Bodie Thoene, Zion Chroniken 5 Das Tor nach Zion,

04/04/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Prolog: Jerusalem 70 n. Chr.

Von Zehntausenden römischen Lagerfeuern bedeckt, blinkten die Hänge des Skopusberges wie der Sternenhimmel. Dunkler Qualm stieg langsam gen Himmel und hüllte den blutroten Mond in einen bedrohlich wirkenden Nebel.
Im Tempelhof herrschte eine unnatürliche Stille, die nur dann und wann von einem schmerzerfüllten Schrei durchbrochen wurde, wenn eine Mutter entdecken musste, dass ihr Kind im Schlaf gestorben war, oder wenn ein Sohn in der Dunkelheit nach seinem ausgemergelten Vater tastete und nur noch einen kalten Leichnam vorfand. Das Stöhnen der Menschen, die von Albträumen gequält wurden, aus denen sie nie wieder erwachen würden, ließ die Stille noch vollkommener erscheinen.
Eli Bar-Jehuda lehnte mit dem Rücken an einer Säule in der Halle Salomos und blickte unverwandt über den Vorhof der Heiden. Um ihn herum lagen die letzten Verteidiger Jerusalems, all die, die das Glück gehabt hatten, sich in den Tempel retten zu können, als die ersten römischen Legionäre die Mauer zur Oberstadt durchbrachen.

Aber dadurch hatten sie im besten Falle einen Aufschub ihres unausweichlichen Todes erreicht, dachte Eli bitter und legte die Hand auf seinen vor Hunger schmerzenden Leib.
Vielleicht wäre es einfacher gewesen, einen schnellen Tod durch das Schwert zu erleiden als dieses grausam langsame Sterben durch den Hunger. Aber die Römer, erinnerte sich Eli, hatten es nicht eilig gehabt, sie zu verfolgen oder gar die Tore des Tempels zu stürmen. Während sie im Angesicht der ausgemergelten Juden genüsslich die Schafe jüdischer Schäfer über ihren Feuern rösteten, hatte der Hunger die Schlacht für sie gewonnen. Und die Verteidiger, die auch hinter diesen heiligen Mauern noch nicht Hungers gestorben waren, würden leicht zu überwältigen sein, wenn die Rammböcke die letzten Tore durchbrochen hatten.
Eli presste verzweifelt den langen eisernen Schlüssel an sich, mit dem er vor beinahe zwei Wochen die sieben Tore des Tempels verschlossen hatte. Er wusste nur zu gut, dass es keinen Schlüssel gab, mit dem man die Eroberer aussperren konnte. Seit der Verriegelung der Tore war es nicht mehr möglich gewesen, das tägliche Opfer zu vollziehen, denn es gab keine Tiere mehr, die man dem Gott Israels auf dem Altar hätte darbringen können. Nun lag nur noch sein Volk Israel selbst, gebrochen und blutend, zu seinen Füßen.
»Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?«, flüsterte Eli mit bebender Stimme. »Morgen wird dein Allerheiligstes entweiht. Wie kannst du das zulassen?«
Doch nur das Stöhnen der Hungernden antwortete ihm. Er liebkoste den Schlüssel, für den er beinahe zehn Jahre lang verantwortlich gewesen war. Morgen Abend würde er sich in den Händen von Männern befinden, die keinerlei Ehrfurcht vor den Schätzen empfanden, die er verschloss.
Eli stand auf und stützte sich schwerfällig an einer Säule ab. Ihm war, als drehe sich der ganze Tempel um ihn. Er rieb sich die Augen und wankte dann, bemüht, nicht auf die Körper der Schlafenden und Toten zu treten, in Richtung der Treppe, die zum höchsten Punkt der Tempelmauer führte. Stufe für Stufe zwang er sich die kalte Steintreppe hinauf und musste zwischendurch wohl ein Dutzend Mal erschöpft anhalten, um wieder zu Atem zu kommen.
»Wer da?«, fragte eine barsche Stimme, als er sich dem obersten Teil der Mauer näherte.
»Eli Bar-Jehuda, der Verwalter des Schlüssels«, erwiderte er keuchend.
»Was willst du?«, fragte die barsche Stimme. »Dein Schlüssel wird uns jetzt auch nicht helfen.«
Eli setzte sich schwerfällig auf die Zinnen und blickte in schweigender Verzweiflung auf das Bild der Vernichtung, das sich unter ihm auftat, auf die Kreuze, die die Straße zum Eingangstor des Tempels säumten, eine endlose Zahl, die seine Augen nicht zu fassen vermochten. »Gott hat uns verlassen!«, rief er schließlich mit erstickter Stimme.
»Jeden Tag, den wir hinter diesen Mauern aushalten, kreuzigen diese römischen Schweine eintausend Angehörige unseres Volkes«, brummte der zelotische Wachtposten voller Ingrimm. »Bald wird es niemanden mehr in Israel geben, den sie ermorden, den sie beherrschen können. Und wer soll dann deine kostbaren Tempeltore schließen, Schlüsselverwalter?«, fragte er höhnisch.
Bei diesen Worten wurde Eli von Verzweiflung ergriffen und er schrie so schmerzlich auf, als sei ihm der eigene Vater ohne ein Wort des Trostes oder des Abschieds gestorben. Sein Schrei schallte durch das Kidrontal und verhallte schließlich zwischen den Kreuzen, die die Stadt wie ein dichter Wald umgaben.
Plötzlich sprang er, den Schlüssel hoch emporhaltend, taumelnd auf und rief mit versagender Stimme: »Oh, Gott! Alles ist verloren. Alles zu Ende.« Dann warf er unter den erstaunten Blicken des Zeloten den geliebten Schlüssel weit fort und rief: »Von nun an, Allmächtiger, mögest du der Wächter des Schlüssels sein, so lange, bis dein Volk für immer nach Zion zurückkehrt!«

1. Dämmerung nach dem Tod

Rabbi Schlomo Lebowitz erhob sich schwerfällig von dem Bett, auf dem er – vollständig angezogen und mit Schuhen, die ihn nun schmerzhaft drückten – vor nur wenigen Stunden erschöpft niedergesunken und eingeschlafen war. Er fasste sich an den Kopf und blickte verwirrt in dem dämmrigen Zimmer umher.
»Oj«, murmelte er heiser, »der Alte wird wohl allmählich wirr im Kopf.« Er hustete geräuschvoll und starrte unverwandt auf das Radio, das stumm auf dem Nachttisch stand. Dann knipste er mechanisch die Nachttischlampe an, doch es blieb alles in das weiche Licht der morgendlichen Dämmerung getaucht. »Oj!«, entfuhr es ihm wieder. »Schlomo, der Strom ist weg ...«
Bei diesem Stichwort überkamen ihn schlagartig und mit dumpfem Entsetzen die Erinnerungen an die letzte Nacht. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Die Knie wurden ihm weich und er musste sich wieder aufs Bett setzen. Dann drückte er erneut mehrfach den Einschaltknopf des Radios, aber es gelang ihm nicht, dem Gerät irgendein Lebenszeichen zu entlocken.
Verzweifelt schlug er die Hände vors Gesicht, als er sich wieder an die bangen Stunden erinnerte, die er in der vergangenen Nacht, erfüllt von Schmerz und zunehmendem Entsetzen, am Radio zugebracht hatte, um das furchtbare Geschehen vor dem Hadassah Krankenhaus zu verfolgen. Zu seinem Leidwesen war jedoch nichts darüber berichtet worden, wie viele Menschen den Angriff überlebt hatten und auch von Rachel und Howard hatte er bisher noch nichts gehört. Schließlich waren jedoch die Lichter ausgegangen, als habe Gott selbst es nicht länger ertragen können und das Radio war verstummt. Noch lange hatte sich der Großvater den Kopf zermartert, bis ihn schließlich gnädige Müdigkeit übermannt hatte.
Untröstlich strich er sich nun über den Bart und starrte mit leerem Blick auf seine ausgetretenen Schuhe. Dann betrachtete er nachdenklich seine Hände mit den geschwollenen Knöcheln und der welken, von Altersflecken übersäten Haut. »Diese Hände«, murmelte er, »waren einmal jung und stark und voller Hoffnung. Und meine Augen haben einmal voll jugendlicher Lebensfreude in die Welt geblickt.« Dann senkte er niedergeschlagen den Kopf. »Ach, ich habe zu lange gelebt! Zu lange, dass ich nun mit ansehen muss, wie unschuldige Menschen auf solch grausame Weise umkommen!« Eine verstohlene Träne tropfte auf seinen weißen Bart. »Es wäre besser, wenn du mich hättest sterben lassen, Gott!«, flüsterte er. »Besser, wenn du einen alten Mann zu dir genommen hättest, nu, als die Jungen, die noch voller Hoffnung und Lebensfreude sind.«
Während die Morgensonne allmählich das Zimmer durchflutete, bäumte er sich innerlich auf: Hast du unsere Rachel aus dem Grab zurückgebracht, damit sie noch einmal stirbt? Das kann ich nicht glauben! Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er gar nicht wahrnahm, wie sich langsam die Tür öffnete und Jakov, gefolgt von seinem abgemagerten Hund, verschlafen ins Zimmer trat. Er hatte die ganze Nacht ahnungslos in Howard Monigers Bett geschlafen.
»Großvater?«, sagte der Junge erstaunt. »Du bist aber heute früh auf!« Er rieb sich das verletzte Auge. »Was ist mit Rachel und dem Professor? Sind sie gestern noch vom Krankenhaus zurückgekommen? Rachel könnte uns wieder Plätzl zum Frühstück machen.«
Der Alte schüttelte langsam den Kopf und erwiderte mit gebrochener Stimme: »Heute nicht. Nein, Jakov. Heute nicht.«
»Großvater?«, rief Jakov erschrocken und stürzte auf ihn zu.
»Lass den Hund raus, Junge!«, befahl der Alte barsch und wandte sich ab. »Ich habe dir neun Jahre lang dein Frühstück gemacht. Ein Morgen mehr oder weniger wird dir auch nicht schaden. Nu! Lass den Hund raus und dann halten wir unser Morgengebet!«
Jakov rückte sich die Jarmulke zurecht und nickte, blieb jedoch stehen und zupfte unschlüssig an seinem Nachthemd. »Meine Schwester ist also noch nicht zurück?«
»Nein«, erwiderte der Alte nun wieder beherrscht, aber bestimmt, »noch nicht.«
»Wann kommt sie denn wieder?«, bohrte Jakov mit zaghafter, ängstlicher Stimme weiter. »Und auch der Herr Professor?«
Der Großvater sah ihm fest in die Augen. Dann holte er tief Luft und sagte gefasst: »Das weiß nur Gott allein, gelobt sei sein Name, Jakov.« Er streckte die Arme nach dem Jungen aus und zog ihn fest an sich. Und dann erzählte er ihm doch, was er in der vergangenen Nacht im Radio gehört hatte. Jakov hörte regungslos zu und starrte dabei mit leerem Blick nach draußen, wo ein kleiner Spatz auf dem Zweig eines jungen Baumes unbekümmert tschilpte.
Als der alte Mann geendet hatte, meinte der Junge ruhig, aber bestimmt: »Ich möchte nach Hause, Großvater. Nach Hause in unsere kleine Kellerwohnung in der Altstadt. Ich möchte, dass es wieder so wird wie früher …«
Der Alte strich ihm behutsam über den Kopf und erwiderte leise: »Wir können zwar nach Hause, zu den heiligen Stätten hinter den Mauern, Jakov, aber so wie früher wird es nicht mehr werden. Nie wieder.«
»Wir waren doch glücklich«, wandte der Junge mit klagender Stimme ein und barg sein Gesicht an der Schulter des alten Rabbiners, »als wir nicht wussten, dass sie lebte! Wir hatten doch alle begraben, die ganze Familie, schon vor langer Zeit! Und nun ist Rachel zurückgekommen, aber nur, damit sie uns wieder weggenommen wird. Es wäre besser gewesen, wenn sie nicht zurückgekommen wäre und wir nie erfahren hätten, was sie ihr angetan haben! Ich wünschte, wir hätten es nie erfahren! Ich wünschte, wir hätten nie geliebt und nie gehofft!« Schaul, der bisher regungslos neben den beiden gesessen hatte, legte nun seinen großen Kopf auf den Oberschenkel des Jungen und trauerte mit seinem jungen Herrn, auch ohne zu begreifen, worum es ging.
Der Großvater schüttelte den Kopf. »Wir können zwar zurück, Jakov, aber es wird nie mehr dasselbe sein für uns.« Über sein Gesicht ging ein schmerzliches Zucken. »Du bist noch zu jung, um über solche Dinge nachzudenken. Viel zu jung!«
»Bring mich nach Hause, Großvater!«, rief der Junge nun verzweifelt und schluchzte. »Nach Hause zu meinem Bett und der Torahschule und – ich möchte wieder nach Hause!«
Lange saßen sie eng umschlungen zusammen, bis der Rabbiner schließlich leise zustimmte: »Ja, Jakov. Nach Hause in die Altstadt. Wenn wir schon alle sterben sollen, Alte und Junge, dann ist es besser, in der Altstadt als in der Fremde zu sterben.« Er nickte nachdrücklich. In seinem alten Herzen gab es nun keinen Zweifel mehr. »Ja. Wir werden heimgehen!«
Bei diesen Worten hob der Junge mit neuem Mut den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über sein tränennasses Gesicht. »Vielleicht lebt Rachel ja doch noch! Vielleicht sind sie und der Professor ja mit dem Leben davongekommen …«
»Das hoffe ich inständig!« Der Alte schloss für einen Moment die Augen und fuhr dann mit nachdenklich zum Fenster gerichtetem Blick fort: »Den heutigen Tag werden wir noch hierbleiben. Wir wollen auf eine Nachricht von ihr warten. Wenn sie überlebt hat, wird sie uns eine Nachricht schicken. Sie würde nicht wollen, dass wir in Ungewissheit leben. Wir werden also diesen Tag noch abwarten.«
»Und dann?«
»Noch heute Abend werden wir wieder durch die Tore Jerusalems gehen. Bevor sie die Tore Zions schließen, gehen wir nach Hause.«
»Großvater?«, fragte Jakov leise. »Werden sie uns dann nicht erschießen?«
Der Alte schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Das ist schon möglich, Jakov.«
»Wenn Rachel tot ist, so wie Mama und Papa und meine Brüder, dann macht es mir nicht so viel aus zu sterben.« Er streichelte tröstend den unglücklich winselnden Schaul. »Ich möchte nicht gern allein leben.«
Der Rabbiner zog ihn erneut an sich. »Aber ich glaube, sie werden es sich zweimal überlegen, bevor sie einen alten Mann und einen kleinen Jungen erschießen.« Er lächelte versonnen. »Vielleicht wird uns auch ein Engel begleiten, nu?«


Auch an diesem Morgen herrschte in der Altstadt ein so geschäftiges Leben und Treiben, als ob sich seit tausend Jahren nichts geändert hätte. Es war, als gäbe es weder Krieg noch Straßensperren, weder Stacheldrähte noch Soldaten, die angespannt auf den Dächern Wache hielten.
Jehudit Akiva stand am schmalen Fenster ihres Zimmers und beobachtete, wie die ersten Strahlen des Morgens die Heilige Stadt mit einem sanften Schimmer überzogen. Gleich darauf hörte sie, wie der Muezzin im benachbarten moslemischen Viertel die Gläubigen zum Gebet rief und zog fröstelnd ihren Schal enger um sich. Im nächsten Moment begannen die Glocken der Grabeskirche die christliche Karwoche einzuläuten und scheuchten eine Schar Tauben auf, die sich flatternd in einer spiralförmigen Bahn in die Lüfte erhoben und sich dann in alle Himmelsrichtungen zerstreuten. Jehudit blickte nachdenklich hinter den Vögeln her.
Dann zog die Jakobskirche mit ihrem roten Ziegeldach ein paar Hausdächer weiter westlich im benachbarten armenischen Viertel die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sich. Mit einem gespannten Lächeln auf den Lippen wartete sie darauf, dass auch von dort der ihr so vertraute Aufruf zum Gebet erschallte. Es verging keine halbe Minute, da hörte sie auch schon die dumpfen, rhythmischen Klänge, die mit einem Hammer auf einer Holzplatte erzeugt wurden. Vor Jahrhunderten hatten die Moslems den Christen verboten, ihre Gottesdienste mit Glockengeläut anzukündigen. Und obwohl das Verbot schon vor langer Zeit aufgehoben worden war, hatten die Armenier diese Sitte bis zu diesem Tage beibehalten. Traditionen halten sich lange in der Heiligen Stadt, dachte Jehudit, selbst wenn sie aus Verfolgung und Erniedrigung geboren werden.
Bald stimmten Dutzende von Kirchenglocken in den Rhythmus der Hammerschläge ein und begrüßten den Morgen. Das christliche, das armenische und das moslemische Viertel begannen ihr Tagewerk in gewohnter Weise innerhalb der knapp zwei Quadratkilometer, die den Mittelpunkt des Universums bedeuteten. Mit lautem Rufen der Händler und Käufer erwachte das Labyrinth der alten Basare zum Leben und bald mischten sich der Duft von frischem Brot und das Blöken von Schafen in diese bunte Palette mit ein.


In der Ferne breitete die Morgendämmerung ihr schimmerndes Licht über die Altstadtmauern und die Klänge der uralten heiligen Stätten wehten über die Hügel und durch die Täler nach Rehavia herüber. »Nach Hause«, sagte Jakov freudig zu seinem Hund, »nach so vielen Monaten wieder nach Hause, Schaul!«
Dann stimmte der alte Mann ein Gebet an, das seit mehr als zweitausend Jahren von Juden auf Pilgerfahrten und im Exil gebetet wurde:

Wie könnten wir des Herrn Lied singen auf fremder Erde?
Vergesse ich deiner, Jerusalem,
so müsse meine Rechte verdorren!
Die Zunge müsse mir am Gaumen kleben,
wenn ich dein nicht gedenke,
wenn ich nicht Jerusalem setze
über meine höchste Freude.

Jehudit öffnete das Fenster ein wenig, atmete mit geschlossenen Augen tief die würzige Luft ein und dachte daran, dass beinahe jeder Morgen ihres jungen Lebens wie dieser begonnen hatte. Es war alles beim Alten geblieben. Jedenfalls fast alles. Sie ließ ihren Blick über ihr eigenes, jetzt leeres Viertel schweifen. Dort standen die Soldaten von Dovs Haganah auf den Dächern und starrten über die Sandsackbarrikaden hinweg auf das bunte Treiben der Nachbarstraßen. Ihnen gegenüber standen bewaffnete britische Vorposten, die verhindern sollten, dass ein Aufruhr ausbrach oder ein Heckenschütze die alten Rabbiner auf dem Weg zur Synagoge beschoss.
Während im christlichen und im armenischen Viertel geschäftiges Treiben herrschte und es einen Überfluss an Lebensmitteln gab, war das von einer hohen rosenfarbenen Mauer umgebene jüdische Viertel still und leer und unter den fünfzehnhundert jüdischen Einwohnern ging das Gespenst des Hungers um. Seit Wochen war den Juden, die in der Altstadt geblieben waren, nun auch schon der Weg zur Klagemauer versperrt.
Hoch über der Hurva-Synagoge wehte immer noch Mosches Tallith an derselben Stelle, an der Dov ihn aufgehängt hatte. Er war für jeden Jihad-Moqhaden, der gerade eine Kugel übrig hatte, zur beliebten Zielscheibe geworden, sodass das einst so glatte, geschmeidige Gewebe nun von Kugeleinschüssen zerfetzt war. Jehudit hatte jedoch munkeln hören, dass Dov und Rabbi Vultch sich gerade deshalb ins Fäustchen lachten, denn jede Kugel, die auf diese Weise verschossen wurde, war eine weniger, die ein jüdisches Leben auslöschen konnte. Und so blieb der Tallith dort als Symbol des Widerstands hängen.
In diesem Augenblick wünschte sich Jehudit jedoch nichts sehnlicher, als dass eine dieser arabischen Kugeln den Weg in ihr Herz finden möge. Sie stand im Licht des jungen Morgens und sehnte sich danach, dass der Tod sie aus ihrer Gefangenschaft befreien möge. Seitdem sie vor drei Tagen zwangsweise zu ihrem Vater nach Hause gebracht worden war, hatte er ihr verboten, das Zimmer zu verlassen und sie hatte ihn die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Die kärglichen Mahlzeiten waren ihr von der mürrischen Alten hereingereicht worden, die ihrem Vater als Hausangestellte und Köchin diente. Niemand hatte während ihrer Gefangenschaft auch nur ein einziges Wort mit ihr gesprochen. Nur einige wenige Gesprächsfetzen waren von der Straße zu ihr heraufgetragen worden, dafür hatte sie die zornige Stimme ihres Vaters umso öfter durch die Holzdielen des Fußbodens vernommen.
»Deir Jassin ... Kastel ... Bab el Wad ...«, hatte sie aufgeschnappt, wenn ihr Vater im Zimmer unter ihr wutentbrannt mit dem britischen Hauptquartier telefoniert hatte. An diesem Morgen hatte das Telefon noch nicht stillgestanden und sie hatte das Ohr fest an den Boden gepresst, um etwas von den Gesprächen mitzubekommen.
»Was haben die Zionisten denn nach Deir Jassin erwartet?«, war die dröhnende Stimme Rabbi Akivas zu ihr heraufgeschallt. »Es war doch klar, dass sie ihre Toten rächen würden! Wie viele Juden sind umgekommen? ... Oj! So viele!« Nach einem langen Schweigen, in dem Rabbi Akiva offenbar eine weitere Hiobsbotschaft mitgeteilt wurde, hatte er ungläubig protestiert: »Sie können sie doch nicht zurückziehen! ... Nein! Nicht nach all dem, was geschehen ist! Glauben Sie denn, der Pöbel wird sich durch den Mord an fünfundsiebzig jüdischen Ärzten besänftigen lassen? Und nun sagen Sie sogar, dass die zionistischen Gangster die Bewohner eines weiteren Dorfes am Pass niedergemetzelt haben? ... Sie können sich heute nicht zurückziehen und uns dem Schutz einer Hand voll närrischer Jeschivaschüler überlassen! ... Dann werden wir überrannt. Wenn es so ist, wie Sie sagen, werden wir von den Freischärlern Haj Amins überrannt. Stewart, Sie müssen mit den Behörden sprechen! Wir Menschen in der Altstadt lieben den Frieden! Wir möchten nur …«
Akivas zornige Stimme erhob sich zu immer neuen Höhen der Verzweiflung. »Stewart! Die ganze Welt wird Ihre Regierung dafür zur Verantwortung ziehen, wenn wir abgeschlachtet werden, weil Sie sich zurückgezogen haben! ... Nur für heute? Aber warum nur für heute? Warum?«
Jehudit presste ihr Ohr noch fester an den Boden, um sich die Antwort auf diese Frage erschließen zu können. Aber es drang nur ein letzter zorniger Schrei ihres Vaters nach oben. Dann hörte sie, wie das Telefon krachend zu Boden fiel. Gleich darauf verließ ihr Vater mit stampfenden Schritten das Zimmer und dann fiel in der Ferne krachend eine Tür zu.
Jehudit setzte sich seufzend auf. Schwer gegen ihr Bett gelehnt, starrte sie auf ihre Hände und dachte nach. Die Briten ziehen sich also heute tatsächlich aus der Altstadt zurück. Nur für heute! Warum bloß?
Sie blieb lange unschlüssig sitzen, doch plötzlich erhob sie sich hastig und eilte erneut ans Fenster. Von dort beobachtete sie mit zusammengekniffenen, gegen das grelle Sonnenlicht abgeschirmten Augen, wie in der Ferne die britischen Vorposten ihre Waffen aufnahmen und ohne großes Aufsehen ihre Stellungen verließen. Diese wurden sofort von Haganahsoldaten eingenommen, die zum ersten Mal ihre Waffen offen zur Schau trugen.
»Die Engländer haben Angst«, stellte Jehudit laut fest. »Etwas kommt auf uns zu und sie haben Angst, mit hineingezogen zu werden.«
Rasch verloren sich die britischen Soldatenmützen hinter den Gebäuden. Die Männer schienen in Eile zu sein. Jehudit fasste sich nachdenklich an den Kopf und versuchte, die Nachrichtenfetzen, die sie in ihrem Gefängnis aufgeschnappt hatte, in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Alles führte nur zu dem einen Schluss: Kastel und Bab el Wad waren den jüdischen Streitkräften in die Hände gefallen und nun kamen die Freischärler Haj Amins hierher in die Altstadt, um das jüdische Viertel niederzumetzeln. Und die Soldaten Captain Stewarts würden nichts unternehmen, um sie daran zu hindern.
Plötzlich rasselte ein Schlüssel im Türschloss und Jehudit fuhr herum. Die Zimmertür öffnete sich langsam und dann erschien das runzelige Gesicht von Goldie Levy. Sie trug ein Tablett in ihren knorrigen, arthritischen Händen, schaute Jehudit nur kurz an und senkte dann sofort wieder den Blick.
»Was ist geschehen?«, fragte Jehudit und eilte ihr entgegen, um ihr das Tablett abzunehmen.
Die Alte legte einen ihrer verkrümmten Finger an die dünnen Lippen und gab ein warnendes »Sch« von sich. Nach einem ängstlichen Blick über die Schulter flüsterte sie: »Dein Vater ist sehr zornig. Die Zionisten haben die Straße nach Jerusalem geöffnet …«
»Aber das ist doch ein Grund zur Freude«, unterbrach sie Jehudit.
»Sie haben außerdem einen großen Anführer der Araber ermordet. Die Moslems werden erst trauern und dann überall Feuer legen. Dabei haben die Engländer Befehl, sich heute der Altstadt fern zu halten.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der Jeschivaschüler, die über die Dächer hasteten. »Sie überlassen uns, Gott behüte, einer Handvoll Schüler und einigen wenigen Leuten von der Haganah. Das ist für deinen Vater, Rabbi Akiva, ein Schlag ins Gesicht. Und darüber ist er sehr erbost.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ schnell das Zimmer, aber nicht ohne die Tür wieder hinter sich abzuschließen.
Jehudit trug das Tablett mit der mageren Essensration zur Fensterbank und setzte sich. Während sie den dünnen Tee trank, verfolgte sie, wie sich die Nachricht in der Altstadt verbreitete. Die Glocken im christlichen Viertel verstummten und aus den Souks erschallten zornige Rufe und Klagelaute. Die Schaufenster wurden eilig mit Rollläden vor dem Zorn der Araber verschlossen, die unweigerlich über das Viertel hereinbrechen würden. Immer mehr junge Haganahmänner strömten aus den kleinen Häusern des jüdischen Viertels. Sie sammelten sich hinter den Barrikaden und sahen von dort aus zu, wie der Zorn brodelte und sich ständig steigerte.
Und dann umfing die Heilige Stadt, das Zentrum des Universums, mit einem Mal eine tiefe, unheilvolle Stille und Jehudit Akiva saß am Fenster und betete darum, dass eine der Kugeln ihr Herz finden möge, um ihrem kurzen, unglücklichen, siebzehnjährigen Leben ein Ende zu setzen.

Bodie Thoene Der Weg nach Zion Zion Chroniken 1

04/05/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Prolog Qumran, am Toten Meer, 68 n. Chr.

Helle gekräuselte Rauchwolken stiegen von der Öllampe zur Decke des aus Steinquadern errichteten Raumes empor. Simon Bar Giora rieb sich müde mit dem Ärmel seiner Tunika über seine schmerzenden Augen. Er lehnte sich gegen die Wand und starrte auf seinen jüngeren erst siebzehnjährigen Bruder, der ohnmächtig und völlig regungslos auf dem Stroh neben ihm lag.
»Reuben«, flüsterte er traurig. Er streckte seine Hand aus und berührte mit dem Finger den blutgetränkten Verband, der um den Kopf des schlanken jungen Mannes gelegt war.

»So jung - so jung.« Der Arzt der Bruderschaft hatte ihm gesagt, dass der Junge die Nacht nicht überstehen würde. Niedergeschlagen und ohne Hoffnung hatte der nur die Achseln gezuckt, als er Simon in seiner traurigen Nachtwache allein ließ. Simon beugte sich über Reubens Kopf und schob sanft eine dunkelbraune Haarlocke zurück, die sich unter dem Verband hervorgeschoben hatte.


»Was ist bloß mit Mutter?«, fragte er flüsternd. Sie und seine drei Schwestern waren in Jerusalem zurückgeblieben, von den römischen Legionen Vespasians und Titus’ umzingelt. »Kannst du mir nicht ein Wort der Hoffnung sagen, Reuben?«, flehte er. »Du hast dich auf einem Weg voller Gefahren bis hierher durchgeschlagen und willst nun ohne ein Wort über ihr Schicksal sterben?« Er wischte Reuben etwas Blut von der Schläfe und schaute dann gedankenverloren auf den dunkelroten Fleck. War das Blut der Menschen, die er liebte, schon in den Straßen Jerusalems von römischen Schwertern vergossen worden? »Sprich doch, kleiner Bruder. Nur ein Wort. Leben sie noch?« Er legte seine Lippen dicht an Reubens Ohr. Als Antwort hörte er nur das flache Atmen des Jungen, dessen Wunden deutlicher sprachen als Worte. »Dein Blut ist auch meines«, sagte Simon leise. Die Tränen schmerzten in seinen Augen. Er nahm Reubens schlaffe Hände in seine eigenen und begann das Schema zu beten: »Höre, oh Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist Einer ...« In seinen Gesang fiel eine andere Stimme ein, die gleichmäßig von der Türöffnung hinter ihm ertönte. Während sie den alten Bittgesang zusammen rezitierten, wurde Reubens Atem immer gequälter, bis zuletzt das Röcheln des Todes aus seiner Kehle kam.
Simon neigte seinen Kopf und presste Reubens Hände gegen seine Wange. »Als er klein war, hat er mir diese Hände entgegengestreckt«, sagte er mit schmerzverzerrter Stimme. »Er hat seine ersten Schritte in meine Arme gemacht.«
»Es tut mir leid, Simon«, sagte die Stimme und tiefes Mitgefühl klang in diesen schlichten Worten.
»Sie werden alle tot sein, inzwischen wohl alle«, erwiderte Simon voller Trauer. »Und ich habe sie im Stich gelassen. Anstatt zu kämpfen, bin ich von ihnen weggegangen und habe mich einem Leben des Friedens und dem Studium von Gottes Wort gewidmet. Ich wäre besser mit den Zeloten gestorben!« Bitterer Schmerz wütete in seiner Stimme, als er die Fäuste ballte.
»Jerusalem ist gefallen. Aber du hast ein größeres Ziel in deinem Leben, als an Pest oder Hunger hinter den Toren dieser Stadt zu sterben«, tröstete ihn sein Gefährte. »Du bist noch nicht am Ende.«
»Was hat das für einen Sinn?«, schleuderte ihm Simon entgegen. »Wer wird je erfahren oder sich dafür interessieren, was wir hier tun?«
»Jerusalem ist gefallen«, sagte die Stimme wieder. »Wäre es vielleicht besser gewesen, wenn du zu den Hungernden und Toten gehört hättest? Sogar die Frau des Hohenpriesters ist, vom Hunger getrieben, in den Gassen der Stadt auf der Suche nach irgendetwas Essbarem umhergeirrt. Und Einwohner, die sich nach Einbruch der Dunkelheit auf der Suche nach Wurzeln aus den Stadtmauern gestohlen haben, hat man jede Nacht zu Hunderten gekreuzigt. Alle Bäume sind gefällt und zu Kreuzen gemacht worden. Sie säumen nun die Straßen, die in die Stadt hineinführen. Und wenn sie ihrem üblen Zweck gedient haben, werden mit ihnen Feuer gemacht, in denen die Leichen unseres Volkes verbrannt werden. Solch ein Tod ist nicht edel, Simon. Das ist nur ein Umkommen.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Simon, dessen Augen sich immer noch nicht von Reubens blutbeflecktem Gesicht lösen konnten.
»Erst vor einer Stunde sind zwei Zeloten völlig erschöpft ins Lager gekommen. Sie sind dem Tode noch einmal entronnen, aber ich glaube, er wird sie nur zu bald einholen. Ich habe gehört, dass die Legionen auf dem Weg zu uns sind.«
Simon seufzte, nickte und kreuzte dann Reubens Hände über dessen Brust. »Dann habe ich dringende Arbeit zu erledigen.« Er tat einen tiefen Atemzug und straffte seine Schultern. »Ist denn alles verloren? Sind denn alle tot?«
»Man sagt, Titus hat seinen Angriff am Nordwall begonnen. Bei Tage ließ er Rammböcke gegen die Befestigungsmauern krachen. Bei Nacht rackerten sich die Zeloten ab, um die Mauereinbrüche wieder auszubessern, und rasteten nur, wenn sie vor Erschöpfung zusammenbrachen – oder wenn sie vom Tod erlöst wurden. Vor zwei Wochen ist der äußere Wall gefallen, dann der zweite. Und letzte Woche zerbrach auch das dritte Bollwerk. Als sich die Legionen durch die Straßen der Stadt wälzten, zogen sich die Überlebenden zum Tempel zurück und setzten ihren Widerstand von dort aus weiter fort. Sechs Tage lang hallte das Krachen der Rammböcke in den Höfen der Heiligen Zitadelle wider, dann war auch sie genommen. Die Soldaten töteten jeden, den sie lebend fanden. Es war ein furchtbares Gemetzel. Einige konnten entkommen. Nur wenige – wie dein Bruder und diese zwei Männer. Aber während sie flüchteten, färbte der Rauch, der aus dem brennenden Tempel aufstieg, den Himmel hinter ihnen schwarz.« Er hielt inne und fuhr dann mit sanfter Stimme fort: »Es tut mir leid, Simon. Deine Familie ist tot. Wir werden für sie Kaddisch sagen.«
»Und wenn die Römer hierherkommen und auch der letzte Jude tot ist? Wer wird dann Kaddisch sagen?«
»Vielleicht Gott«, antwortete er langsam.
»Dann müssen wir die Worte seiner Verheißung bewahren.« Simon wischte sich die Augen und richtete sich auf. »Und wenn seine Worte versiegelt sind, können auch wir in Frieden sterben.«
»Ja, Simon. Wir gehen andere Wege, um gegen die zu kämpfen, die behaupten, dass es keinen Gott in Zion gäbe. Auch wenn wir alle ins Grab müssen und Israel entvölkert ist, lebt Gott dennoch.«
Simon wandte sich dem Sprecher in der Türöffnung zu, einem freundlichen, graubärtigen alten Mann. »Dann will ich wieder zu meiner Feder greifen und meine Feinde mit Frieden im Herzen bekämpfen.«
Langsam ging Simon über den dunklen, verlassenen Hof zu der Schreibstube, die jetzt leer war. Er öffnete die verriegelte Tür und blickte sich in dem länglichen, aus Steinquadern gebauten Raum um, als ob er ihn zum ersten Mal sähe. Zwei Dutzend Schriftrollen lagen sauber in Leinen eingewickelt auf dem Holztisch, der sich am anderen Ende des Raumes befand. Morgen würden sie eine letzte Pechschicht erhalten, bevor sie, in Tonkrügen versiegelt, in den Höhlen der öden Hügel bei Qumran versteckt würden. Nur diese eine Schriftrolle, das Buch des Propheten Jesaja, war noch unvollendet. Er wischte sich die Hände an seinem Gewand ab, ging hinüber an seinen Tisch, setzte sich und strich liebevoll über das neue Leder, das vor ihm ausgebreitet lag. Wie lange, fragte er sich, würde es dauern, bis menschliche Augen die Worte wieder lasen, die er so sorgfältig von der abgegriffenen und verblassten Originalschriftrolle abschrieb? Bei dem trüben Licht der Öllampe musste er seine Augen anstrengen, um die nächste Zeile der Spalte lesen zu können: »Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der Frieden verkündet, gute Botschaft bringt ...«
Seine eigene Stimme hallte hohl von den Steinwänden des Raumes wider. Sein Herz war von Schmerz erfüllt, als er daran dachte, wie Reuben erst vor zwei Tagen erschöpft in der Gemeinde angekommen war. Seine Füße hatten nicht lieblich ausgesehen. Da er keine Sandalen getragen hatte, waren sie blutig, bis auf die Knochen zerschunden gewesen.
»... der Frieden verkündet, gute Botschaft bringt, der Heil verkündet, zu Zion spricht: Dein Gott ward König!«
Die jubelnden Worte erschienen ihm wie Spott. Es wird kein Heil geben, keine Nachricht vom Frieden, dachte Simon, während er sorgfältig seine Feder in das Tintenfass tauchte und die Worte der Verheißung abschrieb, die er soeben gelesen hatte. Nur die Römer regierten jetzt in Zion. Die Verheißung Jesajas würde sich erst in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben erfüllen. Oder würde sie überhaupt jemals in Erfüllung gehen?, fragte er sich flüchtig.
In wenigen Tagen würden die Legionen hier in diese Gemeinde eindringen und im Namen von Vespasian und Titus töten, verbrennen und zerstören. Nur die heiligen Schriften würden vor der Vernichtung sicher sein. Das Wort Gottes würde ruhig in einer Höhle bis zu einer fernen Zeit schlafen - wer wusste schon, wie lange? - und spätere Geschlechter würden die Verheißungen vernehmen und deren Erfüllung erleben.
Langsam streckte Simon seinen zittrigen Finger aus und verfolgte ehrfürchtig die Worte des Propheten. Seinen eigenen Tod fürchtete er nicht. Aber er hatte Angst vor dem Feuer, das unausweichlich dem Massaker folgen würde. Die Schriftrollen müssen erhalten bleiben! »Hilf uns, Jahwe!« Sein stummer Schrei wandte sich an den Gott Abrahams.
Er seufzte tief, als sich die Gesichter seiner Familie vor sein geistiges Auge drängten. Der Gott Israels würde seine Verheißung nicht vergessen; ganz sicher würde er sich an seine Stadt Jerusalem erinnern!


Simon wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg und tauchte noch einmal seine Feder ein. Jeder Buchstabe, jede Kleinigkeit muss vollkommen sein. Nichts kann geändert oder gestrichen werden. Der Tempel ist niedergebrannt, dachte er mit Wehmut. Sind noch Heilige Schriftrollen gerettet worden, oder bin ich es, Simon bar Giora, der die letzte Rolle mit der Verheißung in Händen hält, die verkündet, dass dort, wo jetzt nur Asche liegt, dereinst wieder ein Volk leben wird?
Er war ganz in dem Gedanken an die Legionen vertieft. Nur ein paar Tagesmärsche von dem Ort entfernt, wo er jetzt saß, schärfte gerade jemand das Schwert, das seinem Leben ein Ende bereiten würde. Schnell! Ich muss diese Arbeit sorgfältig, aber auch eilig beenden, beschloss er, während er seine Feder eintauchte. Er und seine Landsleute würden dem römischen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden den endgültigen Sieg nehmen. Gemeinsam, dachte Simon, werden wir die Wächter der Verheißung sein, auch dann, wenn wir im Stillen sterben.

1. Die Entdeckung

»Antikas! Antikas!«, rief der alte Beduinenhirte, als Ellie Warne das mahagonigetäfelte Arbeitszimmer ihres Onkels betrat. Nach sechs Monaten in Jerusalem verstand sie das Wort nur zu gut. Für einen arglosen Touristen, der sich im Irrgarten der Altstadt-Souks verloren hatte, bedeutete es in der Regel, dass ein Stück des wahren Kreuzes oder der wirklichen Dornenkrone dem Meistbietenden zum Verkauf angeboten wurde.
»Antikas!« Der alte Mann öffnete seinen Mund zu einem breiten zahnlosen Lächeln und klopfte dabei seinem jungen Begleiter auf die Schulter, in der Hoffnung, etwas mehr Begeisterung bei ihm zu wecken.
Ellie strich sich müde mit der Hand über die Stirn und widerstand dem Drang, umzudrehen und geradewegs zurück ins Bett zu gehen. Was, fragte sie sich, hatte die alte Miriam sich nur gedacht, als sie diese beiden windigen Gesellen in diesen Raum mit echten archäologischen Antiquitäten gelassen hatte? Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie Ellie mit der allerschlimmsten Grippe aus dem Bett geholt hatte, nur damit sie sich etwas ansehen sollte, was höchstwahrscheinlich doch nur unechter Trödel war. Drei Tage lang war Ellie ihrer Arbeit an der Ausgrabungsstelle ferngeblieben. Krank und müde wie sie war, hatte sie eigentlich nur das Bedürfnis, sich auszuruhen und zu schlafen. Ihr Onkel Howard Moniger war schließlich der Archäologe, während sie ja nur seine Funde fotografierte.
Gar keine schlechte Beschäftigung, hatte sie gedacht, wenn ein Mädchen gerne Henkel von zweitausendjährigen Krügen aufnimmt. Solange ihr alle erstklassigen Fotojournalistenstellen von GIs weggeschnappt wurden, die von Europa oder dem Pazifik wiedergekommen waren, war das immer noch besser als in Long Beach zu kellnern. Selbst mit einem Examen in Fotojournalismus von der »University of California Los Angeles« war es für sie ein Glücksfall, eine Stelle zu haben, das wusste sie. Der gute alte Onkel Howard hatte es wirklich geschafft! Die Bezahlung bei der Amerikanischen Schule für Orientforschung war zwar bescheiden, aber immerhin regelmäßig. Doch auf den Fall, der ihr jetzt bevorstand, war sie in ihrer Ausbildung nicht vorbereitet worden.
»Antikas! Antikas!«, wiederholte der alte Araber und deutete wild gestikulierend auf den zerschundenen Lederbeutel, den er über seiner knochigen Schulter trug.
»Gut, Gut! Nur einen Augenblick!« Sie bedeutete ihnen ungeduldig, sich zu setzen, und murmelte dann: »Bleibt hier stehen; ich will nur eben eine reizende alte Dame erwürgen; dann werfe ich einen Blick auf die Schätze, die ihr mitgebracht habt.« Sie drehte sich um und blickte durch die offene Tür in die Diele. »Miriam!«, rief sie. »Kommen Sie mal schnell her!« Ellie wandte sich wieder ihren ungewöhnlichen Besuchern zu. Sie saßen steif auf Lederstühlen mit geraden Rückenlehnen und betrachteten unverwandt die Bücherwände und die ausgestellten archäologischen Funde, mit denen der Raum gefüllt war. Die beiden sehen selbst so aus wie archäologische Funde, die man in Onkel Howards Vitrinen zwischen Scherben und Werkzeugen aus der Bronzezeit ausstellen könnte, fand Ellie.
Während die Beduinen den Raum musterten, betrachtete Ellie sie genauer. Sie wären wunderbare Fotomotive, dachte sie. Beide waren in traditionelle Sandalen und lange Gewänder gekleidet und gekrönt mit der Keffijah, der Kopfbedeckung der Nomadenstämme Palästinas. Der eine von ihnen mochte achtzehn oder neunzehn Jahre alt sein. Sein struppiger Bart umrahmte ein schmales Gesicht. Der Ältere trug einen lockigen grauen Bart und hatte hohe Backenknochen.
»Miriam!«, rief sie wieder. Endlich erschien Onkel Howards alte Haushälterin in der Türöffnung. »Ich glaube, ich brauche Sie …« Sie machte eine vage Handbewegung zu den beiden Hirten, die immer noch abwartend dasaßen und sich dabei interessiert umsahen.
Als Ellie sich ihnen wieder zuwandte, hatten sie offensichtlich ihre Verkaufsstrategie geändert. Der ältere der beiden sprang auf und versetzte seinem Begleiter einen heftigen Schlag auf den Kopf. Ellie, mit ihren 1,65 m, überragte den alten Mann. Der jüngere, groß und mit gebeugten Schultern, erhob sich etwas langsamer.
»Salaam.« Beide Männer sprachen gleichzeitig und verbeugten sich majestätisch vor Ellie. »Salaam«, erwiderte Ellie.
Die drei standen sich einen peinlichen Moment lang gegenüber, bis Ellie das Schweigen brach. »Bitte setzen Sie sich wieder«, sagte sie. »Der Professor ist leider nicht hier, aber er kommt in ein paar Tagen zurück ...« Ihre Stimme verebbte langsam, als die beiden stehen blieben und nicht aufhörten, sie anzulächeln.
»Antikas …«, begann der Ältere wieder.
»Miriam«, flehte Ellie und sah zur Tür, wo die alte Frau stand.
Aber bevor Miriam übersetzen konnte, stürmte der alte Araber plötzlich zwischen Ellie und die Tür. Er schob ihr den abgenutzten Lederbeutel entgegen. »Antikas!«, sagte er beharrlich. Dann machte er mit der Feierlichkeit eines Stammeshäuptlings eine Handbewegung, mit der er ihr bedeutete, stehen zu bleiben.
»Gut«, stöhnte Ellie. »Wir wollen mal sehen, was du da hast: den Silberkelch; die echten Nägel vom ...« Bevor sie den Satz zu Ende sprechen konnte, zog die verhutzelte braune Hand einen Gegenstand aus dem Lederbeutel, der wie eine Miniaturmumie aussah. Er war ungefähr 30 cm lang und gut 10 cm dick. Er schien in Leinenlappen eingewickelt. Der Spott verging ihr und machte einer vorsichtigen Neugier Platz. Der alte Mann lächelte sein zahnloses Lächeln und hielt ihr den Gegenstand ehrerbietig hin.
»Antikas«, wiederholte er ruhig und aufrichtig. »Du gucken, echte Antikas.«
Beschämt über ihr leichtfertiges Urteil, betrachtete Ellie den Gegenstand erst längere Zeit intensiv, bevor sie ihre Hände vorsichtig danach ausstreckte. Dabei schaute sie den Alten prüfend an, um sich zu vergewissern, ob sie den Gegenstand auch nehmen durfte. Der Mann nickte ihr zu und lächelte wieder.
»Ja, du gucken. Mach.« Behutsam legte er ihn ihr in die Hand und trat zurück.
Sogar Ellies ungeübtes Auge konnte erkennen, dass dies eine Schriftrolle war. Sie war erstaunlich schwer, von brauner Farbe und die Ränder schienen bröckelig zu sein; sie sah wirklich sehr alt aus. In der Archäologie war der Begriff »alt« allerdings etwas sehr Relatives. Ellie hatte schon so viel Erfahrung gesammelt, um zu wissen, dass ein Fundstück von nur zweihundert Jahren nicht viel wert war.
»Sehr alt«, meinte der Mann aufmunternd.
Ellie sah ihn lächelnd an. Es war unmöglich zu sagen, ob das, was sie in Händen hielt, hundert oder tausend Jahre alt war.
»Es tut mir leid«, entgegnete sie. »Ich weiß einfach nicht genug darüber. Der Professor ist nicht da und kommt auch erst in einigen Tagen zurück ...«
»Aufmachen«, beharrte der alte Araber und entriss ihr die Rolle. Als er sie hastig an sich nahm, bröckelten Teile des Randes ab und fielen zu Boden. »Du gucken, Antikas.« Er legte sie auf die große Schreibtischfläche und rollte sie ohne Feierlichkeit auf. »Da!«, sagte er strahlend. »Sehr alt.«
Das Innere der Schriftrolle war bedeckt mit Kolumnen einer sorgfältigen, wie mit dem Lineal gezogenen Schrift, die Hebräisch zu sein schien. Die Rolle bestand aus mehreren zusammengenähten Teilen, die vermutlich aus Leder waren.
Während Ellie sie eingehend betrachtete, versuchte sie sich zu erinnern, was Onkel Howards Kollege ihr über die hebräischen Schriftrollen erzählt hatte, die in »Genizahs«, speziellen Lagerräumen, aufbewahrt wurden, wenn sie abgenutzt waren. Dies konnte eine solche Rolle von unbedeutendem Wert sein. Und doch hatte die Ausführung der Buchstaben etwas Eigenartiges an sich. Soweit sie sich erinnern konnte, war diese Rolle anders als alles, was Mosche ihr bisher gezeigt hatte.
»Ja, sehr schön«, nickte sie dem Araber zu.
Er wandte sich an seinen jungen Begleiter und strahlte triumphierend.
»Zweihundert englische Pfund«, verkündete er. »In bar.«
»Hören Sie mal«, versuchte Ellie zu erklären. »Das geht nicht. Ich meine, ich habe keine Ahnung von diesen Dingen. Mein Onkel, der Professor ...«
»Zweihundert englische Pfund«, sagte er wieder.
»Wo kommt die Rolle her? Wo haben Sie sie gefunden?«
»In bar«, erwiderte er und hielt ihr seine Handfläche offen hin.
Ellie sah zuerst auf die knorrige Hand, die vor ihr ausgestreckt war, dann in die Augen, die erfüllt waren von dem Vergnügen an der Gier. »Hier handelt es sich um ein großes Missverständnis, guter Mann. Sie stehen vor dem Lieschen Müller in der Welt der Archäologie. Nein. Nein. Tausendmal nein.« Sie putzte sich die Nase und gestikulierte ungeduldig zu Miriam hinüber, die immer noch in der Türöffnung stand. »Machen Sie ihm das klar, Miriam.« Man konnte nicht mit einem Mann reden, dessen Wortschatz nur »Antikas«, »sehr alt« und »in bar« umfasste.
Miriam kam neugierig näher, als der alte Araber einen Schwall von Worten hervorsprudelte, dabei mit der einen Hand in die Luft stieß und die andere nach Geld ausgestreckt hielt. Als Miriam mit einem ähnlichen Wortschwall antwortete, bemerkte Ellie, dass sich sein Verhalten abrupt änderte.
»Bah!«, stieß er hervor, indem er seine gierig ausgestreckte Hand senkte. Er starrte Ellie an, als ob sie ein Eindringling in die Welt der Hochfinanz sei, und packte dann die Schriftrolle wie ein verärgerter Verwaltungsbeamter ein, der enttäuschende Berichte einer Vierteljahresschrift in seine Aktentasche stopft.
»Miriam!«, rief Ellie. »Sagen Sie ihm, dass er das nicht tun soll! – Tun Sie das nicht!«, befahl sie ihm und eilte zum Schreibtisch.
»Bah!«, stieß er wieder hervor und würdigte diese Anfängerin keines Blickes.
Miriam sprudelte los und ertränkte seine Sturheit in einem Schwall von Arabisch, mit dem Erfolg, dass er die Schriftrolle mitten im Satz noch einmal aus dem Lederbeutel nahm, beleidigt die Luft einzog und seine Augen nicht von Ellie wandte, bis Miriam mit ihrem Redefluss zu Ende war.
»Hmmm«, sagte er und rieb sich gedankenvoll das Kinn. »Hmmm.« Dann erschien erneut sein zahnloses Lächeln. Er klopfte seinem jungen Begleiter wieder auf die Schulter und die beiden nahmen noch einmal Platz.
»Sehen Sie«, sagte Miriam zu Ellie. »Man muss einfach wissen, wie man mit diesen Wüstenbauern zu reden hat.«
»Was haben Sie ihnen gesagt?«, fragte Ellie ehrfürchtig.
»Dass Sie die allergrößte Autorität in antiken Schriftrollen sind und ihm nichts zahlen werden, bis er Ihnen alle gezeigt hat.«
»Autorität!«, wiederholte Ellie verzagt. »Alle? Sie meinen, es gibt noch mehr von diesen Dingern?«
»Hat er Ihnen das nicht gesagt?«
»Wieso? Nein.«
Miriam hielt dem alten Hirten eine ordentliche Standpauke, der er eine eigene Schimpfkanonade folgen ließ, während Ellie sich einen Weg zu Onkel Howards massivem ledernen Schreibtischstuhl suchte und darauf niedersank.
»Nun«, sagte Miriam naserümpfend, »dieser Hund von einem Lügner sagt, er hätte Ihnen alles erzählt: dass es noch mehr davon gibt und dass sein Sohn sie in einer Höhle gefunden hat, als er eine Ziege suchte. In Krügen aufbewahrt.«
»Kann sein«, meinte Ellie achselzuckend. »Ich habe kein Wort verstanden.«
Miriam kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ha!«, schnauzte sie den Hirten an. »Sprechen Sie bitte King’s English.«
Der Alte sah den jungen Hirten neben sich an, der intensiv eine Vitrine mit antikem Werkzeug betrachtet hatte. Dann schlug der Alte ihm auf den Arm. »King’s English bitte«, schnaubte er und murmelte dann einige arabische Flüche.
Der junge Mann räusperte sich nervös und rieb sich die Lippen mit seiner schmutzigen Hand, als ob er so seine eingefrorene Zunge lösen wolle. Dann holte er tief Luft und begann: »Ich bitte um Entschuldigung, Ma’am.« Er nickte Ellie zu. Seine tiefe, angenehm klingende Stimme mit einem ausgesprochen britischen Akzent hätte Ellie beinahe dazu veranlasst, sich nach dem Bauchredner umzusehen, der einem derartigen Bündel von Knochen und Schmutz solch gebildete Töne in den Mund zu legen vermochte.
»Mein Vater ist ein ziemlich ungebildeter Mann«, erklärte er. »Er hat mir gesagt, er müsse dieses Unternehmen selbst durchführen und ich müsse lernen.« Ein Lächeln spielte um seine Lippen, als er aus dem Augenwinkel seinen Vater ansah, der grübelnd neben ihm saß. »Er meint es nicht böse.«
»Da Sie die Sprache offensichtlich so gut beherrschen, werden Sie auch verstanden haben, dass ich nicht die Autorität bin, für die mich meine Haushälterin ausgibt.«
Miriam wandte sich um und schickte sich an wegzugehen. »Ich bringe Tee«, kündigte sie gekränkt an.
»Danke, Miriam«, rief Ellie ihr hinterher. »Und, Miriam ...« Sie blieb stehen. »Danke.«
Der junge Hirte sah ihr nach. »Das hat sie gut gemacht. Wenn mein Vater das nämlich wüsste, ginge er gleich zum Antiquitätenhändler nach Bethlehem.«
»Erzählen Sie mir, wie Sie an die Rollen gekommen sind.« Ellie legte ihren schmerzenden Kopf an die Lehne des Lederstuhles.
»Mein jüngerer Bruder, Mohamed der Wolf, hat eine Höhle mit Krügen und solchen Schriftrollen gefunden. Viele waren zerstört und es lagen eine Menge zerbrochener Krüge und Scherben herum. Er hatte eine Ziege verloren, wissen Sie, und hat dann einen Stein in die Höhle geworfen, um herauszufinden, ob sie dort hineingelaufen war. Er hat gehört, wie etwas zerbrach, mich geholt. Wir haben diese Rolle gefunden und sechs weitere unversehrte.«
»Wo befindet sich die Höhle?«
»Es gibt viele Höhlen in der Wüste«, erwiderte er mit einem ausweichenden Lächeln. »Diese ist eine von vielen in der Nähe des Toten Meeres. Ich weiß, wo sie liegt, aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, darüber zu sprechen.«
»Ich verstehe.« Ellie wusste, was er meinte. Solange er kein Geld erhalten hatte, würde er nichts sagen. Der Alte, dachte Ellie, hätte gut daran getan, bei seinem Sohn in die Lehre zu gehen. »Sie wissen, ich kann Ihnen nichts versprechen, solange der Professor sie sich nicht angesehen hat.«
»Dann gehen wir vielleicht doch besser zu den Händlern nach Bethlehem«, meinte er seufzend.
»Nein. Lassen Sie die Rolle hier und bringen Sie morgen die anderen.«
»Ach, nein. Ich fürchte, wir werden viele Tage in der Wüste sein. Es wird wohl zwei Wochen dauern, bis wir nach Jerusalem zurückkommen. Wir reisen morgen ab.« Er stand langsam auf.
»Nein, warten Sie.« Ellie forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich hinzusetzen. »Ich bin die Fotografin des archäologischen Teams. Wenn ich nicht krank geworden wäre, wäre ich jetzt mit dem Professor unterwegs.«
»Möge Allah Ihnen Gesundheit verleihen, gelobt sei sein Name.« Der Hirte neigte seinen Kopf.
»Nun, Gesundheit hat er mir nicht verliehen und so bin ich jetzt hier«, meinte sie leise. »Also, würden Sie mir die Schriftrolle über Nacht hier lassen? Ich kann sie fotografieren und dem Professor zeigen, wenn er zurückkommt. Wenn sie ihm gefällt, können Sie vielleicht Ihren Vater das Geschäftliche erledigen lassen.«
Der junge Mann räusperte sich nachdenklich. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er zu Ellie und sprach dann zu dem Alten, der Ellie argwöhnisch musterte. Geraume Zeit verhandelten sie auf Aramäisch und berieten hin und her, ob es wirklich klug sei, dieser rothaarigen, unverschleierten, ungläubigen Frau einen solch wertvollen Gegenstand zu überlassen. Schließlich beherrschte sie noch nicht einmal die Sprache des Landes, in dem sie lebte. Die Diskussion wendete sich jedoch entschieden zu ihren Gunsten, als Ellie schließlich eine Fünf-Pfund-Note aus ihrem Portemonnaie hervorholte.
»Sagen Sie ihm, dass dies nur eine Kaution sein soll. Auf Ehre.« Als der Alte den Schein beäugte, ergänzte Ellie: »Er kann die Schriftrolle morgen früh wiederhaben, aber ich will dann auch mein Geld zurück.«
»Tausendmal nein«, erwiderte der junge Hirte und schüttelte beharrlich den Kopf. »Er behält das Geld und wir nehmen die Schriftrolle morgen früh wieder an uns.«
»Aber Sie müssen mir versprechen, heute auf den Tag genau in zwei Wochen mit dieser und den anderen Schriftrollen wiederzukommen«, hakte Ellie nach. »Und diese fünf Pfund gehen vom Kaufpreis ab, wenn der Professor sich entschließt, sie zu nehmen.« Listig kniff sie die Augen zusammen, als sie ihr Verhandlungstalent ausprobierte.
Der junge Mann wiederholte seinem Vater das Angebot, der darüber sogleich nachzudenken begann. Nach einem Moment zögernden Überlegens – mehr zum Schein als aus Notwendigkeit, dachte Ellie belustigt - riss er ihr den Geldschein aus der Hand und sprudelte freudig einen aramäischen Wortschwall hervor. Als Miriam ein Tablett mit dampfendem Tee hereinbrachte, umarmte er gerade schwungvoll seinen Sohn und verließ, triumphierend die Fünf-Pfund-Note schwenkend, mit langen Schritten das Arbeitszimmer und das Haus. Schriftrollenverleih, dachte Ellie. Mal etwas Neues in Palästina.
»Bis morgen früh dann.« Der junge Araber verbeugte sich und ging.
»Ja, wenn ich dann noch lebe«, ächzte Ellie und ließ ihren Kopf auf den Schreibtisch sinken.
»Das gebe unser gnädiger Gott«, meinte Miriam nüchtern, als sie das Tablett auf den Schreibtisch stellte. »Wollen Sie Ihren Tee im Bett einnehmen?«, erkundigte sie sich.
Ellie hob ihren Kopf und sah Miriam angestrengt an: »Nein. Im Fotolabor.«

Als Ellie die Schriftrolle zum Fotografieren vorbereitete und im Labor hin und her ging, um das dafür nötige Material zusammenzusuchen, dachte sie über ihre Auseinandersetzung mit Miriam nach, die dem Gespräch mit den Beduinen vorausgegangen war. Die achtzigjährige Haushälterin fühlte sich für die leichtsinnige, unkonventionelle Nichte des Professors zuständig und war entschlossen, aus ihr eine vernünftige junge Frau zu machen. Verschroben, beherrschend, aber fürsorglich auf Ellies Wohl bedacht, hatte Miriam die Verantwortung für die rothaarige Fotografin auf sich genommen.
»Ich habe den Männern gesagt, es ginge Ihnen nicht gut«, hatte Miriam ihr mitgeteilt, als sie Ellie wegen der Unterredung mit den Beduinenhirten geweckt hatte, »aber es ist sehr wichtig, dass Sie mit ihnen sprechen. Äußerst dringend. Denn wenn ich sie wegschicke, kommen sie vielleicht für längere Zeit nicht wieder. Trinken Sie Ihren Tee und ich helfe Ihnen beim Anziehen.« Miriam war zum Schrank geschlurft und hatte sich daran gemacht, Ellies Kleider durchzusehen. »So viele hübsche Kleider haben Sie und ziehen sie nie an«, hatte sie geschimpft.
»Wollen Sie, dass ich einen Angorapullover bei den Ausgrabungen anziehe?«, hatte Ellie sich ärgerlich verteidigt.
»Wäre es nicht besser, wenn wir unseren Wohlstand mit anderen teilten? Wenn Sie diese Sachen nicht tragen, dann gibt es doch so viele jüdische Flüchtlinge im Hafen. Arme Frauen ...«
»Ich habe nicht vor, für ewig in Palästina Wurzeln zu schlagen. Wenn ich hier fertig bin, gehe ich nach Europa, nach Paris und London, in die Zivilisation, wissen Sie.« Sie hatte sich die Nase geputzt und sich im Bett aufgerichtet. Als sie ihr Bild im Spiegel gesehen hatte, war sie stöhnend in ihre Kissen zurückgesunken. »Sehen Sie mich doch an, Miriam. Ich sehe aus wie eine wandelnde Leiche. Ich kann niemanden sprechen ...«
»Egal, wie Sie aussehen. Dies hier ist nur Jerusalem und die Männer, die Sie sprechen möchten, sind nur Beduinenhirten. Sie sind sehr ungebildet und hüten den ganzen Tag Ziegen. Sie werden Sie schön finden.« Die alte Frau hatte belustigt mit den Augen gezwinkert, als sie eine Khakihose und eine dazu passende Bluse ausgesucht hatte. »Ich glaube, es ist wichtiger, dass Sie jetzt wie eine Archäologin aussehen.« Sie hatte die Sachen auf Ellies Bett gelegt.
»Ich soll aufstehen, um mit Beduinenhirten zu sprechen? Ich soll mich aus dem Bett quälen?«
Miriam hatte Ellie ihre kühle Hand auf die Stirn gelegt. »Der Professor wird sehr erleichtert sein, dass Sie kein Fieber mehr haben.«
»Großartig.«
»Wenn Sie möchten, bringe ich die Beduinen hierher an Ihr Bett«, hatte Miriam freundlich vorgeschlagen.
»Ja, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, Miriam.« Miriams festem Blick hatte sie nicht standhalten können.
Ellie lachte in sich hinein, als sie sich an den Bluff erinnerte, während ihre Hände geschickt den Film einlegten und den Belichtungsmesser einstellten.
Als Miriam mit dem Tee kam, war Ellie gerade dabei, die Schriftrolle auf dem großen Tisch in der Mitte des Labors auszubreiten.
»Jesus passt schon auf Sie auf, liebe Ellie«, sagte Miriam, »aber Sie müssen auch selbst etwas für sich tun. Kommen Sie, trinken Sie Ihren Tee. Hier bitte …« Mit diesen Worten hielt sie Ellie eine Schachtel mit Papiertaschentüchern hin.
Was würde ich jetzt für amerikanische Kleenextücher geben, dachte Ellie. Das Toilettenpapier war schon schlecht genug, aber das Zeug, mit dem sich diese Leute ihre Nase putzten, war eine Mischung aus Maishülsen und Schmirgelpapier und schabte garantiert die Keime mitsamt der Haut und allem anderen ab.
»Danke«, brummte Ellie, ohne dass ihre Stimme auch nur die geringste Dankbarkeit erkennen ließ. Aber sie schnupperte anerkennend den Duft des Tees und ließ sich schwerfällig mit einem Becher in der Hand auf einem Stuhl nieder, um die Schriftrolle zu begutachten.
Miriam berührte mit ihrem Handrücken leicht Ellies Stirn. Dann schlurfte sie zur Tür und schloss sie hinter sich.
»Wo in aller Welt«, fragte sich Ellie, »hat Onkel Howard wohl Miriam aufgetrieben?« Diese Araberin konnte sich mit den Besten ihres Volkes im Handeln messen, aber die Schärfe ihrer Zunge wurde gemildert durch den Drang, jeden zu bemuttern, der ihre Fürsorge brauchte; sie war eine Frau, die, zu Ellies Erstaunen, an Gott glaubte und von ihm sprach, als sei er tatsächlich vorhanden. Die meisten Juden hatten die Hoffnung auf den Messias aufgegeben; diejenigen, die diese Hoffnung immer noch hegten, warteten auf einen militärischen Fanatiker. Aber Miriam, die alte Araberin, glaubte an Jeschua.
Ellie wischte sich die Hände an ihrer Khakihose ab und berührte vorsichtig die brüchige Schriftrolle. Ellie selbst hielt nicht viel von Religion; eigentlich hatte sie kaum ernsthaft darüber nachgedacht.
Sie seufzte und blickte auf die Wand, wo wahllos verstreut Fotografien hingen, die sie während der letzten Monate in Palästina gemacht hatte. Sie betrachtete die Gesichter der Menschen, denen sie in den verwinkelten Gässchen Jerusalems begegnet war. Vom fotografischen Standpunkt aus betrachtet waren sie nicht schlecht. Professor Tierney von der Universität in Los Angeles hätte sie vielleicht zusammengepackt und an die Zeitschrift »National Geographic« geschickt oder sie zumindest für eine Ausstellung in einem Oberstufenkurs in Geschichte im Mittleren Osten gerahmt. Alles in allem war Palästina ein Paradies für Fotografen. Ein bewaffneter Araber in fließenden Gewändern und einem Tarbusch war in jedem Fall besser als das Bild einer Verbindungsstudentin beim Studentenball. Und die gepflasterten engen Gässchen der Altstadt waren, was fotografische Interessen betraf, dem Westwood Boulevard in jeder Hinsicht überlegen. Seit einiger Zeit schon war Ellie im Stillen der Meinung, dass jeder, der auch nur einen Funken Talent besaß, hier fantastische Aufnahmen machen konnte. Mosche sah das anders. Er lobte ihre Begabung und erzählte jedem, der es hören wollte, dass sie der Rembrandt in der Welt der Fotografie sei, dass noch niemand Jerusalem so eingefangen hätte wie sie.
»Du fängst etwas in den Gesichtern ein«, sagte er dann mit vibrierender Stimme. »Es ist etwas ...«
Ellie fühlte sich natürlich geschmeichelt, aber sie hatte das Gefühl, dass Mosche von Fotografie so viel verstand wie sie von der babylonischen Keilschrift. Und doch, wenn sie in die stillen Augen blickte, die auf sie herabsahen, waren die Gesichter so lebendig und beseelt, dass sie das Bedürfnis verspürte, mit den Menschen zu sprechen, die sie nur durch das Auge der Kamera gesehen hatte.
Was hatten sie alle gemeinsam? Ein arabischer Kaufmann, der von der Türöffnung seines Ladens eingerahmt wurde, eine verschleierte Beduinenfrau, die einen Wasserkrug auf dem Kopf balancierte, ein orthodoxer Jude an der Klagemauer, ein kleiner jüdischer Flüchtlingsjunge, der stolz seine erste Orange in der Hand hielt - irgendwie wurden alle zu dem gleichen Bild. Sie alle sprachen von dem gleichen - dem gleichen Etwas ... Was hatte sie dazu veranlasst, ihre Kamera auszulösen? Sie heftete lange ihren Blick auf die Augen dieser Menschen. Und dann wusste sie es. Sie alle gehörten irgendwo hin. Nicht so wie sie selbst. Nicht wie David. Sie waren alle wie Mosche; alle waren irgendwie im Brennpunkt.


Mosche! Der Gedanke an ihn ließ ein Lächeln auf Ellies Lippen erscheinen, während sie sich nicht nur an sein Lob ihrer Arbeit erinnerte, sondern auch daran, wie wunderbar er ihr Leben bereichert hatte. Mosche Sachar war Archäologe und Linguist an der Hebräischen Universität Jerusalem. Groß und schlank, mit markanten Gesichtszügen und einer von der Sonne seines Heimatlandes tief gebräunten Haut, stellte dieser Mann einen auffallenden Kontrast zu Ellies heller, mit feinen Sommersprossen überzogenen Haut, ihrem kupferfarbenen Haar und ihren grünen Augen dar. Er fühlte sich sowohl in den Gassen als auch im Bazar der Altstadt zu Hause. Die Zurufe der arabischen Kaufleute beantwortete er in ihrer Muttersprache, während Ellie, verwirrt und beeindruckt von dem Feilschen, daneben stand. Ziemlich oft war sie selbst Gegenstand dieses Feilschens. Kaum ein Spaziergang verstrich, ohne dass Mosche zwanzig Kamele als Kaufpreis für die rothaarige junge Frau ohne Schleier angeboten wurden. Ein Handel, den nach Meinung der arabischen Bevölkerung kein vernünftiger Mensch ausschlagen würde.
»Und du gerätst niemals auch nur in Versuchung?«, neckte ihn Ellie.
»Was? Für zwanzig Kamele? Du bist mindestens fünfzig wert und noch ein paar Ziegen dazu«, meinte er dann und wich ihrem spielerischen Angriff aus.
Mosche war zweiunddreißig, unverheiratet und seinem Beruf mit Leidenschaft ergeben. Von allen Menschen, die Ellie kannte, stand er eigentlich am meisten im Brennpunkt. Sie hatten sich in derselben Woche kennengelernt, in der Ellie in Jerusalem angekommen war. Onkel Howard hatte ihn zum Essen eingeladen, um mit ihm die Entdeckung der Kruggriffe zu besprechen, auf denen der Name der historischen Stadt Gibeon stand.
Ellie hatte so viel Begeisterung in der Stimme eines Mannes bisher nur gehört, wenn sich ihre Brüder über das »Rose Bowl Stadium« unterhielten oder die Karten befragten, ob der Krieg schon zu Ende wäre, bevor sie sich zum Militär melden könnten. Drei Stunden lang hatte Ellie still dagesessen, während Onkel Howard und Mosche über die Möglichkeit nachdachten, ob sie tatsächlich auf die historische Stätte gestoßen seien, an der Davids Krieger gegen die von Saul gekämpft hatten. Ellie wollte gerade höflich gähnen und sich entschuldigen, als Mosche mit den dunkelbraunsten Augen, die sie je gesehen hatte, zu ihr aufsah und sagte: »Ich muss mich entschuldigen. Ich empfinde es als einen Verstoß gegen die guten Sitten, in Gegenwart einer so hübschen Frau über historische Schlachten zu reden. Es tut mir leid, dass ich für normale Gespräche nicht mit viel Interessantem aufwarten kann.«
Ellie hatte den Blick der dunklen Augen, die sie so forschend betrachteten, erwidert und fühlte sich dahinschmelzen. »Ach, nein, Mr Sachar«, flunkerte sie. »Ich finde das alles furchtbar interessant. Bitte erzählen Sie mir mehr darüber!« Ein freundliches Lächeln und ein Augenaufschlag genügten, um dies zu erreichen. Die nächsten Monate waren erfüllt mit himmlischen Gesprächen über die Verwendung der babylonischen Keilschrift und die Vorteile von Lederschriftrollen gegenüber solchen aus Kupfer. Sie stellte fest, dass sie sich tatsächlich genauso für dieses Gebiet zu interessieren begann wie ihr Lehrer.
Sie mochte Mosche wirklich gern; es mochte sein, dass ihre Freundschaft sich allmählich zu etwas Tieferem entwickelte. Das Wichtigste war jedoch, dass sie, wenn sie in seiner Nähe war, niemals über David nachdachte oder niemals davon träumte, wie er sie in seinen Armen gehalten oder was er in ihrem Leben für eine Rolle gespielt hatte.
Ellies Augen stellten sich wieder auf die geheimnisvollen Schriftzeichen vor ihr ein. Was, fragte sie sich, würde Mosche von diesen Schriftrollen halten? Wahrscheinlich, dachte sie, habe ich gerade fünf Pfund für die Brooklyn Bridge bezahlt.

ISBN 13: 9783882246315
Verlag:Francke-Buchhandlung
Format:20,5 x 13,5 cm
Seiten:437
Gewicht:457 g
Einband:Paperback