flucht über den Kwango

06/28/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Raphael blickte auf die Uhr. Dann wanderte sein Blick wieder die lange Baumallee von Eukalyptusbäumen entlang zum großen eisernen Tor, das der Gärtner weit geöffnet hatte. Unzählige Fahrspuren hatten sich in den Sand gegraben von all den Autos, die am gestrigen Abend und am Morgen von der Schule weggefahren waren. Es waren bereits die Osterferien angebrochen, und die meisten Schüler verbrachten die Feiertage im Kreis ihrer Familien.

Auch Raphaels Freunde waren schon gegangen. Als einziger war er zurückgeblieben. Ein unbestimmtes Gefühl der Angst beschlich ihn. Warum kam sein Vater nicht, um ihn wie immer an den freien Wochenenden oder zu Ferienbeginn abzuholen? Noch nie war Dr. Roberto Makasi Munongo zu spät gekommen. Unpünktlichkeit war ihm, wie Raphael wußte, ein Greuel und ein Vergehen gegen seine Prinzipien. Schon immer mußten sie als Kinder auf die Minute pünktlich sein. Verspätete sich sein Vater in seinem Anwaltsbüro, oder ein Termin im Gericht dauerte länger, schickte er immer einen Boten, oder er telefonierte,-sofern die Leitung in Ordnung war.
Raphael ahnte, daß irgend etwas geschehen sein mußte, das seinen Vater am Kommen hinderte.

 Er wußte, daß sein Vater ihn wie einen Augapfel hütete, nachdem Philipp vor zwei Jahren bei einer Schießerei ums Leben gekommen war. Aus diesem Grund kam Raphael auch auf dieses ehemalige portugiesische Internat, das zu den besten und sichersten in Angola zählte. Ursprünglich wollte ihn sein Vater nach Kinshasa in den Zaire zu Freunden bringen. Aber Raphael wollte von seinen Freunden nicht weg, und auch seine Mutter war dagegen; denn Elisa seine Schwester, war schon in Kinshasa als Krankenschwester und kam nur sehr selten nach Hause. Somit war er der einzige, den seine Mutter von all ihren Kindern noch hatte.
Er hoffte, daß Elisa auf Besuch gekommen war. Vielleicht hafte sie auch ihren Freund mitgebracht, um ihn der Familie vorzustellen. Auf diesen jungen Mann war Raphael am meisten gespannt; denn Elisa hatte ihm bei ihrem letzten Besuch viel von Patrice erzählt. Patrice stand damals vor seinem Theologieexamen. An Weihnachten waren Briefe auch von Patrice gekommen, in denen er Elisas Vater darum bat, seine Tochter heiraten zu dürfen. 

Ob sein Vater darauf geantwortet hatte, wußte Raphael nicht. Er wußte nur, daß sein Vater lieber gesehen hätte, wenn Elsa Yomo geheiratet hätte, der damals vor Philipps Tod um sie angehalten hatte. Vieles war geschehen, von dem Raphael nichts wußte, von dem auch danach nie mehr gesprochen wurde. Tatsache blieb, daß seine Schwester nach dem Tod ihres Bruders Hals über Kopf Angola verließ.
Raphael trug seine frisch gebügelte Schuluniform. Mit seinen knapp sechzehn Jahren war er ein hochaufgeschossener, schlaksiger Junge. Die großen Augen in dem tiefbraunen Gesicht wirkten immer etwas verträumt. Er liebte es, in der Schule Theater zu spielen, Gedichte zu rezitieren. Fußball zu spielen gehörte mit zu seinen größten Leidenschaften.
Die Welt in dem großen, mit Stacheldraht gesicherten Schulgelände war noch heil. Man hörte wenig von dem, was sich im Land ereignete. Von den Massakern, die der Bürgerkrieg verursachte, drang so gut wie nichts hier herein. Und so drehten sich die Schulgespräche meist nur um Sport und die neuesten Hits. Auch der Tisch war für sie alle noch immer reichlich gedeckt. Es herrschte kein Mangel. Dafür mußten die Eltern horrende Preise zahlen. Tag und Nacht wurde das Schulgelände von Soldaten mit scharfen Wachhunden bewacht. Die Angst vor Überfällen und Anschlägen seitens der UNITA war groß. Raphael hatte einiges mitgehört bei der Diskussion am Elternabend, bei dem gefordert wurde, das Gelände noch mit einem Elektrozaun zu schützen. Angeblich waren Drohbriefe beim Direktor eingegangen.
Raphael suchte erneut das Schulbüro auf und traf dort auf seinen Sportlehrer Joseph Lumbogo.
»Du bist noch nicht abgeholt worden?« fragte er verwundert. Raphael schüttelte verneinend den Kopf.
»Die Telefonleitung ist wieder gestört, und über Funk hat man meinen Vater nicht erreichen können.«
»Ich fahre jetzt in die Stadt. Du kannst mitkommen.«
»Danke!« sagte Raphael erleichtert. Noch weiter zuwarten, wäre unerträglich geworden.
Der Sportlehrer schloß das Büro, ging noch einmal zu dem weißen Pater, der mit dem schwarzen Direktor, der aus Kuba stammte, die Verwaltung der Schule hatte, um dort die Schlüssel abzugeben.
Das Gepäck war schnell in der altersschwachen Limousine verstaut, -und Raphael konnte neben Lumbogo Platz nehmen. Es dauerte einige Minuten, bis der Motor lärmend ansprang. Die Hühner stoben aufgeregt, um ihr Leben fürchtend, zur Seite, als sie die Allee entlangfuhren. Der Gärtner schien auf sie gewartet zu haben, denn er schloß sofort das Tor hinter ihnen.
Im Autoradio schrillte Musik, zu der Lumbogo laut sang. Er war froh, bald seine Frau und seine kleine Tochter wiederzusehen. Raphael hatte seine langen Beine zwischen Schachteln und Kisten gelegt. Lumbogo hatte alles mit Lebensmitteln vollgestopft, um das Osterfest mit den vielen Tanten und Onkeln seiner Familie gebührend feiern zu können.
»Ich würde- mich freuen, wenn du mich einmal besuchen würdest«, und er nannte ihm kurz seine Straße und beschrieb das Haus, in dem er wohnte.
»Wenn es mein Vater erlaubt, werde ich gerne kommen.«
»Bei mir und meiner Familie geschieht dir nichts. Ich würde
gerne mit dir zusammen Tennis spielen.« -
Die Sonne hafte sich hinter grauen Dunstwolken verborgen, als sie in die Stadt hineinfuhren. Sie erreichten die palmenbewachsene Strandpromenade. Wie ein Spiegel lag das Meer vor ihnen. Frachter wurden entladen. Man sah, wie die quietschenden Krähne mit ihren Lasten hin und her schwenkten.
Raphael fiel auf, daß mehr Militär auf den Straßen patrouillierte. Fast an jeder Straßenkreuzung standen schwerbewaffnete Soldaten und gepanzerte Fahrzeuge. Langwierige Kontrollen mußten sie passieren. Raphael sah Häuserruinen, verbarrikadierte leere Läden, zerschlagene Fensterscheiben. -Das Trottoir wies tiefe Löcher auf. Von dem letzten niedergegangenen Regen hatte sich hier eine trübe schmutzige Brühe gesammelt. Zerlumpte Kinder durchwühlten die Müllcontainer und suchten etwas zum Essen. Der Lehrer sowie Raphael waren verstummt. 

Sie verließen an der Kreuzung den Boulevard Avenida Marginal. Von der ehemaligen modernen Geschäftsstraße war nicht mehr viel an Pracht übriggeblieben.
An all das Elend, den Schmutz, den Gestank in den Straßen der Stadt, mußte sich Raphael erst wieder gewöhnen. Das war immer so, wenn er nach langer Abwesenheit wieder zum ersten Mal in die Stadt kam.
Das Stadtviertel, in dem Raphaels Familie wohnte, war früher den reichen Weißen vorbehalten gewesen. Heute wohnten in den ehemaligen Villen viele Regierungsmitglieder und die Führungsschicht Angolas.
Lumbogo fuhr an den Straßenrand, ließ Raphael aussteigen, reichte ihm noch seine Tasche heraus und fuhr schnell weiter, obwohl Raphael gerne gehabt hätte, wenn sein Lehrer, den er sehr verehrte, noch mit ihm ins Haus gekommen wäre, um wenigstens einen Drink zu nehmen. Dabei hätten Mutter und Vater ihn kennengelernt.
Raphael drückte mehrmals auf die Klingel. Doch nichts rührte sich, kein Tor wurde geöffnet. Sonst war immer der alte Petro oder Lioba, die Köchin, zum Öffnen gekommen. Verstört nahm er seine Tasche und versuchte sein Glück am hinteren Eingang bei der Garage. Hier war die Tür zwar verschlossen, doch er konnte sie nach kurzem Dagegenstemmen öffnen. Die Terrassentür stand weit offen, und so gelangte Raphael in das große Eßzimmer. Er rief laut nach seiner Mutter, erhielt aber keine Antwort. Er ließ die Tasche auf dem Boden stehen und ging weiter über den Flur hinüber zur Küche.
Am Herd stand seine Schwester, und das erfüllte ihn mit einer solchen Freude, daß er seine Arme weit ausbreitete und die junge Frau von hinten fest umfing.
»Elisa, wie habe ich mir gewünscht, dich zu sehen, und nun bist du wirklich aus dem Zaire gekommen.«
Elisa war so überrascht, daß sie im ersten Moment nichts sagen konnte. In seiner Wiedersehensfreude wurde sie von Raphael fast erdrückt. Er hatte Angst gehabt, seine Familie könnte hier nicht mehr wohnen.
Elisa küßte ihren Bruder und stellte dabei erstaunt fest: »Du bist noch ein Stück gewachsen. Bald hast du uns alle überrundet. Mit wem bist du denn gekommen? Vater ist erst vor einer Stunde weggefahren, um dich zu holen. «
Raphael verstand nicht ganz.
»Ich habe schon gestern auf Vater gewartet, da er mir versprochen hatte, an der Abschlußfeier teilzunehmen. Ich bekam einen Preis, bin Schulbester geworden. Mit meinem Sportlehrer konnte ich heute in die Stadt fahren. «
Raphael sah, wie Elisas hübsches Gesicht fahl wurde und ihre Stimme leicht zu zittern begann. »Am Tisch hat Vater noch davon gesprochen, daß man ihm am gestrigen Tag einen Brief deines Direktors ausgehändigt hatte, worauf mitgeteilt wurde, daß eure Schulfeier erst heute stattfinden würde. Vater wurde in dem Brief aufgefordert, eine Rede an die Eltern zu halten, da er deren Vorsitzender war. Das Schreiben hat er mix noch zum Lesen gegeben, bevor er ging.
Elisa stellte den Topf vom Herd weg und drehte das Gas ab, dann wandte sie sich wieder Raphael zu.
»Mama wollte noch mit, aber dann hatte sie Kopfschmerzen bekommen und mußte sich darum niederlegen. Du weißt ja, immer wieder hat sie auch mit ihren Herzanfällen zu kämpfen. Darum wollte Vater, daß sie im Haus blieb.«
Elisa führte ihren Bruder in das Wohnzimmer und goß ihm ein Glas Orangensaft ein.
»Du hast bestimmt Hunger. Ich werde dir etwas zum Essen bringen.«
Raphael schüttelte den Kopf. Nach Essen war ihm jetzt nicht zumute. Er kippte den Saft in einem Zug hinunter und goß sich noch einmal das Glas voll.
»Ich werde Mama wecken und ihr sagen, daß du hier bist. Wie wird sie sich freuen.«
Raphael blickte sich im Zimmer um. Hier war alles noch so, wie er es gewohnt war. An den weißen Wänden hingen die Bilder, die er seit seiner Kindheit kannte. 

Die großblumigen Sessel standen um den niederen EbenhoLztisch, auf dem eine Schale mit Orangen
stand. Vaters riesiger Schreibtisch vor dem Fenster war so penibel aufgeräumt wie immer. Die Uhr an der Wand tickte gleichmäßig, zeigte an, daß die Zeit wie immer nach ihren Gesetzen verstrich. Und doch wußte Raphael, daß Änderungen bevorstanden. Instinktiv fühlte er es. Er stand auf, als er seine Mutter an der Seite von Elisa kommen sah.
»Mama«, flüsterte er leise und umarmte sie.
Zärtlich strich ihm Mata über das krause Haar. Tränen perlten in ihren Augen, und sie drückte Raphael fest an ihre Brust, strich ihm mehrmals über das Gesicht, so als müsse sie sich wirklich überzeugen, daß er leibhaftig vor ihr stand und sich nicht wie ein Traumbild auflösen würde.
Raphael sah das Gesicht seiner Mutter so dicht vor sich, daß er darin jede Falte wahrnehmen konnte. Erschrocken stellte er fest, wie sehr sie gealtert war in den Monaten, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte.
Wie immer war ihr Gesicht hervorragend geschminkt, doch die Spuren von Angst und Leid waren nicht einfach hinwegzuwi-schen. Bedrückt schwieg Raphael, blickte aber seine Schwester vielsagend an mit der stummen Bitte, ihm endlich zu sagen, was passiert war.
Indem Zimmer war es sehr heiß, weil keiner der Ventilatoren für Kühlung sorgte. Wieder einmal war der Strom ausgefallen. Doch trotz der Hitze fror Mata, und Elisa legte ihr einen Schal um die Schultern.
Matas Blick irrte hinüber zu dem geschlossenen Fenster. Dann bat sie Elisa, auch die Terrassentür zu schließen und den Riegel vorzulegen. »Man muß etwas unternehmen«, überlegte Elisa. »Ich könnte versuchen, eine Taxe aufzutreiben und damit Vater nachfahren.«
Mata wandte den Blick von dem Fenster nicht ab. Tonlos sagte sie. »Vater wird nicht wiederkommen. Der Brief war die Falle. Sie ist nun zugeschnappt und hat ihr Opfer gefangen.«
Raphaels Augen blitzten auf.
»Wer will Vater etwas tun? Wer will ihn töten?«
Mata seufzte schwer. »Dein Vater hat viele Feinde, mein Sohn. Bis jetzt spielten sie nur wie die Katze mit der Maus. Heute haben sie nun zugeschlagen.«
Raphael wehrte sich und rief beschwörend: »Mama, du siehst einfach zu schwarz. Vater wird wiederkommen.« Seine Mutter gab darauf keine Antwort, stand auf und ging mit schleppender Schritten hinaus. Raphael wollte ihr nachlaufen, doch Elisa hielt ihn zurück.
»Mama mußt du jetzt allein lassen. Sie muß mit all dem fertig werden.« Elisa setzte sich in den Sessel und zog Raphael an ihre Seite, so daß er auf der gepolsterten Lehne Platz nahm.
»Seit sechs Wochen bin ich hier, Raphael, und während der ganzen Zeit wurden Drohbriefe geschickt. Man hat sogar draußen auf der Straße geschossen, und Mama entging nur knapp einem Anschlag. Vater entging in der letzten Woche nur knapp einer Entführung. Mehrmals hatte er versucht, mit seinem Partner Alfredo Mesquitas Verbindung aufzunehmen, aber dessen Büro war immer unbesetzt. Wir erfuhren nur, daß er angeblich nach Cabinda gegangen sei, um dort Geschäfte zu erledigen. Auch andere Freunde von Vater meldeten sich nicht, als er um ihre Hilfe bat.
Wir müssen weg, Raphael. Vater will, daß du und Mutter die Stadt verlassen, um mit mir nach Kinshasa zu gehen. Dazu hat er, soviel ich weiß, auch schon Vorbereitungen getroffen.«
»Aber warum? Vater hat sich doch nie etwas zuschulden kommen lassen.« Raphael dachte daran, daß er alles aufgeben sollte, die Schule, seine Freunde, seine Heimat hier. Das schien ihm unerträglich, schon der Gedanke daran schmerzte.
Elisa entging nicht der Kummer auf Raphaels Gesicht, und zärtlich verstehend strich sie ihm über die Hände.
»Wir müssen alle etwas aufgeben, mein Bruder. Auch mir ist damals der Weg von Luanda nach Kinshasa nicht leicht gefallen. Doch ich lernte auch dort zu leben.«
»Trotzdem verstehe ich noch immer nicht«, sagte Raphel. »Alles kommt so plötzlich.«
»Seit Vater sich von seinem Partner und ehemaligen Freund Alfredo Mesquitas getrennt hatte, begannen anscheinend die

@1990 Christliches Verlagshaus Stuttgart

Thielicke Helmut, Das Bilderbuch Gottes

06/17/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Wie jämmerlich ist es, sich einen Christen zu nennen und doch inmitten des Vaterhauses ein Fremdling und ein mürrischer Pflichtmensch zu sein; und wie herrlich ist es, täglich neu des Wunders innezuwerden, daß jemand da ist, der uns hört, der auf uns wartet, der alles wunderbar für uns ordnet und auf= gehen läßt, wo wir uns in Sorgen zergrübeln, und der uns auch dereinst in unserem letzten Stündlein, wenn wir aus der Fremde und dem wilden Abenteuer unseres Lebens heirnkeh= ren, auf den Stufen des ewigen Vaterhauses erwartet und uns dahin geleitet, wo wir ewig-ewiglich mit Jesus sprechen dürfen und wo jener Friede uns umfängt, den wir hier schon zu schinedcen begonnen haben.

Das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus
Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich mit Purpur und köstlicher Leinwand und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer mit Namens Lazarus, der lag vor, seiner Tür voller Schwüren und begehrte sich zu sattigen von den Brosamen die von des Reichen Tische fielen doch kamen die Hunde und lecktest ihm seine Schwirren
Es begab sich aber, daß der Arme starb und ward getragen von den Engeln- m Abrahams Schoß Der Reiche aber starb auch und ward begraben Als er nun in der Helle und in der Qual war, hob er seine Augen auf und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß Und er rief und sprach Vater Abraham erbarme dich mein und sende Lazarus, daß er das Äußerste seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham
• aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat BösS emp fangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt.

Und über das alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß, die da wollten von hinnen hinabfahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herübrfahren.
Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham sprach zu ihm: Sie haben Mose und die Propheten; laß sie dieselben hören. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham; sondern, wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn jemand von den Toten aufstünde.
LUKAS 16,19-31
Diese Geschichte hören 'die kleinen Kinder und auch die aus= gewachsenen Leute besonders gern. Da scheint für einen Augenblick der Vorhang vor der geheimnisvollen Landschaft. - des Jenseits hinweggezogen zu sein, und Himmel und Hölle werden sichtbar. Es tut der kindlichen Phantasie und es tut dem alten Adam in uns Erwachsenen besonders gut zu sehen, wie der reiche Mann, der es in diesem Leben so gut gehabt hat, drüben in der Hölle gründlich gezwickt wird, und wie der arme Mann endlich einen Ausgleich für alle erduldeten Schmerz ren erhält Das scheint eine Geschichte von dem großen. Wels machen im Jenseits zu sein Dabei mag uns so etwas wie woh= lige Märchenstimmung aus ges chichtenf rohen Kindertagen umhüllen. Das ist dann wohl die gleiche Stimmung wie bei den Erzählungen vom »lieben Gott«, an die wir uns aus frühen Tagen erinnern.
Aber dann werden wir älter, und ganz allmählich blickt uns dieser Heiland, blickt uns diese Geschichte mit fragenden und fremden Augen an: Ist Jesus von Nazareth wirklich jener Heiland
aus Kindertagen, der einst so sanft und behütend m unser Leben trat? Wir lesen als erwachsene Leute so ganz andere Dinge von ihm. Wir lesen, daß er gekommen sei, das Schwert und nicht den Frieden zu bringen. Und in der Tat, wir sehen, wie die Geschichte erfüllt ist vom -Waffenlärm feindlicher Heerhaufen, die sich um seinetwillen entzweiten Wir sehen, wie überall da, wo er in Erscheinung tritt und ernsthaft verkündigt wird, zugleich der Antichrist auf dem 
Plan ist Wir brauchen weder in die zeitliche noch in die räumliche Ferne zu schweifen, um den Kampf und die Zerrissenheit der Geister wahrzunehmen, die an Jesus von Nazareth zu entstehen pflegen. 

Wahrlich, diese Gestalt sieht für uns anders aus als in harmlosen Kindertagen. Und auch diese rührende »Kindergeschichte« vom reichen Männ und arten Lazarus blickt uns aus veränderten Augen an: Stimmt denn diese merkwürdige Umkehrung der Schicksale jenseits des Grabes? Könnte die Erfindung dieses Ausgleichs im Drüben nicht aus dem bösen Motiv stammen, daß man die Elenden mit ihrem Geschicke versöhnen will weil man keine Energie oder auch nicht den guten Willen hat, es zu ändern? Könnte also dieser Ausgleich nicht auf dem beruhen, was Nietzsche einmal die»Jenseits-Korruption« nennt? Oder konnte der Gedanke vom reichen Manne m der Hohe nicht aus dem Haß der Zu-kurz-Gekommenen stammen?

Es wäre falsch, die Geschichte so verstehen zu wollen. Gerade bei ihr kommt Entscheidendes darauf an, das Schlüsselloch zu entdecken, von dem her sie sich aufschließt. Dieses Schhjjsselz loch ist nichts anderes als die Rede Abrahams, in der er sagt, daß man Mose und die Propheten hören müsse, wenn man mit seinem ewigen Schicksal ins reine kommen wolle. Es kommt darauf an, daß man als einer der fünf Brüder dem Worte Gottes gegenüber die richtige Stellung findet. Das Ist sozusagen die Pointe der Geschichte. Nur von hier ans schließt sie sich auf.
Dann aber erleben wir eine Überraschung: Das Geheimnis und Verhängnis des reichen Mannes besteht gar nicht in seinem Geldbeutel, sondern in seinem- Verhältnis zu - eben diesem Wort Hier fallen die letzten und eigentlichen Entscheidungen seines und unseres Lebens Und im Lichte dieser Entscheidungs= frage wollen wir jetzt einmal die beiden Gestalten beobachten. »Es war ein reicher Mann.« Schon in diesen Worten kommt zum Ausdruck, daß im Leben dieses Mannes etwas nichtS stimmt Nicht als ou es böse -und gottlos wäre, wenn jemand reich ist, und als ob es umgekehrt ein Zeichen von Frömmigkeit wäre, wenn man arm ist oder auf Pump lebt. Aber es ist doch schrecklich, wenn dies . das einzige und sozusagen Erschöpfende ist, was von einem Menschen gesagt werden kann: Er sei eben »reich« gewesen. Wenn ich für' einen verstorbenen Verwandten oder Freund.. eine Todesanzeige abfasse, dann suche ich doch in einem einzigen Satz etwas möglichst Charakteristisches von ihm zu sagen. Meinetwegen: Er .war ein. guter, die Seinen umsorgender Vater. Oder: Er war ein sozialer Betriebsführer. Oder: Er war ein treuer Freund. 

Und nun denke man sich, daß hier über einen Menschen nichts anderes zu sagen ist, als daß er sehr reich war, daß er alle Tage herrlich und in Freuden lebte und daß er über eine pompöse Garderobe verfügte. Nichts anderes prägte sich dem Gedächtnis seiner Mitmenschen ein. Offenbar hatte auch er selbst nichts anderes im Sinn. Er ging eben darin auf.
Solche Leute, die in ihrem Reichtum aufgehen, müssen laut toben und feiern, damit sie nicht sehen, daß es ganz dicht neben ihrem Lebensraum noch eine andere Wirklichkeit gibt: die Welt der lichtlosen Bunker und der armen Baracken; den Lazarus mit seinen Geschwüren und seinen schmutzigen Lumz .pen. Darum macht der reiche Mann die Augn zu, wenn er in seiner Karosse einmal durch die Elendsviertel fahren muß. Er kann, den Gedanken nicht ertragen, daß es ihm auch einmal so gehen könnte. Denn er wäre nichts mehr, wenn er seinen Lebensstandard einbüßte. Er ist so durch und durch hohl, daß er wenigstens diese Schale des Besitzes braucht, um nicht leere Luft zu sein. Er kann die Schwären des Lazarus nicht sehen, weil ihm Purpur und Seide sonst auf der eigenen, so wohl gebadeten und parfümierten Haut zu jucken begännen. Darum muß Lazarus an die Hintertur, damit er ihn nicht sieht Wahrscheinlich hat er auch seine Fenster verrammelt, wenn unten ein Leichenzug vorübergeht. Denn der reiche Mann mag nicht an das Sterben erinnert sein weil es ihn Abschied nehz men laßt von allem was sein Leben tragt, oder besser was sein nichtiges Leben zu einem Etwas aufbläht.

Er stiftet vielleicht auch große Summen damit die Geisteskranken in Anstalten kommen. Das sieht sehr .sozial ‚ aus. Aber in Wirklichkeit will er sich nur ihrem Anbl1dc entziehen. Denn er hat mitten in seiner Herrlichkeit Angst vor den dunklen, bedrohlichen Möglichkeiten, die einen im Leben uberfals len könnten. Wie, wenn auch .in seinem Leibe das ‚tödliche Karzinom sich' eines Tages bildete? Darum wischt, er sich das ‚Elend krampfhaft aus den Augen. .
Und' noch einem geht er aus dem Wege: Das ist Gott. Er hat zwar die ganze Welt gewonnen, der reiche Mann, er verfügt über Landsitze, Karossen, Bankkonten und vor allem über Menschen. Aber er ist dabei lieblos, egoistisch und angstvoll geworden. -Er hat allen Grund, anzunehmen, daß er Schaden an seiner Seele genommen habe. Darum weicht er dem aus, vor dem er seine Seele verantworten muß. Und den Mann, der ihn an diese Verantwortung erinnert, Lazarus, seinen Nächsten, verweist er an die Hintertür.

Man könnte den Sinn dieser Geschichte nicht schlimmer vr fehlen, als wenn wir jetzt als Leute, die selber, nicht über ein so hohes Bankkonto verfügen, befriedigt mit dem 'Kopfe nilc= ken und sagen würden; »Wir sind doch bessere Leute.« In irgendeiner Beziehung nämlich ist jeder von uns reich, und an irgendeiner Stelle unseres Lebens spielt darum auch die Frage eine Rolle, ob wir als solche reichen Leute nun auch unseren Bruder Lazarus verachten und ihn in Gedanken an die Hintertür verweisen.

Vielleicht sind wir begabte, geistig reiche Menschen, die Freude an schönen Büchern und interessanten Charakteren haben, und sehen mit Verachtung auf einige Tangojiinglinge und -mädchen unserer Bekanntschaft herab, die im Flachlande zwischen Kino und Sexus, zwischen Magazinen und Fernseh. 'Stumpfsinn einherleben. Haben wir je daran gedacht, in wein chem Elend und welcher Leere sie dahinleben, und daß wir sie durch' die frostige Überlegenheit unseres reichen und vielleicht noch' christlich vertieften Innenlebens nur noch mehr ins Elend stoßen und der Hintertür-Existenz überlassen?
Vielleicht sind wir auch reich, weil wir geliebt werden-- ge liebt von unserem Gatten, unseren Kindern, unseren Freunden. Im Nachbarhaus aber wohnt eine 'alte, schrullige Jungfer mit bitter verschlossenem Mund, vor der die kleinen Kinder und die jungen Hunde davonlaufen. Sie ist uns ein willkommener Kontrast zu unserem 'eigenen Reichtum an Liebe. 

Ja (denkt es in uns), wir werden ebennicht umsonst geliebt. Wir stel= l - en ja auch etwas vor! Und indem die Jungfer das spürt , in - dem sie sich durch hundert kleine Gesten ihrer Umgebutig immer neu auf die Schattenseite und an die Hintertür des Lebens verwiesen sieht, wird sie bitter und bitterer, und ihre Bitterkeit wird uns einmal im Jüngsten Gericht verklagen
Wie manches Mal erschrecken wir auch über einen Selbstmord oder einen Nervenzusammenbruch - in unserer näheren - oder weiteren Umgebung Wir merken plötzlich: Da war einer, der an unser aller Lieblosigkeit zugrunde gegangen ist, der im Schatten lebte. Und wir selber wichen diesem Mann im Schatten immer aus. Wir empfanden Angst und - Unbehagen gegenüber seiner Armut und seiner erkältenden Bitterkeit. So stießen wir ihn in immer tiefere Einsamkeit. Und niemand fand sich, der ihn aus seiner Isolierung und Verschollenheit herausgeliebt hätte. - Jeder von uns hat irgendwie und irgendwo den armen Lazarus vor seiner Tür liegen, weil jeder, auch der Ärmste, irgendwie-und irgendwo ein reicher Mann ist. Wir sollten dieses Gleichnis also nicht vorschnell dadurch entschärfen, daß wir den reichen Mann für einen Lumpen, einen Schieber oder eine Sozialbestie halten, um dann befriedigt festzustellen: »Wir sind das alles nicht!« Der reiche Mann war das alles vielleicht auch nicht: Er hatte nur Angst davor, in eine allzu enge Berührung mit dem Elend zu kommen. Er hatte Angst vor dem Arme-Leute-Geruch, denn das hätte ihm seinen Wohn- und Lebensstil, das hätte die Glätte seiner Lebensbahn für ihn - fragwürdig gemacht Er sehnte sich doch nach Sicherheit, der reiche Mann. Wer aber sicher sein will, muß sich vor Infragestellungen hüten.

Wahrscheinlich fühlte der reiche Main - vielleicht in Nacht= stunden, deren Einsamkeit auch die - besten Daunenbetten nicht - zu vertreiben vermochten - gelegentlich sehr genau, daß in seinem Leben etwas nicht in Ordnung war. Darm traten bange Bilder vor seine Seele: Die Elenden zogen an iluri vorüber und blickten ihn an, und seine Villa war auf einmal eine schmie=. rige Baracke. Was er tagsüber verdrängte, das trat nachts in seine Träume und verklagte sein hartes, fuhlleses Herz Darum tat er das, was die meisten Leute in solchen Fällen tun- Er - suchte sich ein moralisches Alibi zu verschaffen. Er suchte sich und anderen zu- beweisen, daß er doch ein Herz für die Armen und daß er offene Hände habe. So gab er Wohltätigkeitsfeste für die Armen, bei denen es nicht nur hoch herging, sondern bei denen auch erhebliche Summen für wohltätige Zwecke her aussprangen. Auch von seinem Bankkonto zweigte, er immer wieder erhebliche Beträge an die Innere Mission und an die organisierte Nächstenliebe seiner Stadt ab Endlich hell er sich - auch zum Vorsitzenden eines gemeinnützigen Komitees' wilen, bei dem er sich durch einen seiner Herren vertreten ließ Er liebte es, als forderndes Mitglied dieser sozialen und huma.. nitären Bestrebungen im Hintergrunde zu bleiben. Das legte man ilun als Bescheidenheit aus. In Wirklichkeit aber wollte er ein schützendes Medium zwischen sich und das Elend schal.. ten. »Persönlich« wich er Lazarus aus. Man konnte ihm und seinesgleichen doch viel besser durch die überlegene Planung unpersönlicher Organisationen helfen. »Es kommt doch diesen Leuten nur zugute«, sagte er, »wenn man auch die sozialen Maßnahmen rationalisiert» Unmittelbar und persöhlich dem anderen zu helfen; ist doch ganz unrentabel da erreicht man nur einpaa,r arme Leutchen und läßt seine Nächstenliebe nur en detail zum Zuge kommen, während ich sie durch organisa.. torische Planung en gros zur Verfügung steile.« Und er meint wenn er jeden Monat mittels Postscheck (nat-urlieh durch automatischen, Auftragsdienst!) einen Betrag an die Wohlfahrt schicke, habe er seiner Liebespffidit genügt. Dieser Betrag ist für ihn eine Art Talisman gegen die innere Unruhe. Denn Frieden hat der reiche Mann ja nicht.

Im Auto hat er einen Hampelmann; der soll ihm Glück bringen. Und sein Bankkonto soll ihm die ewige Seligkeit besorgst Warum soll man sich nicht auch; wenn man es sich leisten
kann, bei seinen »guten Werken« bedienen lassen? Die Haupt= sache ist doch, daß man sie tut So denkt er und geht wieder zurück in seine schönen Säle, in denen das Lachen der Freunde tönt und der Sekt in geschliffenen Kelchen perlt.
So stehen die innerlich und äußerlich reichen Menschen der Bibel vor uns; Leute mit Pfunden, denen viel gegeben ist. Ja, manchmal erscheinen die innerlich 'und äußerlich reichen Menz schert gerade als die am meisten gefährdeten. Denn alles, unser Leben groß macht und fasziniert - unser Geld oderwas unsere - Vitalität, unser Geliebtwerden oder unser glückliches Temperament - kann zwischen Gott und uns treten. Das alles können wir egoistisch genießen Auch die Freunde die wir uns machen, und die Hilfe, die wir spenden können wir egoistisch genießen. Selbst die größten aller Gaben: »Gut, Ehr, Kind und Weib«, können der Preis sein,, für den wir unsere Ewigkeit verkaufen Und diese Verkaufsajj0 kann schon ganz einfach und sehr verborgen damit einsetzen, daß wir den Lazarus vor unserer Tür verachten.

Nun geht das Geschehen zwangsläufig weiter. Es geschieht almälich das, was bei jedem von uns einmal mit tödlicher Sicherheit eintreten muß: Es geschieht, daß der Reiche stirbt. Und indem es so mit ihm wortwörtlich »zu Ende geht«, sieht er sich in die Gottesferne verstoßen. Jetzt zeigt sich, wie furchtbar anders die Maße sind, mit denen Gott unser Leben mißt, Wie töricht haben wir uns selbst eintaxiert, und wie töricht lassen wir uns von anderen eintaxieren!
Da sitzt der reiche Mann in. der Hölle und sieht von da aus seine eigene Beerdigung. Manchmal, zu seinen Lebzeiten, hat - sich in wollustigen Augenblicken seiner Eitelkeit vor" gestellt, wie prunkvoll sie sein würde. Wie viele Wohltätig" keitsvereine würden mitmarschieren, und sicher würde ihn der beste Prediger der Stadt in den Himmel heben, während die so . tausendfach von ihm beschenkten Armen in die Taschentücher schluchzten. Und nun sieht er diese seine Beerdigung tatsächlich. Aber er sieht sie von der Hölle aus. Und hier ist die Optik dann plötzlich und geheimnisvoll verändert. Es ist alles so beklemmend anders, als es seiner koketten Phantasie erschienen war. Gewiß, sie ist prunkvoll. Aber dieser Prunk erfreut ihn nun nicht mehr,
sondern tut ihm weh, weil er in schreiendem Widerspruch zu seinem eigentlichen Sein steht. Er hört, wie eine Schaufel Erde donnernd auf seinen Sarg fällt, und dazu spricht sein bester Stammtisdifreund die Worte: »Er lebte das S Leben uni seiner selbst willen.« Da will er dazwischenrufen (aber niemand hört ihn): »Ich habe mein Leben verfehlt;' ich leide Pein in dieser Flamme!«
Da fällt die zweite Schaufel nieder, und wieder schollen die Erdklumpen auf, seinem Mahagonisarg: »Er hat die Armen der Stadt geliebt«, sagt eine andere Stimme. - »Oh, wenn ihr die Wahrheit ahntet!«, möchte der reiche Mann dazwischen" schreien, >'ich leide Pein in dieser Flamme'«Und nun wirft der Religionsdiener, 'der beliebte AbM der Ge«' sellschaft, die dritte Schaufel; »Er war so religiös. Er hat uns Glocken, Glasfenster und einen .siebenarmigen Leuchter gestif" tet. 'Friede seiner Asche!« Und wieder schlagen die Erdklumpen
rummelnd auf seinem' Sarg auf. Oder ist es das Donnern des höllischen Kraters? »Ich leide Pein in dieser Flamme!«

Wie anders, wie erschreckend anders sind die Maße Gottes! Da ist nun noch der arme Mann. Er heißt Lazarus Das bedeutet soviel wie Gott ist mein Erbarnier. Abgesehen von Gott achtet tatsächlich niemand auf ihn Er lebt von den Brodcen, die ihmals Kudienabfall vor die Fuße geschüttet werden An der Hintertür des Hauses ist er stationiert. Das ist im wesent liehen alles, was äußerlich von ihmgesagt werden kann.
Wir wissen schon Jetzt darf man um Gottes willen kerne salbungsvollen Worte über den Segen der Armut sagen, genauso wenlg wie wir vorher vom Fluche des Reichtums zu sprechen hatten Der Reichtum hat den Reichen nicht in die Hölle und die Armut hat den Arm gebracht en nicht in den Himmel
Freilich hatte der arme Lazarus viele Versuchungen nicht zu bestehen die dem Reichen in seinem Leben entgegentraten. Aber man darf sich das nicht zu einfach vorstellen Gewiß Er hatte an seiner ruhigen Hintertür viel Zeit zum Nach= denken, naturlich auch über die ewigen Dinge Aber konnte es nicht sein, daß ihn gerade diese Zeit des Nachdenkens in die Erbitterung und ins Fluchen trieb so wie Hiob in seinem Elend schließlich nur noch fluchen konnte? Könnte es nicht sein, daß er in all der teeren und scheinbar so sinnlos vert brächten Zeit zwar »Zeit zum Beten« gehabt hätte, daß er aber einfach kernen Gebrauch davon machte weil er viel zu milde und hoffnungslos war? Not lehrt nicht nur beten; sie lehrt auch fluchen
Die Bibel meint nun, wenn sie von den »Armen« spricht, immer wieder eine besondere Art von Armut die nicht unbedingt etwas mit Geldmangel zu tun haben muß Sie denkt an die Zöllner und Dirnen, an die Menschen also, die sich keiner Verdienste, keiner Leistungen ruhmen kQnnen, die am der Grenze ,des Lebens stehen, die am Ende und insofern arm sind Wir alle sind irgendwann in unserem Leben schon einmal an diesem Ende und also ganz arm rind hilflos gewesen Wir alle haben schon einmal erlebt, daß uns alle Sicherungen zerschlagen - wurden: Vielleicht war das im Fliegerkrieg, im Gefangenen lager oder auch, als wir eine große Schuld aul uns lüden. Und vielleicht haben wir ausgerechnet in solchen Situationen erfahren, wie nah uns der Segen und die Behütung Gottes gerade dann war, wenn wir uns auf keine Dinge und Menschen mehr verlassen konnten. 

Gerade in solchen Stunden soll die verheißung Gottes gelten, daß wir dann, wenn wir nichts mehr in Händen haben und keinen Ausweg mehr sehen, alles auf Gott werfen und ihn in einer Ausschließlichkeit wie sonst nie uns sorgen lassen dürfen. -
Die Unsicherheit und Armut derer, die kein Dach über dem Kopf und kein Brot für den kommenden Tag haben, kann ihnen -aller menschlichen Schuld zum Trotz, die das zuläßt - durch Gottes Gnade zu einem Wissen darum werden, daß sie keinen Halt in sich -selber haben, wenn Gott sie nicht -hält; daß aber der Herr, der die Wolken am Himmel lenkt und die - Blumen kleidet, auch für sie einen Weg ebnet und mit seinen tlberraschungen wartet. Die Unsicherheit derer, die das Ge= wissen schmerzt, kann ihnen durch Gottes Gnade zum Hinweis darauf werden, daß es keinen Frieden gibt, den sich der Mensch nehmen könnte, daß aber Gott ein friedloses, ein zerschlagenes Herz nicht verachten und einem Menschenkinde Liebe schenken wird, das mit leeren Händen vor ihm steht.

Doch nun wechselt die Szenerie.- Wir sind- im Jenseits. Und von dieser anderen Seite des: großen Grabens treten plötzlich ganz andere Wertordnungen in Erscheinung. Manches leuchtet auf, was wir für eitel Schatten und Nacht hielten; und man dies zerbricht, worauf wir Häuser bauten.
Lazarus zum -Beispiel hatte im Leben nichts - außer dem einen, daß er mit dem Erbarmen Gottes rechnen konnte. Aber dieses eine begleitet ihn nun nach drüben und verläßt ihn nicht. Er - ruht aus in der ewigen Gemeinde seines Gottes. -Er darf seine Nähe atmen und unter dem Leuchten seines Angesichtes woh
neu. - - - -.
Der reiche Mann dagegen besaß alles, was das Leben zu bieten hat, was es aber als seihe Leihgabe auch zurückfordert, wenn der Mensch sich für immer verabschiedet Nun sitzt er drüben in seiner furchtbaren Einsamkeit, die er im Leben so klug zu verbergen wußte, und sieht aus der Ferne die Verklärung des Lazarus. Welch ein Gegensatz!
Das zu sehen, ist überhaupt die Hölle. Denn in der Hölle sein heißt -ja -nichts anderes, als in der Ferne von Gott sein, aber so daß man ihn sehen muß, daß man ihn sieht, wie ein Verdurstender
eine silberne Quelle erblickt, von- der er nicht trinken - darf. 

Das ist die Hölle die - Herrlichkeit Gottes sehen müssen, aber keinen Zugang zu ihr haben. Das Gegenteil zum Frieden Gottes und damit zur Erfüllung unseres Lebens istja nicht das Schweigen des Nichts, wie es die armen Selbstmörder suchen mögen, oder die Stummheit des Grabes oder das Nirwana, sondern das Gegenteil zu der ewigen Geborgen= heft besteht darin, jenen Zustand ertragen zu müssen, in dem auf ewig alles verwirkt ist und in dem uns der Glanz der ewigen Majestät nicht mehr erleuchtet, sondern verzehrt. »Wartet nur, wartet auf die erste Viertelstunde Schweigen«,
sagt Bernanos in seinem Roman »Tagebuch eines Landpfarrers«, »dann werden die Menschen das Wort hören. Nicht das Wort, gegen das sie sich gesträubt haben, das Wort, das ruhig
sprach: 'Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben<, sondein: >ich bin die auf ewig verschlossene Pforte, die Straße ohne Ausweg, die Luge -und die Verdammnis «
Aber, so werden wir nun wohl fragen müssen, leben nicht unzählige Menschen schon während ihres Lebens fern von Gott? Und-doch haben sie keinesfalls den Eindruck, daß sie in der Hölle seien. Im Gegenteil, sie freuen sich ihrer Ungebun. denheit und haben im besten Fall ein mitleidiges Bedauern für Lazarus, der auf Gott vertraut.
Doch das Leben auch des gottlosesten Menschen unterscheidet sich in zwei wichtigen Stücken von der Hölle:
Erstens: Hier auf Erden kann der reiche Mann, kann der Gottlose sich seinen wahren Zustand verbergen. Was bietet das Leben nicht an Überwältigend schönen Narkotika, die alle nichts anderes sind als mißbrauchte Gaben Gottes! Aber nun
in der Holle, hinter einer ganz bestimmten von Gott geseth tun
Grenze also, da fallen die Sicherungen. Was hier als Stich= Ramme heimlicher Selbstvorwurfe gelegentlich m einem auf= glimmen mochte und schnell erstickt werden konnte, ist dort ein schwelender Brand geworden. Was hier nur ein leise tickender Ton in unserem Gewissen ist, wird plötzlich zum Tuba=Ton des Weltgerichtes und kann nun nichtmehr über hört werden. Lazarus darf schauen, was er geglaubt hat; der reiche Mann aber muß schauen, was er nicht geglaubt hat. Zweitens; Einmal kommt der Zustand, in dem alle Entschei= -dungen endgültig gefallen sind. Hier werden wir noch gerufen, und dann haben wir das Wort. Einst aber tut Gott die Bücher -auf, und dann hat er das Wort. Hier fragt uns Jesus Christus, ob wir ihn- als »einzigen Trost -im Leben und im Sterben« haben wollen. Einmal aber verstummt diese helfende und tröstende Frage. Die Barmherzigkeit Gottes ist zwar grenzenlos;
renzen:los; aber sie wird nicht grenzenlos angeboten. Hier leben wir noch durch Göttes Gnade und Christi Verdienst im Zeichen des Doppelpunktes. Wir haben noch eine »Frist«; wir dürfen noch leben und heimkehren. Einmal aber kommt die End gültigkeit.
Auch Lazarus darf dann nicht zu ins kommen, und Vater Abraham darf ihn nicht mehr schicken, um noch einen mil= dernden Nachsatz, ein happy end, hinter diesem Punkte folgen zu lassen. Hatte Lazarus einst auf die Brotkrllmlein vom Tische des Reichen gewartet, so wartet der Reiche jetzt auf die Tropfen am Finger des Lazarus. Aber die Stunde der Heimsuchung, die Stunde der wartenden Barmherzigkeit Got= tes ist verronnen. Die »angenehme Zeit«. der »Kair69«, ist vorüber. Nun gähnt ein Abgrund, der nicht mehr überschritten werden kann.
Und hier in seiner äußersten Not empfindet der reiche Mann zum ersten Male so etwas wie liebe. Ausgerechnet -in der Hölle fühlt er sie, wo er diese Liebe höchstens fühlen, aber nicht mehr ausüben darf, und wo sie ihm nun als gestaute, nicht mehr abfließende Liebe selber zu Qual wird. Er- denkt -nämlich an seine fünf Brüder und sieht sie mit Schrecken in all ihrer Harmlosigkeit dahinleben, dahintorkeln - ohne eine Ahnung davon, daß in unserem Leben nichts Geringeres als das Schicksal der Ewigkeit auf dem Spiele steht. Es ist qual voll, so an sie denken zu -müssen, wie der Reiche hier in der Hölle an sie -denken und sie sehen muß. Es ist ja die Qual der Toten, daß sie die Lebenden nicht warnen können, so wie es die Qual der Reifen ist, daß die Irrenden nicht auf sie hören. -
Die Brüder denken: Erst wollen wir einmal unser Leben genießen und es ungestört für uns haben. Dann werden wir weiter sehen »Frist und Zeitgewinn ist unser Leben«, heißt es in Shakespeares »Julius Caesar«. Aber es ist nichts mit dem »Weiter-Sehen«! Jetzt ist das Feld reif zur Ernte, jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt wird die Frucht vom Feigenbaimi gefor den. Und wenn hier von Himmel und Hölle die Rede ist, dann geht es nicht um eine Geographie des Jenseits - was ginge ms die an? Was ginge uns jener glühende Erdkern an, in dem man das Inferno meinte lokalisieren zu lconnen' - Sondern dann ragt das alles in unsere Lebensstunde hinein. Dann soll das heißen: Diese meine Stunde ist nicht dadurch bestimmt, daß sie sechzig Minuten hat, sondern daß sie mit dem Ernst der Ewig= keit geladen ist und daßsie einmal abläuft - genauso wie diese Welt einmal abläuft, und wie der Jüngste Tag einmal über ihr aufgeht.
»Du bist einer von den fünf Brüdern des reichen Mannes«, das ist. der Schwerpunkt in dieser Botschaft. Du bist es, der da auf der breiten Bahn seines vielleicht noch jungen und zu.. kunftsreichen Lebens dahinzieht, der vielleicht das geheimnis volle Ziel dieser Straße für ein religiöses Phantasiegebilde und der die Wegkreuzung vor der du heute stehst, für einen
beliebigen Punkt hält.

Denke nicht, es 'käme ein Berichterstatter aus dem Jenseits, der das bestätigen 'könnte, was in Mose und den Propheten steht und was dir so unkontrollierbar und mythologisch erscheint Vater Abraham schickt dir diese okkulte Bestätigung nicht. Denn wer ein Interesse daran hat, Gott auszuweichen, wird auch eine Totenerscheinung für leeren Spuk und Ein.. bildung halten. Auch der Himmel wird sich nicht über uns öffnen, und kein Wunder wird Gott geschehen lassen, das uns in die Knie sinken ließe. Denn Gott ist kein Gott des Schocks, der deine Nerven will, sondern er liebt dich als sein Kind und will dein Herz.
So kommt, denn kein Toter, und so erklingt denn keine Hirnmelsstimne, so geschieht auch kein Wünder in den Wolken.
Es kommt dies alles nicht zu dir, der du einer von den fünf Brüdern des reichen Mannes bist. Wir haben nur das Wort, das Fleisch gewordene und gekreuzigte Wort, das so namen los still ist und das in dem zu uns kam, der so arm und verachtet war wie sein Bruder Lazarus. Denn dessen Bruder Wollte dieser Eine ja tatsächlich sein. Darum könnte er keine
Kapellen vor sich her marschieren lassen; darum verzichtete er auf den königlichen Prunk, auf den Effekt der Eindeutigkeit und auf nicht zu übersehende Demonstratiotien
Er wollte der Bruder der Ärmsten sein und ihnen auf diese Weise seine Liebe zeigen. »Wir lieben dich«, sagt Hermann Hesse einmal, »weil du unser einer bist.« Darum lag auch er wie sein Bruder Lazarus an der Hintertür der Welt, als er im btalle zu Bethlehem geboren wurde. Man hätte ihm seine Liebe, und Brüderlichkeit ja nicht geglaubt, wenn er in jener Pracht gekommen wäre, mit der menschliche Phantasie das Bild Got= tes zu umkleiden pflegt.

So kam er aus Liebe in großer Stillt, und man kann ihn nur hören und sehen, wenn man sein eigenes Herz ganz still - macht. Man muß seine guten Worte hören, die er zu den Armen und Stillen im Lande sprach. Aber man- kann sie nicht so hören, wie man die lauten Stimmen der Welt hört, wie man das Radio hört und die Schlagzeilen der Zeitung liest. 

Wenn man die Stille scheut, muß man ihn notwendig überhören. Dartun hat er auch die öffentlichen Wunder nicht geliebt; darum wird den fünf Brüdern, diesen Repräsentanten der Menschheit, auch heute nicht das Schauwunder des Boten aus dem Jenseits gewährt. Das würde sie seinem Herzen ja nicht begegnen lassen, das wurde nur ihre Nerven entzünden und ihnen im übrigen die Liebe verbergen, die sie allein heilen kann. 

Darum bleibt uns als den fünf Brüdern nichts anderes als eben »Mose und die Propheten« und alles das, was sie von diesem Einen zu sagen wissen. Wer hier nicht hört und sich hier nicht heilen läßt, dem können auch Botschaften aus dem Totenreich nicht mehr »ifen.
So liegt zwar ein hoher und' schrecklicher Ernst über dieser Geschichte die man im ersten Augenblick wie ein farbiges Märchen lesen mag. Hier ist von den Grenzen unseres Lebens und sogar von den Grenzen der Geduld Gottes die Rede. Nie mand kommt an 'dieser Geschichte vorüber, ohne, daß es ihm in den Ohren gellte: »Heute nacht wird man dein Leben for=dern. Wer bist du' und wo stehst du?«

Aber zugleich ist diese Geschichte von einem Trost und einer Freude erfüllt, die uns wie in einen bergenden Mantel hüllen; denn durch den, der diese Geschichte erzählt, sind 'wir fünf
Brüder ja nun tatsächlich angerufen. An dem Kreuzweg, den wir heute passieren und an dem wir die Entscheidung fallen müssen, wohin und wem wir in Zeit und .,Ewigkeit gehören wollen, da hängt er wie ein Mahn-mal an seinem Kreuze - als ein Zeichen, als ein aufwühlendes Zeichen dafur, daß ihm meine rechte Entscheidung so wichtig und ernst war, daß er für mich sterben konnte. 

Am Kreuzweg zwischen Hin-und und Helle hängt Jesus Christus Da ist er für dich und für mich
gestorben Da hängt er als ein Zeichen, daß der Weg zum Leben noch offen ist daß er durch ihn geöffnet ist daß die angenehme Zeit noch lauft, daß die Stunde der Heimsuchung noch nicht zu Ende ist daß der Vater noch auf uns wartet »Heute nacht wird man deine Seele fordern.« Aber die Ewigkeit, die sich in diesem Ruf mit majestätischem Ernst meldet, hat ihre Schrecken verloren durch den, der uns die Staue be reitet hat und uns in unserem Richter den Vater erkennen laßt Nun bin ich durch seine Liebe ein Lazarus geworden dem das Erbarmen Gottes treu bleibt in dieser und in der zukünftigen Welt Wenn ich lebe, dann lebe ich ihm Wenn ich sterbe, dann sterbe ich ihm, dann darf mich nichts aus seiner Hand reißen
Heute nacht wird Gott dein Leben von dir fordern Wer bist du? Wo stehst du? Heute nacht, heute nacht!

Das Gleichnis vom vierfachen Acker
Da nun viel Volks beieinander war und sie aus den Städten zu ihm eilten sprach er durch ein Gleichnis: Es ging ein Säemann aus, zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel etliches an den Weg und ward zertreten, und die Vogel unter dem Himmel fraßen 's auf. Und etliches fiel auf den Fels und da es aufging, verdorrte es darum, daß es nicht Saft hatte, lind etliches fiel mitten- unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten's. Und etliches fiel auf ein gutes Land; und es ging auf und trug hundertfältige Frucht. Da er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre( Es fragten ihn aber seine Jünger und sprachen, was dies Gleichnis wäre. Er aber sprach: Euch ist's gegeben, zu wissen das Geheimnis des Reiches Gottes; den andern aber in Gleich= nissen, daß sie es nicht sehen, ob sie es schon sehen, und nicht verstehen, ob sie es schon hören. Das ist aber das Gleichnis Der Same ist das Wort Gottes. 

Die aber an dem Wege sind, das sind, die es hören; danach kommt dör Teufel und nimmt, das Wort von ihrem Herzen auf daß sie nicht glauben und selig werden Die aber auf dem Fels sind die wenn sie es hören, nehmen sie das Wort mit Freuden an; aber sie -haben nicht Wurzel; eine Zeitlang glauben sie, doch zu - der Zeit der Anfechtung fallen sie ab. Das aber unter die Dor= nen fiel, sind die, so es' hören und gehen hin unter den Sor= - gen, Reichtum und Wollust dieses Lebens und ersticken und bringen keine Frucht. Das aber auf dem guten Land sind, die das, Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und -bringen Frucht in Geduld.


LUKAS 8,4-15
Ob wir die Wehmut herausgehört haben; die über dieser Ge schichte liegt? Dieses Gleichnis hat Jesus auf einem Höhepunkt seines Lebens und seiner Wirksamkeit erzählt. Die Menschen - sind in hellen Haufen herzugeströmt. Das Maithäus-Evange' 'lium- berichtet, daß Jesus schließlich in einen Kahn habe treten müssen, - um von dort aus zu sprechen. Wenn die Menschen so herbeiströmen, wenn sie das über Tagereisen hinweg tun und Hunger und Durst dabei auf sich nehmen, - wenn - sie UM tun, ohne dabei ein Geschäft zu machen oder einen Nerven= kitzel zu erleben, wenn sie das ganz einfach tun, weil hier ein Mann vorn Seligwerden spricht, dann sollte man doch meinen, daß die Heilsbegierde der- versammelten Menge und daß der glühende Strom ihrer -bereiten Herzen sich ansteckend und beglückend auf den Redner übertrüge. 

Ware Jesus ein Mensch wie andere, so hatte er mit seiner Hand auf die Menge gewiesen und zu seinen Gefährten gesagt: »Der tote Punkt ist überwunden; ein großer Dammbruch hat sich in den Herzen ereignet Ich bin gekommen ein Feuer anzuzünden auf Erden, und seht nur, wie es' schon brennt!« Aber von alledem geschieht nichts. Wer sich an dem idyllischen Bilde vom Saemann erbauen mochte, wer hierin ein Symbol der schöpferischen Fruchtbarkeit der Natur erblickt, der sieht sich im nächsten Augenblick schon beunruhigt durch erschrekkende und rätselhafte Andeutungen über die verstockende Wirkung der Gleichnisse Jesu Die friedvollen Bilder, die er In seinen Gleichnissen malt sind nicht einfach Illustrationen
@1957 Quell Verlag

Thomas W Ian, Christus in Euch - Dynamik des Lebens

05/28/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Major W. lan Thomas stammt aus einer gut bürgerlichen englischen Familie. Auf einer Freizeit hat er mit 12 Jahren Jesus Christus als seinen persönlichen Heiland angenommen.

Mit 16 Jahren bekam erden Ruf, sein Leben Gott zur Verfügung zu steilen und ihm als Missionsarzt zu dienen.


Während seiner Studienzeit wurde er von den verschiedensten Diensten und Aufgaben sehr stark in Anspruch genommen. Er schreibt darüber: „Es brachte mich in einen Zustand völliger geistlicher Erschöpfung, bis ich erkannte, daß es keinen Zweck hatte weiterzumachen." Zu dieser Zeit entdeckte Major Thomas das Geheimnis wahrer Hingabe an Christus. Der Herr sprach zu ihm:. Sieben Jahre lang hast du aufrichtig und ehrlich versucht, dein Leben für mich zu leben. Sieben Jahre lang habe ich darauf gewartet, mein Leben durch dich zu leben'
Seit dieser Zeit hat er das Evangelium in fast allen Teilen der Welt verkündigt.


Major Thomas ist der Gründer und Direktor der. Fackelträger Missionsgemeinschaft, deren internationales Zentrum sich in Capernway Hall bei Carnforth/Lancs. England befindet.
Wenn wir SohwierigkeitS haben, das Alfejösta-. ment zu verstehen —«es ist in unsere Zeit zu übertragen -‚ dann sollten wir zu dem Büchlein von Major W. [an Thomas greifen. Er versteht es meisterhaft, die Bilder und Ereignisse des Alten Testaments in ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung darzustellen. Es sind keine alten Geschichten mehr, sondern aktuelle Begebenheiten, die uns zeigen wollen, wie wir ein sieghaftes Leben führen können mit der Kraft des heute lebenden Christus.

Christsein ist mehr als das Ausüben einer Religion, mehr als das Streben nach Moral und weit mehr als sentimentale Träumerei von hohen Idealen. Die Tatsache, daß Jesus Christus selbst Leben und Inhalt des christlichen Glaubens ist, hebt das Christentum über all dies weit hinaus. Es macht den Glauben zu einem gegenwärtigen persönlichen Erlebnis. Durch den Herrn Jesus Christus wird das Christsein eine lebendige Erfahrung, durch Ihn allein kann es « funktionieren»: «Treu ist er, der euch ruft: er wirds auch tun» (1. Thess. 5,24). Er selbst, der dich ruft, vollbringt, wozu Er dich gerufen hat. « Denn Gott ist es, der beides, das Wollen und das Vollbringen, in euch wirkt, nach seinem Wohlgefallen» (Phil. 2,13). Christus selbst ist die Triebkraft zur Erfüllung Seiner Forderungen.

Christus hat mehr für dich als Seinen Tod am Kreuz, durch den du mit Gott versöhnt bist. Die Bedeutung dieses Todes ist auch nicht mit der Befreiung von einem belasteten Gewissen und der Tilgung vergangener Sünden erschöpft. Die Botschaft vom erlösenden Kreuzestod Christi ist wunderbar. Sie trifft aber nur in einem begrenzten, wenn auch sehr wichtigen Sinne zu. Römer 5,10 sagt: «Denn wenn wir mit Gott versöhnt sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wieviel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.» Hier ist von einem zweifachen Dienst des Herrn Jesus Christus für dich die Rede. Er versöhnt dich mit Gott durch Seinen Tod und erlöst dich durch Sein Leben. Christus erlitt den Tod, um Raum zu schaffen für Sein Leben - das Leben, durch das Gott auf Erden wirken will.

Die Frohe Botschaft trifft dich zuerst als Ruf zur Versöhnung, als Ruf Gottes, der dir Frieden anbietet: « So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch Lins; so bitten wir nun an Christi Statt: Laßt euch versöhnen mit Gott! Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber» (2. Kot. 5,20,19a).— Gott ist gerecht. In Seiner Gerechtigkeit muß Er uns als Sünder schuldig erklären, und Er hat das Todesurteil über uns ausgesprochen. Wir haben es verwirkt, Träger Seines Heiligen Geistes zu sein, sind entfremdet dem Leben aus Gott, tot in «Übertretungen und Sünden» (Eph. 2, 1). Doch vor mehr als neunzehnhundert Jahren erschien der ewige Gott in Christus in unserer Zeit; und die Hände dessen, der litt «als der Gerechte für die Ungerechten», sind uns entgegengestreckt, «um uns zu Gott zu führen» (1. Petr. 3,18). «Er hat unsere Sünden selbst hinaufgetragen an seinem Leibe auf das Holz» (1. Petr. 2,24).

Christus ist Gottes letzte Anrede an die Menschheit und Gottes letztes Wort an dich. Gott verlangt eine Antwort. Es genügt nicht, nur mit dem Verstande «Ja» zu sagen. Es bedarf einer Entscheidung, die deine gesamte Existenz betrifft. Darum ist das Evangelium so zwingend. Deine Antwort auf Gottes Anrede in Jesus Christus wird deine Stellung vor Gott bestimmen, deine Erlösung oder deine Verdammnis.
Trotzdem aber ist dies alles nur der Anfang, denn «wenn wir mit Gott versöhnt sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, viel mehr werden wir selig werden (eine fortlaufende Handlung) durch sein Leben, da wir nun versöhnt sind (eine abgeschlossene Handlung) ». Das ist der springende Punkt: Sobald ein Mensch Gottes Ruf zur Versöhnung folgt, empfängt er den Heiligen Geist, weil die Sünde als Hindernis zum Empfang des Heiligen Geistes vergeben ist. Dieses Wiederaufnehmen einer geistlichen Beziehung zu Gott durch die Gabe des Heiligen Geistes nennt die Bibel die Wiedergeburt. «Nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit machte er uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes, welchen er ausgegossen hat über uns reichlich durch Jesum Christum, unsern Heiland» (Titus 3, 5-6).
Der Herr Jesus Christus ist am dritten Tage auferstanden von den Toten. Er erschien Seinen Jüngern und lehrte sie vierzig Tage lang. Dann fuhr Er auf zu Seinem Vater. - Am Pfingsttage kehrte Er zurück. Jetzt nicht mehr, um äußerlich bei ihnen zu sein, sondern um von nun an in ihnen zu sein und ihnen Seine eigene göttliche Natur zu vermitteln. Gott hatte Ihm einst einen von Sünde unberührten Leib bereitet durch Seine Menschwerdung im Schoße der Maria«... empfangen vom Heiligen Geiste.» Jetzt aber, am Pfingsttage, wurden Seine Jünger Glieder Seines neuen Leibes: «Ihr seid aber Christi Leib und, als Teile betrachtet, Glieder» (1. Kor. 12,27). Durch diesen Leib offenbarte sich der Herr Jesus Christus fortan der Welt. Er sprach durch ihre Lippen; Er wirkte mit ihren Händen. Das war das Wunder der Wiedergeburt, und das ist bis heute Herz und Mitte der Frohen Botschaft!

«Treu ist er, der euch ruft; er wird es auch tun.» Er, der dich zu einem Leben in Gerechtigkeit ruft, lebt dieses Leben - auf dein Ja hin auch durch dich! Er, der dich ruft, der Menschheit in ihrer Not zu dienen, dient der Menschheit in ihrer Not - auf dein Ja hin durch dich! Er, der dich ruft, in alle Welt zu gehen, das Evangelium aller Kreatur zu verkündigen, geht mit hinaus, um aller Kreatur das Evangelium zu verkündigen - auf dein Ja hin durch dich! Dies ist Gottes Weisheit, die einen Menschen vor der Sinnlosigkeit vergeblicher Mühen bewahrt. So befreit Gott von nutzlosen Versuchen, sich am eigenen Haarschopf emporzuziehen. Ohne dieses Handeln Gottes würde der Ruf in die Nachfolge Christi nur Verzweiflung einbringen; das Schauspiel eines Idealisten, der, obwohl er es ganz ernst meint, fortwährend an seiner eigenen Unzulänglichkeit scheitert.
Wenn du Christus nur glauben würdest! Nicht allein dem Gekreuzigten, der starb, um dich zu erlösen, sondern auch dem Lebendigen, dessen Leben in dir und durch dich Gestalt gewinnen möchte. Dann könnte schon dein nächster Schritt in der Kraft und Vollmacht Gottes getan sein. Das wäre der Anfang eines Lebens, das im wesentlichen übernatürlich wäre, auch wenn es noch in das Alltagsgewand deines irdischen Leibes gekleidet ist. Mag dein Herz auch bei Christus im Himmel sein, hier stehst du trotzdem mit beiden Beinen auf der Erde. Christi Leben wird in den großen und kleinen Dingen sichtbar, aus denen unser irdisches Dasein besteht.
Durch den Glauben wirst du ganz, abhängig werden von dem Leben

@1972 Hänssler

Starkgemacht trotz aller Schwachheit, Tada, Joni Eareckson

04/22/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Starkgemacht trotz aller SchwachheitBV20290-10.jpg?1682154012166

Was für Menschen setzt Gott besonders gern ein, um seine Pläne auszuführen?
Betrachten wir zum Beispiel Gideon. Zu seiner Zeit hatte Israel sieben lange, schwere Jahre unter der Belagerung der Midia-niter gelitten. Eines Tages war er damit beschäftigt, Weizen zu dreschen, und zwar geduckt in einer Weinkelter, damit er nicht von den Feinden entdeckt werden konnte. Und da erschien ihm plötzlich der Engel des Herrn mit einer Botschaft.
„Der HERR mit dir, du streitbarer Held!" (Richter 6,12).
Man kann es sich geradezu bildlich vorstellen, wie Gideons Kopf aus der Kelter hochschnellte. „Wie bitte?! Hast du eben mit mir geredet?" Er war von seinen Freunden und Verwandten sicher schon mit vielen Namen gerufen worden, aber das hatte noch nie einer zu ihm gesagt1
In der Heiligen Schrift lesen wir weiter: „Der HERR aber wandte sich zu ihm und sprach: Geh hin in dieser deiner Kraft; du sollst Israel erretten aus den Händen der Midianiter. Siehe, ich habe dich gesandt!" (Richter 6,14).
Gideon war sich offensichtlich nicht bewußt, daß er überhaupt irgendeine Kraft besaß. Er geriet ins Staunen und Stottern und erinnerte den fremden Besucher daran, daß er, Gideon, doch eindeutig das schwächste Glied im geringsten Geschlecht des unbedeutendsten Stammes im schwachen Volk Israel war. Er kam nun einmal nicht mit einem ausgezeichneten Zeugnis frisch von einer militärischen Eliteschule. Wenn Gott auf der Suche nach einem tapferen Krieger war„ dann mußte er sich geirrt haben! Bestimmt hatte er in die falsche Weinkelter geschaut-
Aber
eschaut Aber es hatte schon alles seine Richtigkeit: Gott wollte Gideon haben und niemanden sonst. Als der „General wider Willen" diese Erkenntnis schließlich begriffen hatte, fing er an, eine große Armee zusammenzustellen. Doch zu seinem Schrecken mußte er bald hören, daß Gott diesen wichtigen Auftrag von einer mickrigen Truppe von nur 300 Mann ausführen lassen wollte.

Das schien geradezu lächerlich angesichts der riesigen Aufgabe. Nach dem biblischen Bericht füllten die Soldaten der Feinde ein großes Tal „wie eine Menge Heuschrecken, und ihre Kamele waren nicht zu zählen wegen ihrer großen Menge wie der Sand am Ufer des Meeres" (Richter 7,12).
Doch führte Gott mit Gideons kleiner Truppe alle seine Pläne aus. Und er sagte, sonst könnte sich Israel „rühmen wider mich und sagen: Meine Hand hat mich errettet" (Richter 7,2).
Nur ein paar Seiten vor dem Bericht über Gideon können wir die Geschichte von der Richterin Debora lesen. Zu jener Zeit hatten die Männer Israels allen Kampfesmut verloren, weil sie eingeschüchtert waren durch einen kanaanitischen Kommandanten mit Namen Sisera. 

BV20290-20.jpg?1682154072692Er verfügte über neunhundert eiserne Wagen! In der Bibel heißt es von ihm: „Er unterdrückte die Israeliten mit Gewalt zwanzig Jahre", und deshalb „schrien sie zum HERRN" (Richter 4,3).
Debora, die das Volk damals richtete, forderte den Heerführer Barak auf, an der Spitze von Israels Armee in den Kampf gegen Sisera zu ziehen. Die Reaktion Baraks war alles andere als die eines tapferen Mannes. Er sagte zu ihr: „Weit du mit mir ziehst, so will auch ich ziehen; ziehst du aber nicht mit mir, so will auch ich nicht ziehen" (Richter 4,8).
Debora erwiderte darauf: „Ich will mit dir ziehen; aber der Ruhm wird nicht dein sein auf diesem Feldzug, den du unternimmst, sondern der HERR wird Sisera in eines Weibes Hand geben" (Richter 4,9).
Israels Truppen gewannen den Kampf, aber Barak hätte es nie gewagt diesen Sieg sich selbst zuzurechnen. Debora, eine „Mutter in Israel", hatte die Truppen an der Front um sich geschart, und eine Frau mit Namen Jael tötete Sisera letzten Endes mit einem 1-Jammer und einem Zeltpflock.
In der Bibel heißt es abschließend dazu: „So demütigte Gott zu der Zeit Jabin, den König von Kanaan, vor Israel. Und die Hand der Israeliten legte sich immer härter auf Jabin, den König von Kanaan, bis sie ihn vernichteten" (Richter 4,23 + 24).

Gott gebrauchte also eine Frau in all ihrer Schwachheit dazu, einen Diktator und sein starkes Heer zu überwältigen. Debora konnte wahrscheinlich nicht einmal eine passende Rüstung in ihrer Größe finden, und doch stellte sie der Herr als ein Vorbild dar für alle folgenden Generationen. Gott wird sich immer gerade durch schwache Männer und Frauen erweisen, die sich ganz und gar auf seine Kraft und Gnade verlassen.
Vielleicht fühlen Sie sich heute ein bißchen so wie Debora oder Gideon. Sie haben nicht besonders viele Gaben, Ihre Talente sind keineswegs zahlreich. Sie werden sicherlich niemals
auf der Titelseite einer bekannten Zeitschrift erscheinen. Sie sind sich auch nicht sicher, ob Sie die Tischtennisgruppe in Ihrer Gemeinde leiten können, Sie haben immer wieder Schwierigkeiten,
den Überblick über Ihr Konto zu behalten, und Sie fragen sich oft, woher eigentlich andere Leute die Energie nehmen, um all das zu schaffen, was sie leisten. Genau wie Gideon müssen Sie zugeben, daß Sie weder das intelligenteste noch das stärkste Glied in Ihrer Familie sind.
Dann werfen Sie doch einmal mit mir einen Blick auf 1. Korinther 1,26-29:
„Seht doch, liebe Brüder, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das
hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache, und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme."

Fangen Sie nur einmal an, dieses Thema durch Ihre Bibel hindurch zu verfolgen! Sie werden auf Monate hinaus zu tun haben! Gott hat beispielsweise David ausgesucht, einen Hirtenjungen, um den größten und stärksten Kämpfer zu erschlagen, den die Welt bis dahin gesehen hatte. Oder wie war es mit Sara? Gott schreckte sie aus ihrem beschaulichen Rentnerinnendasein auf und sagte, daß sie ein Kind gebären und damit ein neues Volk begründen würde. Saras Frauenarzt hätte nur trocken gelacht, und das taten auch alle, die davon hörten. Aber nach neun Monaten lachten sie vor Freude über einen pausbäckigen, neugeborenen, gesunden kleinenJungen.
Wenn ich mich schwach und hilflos fühle, dann denke ich oft an diese Beispiele. 

Es hat Gott-eben immer wieder gefallen, gerade die Menschen auszuwählen, bei denen große Leistungen unwahrscheinlich sind, die keinerlei Reize haben, vor denen niemand herzieht und ihre Vorzüge preist. Gerade sie sollen seine Arbeit tun. Er hat mich ausgesucht, auch wenn ich kraftlos und keineswegs mehr als durchschnittlich bin. Und er hat genauso auch Sie ausgesucht, mit all Ihren Schwächen und Ihrer Unvoll-kommenbeit, trotz Ihrer Fehler und Ihrer verpaßten Gelegenheiten, ohne Rücksicht auf Ihre schwache Leistungsbilanz, Ihren schlechten Gesundheitszustand oder Ihren glanzlosen Lebenslauf.
Und dann, wenn die Aufgabe eines Tages erledigt ist und Gottes Werk sich in Ihrem Leben vollendet hat, wer wird dann wohl die Ehre und den Dank dafür bekommen?
Einmal, jenseits unserer Zeit, werden wir zusammen vor dem Thron Gottes stehen. Wir werden anerkennen müssen, daß er alles getan hat - durch seine Kraft, in Übereinstimmung mit seiner göttlichen Art, durch seine unglaubliche Gnade und zum Ruhm seiner Herrlichkeit.
Und wenn man dann bedenkt, daß er bei diesem Werk auch Sie und mich als Mitarbeiter haben wollte!

Ein Wort zum Festhalten
Lesen Sie einmal 1. Korinther 2,1-5. Können Sie sich das überhaupt vorstellen? Der Apostel Paulus als ein schwacher, ängstlicher Mensch, der sogar vor Furcht zittert? Was meinen Sie, warum hatte er eine solche Meinung von sich selbst? Wie wirkt dieses Beispiel auf Sie? Schöpfen Sie neuen Mut! Dennjetzt wissen Sie, daß Gott, der so große Dinge durch einen Mann tat, der oft vor Schwäche und Angst zitterte, ganz bestimmt auch Sie gebrauchen kann!

Sturmwarnung
Als der Orkan Diana" vor ein paarjahren auf die Küste von Ca-rolina zu raste, standen die Filmteams der Fernsehanstalten schon mit laufenden Kameras bereit. Und von unseren behaglichen Wohnzimmern aus konnten wir mit schreckgeweiteten Augen verfolgen, wie Sturmböen mit einer Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern Autos umwarfen, Fenster zerschmetterten und ganze Segelboote in die Schlafzimmer von Strandhäusern hineindrückten. Es war ein so heftiger Sturm, daß sich sogar Straßenlampen wie dünne Drähte bogen und zerbrachen.
Aber von all diesen Fernsehbildern ist mir eine Szene ganz besonders im Gedächtnis geblieben: Da konnte man in einer dunklen Seitenstraße einen einsamen Mann im gelben Regenmantel sehen, der sich krampfhaft an einem Telefonmast festhielt, während wahre Sturzbäche von Regen und ein brüllender Wind versuchten, ihn in die Finsternis zu schleudern.
Mir ist dieses Bild im Laufe der letztenJahre ab und zu wieder eingefallen. Ich denke manchmal daran, wenn ich Bibelverse lese, die davon reden, wie vollkommen schwach und hilflos wir Menschen doch eigentlich sind - geistig, körperlich und geistlich gesehen. Gott macht uns eins immer wieder eindringlich klar: Wir dürfen es überhaupt nicht wagen, uns selbst zuzutrauen, daß wir den richtigen Weg aus eigener Kraft gehen oder auch nur entdecken könnten.
Und genau aus diesem Grund verwendet Gott in seinem Wort viel Zeit darauf, uns daran zu erinnern, wie stark, sicher und verläßlich er ist. Wer hat das besser ausdrücken können als David?
„Vom Ende der Erde rufe ich zu dir; denn mein Herz ist in Angst; du wollest mich führen auf einen hohen Felsen. Denn du bist meine Zuversicht, ein starker Turm vor meinen Feinden. Laß mich wohnen in deinem Zelte ewiglich und Zuflucht haben unter deinen Fittichen" (Psalm 61,3-5).

Manche haben vermutet, daß dieser Psalm zu der Zeit geschrieben wurde, als David durch den Aufstand seines Sohnes Absalom gewaltsam von seinem Thron und aus der Stadtjerusalem vertrieben wurde. Das war vielleicht der dunkelste Tag in seinem recht bewegten Leben. Er fühlte sich gedemütigt durch eine Rebellion, die seine Führung zunichte machte, und außerdem getroffen durch die Treulosigkeit einiger seiner Freunde und Gehilfen, denen er am meisten vertraut hatte. Aber es war nicht nur das. Er mußte auch die bittere Erkenntnis ertragen, daß dieser Aufstand und diese Ablehnung von seinem eigenen, geliebten Sohn angefacht worden waren. In der Bibel lesen wir: „David aber ging den Ölberg hinan und weinte, und sein Haupt war verhüllt, und er ging barfuß" (2. Samuel 15,30).
Wie war David da wohl zumute? Es heißt ja im Psalm, daß sein Herz „in Angst" war. Er fühlte sich schwach und elend und ohnmächtig, er konnte kaum aufrecht stehen. Die finsteren Stürme von Feindschaft und Sorgen hatten ihm noch nie so hart ins Gesicht geblasen.
Und was betete er in dieser Lage? „Du wollest mich führen auf einen hohen Felsen." Das heißt: Herr, die Wellen schlagen über mir zusammen! Ich ertrinke darin! Ich brauche jetzt unbedingt einen starken Felsen, an den ich mich klammern kann, damit ich nicht untergehe, einen Turm, eine Zuflucht, in der ich mich verstecken und endlich Ruhe finden kann.
Dabei muß ich wieder an den Mann im gelben Regenmantel denken. Er war der rohen Gewalt der Natur und all ihrer zerstörerischen Kraft schutzlos ausgeliefert, und er klammerte sich fest an den einzigen Gegenstand, der in diesem Augenblick in seiner Nähe war und nicht mitgerissen wurde, an einen Telefonmast. In ähnlicher Weise setzt uns Gott manchmal der rohen Gewalt unserer Mitwelt, unseres Eigensinnes oder der Angriffe Satans aus. Wenn wir von Kummer und Nöten überrollt werden, überwältigt uns das Gefühl unserer gänzlichen Unvollkommenheit-unserer nvollkommenheit-unserer moralischen und seelischen Schwäche.
Wenn uns so zumute ist, werden wir auf Gott zugetrieben, um uns nur noch fester an ihn zu halten, nicht wahr? Wir lernen genau dasselbe wie der Mann, der mitten im Orkan stand und sich an den Mast klammerte. Denn dann kommt es darauf an, die be-steZuflucht, den stärksten Felsen, die festeste und unerschütterlichste Verteidigungsstellung zu finden und sich daran mit allen Fasern des Herzens festzuklammern - so, als ob das ganze Leben davon abhinge.

Der Orkan „Diana" ist heute nur noch eine schwache Erinnerung. Seit damals hat eine ganze Reihe von weiteren tropischen Stürmen den Golf von Mexiko und die Ostküste der USA heimgesucht, und ihre Namen verblassen im Laufe der Zeit. Wenn das Wetter wieder schön und sonnig ist, fällt es eben schwer, sich an die Schrecken eines Orkans zu erinnern
Vielleicht gibt es heute in Ihrem persönlichen Leben keine großen Stürme. Die Sonne scheint, kleine, schneeweiße Schönwetterwolken ziehen im sanften Windhauch vorüber. Aber das Leben ist eben unberechenbar. Plötzlich springt der Wind um und zieht uns in seinen Wirbel. Eine Versuchung kann uns aus heiterem Himmel überfallen. Und auch, wenn die Fernsehkameras nicht mitlaufen und die Ereignisse festhalten, so sieht die Welt doch sehr genau hin, wenn Gottes Kinder in einen gefährlichen Sturm geraten.
In einer Welt wie unserer hat es immer Sinn und Zweck, so nahe wie möglich bei Gott, unserer mächtigen und starken Zuflucht, zu bleiben.
Ein Wort zum Festhalten
„Er sich mitten im Sturm mit aller Kraft an
den Mast." Wenn Sie ein Reporter wären und den Mann im gelben Regenmantel beschreiben müßten, was für Worte würden Ihnen da einfallen? Halten, festkrallen, klammern?
Und welche Worte würden Sie gebrauchen, wenn Sie beschreiben sollten, wie Sie sich an Gott festgehalten haben, als die Stürme des Lebens an Ihnen zerrten?
Wenn Sie das nächste Mal erleben müssen, daß sich in Ihrem Leben ein Orkan zusammenbraut, dann schlagen Sie 5. Mose 4,29-31 auf. Klammern Sie sich an diesem „Telefonmast" fest!

Flexibel bleiben
Eine gute Freundin von mir, die erst vor kurzem schwer verunglückte und jetzt nicht mehr laufen kann, hat im Augenblick noch mit all den schmerzlichen Umstellungserfahrungen zu tun, die man notgedrungen macht, wenn man sich an ein Leben im Rollstuhl gewöhnen muß. Sie ist ein sehr hübsches Mädchen und war eine ausgezeichnete Studentin, als sie ihre Beine noch gebrauchen konnte. Und natürlich bekommt sie auch heute noch hervorragende Noten in ihrem Abschlußexamen, das sie gerade hinter sich bringt.
Aber obwohl sie mit Schönheit und Verstand wirklich gesegnet ist, werden die Probleme mit ihrer Behinderung dadurch nicht leichter.
Neulich hat sie im Gespräch mit mir ihrem Herzen ein bißchen Luft gemacht und mir von ihren vielen Enttäuschungen erzählt. Und ich konnte sie sehr gut verstehen.
Ich muß zugeben, was sie sagt, stimmt: Es ist ganz schön schwierig, eine Hose zu finden, die genau richtig paßt, wenn man immer sitzen muß. Es ist schwer, Kleider zu finden, die auch dann noch gut aussehen und bequem sind, wenn man sich im Rollstuhl dauernd recken und drehen und wenden muß. Und es ist auch recht schwierig, wenn einen immer wieder andere Leute schminken und frisieren, was man doch eigentlich viel lieber selbst täte.
Ich weiß ganz genau, wie meiner Freundin zumute ist. Bei mir gibt es beispielsweise fünf verschiedene Frauen, die mir an den einzelnen Wochentagen beim Aufstehen helfen und all die morgendlichen Routinearbeiten mit mir machen. Es ist ganz natürlich, daß manche von ihnen die Dinge auf die eine Art tun und andere wieder ein bißchen anders. Montags meinetwegen ist meine Frisur eine Schöpfung von Irene, dienstags sieht man den Stil von Judy darin, mittwochs gibt Beverly ihr wieder einen etwas anderen Schwung, donnerstags haben meine Haare die be-
ISBN-13: 9783894371661
Verlag: Gerth Medien
Seiten: 340
Gewicht: 540 g
Ort: Asslar
Einband:Hardcover/gebunden

Vom Zeugen Jehovas zum Zeugen Jesu Christi, H J Twisselmann

04/22/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

1. Mein Weg zu Jehovas ZeugenBN1608.jpg?1682160795310

Freitag, den 18. August 1950. Es ist ein warmer Sommertag. Rund um den stattlichen Dom der norddeutschen Kleinstadt Meldorf auf dem geräumigen Marktplatz herrscht das bunte Treiben des Wochenmarktes.
Sommerlich gekleidete Menschen eilen zwischen den Verkaufsständen hin und her. Das aber sehe ich heute nur ganz am Rande. Viel mehr interessiert mich ein junger Mann von etwa 28 Jahren, der auf dein Bürgersteig vor den um den Markt herum gelegenen Geschäftshäusern jeden Passanten anspricht und ihm eine Zeitschrift anbietet. Er gehört zu den Zeugen Jehovas (hier künftig häufig abgekürzt: Z. J.). Es ist das dritte Mal in meinem jungen Leben, daß ich auf diese Bewegung aufmerksam werde.
Schon als Fünfzehnjähriger entdeckte ich im Bücherschrank meiner Eltern eine kleine Schrift mit dem Titel „Des Volkes Freund" aus der Feder von J. F. Rutherford, dem früheren Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft an der Spitze der Zeugen Jehovas. Ich hatte damals diese kleine Schrift an einem Sonntagmorgen ohne jeden inneren Gewinn gelesen.

Zwei Jahre später wurde mir in Heide, einer Nachbarstadt, auf der Straße die Zeitschrift „Der Wachtturm" angeboten. Ich sehe sie noch vor mir, jene streng gescheitelte ältere Dame, die mir damals - recht aufgeregt, aber mit leuchtenden Augen - von „Jehovas Königreich" erzählte. Martha Krüger hieß sie. Etwa ein Jahrzehnt später sollte ich ihr einen für ihr Leben entscheidenden Dienst tun. (Darauf komme ich an anderer Stelle noch zurück.)
Nun wird mir diese Zeitschrift wieder einmal angeboten. Ob ich zugreifen soll?
Einige Minuten später lasse ich mich von dem jungen Mann ansprechen. Es dauert nicht lange, und wir sind mitten in einer Debatte über Sündenfall, Herkunft des Teufels, Wiederkunft Christi und Tausendjäh-
riges Reich. Doch so gewichtige Themen lassen sich nicht mit ein paar Worten auf dem Bürgersteig erledigen. Darum lade ich den sympathischen „Königreichsverkündiger" ein, mich am nächsten Sonntag in meiner Wohnung zu besuchen. Er notiert sich meine Anschrift mit einer Selbstverständlichkeit, als habe er auf eine solche Einladung geradezu gewartet. Beim Abschied schenkt er mir eine kleine Z. J.-Schrift „Der bleibende Herrscher aller Nationen".
Am Sonntag kommt der junge Mann mit einer prall gefüllten Büchertasche tatsächlich zu mir. „Mein Name ist Gerd", plaudert er vergnügt, und während er noch mit einigen Sätzen sich näher vorstellt, legt er mir drei
nagelneue Bücher auf den Tisch, um sie mir zum Kauf anzubieten. Es handelt sich bei den drei Büchern um das für diesen Monat vorgeschriebene Schriftenangebot, wie ich später erfuhr.

Gerd erzählt nun bei aufgeschlagener Bibel vom „Vorhaben Jehovas", wobei er bald aus dem Alten, bald aus dem Neuen Testament die Texte herausgreift, die ihm geeignet scheinen, die Z. 1.-Lehren zu stützen. Als er bei der Geschichte vom Sündenfall allzu lange verweilt, beginne ich zu protestieren: „Das ist alles gut und schön", antworte ich ihm, „auch ich glaube an Gott und an Jesus Christus, aber an die Paradiesgeschichten von Adam und Eva kann ich nicht glauben. Es ist ja doch längst wissenschaftlich nachgewiesen, daß der Mensch das Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung ist."
Es dauert keine halbe Stunde, bis Gerd meinen „Glauben" an die Evolutionslehre völlig zerstört hat. Aus Schriften der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft liest er Aussprüche von namhaften Wissenschaftlern vor, die sich zu dieser Lehre kritisch äußern oder von ihr abrücken. Andererseits versucht er mir zu zeigen, wie zuverlässig die Bibel ist. Für mich ist es außerordentlich eindrucksvoll zu sehen, wie die vielen altte-stamentlichen Weissagungen über den kommenden Messias im Leben Jesu von Nazareth sich buchstäblich erfüllt haben. Kann es da noch einen Zweifel geben an der Zuverlässigkeit und göttlichen Inspiration der Bibel? Plötzlich wird mir die gewaltige Überlegenheit des „Buches der Bücher" gegenüber allen menschlichen Meinungen und Überlieferungen bewußt. Doch nun wächst auch meine Hochachtung vor den „Bibelforschern", besonders als Gerd mir erzählt, wie die Zeugen Jehovas um ihres Glaubens willen in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches gelitten haben: .....wie so ganz anders haben sie doch gehandelt als jene Feldgeistlichen, die sich in den Dienst der Machthaber dieser Welt stellten, die heute sagen: ‚Du sollst nicht töten!' und morgen schon zum Töten auffordern..
Schon in den nächsten Tagen lese ich das Buch „Die Wahrheit wird euch frei machen", dessen Titel mich besonders anspricht. Auch beeindruckt es mich, daß bei fast allen Darlegungen des Buches einige Bibelstellen zum Beweis angegeben sind. Somit muß gewiß alles völlig im Einklang mit der Bibel sein, denke ich.
Angeregt durch das Lesen dieses ersten Buches, studiere ich auch die anderen beiden Bücher, die ich von Gerd gekauft habe. Schließlich vergrabe ich mich immer mehr in diese Literatur und lese— wie wohl die meisten Z. 1.— nur noch Schriften der Wachtturm-Gesellschaft. Das muß die Wahrheit sein! Einige Vergleiche mit der Bibel scheinen das zu bestätigen. Wenn es sich aber so verhält, sind dann nicht alle anderen Bücher mehr oder weniger wertlos, vielleicht sogar schädlich? Letzte Zweifel unterdrücke ich in der Meinung, es seien die himllchen Angriffe des Bösen, der mich von dem allein wahren Glauben abzuhalten versuche. Die mahnenden Worte meiner Mutter und anderer naher Verwandter schlage ich in den Wind, ja, ihr Widerstand gegen die „Wahrheit" veranlaßt mich, um so entschiedener für die Sache der Z. J. einzutreten. So kommt es, daß ich schon am 30. August—weniger als 14 Tage nach Gerds erstem Besuch bei mir - in mein Tagebuch schreibe: „Mein Entschluß steht fest: ich werde Zeuge Jehovas!"

Schon weitere 14 Tage später, am 16. September 1950, erkläre ich vor dem Amtsgericht meinen Austritt aus der Ev.-Luth. Landeskirche. Die Kirche hat nach meinem nun erlangten Verständnis das Christentum verwässert, entstellt und mißbraucht. Die Wachtturm-Gesellschaft lehrt daher, die Kirchen der Christenheit seien in Wirklichkeit nicht Kirche Christi, nicht die treue „Braut"-Gemeinde, sondern die im letzten Buch der Bibel erwähnte „große Hure", also die untreue „Braut", das „Babylon" der Endzeit. Somit soll der Aufruf von Offenbarung 18, 4: „Gehet aus ihr hinaus, mein Volk, auf daß ihr nicht ihrer Sünden mit teilhaftig werdet .....‚ eine Aufforderung darstellen, die Kirchen der Christenheit zu verlassen. Als ich die schwere Tür des Amtsgerichts in Meldorf hinter mir schließe, bin ich daher froh und zufrieden, nun aus „Babylon" entronnen zu sein; .....denn ihre Sünden sind aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Ungerechtigkeit gedacht" (Offb. 18, 5).
Ich ahne noch nicht, daß es „Babylon" in mancherlei Gestalt gibt, auch da noch, wo man meint, es weit hinter sich gelassen zu haben! In den folgenden Monaten nimmt mein Eifer beständig zu. Am 28. Oktober gehe ich zum ersten Mal zusammen mit anderen Zeugen von Tür zu Tür. Der lGeisaufseher, der als Beauftragter der Wachtturm-Gesellschaft zum Zweck der „Schulung der Verktindiger und zur Belebung der Felddienst-tätigkeit" zugegen ist, gibt wichtige Anregungen, wie man beim Dienst von Haus zu Haus Erfolge erzielen kann. „Ihr dürft", so erklärt er mit einer typisch amerikanischen Satzmelodie, „nicht mit der Tür ins Haus fallen, indem ihr etwa sagt: Wir sind Zeugen Jehovas". Vielmehr wird man sich am besten mit folgenden Worten einführen: „Guten Morgen! Mein Name ist . . .‚ ich betätige mich ehrenamtlich in einem weltweiten biblischen Erziehungswerk und möchte Ihnen in Verbindung damit drei äußerst wichtige Bücher anbieten.

Nach dem Verlesen eines Bibeltextes mit kurzem Kommentar und einem Gebet um den Segen Jehovas für unseren Dienst wird mir eine „Gebiets-Zuteilungskarte" in die Hand gedrückt, in der mein Arbeitsbereich genau abgegrenzt ist. Die zur Verbreitung empfohlene Literatur muß ich zuvor käuflich erwerben. Ich hoffe, dafür Interessenten zu finden.
Auf dem Weg in die Meldorfer Norderstraße kommen mir so manche Gedanken. Aber schon stehe ich an der ersten Tür, und im Nu bin ich auch wieder draußen. Die Leute machen gleichgültige Gesichter. „Kein Bedarf!", rufen manche mir schon entgegen, noch ehe ich etwas über den Grund meines Kommens sagen kann. Andere erklären, „ich habe keine Zeit", und winken ab. Das alles sind zwar keine Argumente zur Widerlegung unserer Lehren, aber unmißverständliche Hinweise, daß ich wieder gehen darf.
Zwei Frauen beantworten mein Schriftenangebot mit abfälligem Lachen. Nur ein Handwerker im mittleren Alter bringt dem, was ich ihm erzähle, größeres Interesse entgegen. 

Er wurde schon wiederholt besucht, erzählt er mir, und er unterhalte sich gerne mit Jehovas Zeugen. Meine Schriften aber werde ich nicht los, und weil der „Lagerdiener" sie nicht zurücknimmt, darf ich sie als mein Eigentum betrachten, sofern ich sie nicht zu einem späteren Zeitpunkt verkaufen kann.
Als ich zum Treffpunkt zurückkomme, sind die meisten anderen schon da. Sie erzählen von ihren Erfahrungen, von guten und schlechten. Es gibt
manche Stunden der Enttäuschung, und wie eine Oase in der Wüste ist ein Haus, dessen Bewohner ein Ohr für unsere Botschaft haben. Wir trösten uns jedoch mit dem Gedanken, Jesus und den Aposteln sei es nicht anders ergangen. Ja, wir sehen gerade im Widerstand der „Welt" einen Beweis, daß wir das wahre Christentum haben. Als ich mich schließlich von den Versammelten verabschiede, ruft mir der Kreisaufseher lächelnd nach: „Vergiß nicht, die Zahl der Stunden anzuschreiben!"
Ein Scherz? Keineswegs! Bei den Z. J. muß jede „im Felddienst" und bei gelegentlichem Zeugnisgeben verbrachte Viertelstunde notiert und in einem sogenannten „Felddienstbericht" an die Ortsversammlung gemeldet werden. Die Aufseher addieren dann am Monatsende die Leistungen aller ihrer Verkündiger und senden einen Versammlungs-Felddienstbe-richt an das deutsche Zweigbüro der Wachtturm-Gesellschaft, wo die Ergebnisse aller Versammlungen in Deutschland zusammengerechnet werden. Das Hauptquartier der Wachtturm-Gesellschaft in Brooklyn (USA) empfängt schließlich von dort und von allen Zweigbüros der ganzen Welt die Monatsberichte der einzelnen Länder. Das Hauptquartier ist also ständig von der weltweiten Tätigkeit der Z. J. genau unterrichtet. Das Gesamtergebnis wird dann alljährlich einmal im „Wachtturm" und im „Jahrbuch der Zeugen Jehovas" veröffentlicht und kommentiert.
All dies überblickt der Neuling noch garnicht. Er ahnt auch nicht, daß er in seiner zuständigen Ortsversammlung in eine „Verkündigerkartei" eingetragen wird, sobald er mit dem „Felddienst" begonnen hat. Diese ‚Verkündigerkartei" dient der Aufzeichnung der monatlichen „Feld-lienst"-Stunden, die der Kreisaufseher bei jedem seiner Besuche zu Iberprüfen hat.
Auch ich ahne zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welche tTberraschun-len die „theokratische Organisation" (Theokratie = Gottesherrschaft!) hir mich bereithält. Ohne Skepsis nehme ich alles an, was sie zu bieten hat, ,taube ihren Lehren und folge treu und eifrig ihren Anweisungen. Viel zu chnell gehe ich in dieser Arbeit auf. Obwohl mir alles völlig neu ist, füge eh mich freiwillig in das Räderwerk der gut funktionierenden Organisa-ion ein, ohne daß sie mich erst dazu bringen müßte. Schon am 21. Januar [951 lasse ich mich anläßlich eines Kreiskongresses der Z. J. in Glück-tadt taufen.
Warum ich Zeuge Jehovas wurde: Gründe und Hintergründe
Immer wieder werde ich gefragt, was mich eigentlich veranlaßt habe, „zu den Bibelforschern zu gehen". Darüber hatte ich mir zunächst gar keine Rechenschaft gegeben. Erst jetzt war ich genötigt, darüber nachzudenken. Die Z. J. antworten auf derartige Fragen meist: „Ich suchte die Wahrheit, und ich habe sie jetzt gefunden." Doch wenn ich die Wahrheit gesucht habe, was veranlaßte mich denn zu solchem Suchen? Heute - zwei Jahrzehnte später - sehe ich es so:
Einige Beweggründe
Vielleicht sehnte ich mich ganz einfach nach Gemeinschaft, einer Gemeinschaft, in der man freundlich miteinander umgeht, und in der man sich bejaht weiß. Auch von anderen, die sich einer kleinen Reigionsge-meinschaft angeschlossen hatten, gewann ich später diesen Eindruck.
Suchten wir in der Gemeinschaft Geborgenheit? „In der Welt habt ihr Angst", sagt Jesus einmal. Diese Aussage hat schon immer Gültigkeit gehabt, und dennoch gewann sie nach den beiden Weltkriegen eine besondere Bedeutung. Das Gespenst der Angst geht um (Luk. 21, 26). Die politischen und gesellschaftlichen Probleme und Verwicklungen werden für den einzelnen immer undurchsichtiger. Wir „verstehen die Welt nicht mehr". Ein Gefühl des Unbehagens und des Bedrohtseins ist die Folge. Man möchte entrinnen und sucht Zuflucht in einer überschaubaren Gemeinschaft - fernab von dem undurchsichtigen Getriebe einer „verrückten Menschheit". Hier, im Kreis der Gleichgesinnten und der in gleicher Weise Entronnenen, gibt es noch die „helle Welt".
Die Wachtturm-Gesellschaft weiß in ihren Schriften derartige Empfindungen der Menschen geschickt zu nutzen. Sie malt die bedrohlichen Entwicklungen auf unserem Planeten in krassen Farben aus, macht damit die Ängste, selbst da, wo sie noch schlummerten, erst recht bewußt (z. B. Der Wachtturm vom 15. 7. 1974, S. 426, Abs. 10), weckt und nährt sie, um dann um so besser auch das Mittel gegen die Angst anbieten zu können: Zuflucht in der Geborgenheit ihrer „theokratischen Organisation". Diese vergleicht sie gern mit der Arche, die in der Weltkatastrophe der Tage Noahs Schutz und Rettung bot.'
Vor allem aber: Nach den Wachtturm-Schriften gibt es keinen anderen Schutz, als den in der „theokratischen Organisation". „Du kennst in Wirklichkeit nichts, wodurch du dich vor dem Angriff grimmiger Menschen und Organisationen dieser Welt schützen könntest. Worin besteht also dein Schutz? Nur darin, daß du bei der Herde Gottes bleibst, innerhalb der Hürde, und daß du von ganzem Herzen auf Jehova Gott ... vertraust, auf den Herrn Jesus Christus.. . und außerdem auf deine treuen Brüder, die zu Hirten der Herde eingesetzt worden sind. Jehova Gott hat heute eine theokratische Organisation."2

Auffallend ist, daß hier nicht nur Schutz, sondern auch sehr deutlich Führung durch die „Hirten der Herde" angeboten wird. Ob die Wachtturm-Gesellschaft damit nicht wiederum dem Bedürfnis all jener Menschen entgegenkommt, die sich in unserer Welt nicht zurechtfinden, die - vielleicht ohne es sich und andern zu gestehen - so etwas wie Heimweh haben nach einer führenden Hand? Schließlich wurden die meisten Menschen der älteren Generation nicht zur Freiheit erzogen, sondern zum Gehorsam! Man mag noch so viel vom mündigen Bürger sprechen: wer zum Untertan erzogen wurde, verlangt nach Führung. Die „theokratische Organisation" vermag diese Sehnsucht zu stillen.
Und noch eins: In ihrer Kritik an den bestehenden Verhältnissen in Kirche und Gesellschaft trifft sie zumeist „den Nagel auf den Kopf". Wer mit Kirche und Gesellschaft nicht zufrieden ist - und wer könnte schon mit allem ganz zufrieden sein! -‚ der bekommt beim Lesen der Zeugen-Literatur und beim Hören ihrer Vorträge eine Menge „Wasser auf seine Mühle". Und wer hätte es nicht gern, wenn er in seiner Kritik Bestätigung findet! So kann sich die Wachtturm-Gesellschaft mit ihrer Kritik an Kirche und Gesellschaft der Zustimmung vieler sicher sein.
Ob am Ende auch ich durch einige dieser Besonderheiten des Zeugen-Angebots innerlich angesprochen wurde? Ich vermag es heute nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, vieles jedoch spricht dafür, besonders wenn ich meinen bisherigen Lebensweg mit in Betracht ziehe.
Führungen und Erfahrungen der Jugendzeit
Am 16. Februar 1931 als Sohn eines Bauern geboren, wuchs ich buchstäblich ins „Tausendjährige Reich" hinein - in das Adolf Hitlers. Doch zunächst war von „weltanschaulichen" Einflüssen in meiner Jugendzeit wenig zu spüren. Ich wuchs auf in der stillen Abgeschiedenheit des väterlichen Hofes, der einige Minuten vom Dorf entfernt lag, umgeben von fruchtbaren Feldern und saftigen Wiesen. Weil meine Eltern ganz in ihrer Arbeit aufgingen und sich jeder parteipolitischen Organisierung entzogen - sie war ihrem Wesen und Denken zuwider—, blieb ich in meiner frühen Jugendzeit von der Beeinflussung durch den Nationalsozialismus ver-
schont.
Dies änderte sich erst im Laufe meiner Schulzeit. Eines Tages stand in unserem Klassenraum an der Wandtafel: „Heute 15 Uhr auf dem Schulhof antreten!" So fing der Dienst in „Deutschen Jungvolk" an. Später erfolgte ebenso automatisch der Übergang in die „Hitlerjugend". Kein junger Mensch konnte sich damals dem Zugriff dieser Zwangsorganisierung entziehen. „Hitlerjugend" aber bedeutete zugleich vormilitärische Ausbildung: wir lernten das Strammstehen und das „zackige" Grüßen, wurden unterwiesen, Hitler zu ehren und das Christentum als eine „artfremde" weil ursprünglich „jüdische" Religion zu verachten. Obwohl dies alles damals hingenommen wurde, empfand ich - ähnlich wie meine Eltern - stets so etwas wie einen inneren Widerstand gegen das protzige Gehabe der braunen Uniformierten, und ich war immer froh, vom,,HJ-Dienst" in die in jeder Hinsicht friedliche Umgebung meines Elternhauses zurückkehren zu können. Das Kriegerische lag mir ohnehin nicht. Ich wuchs also in einer eigenartigen Situation auf: Einerseits wurde ich recht autoritär erzogen, ohne dagegen etwas tun zu können, andererseits hatte ich doch ein inneres Unbehagen dagegen, das sich später bis zu offener Ablehnung steigern sollte.
Dazu gab es wahrhaftig Grund genug: Mein Vater mußte schon bald nach Beginn des Zweiten Weltkrieges seiner Einberufung zur Wehrmacht folgen und wurde gegen Ende 1944 bei Rückzugsgefechten auf dem Balkan vermißt. Er kehrte nie zurück. Meine Mutter erlebte daraufhin einen schweren Nervenzusammenbruch, von dem sie sich erst nach sehr vielen Jahren erholte. Daher lag meine Erziehung in den Händen ihrer Mutter, die infolge eigener schwerer Lebenserfahrungen ein allzu strenges Regiment im Hause führte. Dieser energischen kleinen Frau jedoch, sowie einem ebenfalls sehr strengen Lehrer aus Tornesch, bei dem ich zwei Jahre in die Schule ging, verdanke ich es, daß meine Eltern mich 1941 trotz fehlender Einsicht in den Sinn dieser Maßnahme auf die Meldorf er Gelehrtenschule schickten. Ohne den leidenschaftlichen Einsatz meiner beiden strengen Erzieher wären meine Eltern, die schlichten Bauersleute, in der damaligen Zeit nie auf einen solchen Gedanken gekommen. Nun aber ließen sie sich auf dieses für sie damals noch so ungewöhnliche Unternehmen ein - mehr dazu überredet als überzeugt. Auch ich selbst konnte kaum ahnen, welch eine entscheidende Wendung der Besuch dieses in Fachkreisen in bestem Ruf stehenden Gymnasiums für mein ganzes späteres Leben bedeuten würde. Ich habe der Meldorfer Gelehrtenschule sehr viel zu verdanken. So ein guter Ruf bedeutete natürlich für jeden ihrer Lehrer eine große Verpflichtung. Ihr glaubte man in der damaligen Zeit am besten zu entsprechen, indem man uns ganz im Geist des „Dritten Reiches" erzog. „Ihr sollt die geistige Elite unseres Volkes werden!", das war die Parole des damaligen Schuldirektors. Der Weg dorthin sollte über eine autoritäre Erziehung führen, eine Erziehung zu Gehorsam, Disziplin und - wie es damals gelegentlich hieß - zu „deutscher Zucht".
Dieses Elitedenken mitsamt seinem völkisch-weltanschaulichen Hintergrund wurde für mich jedoch mit einem Schlag fragwürdig, als ich in mehreren Fällen Augen- und Ohrenzeuge wurde von dem Grauen und Unrecht, das der vom Nationalsozialismus entfesselte Krieg über die Menschen gebracht hat. Als ich dann gar eines Tages durch einen auf Urlaub bei uns weilenden Verwandten von der Judenvernichtung erfuhr— er wußte aus unmittelbarem Erleben davon zu berichten -‚ da zerbrach in mir eine Welt. Hatte ich bisher nur eine gefühlsmäßige innere Ablehnung gegen alles Kriegerische und Natonalistische gekannt, war bei der „deut-scheu Zucht" mit seiner Überbewertung von Gehorsam und Disziplin nur ein nicht näher zu erklärendes Unbehagen in mir aufgestiegen, so begann

Inhalt
Was dieses Buch will    5
Vorwort zur 9. Auflage    7
1. Mein Weg zulehovas Zeugen    9
Warum ich Zeuge Jehovas wurde: Gründe und l-lintergriinde    13
Führungen und Erfahrungen der Jugendzeit    14
Religiöses Fragen als Anknüpfungspunkt für Jehovas Zeugen?    16
Faszinierendes und Enttäuschendes    19
II. Zerbröckelnde Faszination    21
Die Faszination einer neuen Gesellschaft der Liebe    
und des Friedens zerbricht    21
Die Faszination der reinen Lehre zerbricht    24
Die Faszination eines neuen, zeitgemäßen    
Evangeliums zerbricht    30
Die Faszination der „allein seligmachenden Kirche" zerbricht    38
III. Im Gespräch mit einem Zeugen Jehovas    43
Wider das Leistungsdenken    43
Wider die Überheblichkeit    46
Wider den Richtgeist    48
Wider das Dogma von 1914    53
Hoffnung für Israel und die Gemeinde Jesu    59
„Gottesherrschaft" - von Menschen geführt?    67
IV. Mein Bruch mit den Zeugen Jehovas    71
Brief an die Wachtturm Bibel-    
und Traktat-Gesellschaft    72
Besuch der Aufseher    74
Vorladung vor das Versammlungs-Komitee    76
Exkommunikation    78
Überwundener Irrtum    81
V. Aus der Geschichte der Zeugen Jehovas    86
Der Ursprung    86
Charles Taze Russell    87
„Richter" J. F. Rutherford    90
Die Tragikomödie um das Jahr 1925    93
Ein neuer Endtermin als Aktivierungsmittel: 1975    96
„Helleres Licht" oder der Wechselbalg    102
Neuere Entwicklungen oder: „Perestroika" in Brookyln    107
VI. Missionsarbeit unter den Zeugen Jehovas 
Wie der „Bruderdienst" entstand
Name und Zielsetzung
Zeugen Jehovas entrinnen in die Freiheit
VII. Befreite Zeugen Jehovas bekennen
Datenberechnungen und falsche Prognosen
Unsere Stellung zu Jesus Christus
Richtgeist und Lieblosigkeit gegenüber anderen Christen
VIII. Antwort auf Fragen von Zeugen Jehovas 
Müssen alle Christen predigen?
Anmerkungen Literaturhinweise

ISBN:9783765522123
Format:20,5 x 13 cm
Seiten:140
Gewicht:206 g
Verlag:Brunnen
Auflage: 8  Auflage
Erschienen:1987
Einband:Paperback

Tiele-Winckler Eva von 1866-1930

01/25/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Eva von Tiele-WincklerBN1047-5.jpg?1674656621154

Im Schloß ist Mutter Eva geboren, in der Hütte vollendete sich ihr Leben. Als Tochter des Großindustriellen Freiherrn v. Tiele-Winckler verlebte sie eine einfache, in strenger Zucht gehaltene Kindheit. Nach dem Tod der guten Mutter wurde die junge Eva in eine abgrundtiefe Einsamkeit gestoßen. Sie sehnte sich nach einem bleibenden und sicheren Bergungsort. 

Nach schweren innerlichen Kämpfen war Eva mit der ganzen Glut eines liebenden Herzens in die Arbeit der Diakonie gegangen. Vater Bodelschwingh war ihr dabei ein treuer Freund und Berater. Inzwischen hatte auch ihr Vater die Echtheit ihres Wollens und ihre Berufung für den diakonischen Dienst erkannt und schenkte ihr das erste Haus ihres »Friedenshortes«. Alte Menschen und vor allem heimatlose Kinder strömten nun in den »Friedenshort«, der auf 28 Häuser anwuchs. 

Aber auch das große Vermögen ging einmal zu Ende, so wurde aus dem
»Friedenshort« ein Glaubenswerk. Gott schenkte Mutter Eva im ganzen Land neue
Kinderheimaten. Der Warteberg bei Breslau war die erste «Heimat für Heimat-
lose«, weitere 42 Kinderheimaten konnten nach und nach eröffnet werden. 

Mutter Evas Herz schlug allen Menschen entgegen. Sie sandte ihre Schwestern in viele
Arbeitsgebiete; in Krankenhäuser, Gemeinden und Kindergärten, in die Gefäng-
nisse, die Mitternachtsmission und in die weite Welt im Dienste der Mission. Am 21.
Juni 1930 rief Gott sein »Gnadenkind« heim. - Nach vielem schwerem Erleben
setzt der Friedenshort in Heiligengrabe und in Freudenberg mit vielen Außenstatio-
nen sein Werk weiter fort. 

Der jetzige Leiter des Werkes, Herr Pastor Carlo Büchner, hat in einem Nachtrag kurz die weitere Entwicklung des Friedenshortes bis in die letzte Zeit aufgezeigt.
ISBN 350101014 1 Preisgruppe 21
Verlag der St.-Johannis-Druckerei C. Schweickhardt Lahr-Dinglingen

Tozer A.W. 1897-1963

01/18/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

A. W. TozerBV15043.jpg?1674034953645
Ein herausforderndes Buch über die Eigenschaften Gottes und ihre Bedeutung für das tägliche Glaubensleben des Christen. Tozer hilft, eine angemessene Sicht der Majestät Gottes wiederzugewinnen.
>'Die Botschaft dieses Buches... ist gerade heute wichtig, denn die Gemeinde Jesu ist seit Jahren in einem Zustand, der sich zusehends verschlimmert. Die Gemeinde hat den Sinn für Gottes Majestät verloren. Sie hat ihre einstige Gottesvorstellung durch eine andere ersetzt, die niedrig und Gott unangemessen ist.«

Diese Sätze aus dem Vorwort geben die Richtung an, in die Tozer zielt. Er belegt, daß wir »mit dem Verlust des Majestätsbegriffs« auch «das Bewußtsein für Gottes Gegenwart und die Ehrfurcht vor ihm« verlieren. Seine Studie bietet Korrekturen an, indem er eine auf biblischen Aussagen basierende Gottesvcrstellung neu ins Gedächtnis ruft. 

Er behandelt die folgenden Eigenschaften Gottes: Dreieinigkeit, Unbedingtheit, Ewigkeit, Unendlichkeit, Unveränderlichkeit, Allwissenheit, Weisheit, Allmacht, Erhabenheit, Allgegenwart, Treue, Güte, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Gnade, Liebe, Heiligkeit, Souveränität.
A. W. Tozer (1897-1963) kannte sich in Philosophie und Literatur bestens aus.-.Als Pastor und Autor analysierte er wachsam die Strömungen des Zeitgeistes. Er begegnete dieser Herausforderung durch kompromißlose Proklamation des Wortes Gottes, dem allein er sich verpflichtet wußte.
ISBN 3-7751-1018-6


KAPITEL 1. 'Es ist wichtig, sich' Gott. 'richtig vorzustellen'
:0' Herr, allmächtiger Gott - nicht der Gott der Philosophen und-der Weisen, sondern der Gott der'Propheten und "Apostel 'und Vor allem der Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi - darf ich ‚es ungescholten wagen, von Dir zu reden?
'Die, welche Dich nicht kennen, sehen Dich als einen Gott, der Du in Wirklichkeit gar nicht bist. Und so beten sie nicht Dich an, sondern ein Gebilde ihrer eigenen Phantasie. Erleuchte deshalb unsere Sinne und laß uns Dich so erkennen, wie Du bist, auf daß wir Dich uneingeschränkt lieben und Dich recht preisen können. Im Namen, unseres Herrn Jesu Christi. Amen.

Eines Tages wird es wohl offenbar werden, daß ein Volk immer auf' dem ‚Niveau geblieben ist, auf dem auch seine Religion war, und die menschliche Geistesgeschichte wird gewiß zeigen, daß keine Religion je größer gewesen ist, als auch ihre Gottesvorstel-'hing es war. Die Gottesverehrung steht auf hohem oder auf niedrigem'Niveau, je nachdem ob der Gläubige' hohe oder niedrige Vorstellungen ‚Von Gott hat;
Deshalb ist die Gottesvorstellungselbstimmer die entscheidendste Frage 'für eine Gemeinde, und ebenso ist bei einem Menschen nicht das, was er.-in einem bestimmten Moment sagt oder tut, das ‚Bedeutsamste,': sondern seine Auffassung von Gott. Aufgrund eines verborgenen 'Gesetzes. der Seele neigen wir dazu, unserem..
geistigen .Gottesbild nachzustreben. Das trifft nicht nur auf den 'einzelnen Gläubigen zu, sondern auch auf die Gemeinschaft der Gläubigen,' die Gemeinde. Das Aufschlußreichste an einei Ge-
meinde ist stets ihre Vorstellung von Gott, und ihre Botschaft ist 'gekennzeichnet von dem., was sie über Gott sagt oder verschweigt—‚ünd manchmal ist das Schweigen beredter als alles Reden. Nie kann ‚eine Gemeinde verhindern, daß ihr Gottesbild enthüllt wird.

‚Wäre es möglich, von irgendeinem Menschen eine umfassende Antwort auf die Frage zu bekommen, was ihm beim Gedanken an Gott durch den Kopf geht, so konnten wir mit Sicherheit die geistliche Zukunft dieses Menschen voraussagen Ware uns bekannt, was die einflußreichen und maßgebenden Persönlichkeiten des religiösen Lebens' heute von Gott denken,' so kömiten:wir'rnit" einiger Genauigkeit 'voraussehen, wo die Gemeinde morgen stehen 'wird.'

Ohne Zweifel ist der 'größte Gedanke, dessen -der menschliche Geist fähig ist, der Gottesgedanke, und' das bedeutendste Wort jeder Sprache ist ihr Ausdruck für Gott. Denken ‚und sprechen sind Gaben, die Gott den nach seinem Bilde gestalteten Geschöp-." fen gibt. Beide sind eng und unauflöslich mit ihm verbunden; Es,. ist höchst bedeutsam, daß das erste Wort das Wort war: »Das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort«' (Joh 1,1). Wir können, reden, weil Gott redet. In ihm sind Wort und Gedanke ‚nicht:' voneinander zu trennen. ' 

Es ist für uns von größter 'Wichtigkeit, daß unsere Gottesvorstellung so nahe wie möglich an das wahre. Wesen Gottes heran reicht. Verglichen mit dem, was wir wirklich über Gott denken, sind Bekenntnisse unseres Glaubens von geringerer Bedeutung. Unsere eigentliche Gottesvorstellung kann unter dem Schutt landläufiger religiöser Auffassungen 'vergraben liegen, und. es bedarf einer wohlüberlegten und entschlossenen Suche, damit sie schließlich ausgegraben und erkennbar gemacht werden kann. Nur durch eine schmerzhafte Selbstprüfung ergibt sieh für uns die Möglichkeit, herauszufinden, was wir im tiefsten Grunde über Gott denken. '

Eine richtige Gottesvorstellung ist nicht nur die Grundlage für. 'die systematische Theologie, sondern' auch für das' praktische 'Glaubensleben. Sie'ist das Fundament des Gottesdienstes. Ist 'es' zu klein 'oder falsch 'gebaut, so: muß däs ganze Gebäude früher' 'oder später zusammenstürzen. Ich glaube kaum, daß es irgend welche Irrtümer in der Lehre 'oder Versagen im praktischen Christenleben gibt, die nicht letzten Endes alle auf unvollkommene .und niedrige Gottesvorstellungen zurückgeführt werden, können.
Meiner Meinung nach ist die Auffassung der heutigen Christen von Gott so dekadent, daß sie in keiner Weise der Würde Gottes, des Allerhöchsten, entspricht Daß dies auch bei. ernsthaften Gläubigen so ist, ist beinahe so etwas wie eine moralische. Katastrophe. . .. . .

Würde. man uns auf einen Schlag mit allen Problemen des Himmels und der Erde konfrontieren, so wären diese unerheblieb, verglichen mit der alles überragenden Frage nach Gott:.seiner Existenz, seinem Wesen und den Aufgaben, die wir als. sittliche Wesen ihm gegenüber haben.
Wer zum richtigen Gottesglauben gelangt, wird eine Menge irdischer Probleme los, denn er erkennt sofort, daß diese durch Dinge entstehen, die ihn höchstens noch für eine kurze Zeit beschäftigen.

Doch auch wenn die zahlreichen irdischen Probleme von ihm genommen wären, so würde an deren Stelle die mächtige Bürde der Ewigkeit auf ihm zu lasten beginnen, und zwar viel schwerer als alle Nöte der Welt vereint. Diese mächtige Bürde ist eineVerpflichtung Gott gegenüber. Sie beinhaltet die lebenslängliche Pflicht, Gott mit allen Kräften des Geistes und der Seele zu lieben, ihm völlig gehorsam zu sein und ihn anzubeten, wie es ihm gebührt. 

Wenn das unruhige Gewissen dem Menschen sagt, daß er nichts von alledem getan hat, sondern sich seit seiner Kindheit der schändlichen Auflehnung gegen die Majestät des Himmels schuldig genacht hat, so kann die innere Selbstanklage unerträglich werden.

Das  Evangelium vermag die Seele von dieser zerstörerischen Last zu befreien und den bedrückten Geist gegen Lobpreis auszutauschen. Solange jedoch der Mensch die Schwere dieser Last nicht verspürt, bedeutet ihm auch das Evangelium nichts. Und .bevor er nicht die Erhabenheit und Größe Gottes erkannt bat, wird es für ihn keine innere' Not geben. Für-den, der eine niedrige Auffassung von Gott hat, ist das Evangelium wirkungslos. 

Kaum eine Sünde, zu der das menschliche Herz fähig ist, ist Gott mehr ein Greuel als der Götzendienst; denn er ist eine Beleidigung Gottes. Das götzendienerische Herz setzt voraus, daß Gott anders ist, als er ist - schon dies ist eine ungeheure Sünde -‚ und ersetzt den wahren Gott durch einen, der der eigenen Vorstellung entspricht. Dieser Gott ist stets ein Abbild seines Schöpfers und wird gemein oder rein, grausam oder gütig sein —je nach der moralischen Verfassung des Geistes, dem er entsprungen ist. . .

Ein Gott, der in einem finsteren Herzen eines gefallenen Menschen geboren wurde, wird niemals, echte Ähnlichkeit mit dem wahren Gott aufweisen. »Da meinst du«,. sagt der Herr im Psalm zum Gottlosen, »ich sei so wie 'du« (Ps 50,21).

Dies ist zweifellos eine ernstzunehmende. Beleidigung. des Allerhöchsten, dem die Cherubime und Seraphime unaufhörlich zurufen: »Heilig, heilig, heilig ist der' Herr Zebaoth!« Geben wir acht, daß wir in unserem Stolz nicht der irrigen. Meinung verfallen, nur das sei Götzendienst, wenn man vor. Gegenständen niederkniet und sie anbetet und darum gäbe es ihn bei zivilisierten Völkern nicht! 

Das Wesen des Götzendienstes besteht im Festhalten an Gottesvorstellungen, die Gottes unwürdig sind. Er ‚nimmt seinen Anfang im menschlichen Geist und kann auch dort vorhanden sein, wo er sich nicht in äußeren religiösen Handlungen zeigt. »Obwohl sie von Gott wußten«, schreibt Paulus, »haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm' gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert« (Röm 1,21).

Dann folgte die Anbetung von Götzen in der Gestalt von. Menschen, Vögeln, vierfüßigen und kriechenden Tieren. Diese ganze Reihe entwürdigender Taten hat ihren Ursprung im Geist des Menschen. Verkehrte Gottesvorstellungen sind nicht nur die Quelle, aus der das verseuchte Wasser des Götzendienstes fließt, sondern sie sind selbst Götzendienst. Der Götzendiener macht sich seine eigenen Vorstellungen von Gott und handelt, als seien sie wahr. 

Wo in einer -Religion verdrehte Ansichten über Gott auftreten, 'führen sie bald zu deren Niedergang. Die lange Geschichte Israels zeigt dies. deutlich genug, und auch die Geschichte der Gemeinde Jesu beweist es. Eine erhabene Gottesvorstellung ist für die Gemeinde unbedingt notwendig; 'sinkt dieses Gottesbild auch nur ein wenig ab, so hat dies unweigerlich negative Auswirkungen auf 'den Gottesdienst und.die sittlichen Maßstäbe der Gemeinde. Der erste Schritt einer Gemeinde auf dem Weg nach unten ist immer dann getän, wenn sie ihre hohe Gottesvorstellung aufgibt. 

Dem Niedergang einer christlichen Gemeinde geht in der Regel eine Aufweichung:der'theologisöhen Grundlagen voraus. Auf die Frage: »Wie ist Gott?« gibt sie eine falsche Antwort, und hieraus folgen alle weiteren Schritte. Auch wenn sie noch an ihrem theoretischen Glaubensbekenntnis festhält, so wird dies doch nicht mehr in die Praxis umgesetzt. Die Anhänger dieser Gemeinden machen sich so ein Bild von Gott, das nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun bat, und das bedeutet 'Irriehre der heimtückischsten und tödlichsten Art.

Die .schwerwiegendste Aufgabe, die der Gemeinde heute gestellt wird, ist, ihre Gottesvorstellung so zu reinigen und aufzuwerten., daß sie Gottes wieder würdig ist. Das sollte in allem Beten und Wirken an erster Stelle stehen. Den größten Dienst erweisen wir der nachkommenden Generation von Gläubigen, indem wir immer die erhabene Gottesvorstellung, die wir von unseren
jüdischen und christlichen Vorfahren bezeugt bekommen haben, unverändert weitergeben. 

Das wird sich für sie als von größerem Wert erweisen als das, was Kunst oder Wissenschaft zu ersinnen vermögen.

Du Gott Bethels, von dessen Hand
Dein Volk noch ernährt wird;.
Der Du während dieser ermüdenden Pilgerfahrt
 Alle unsere Väter geführt hast!

Unsere Gelübde, unsere Gebete bringen wir nun 
Vor Deinen Gnadenthron.
Gott unserer Väter! sei der Gott
Ihres nachfolgenden Geschlechtes.
PHILIP DODDRIDGE