Witter Traudel, Flucht über den Kwango

06/28/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Raphael blickte auf die Uhr. Dann wanderte sein Blick wieder die lange Baumallee von Eukalyptusbäumen entlang zum großen eisernen Tor, das der Gärtner weit geöffnet hatte. Unzählige Fahrspuren hatten sich in den Sand gegraben von all den Autos, die am gestrigen Abend und am Morgen von der Schule weggefahren waren. Es waren bereits die Osterferien angebrochen, und die meisten Schüler verbrachten die Feiertage im Kreis ihrer Familien.

Auch Raphaels Freunde waren schon gegangen. Als einziger war er zurückgeblieben. Ein unbestimmtes Gefühl der Angst beschlich ihn. Warum kam sein Vater nicht, um ihn wie immer an den freien Wochenenden oder zu Ferienbeginn abzuholen? Noch nie war Dr. Roberto Makasi Munongo zu spät gekommen. Unpünktlichkeit war ihm, wie Raphael wußte, ein Greuel und ein Vergehen gegen seine Prinzipien. Schon immer mußten sie als Kinder auf die Minute pünktlich sein. Verspätete sich sein Vater in seinem Anwaltsbüro, oder ein Termin im Gericht dauerte länger, schickte er immer einen Boten, oder er telefonierte,-sofern die Leitung in Ordnung war.
Raphael ahnte, daß irgend etwas geschehen sein mußte, das seinen Vater am Kommen hinderte.

 Er wußte, daß sein Vater ihn wie einen Augapfel hütete, nachdem Philipp vor zwei Jahren bei einer Schießerei ums Leben gekommen war. Aus diesem Grund kam Raphael auch auf dieses ehemalige portugiesische Internat, das zu den besten und sichersten in Angola zählte. Ursprünglich wollte ihn sein Vater nach Kinshasa in den Zaire zu Freunden bringen. Aber Raphael wollte von seinen Freunden nicht weg, und auch seine Mutter war dagegen; denn Elisa seine Schwester, war schon in Kinshasa als Krankenschwester und kam nur sehr selten nach Hause. Somit war er der einzige, den seine Mutter von all ihren Kindern noch hatte.
Er hoffte, daß Elisa auf Besuch gekommen war. Vielleicht hafte sie auch ihren Freund mitgebracht, um ihn der Familie vorzustellen. Auf diesen jungen Mann war Raphael am meisten gespannt; denn Elisa hatte ihm bei ihrem letzten Besuch viel von Patrice erzählt. Patrice stand damals vor seinem Theologieexamen. An Weihnachten waren Briefe auch von Patrice gekommen, in denen er Elisas Vater darum bat, seine Tochter heiraten zu dürfen. 

Ob sein Vater darauf geantwortet hatte, wußte Raphael nicht. Er wußte nur, daß sein Vater lieber gesehen hätte, wenn Elsa Yomo geheiratet hätte, der damals vor Philipps Tod um sie angehalten hatte. Vieles war geschehen, von dem Raphael nichts wußte, von dem auch danach nie mehr gesprochen wurde. Tatsache blieb, daß seine Schwester nach dem Tod ihres Bruders Hals über Kopf Angola verließ.
Raphael trug seine frisch gebügelte Schuluniform. Mit seinen knapp sechzehn Jahren war er ein hochaufgeschossener, schlaksiger Junge. Die großen Augen in dem tiefbraunen Gesicht wirkten immer etwas verträumt. Er liebte es, in der Schule Theater zu spielen, Gedichte zu rezitieren. Fußball zu spielen gehörte mit zu seinen größten Leidenschaften.
Die Welt in dem großen, mit Stacheldraht gesicherten Schulgelände war noch heil. Man hörte wenig von dem, was sich im Land ereignete. Von den Massakern, die der Bürgerkrieg verursachte, drang so gut wie nichts hier herein. Und so drehten sich die Schulgespräche meist nur um Sport und die neuesten Hits. Auch der Tisch war für sie alle noch immer reichlich gedeckt. Es herrschte kein Mangel. Dafür mußten die Eltern horrende Preise zahlen. Tag und Nacht wurde das Schulgelände von Soldaten mit scharfen Wachhunden bewacht. Die Angst vor Überfällen und Anschlägen seitens der UNITA war groß. Raphael hatte einiges mitgehört bei der Diskussion am Elternabend, bei dem gefordert wurde, das Gelände noch mit einem Elektrozaun zu schützen. Angeblich waren Drohbriefe beim Direktor eingegangen.
Raphael suchte erneut das Schulbüro auf und traf dort auf seinen Sportlehrer Joseph Lumbogo.
»Du bist noch nicht abgeholt worden?« fragte er verwundert. Raphael schüttelte verneinend den Kopf.
»Die Telefonleitung ist wieder gestört, und über Funk hat man meinen Vater nicht erreichen können.«
»Ich fahre jetzt in die Stadt. Du kannst mitkommen.«
»Danke!« sagte Raphael erleichtert. Noch weiter zuwarten, wäre unerträglich geworden.
Der Sportlehrer schloß das Büro, ging noch einmal zu dem weißen Pater, der mit dem schwarzen Direktor, der aus Kuba stammte, die Verwaltung der Schule hatte, um dort die Schlüssel abzugeben.
Das Gepäck war schnell in der altersschwachen Limousine verstaut, -und Raphael konnte neben Lumbogo Platz nehmen. Es dauerte einige Minuten, bis der Motor lärmend ansprang. Die Hühner stoben aufgeregt, um ihr Leben fürchtend, zur Seite, als sie die Allee entlangfuhren. Der Gärtner schien auf sie gewartet zu haben, denn er schloß sofort das Tor hinter ihnen.
Im Autoradio schrillte Musik, zu der Lumbogo laut sang. Er war froh, bald seine Frau und seine kleine Tochter wiederzusehen. Raphael hatte seine langen Beine zwischen Schachteln und Kisten gelegt. Lumbogo hatte alles mit Lebensmitteln vollgestopft, um das Osterfest mit den vielen Tanten und Onkeln seiner Familie gebührend feiern zu können.
»Ich würde- mich freuen, wenn du mich einmal besuchen würdest«, und er nannte ihm kurz seine Straße und beschrieb das Haus, in dem er wohnte.
»Wenn es mein Vater erlaubt, werde ich gerne kommen.«
»Bei mir und meiner Familie geschieht dir nichts. Ich würde
gerne mit dir zusammen Tennis spielen.« -
Die Sonne hafte sich hinter grauen Dunstwolken verborgen, als sie in die Stadt hineinfuhren. Sie erreichten die palmenbewachsene Strandpromenade. Wie ein Spiegel lag das Meer vor ihnen. Frachter wurden entladen. Man sah, wie die quietschenden Krähne mit ihren Lasten hin und her schwenkten.
Raphael fiel auf, daß mehr Militär auf den Straßen patrouillierte. Fast an jeder Straßenkreuzung standen schwerbewaffnete Soldaten und gepanzerte Fahrzeuge. Langwierige Kontrollen mußten sie passieren. Raphael sah Häuserruinen, verbarrikadierte leere Läden, zerschlagene Fensterscheiben. -Das Trottoir wies tiefe Löcher auf. Von dem letzten niedergegangenen Regen hatte sich hier eine trübe schmutzige Brühe gesammelt. Zerlumpte Kinder durchwühlten die Müllcontainer und suchten etwas zum Essen. Der Lehrer sowie Raphael waren verstummt. 

Sie verließen an der Kreuzung den Boulevard Avenida Marginal. Von der ehemaligen modernen Geschäftsstraße war nicht mehr viel an Pracht übriggeblieben.
An all das Elend, den Schmutz, den Gestank in den Straßen der Stadt, mußte sich Raphael erst wieder gewöhnen. Das war immer so, wenn er nach langer Abwesenheit wieder zum ersten Mal in die Stadt kam.
Das Stadtviertel, in dem Raphaels Familie wohnte, war früher den reichen Weißen vorbehalten gewesen. Heute wohnten in den ehemaligen Villen viele Regierungsmitglieder und die Führungsschicht Angolas.
Lumbogo fuhr an den Straßenrand, ließ Raphael aussteigen, reichte ihm noch seine Tasche heraus und fuhr schnell weiter, obwohl Raphael gerne gehabt hätte, wenn sein Lehrer, den er sehr verehrte, noch mit ihm ins Haus gekommen wäre, um wenigstens einen Drink zu nehmen. Dabei hätten Mutter und Vater ihn kennengelernt.
Raphael drückte mehrmals auf die Klingel. Doch nichts rührte sich, kein Tor wurde geöffnet. Sonst war immer der alte Petro oder Lioba, die Köchin, zum Öffnen gekommen. Verstört nahm er seine Tasche und versuchte sein Glück am hinteren Eingang bei der Garage. Hier war die Tür zwar verschlossen, doch er konnte sie nach kurzem Dagegenstemmen öffnen. Die Terrassentür stand weit offen, und so gelangte Raphael in das große Eßzimmer. Er rief laut nach seiner Mutter, erhielt aber keine Antwort. Er ließ die Tasche auf dem Boden stehen und ging weiter über den Flur hinüber zur Küche.
Am Herd stand seine Schwester, und das erfüllte ihn mit einer solchen Freude, daß er seine Arme weit ausbreitete und die junge Frau von hinten fest umfing.
»Elisa, wie habe ich mir gewünscht, dich zu sehen, und nun bist du wirklich aus dem Zaire gekommen.«
Elisa war so überrascht, daß sie im ersten Moment nichts sagen konnte. In seiner Wiedersehensfreude wurde sie von Raphael fast erdrückt. Er hatte Angst gehabt, seine Familie könnte hier nicht mehr wohnen.
Elisa küßte ihren Bruder und stellte dabei erstaunt fest: »Du bist noch ein Stück gewachsen. Bald hast du uns alle überrundet. Mit wem bist du denn gekommen? Vater ist erst vor einer Stunde weggefahren, um dich zu holen. «
Raphael verstand nicht ganz.
»Ich habe schon gestern auf Vater gewartet, da er mir versprochen hatte, an der Abschlußfeier teilzunehmen. Ich bekam einen Preis, bin Schulbester geworden. Mit meinem Sportlehrer konnte ich heute in die Stadt fahren. «
Raphael sah, wie Elisas hübsches Gesicht fahl wurde und ihre Stimme leicht zu zittern begann. »Am Tisch hat Vater noch davon gesprochen, daß man ihm am gestrigen Tag einen Brief deines Direktors ausgehändigt hatte, worauf mitgeteilt wurde, daß eure Schulfeier erst heute stattfinden würde. Vater wurde in dem Brief aufgefordert, eine Rede an die Eltern zu halten, da er deren Vorsitzender war. Das Schreiben hat er mix noch zum Lesen gegeben, bevor er ging.
Elisa stellte den Topf vom Herd weg und drehte das Gas ab, dann wandte sie sich wieder Raphael zu.
»Mama wollte noch mit, aber dann hatte sie Kopfschmerzen bekommen und mußte sich darum niederlegen. Du weißt ja, immer wieder hat sie auch mit ihren Herzanfällen zu kämpfen. Darum wollte Vater, daß sie im Haus blieb.«
Elisa führte ihren Bruder in das Wohnzimmer und goß ihm ein Glas Orangensaft ein.
»Du hast bestimmt Hunger. Ich werde dir etwas zum Essen bringen.«
Raphael schüttelte den Kopf. Nach Essen war ihm jetzt nicht zumute. Er kippte den Saft in einem Zug hinunter und goß sich noch einmal das Glas voll.
»Ich werde Mama wecken und ihr sagen, daß du hier bist. Wie wird sie sich freuen.«
Raphael blickte sich im Zimmer um. Hier war alles noch so, wie er es gewohnt war. An den weißen Wänden hingen die Bilder, die er seit seiner Kindheit kannte. 

Die großblumigen Sessel standen um den niederen EbenhoLztisch, auf dem eine Schale mit Orangen
stand. Vaters riesiger Schreibtisch vor dem Fenster war so penibel aufgeräumt wie immer. Die Uhr an der Wand tickte gleichmäßig, zeigte an, daß die Zeit wie immer nach ihren Gesetzen verstrich. Und doch wußte Raphael, daß Änderungen bevorstanden. Instinktiv fühlte er es. Er stand auf, als er seine Mutter an der Seite von Elisa kommen sah.
»Mama«, flüsterte er leise und umarmte sie.
Zärtlich strich ihm Mata über das krause Haar. Tränen perlten in ihren Augen, und sie drückte Raphael fest an ihre Brust, strich ihm mehrmals über das Gesicht, so als müsse sie sich wirklich überzeugen, daß er leibhaftig vor ihr stand und sich nicht wie ein Traumbild auflösen würde.
Raphael sah das Gesicht seiner Mutter so dicht vor sich, daß er darin jede Falte wahrnehmen konnte. Erschrocken stellte er fest, wie sehr sie gealtert war in den Monaten, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte.
Wie immer war ihr Gesicht hervorragend geschminkt, doch die Spuren von Angst und Leid waren nicht einfach hinwegzuwi-schen. Bedrückt schwieg Raphael, blickte aber seine Schwester vielsagend an mit der stummen Bitte, ihm endlich zu sagen, was passiert war.
Indem Zimmer war es sehr heiß, weil keiner der Ventilatoren für Kühlung sorgte. Wieder einmal war der Strom ausgefallen. Doch trotz der Hitze fror Mata, und Elisa legte ihr einen Schal um die Schultern.
Matas Blick irrte hinüber zu dem geschlossenen Fenster. Dann bat sie Elisa, auch die Terrassentür zu schließen und den Riegel vorzulegen. »Man muß etwas unternehmen«, überlegte Elisa. »Ich könnte versuchen, eine Taxe aufzutreiben und damit Vater nachfahren.«
Mata wandte den Blick von dem Fenster nicht ab. Tonlos sagte sie. »Vater wird nicht wiederkommen. Der Brief war die Falle. Sie ist nun zugeschnappt und hat ihr Opfer gefangen.«
Raphaels Augen blitzten auf.
»Wer will Vater etwas tun? Wer will ihn töten?«
Mata seufzte schwer. »Dein Vater hat viele Feinde, mein Sohn. Bis jetzt spielten sie nur wie die Katze mit der Maus. Heute haben sie nun zugeschlagen.«
Raphael wehrte sich und rief beschwörend: »Mama, du siehst einfach zu schwarz. Vater wird wiederkommen.« Seine Mutter gab darauf keine Antwort, stand auf und ging mit schleppender Schritten hinaus. Raphael wollte ihr nachlaufen, doch Elisa hielt ihn zurück.
»Mama mußt du jetzt allein lassen. Sie muß mit all dem fertig werden.« Elisa setzte sich in den Sessel und zog Raphael an ihre Seite, so daß er auf der gepolsterten Lehne Platz nahm.
»Seit sechs Wochen bin ich hier, Raphael, und während der ganzen Zeit wurden Drohbriefe geschickt. Man hat sogar draußen auf der Straße geschossen, und Mama entging nur knapp einem Anschlag. Vater entging in der letzten Woche nur knapp einer Entführung. Mehrmals hatte er versucht, mit seinem Partner Alfredo Mesquitas Verbindung aufzunehmen, aber dessen Büro war immer unbesetzt. Wir erfuhren nur, daß er angeblich nach Cabinda gegangen sei, um dort Geschäfte zu erledigen. Auch andere Freunde von Vater meldeten sich nicht, als er um ihre Hilfe bat.
Wir müssen weg, Raphael. Vater will, daß du und Mutter die Stadt verlassen, um mit mir nach Kinshasa zu gehen. Dazu hat er, soviel ich weiß, auch schon Vorbereitungen getroffen.«
»Aber warum? Vater hat sich doch nie etwas zuschulden kommen lassen.« Raphael dachte daran, daß er alles aufgeben sollte, die Schule, seine Freunde, seine Heimat hier. Das schien ihm unerträglich, schon der Gedanke daran schmerzte.
Elisa entging nicht der Kummer auf Raphaels Gesicht, und zärtlich verstehend strich sie ihm über die Hände.
»Wir müssen alle etwas aufgeben, mein Bruder. Auch mir ist damals der Weg von Luanda nach Kinshasa nicht leicht gefallen. Doch ich lernte auch dort zu leben.«
»Trotzdem verstehe ich noch immer nicht«, sagte Raphel. »Alles kommt so plötzlich.«
»Seit Vater sich von seinem Partner und ehemaligen Freund Alfredo Mesquitas getrennt hatte, begannen anscheinend die

@1990 Christliches Verlagshaus Stuttgart

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