Das schwedische Rätsel
»Sie fährt in Kleeburg ein wie eine Prinzessin«, sagte mein lieber Vater stolz. »Wie eine Prinzessin aus dem Schneekönigreich«, fügte meine poetisch angehauchte Mama lachend hinzu. Ich thronte mit einem weißen Pelzkäppchen, einem weißen Muff und weißem Mantel in einem weißen Wagen. Wir waren von der Landstraße links abgebogen, und nun ging es durch einen weißen Winterwald zu Tal dem langgestreckten Dorf unten zu.
Doch ich kam nicht aus einem Schneekönigreich, sondern aus meiner etwa 7 Kilometer entfernten Heimatstadt Weißenburg, und eine Prinzessin war ich durchaus nicht, sondern ein kleines dreijähriges Mädchen, das allerdings auf seine weißen Weihnachtsgeschenke sehr stolz war, besonders auf den großen zweisitzigen Sportwagen, den Patenonkel Heinrich geschenkt hatte und den meine Eltern abwechselnd oder gemeinsam fröhlich schoben. Sie und noch weniger ich winziges Ding hatten eine Ahnung, daß wirklich einmal vor etwa dreihundert Jahren eine wirkliche Prinzessin aus dem Schneekönigreich diesen Weg gefahren und in Kleeburg Einzug gehalten hatte.
Auch als ich heranwuchs, wußte ich nichts von solch einem Ereignis, dachte auch gar nicht daran, und niemand redete zu mir davon, obwohl mir Kleeburg so vertraut wurde, als wenn ich darin aufgewachsen wäre.
Wie viele Sonntage verlebte ich dort, wie viele Ferientage in jener Zeit, da man nicht wer weiß wie weite Urlaubsreisen unternahm, sondern noch dem Vers Goethes folgte: »Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.«
Das Ziel meiner Kleeburger Fahrten oder Wanderungen war nicht eines der behäbigen Bauernhäuser an der langen Dorfstraße, die mit ihrem weißgetünchten Fachwerk, dem braunen Gebälk, dem üppigen Geraniumschmuck vor den Fenstern und den sie umrankenden
Reben einander so ähnlich sahen, daß ich schon in der Eile anstatt in Haurys Hoftor »ins Rubys« oder »ins Jackys« gelaufen war. Die Besitzer konnten wohl so stolz auf ihr Anwesen sein wie ein Fürst auf sein Schloß und Land. Aber Prinzessinnen, nein, die vermutete man in keinem dieser Häuser.
Meine Ferienheimat lag abseits dieser Reihe von Wohlhabenheit zeugenden Höfen. Ein steiniges, holperiges Gäßlein nahe der alten Kirche führte rechts »ins krumme Eck«, zu dem Häusel, wo meine Tante Kättel Ruffy wohnte. Es war wirklich nur ein Häusel, nicht zwei- bis zweieinhalbgeschoßig wie die andern drunten an der Straße. Und sein einziges Stockwerk schien aus lauter gebogenen, verbogenen Wänden und einem ebenso drollig geschweiften Dach zu bestehen.
Aber dies kleine Häusel täuschte wie das kleine Kättel, das darin hauste: auswendig schien sie so unscheinbar, winzig, hinfällig. Aber welch starker Glaube, welche Klugheit, ja Weisheit, Mutterwitz, Humor verbarg sich in dem so klitzekleinen Kättel, die der Pfarrer selber als die »große Beterin« des Dorfes bezeichnete.
Und welches Behagen, welche wertvolle Einrichtung umschlossen die beiden großen Stuben rechts und links von der Haustür mit je zwei Alkoven (Bettnischen), an die sich noch zwei Kammern anschlossen. Ich schlief immer in dem Zimmer an der rechten Seite in dem Alkoven, dessen Seitenfenster mit Reben umrankt waren, deren süße goldgelbe Trauben Kättel jedes Jahr für mich zum Pflükken aufhob. Ich schaute von meinem Bett aus durch das Rankwerk zu einem wuchtigen grauen Gebäude jenseits des Stolperpfädleins. Es schien im Gegensatz zu dem Häusel aus lauter unerschütterlichen Granitbrocken aufgetürmt zu sein.
»Was ist das eigentlich?« fragte ich an einem Ferienmorgen. »Gehört das dir auch?«
Kättel machte gerade mein Bett, mit dessen Riesenfederbergen ich nicht fertig werden konnte, obwohl ich schon fast erwachsen war, schon das Lehrerinnenseminar besuchte. »Hm«, sagte sie. »Ist der Weinkeller. «
»Was hebst du darin auf? Du hast doch keinen Wein«, forschte ich weiter.
»Meine Kleinode«, scherzte sie.
»Aha«, lachte ich zurück, »so wie in deinem Wunderschrank.«
Dabei warf ich wieder mal einen sehnsüchtigen Blick durch die geöffneten Türen über den schmalen Hausflur in das andere Zimmer hinüber. Ich schaute geradewegs auf diesen »Wunderschrank«.
Er war wirklich zum Wundern, Verwundern und Bewundern. Er war ein Ungetüm, aber ein prächtiges, staunenswertes. Man hätte darin Kättels winzige Küche, die am Ende des Flurs lag, bequem unterbringen können und erst recht unsere heutigen modernen Kochnischen. In ein Zimmer einer städtischen Durchschnittswohnung würde er gar nicht hineinpassen. Wunderschön war dieser Wunderschrank auch. Er hatte gar keine Schnitzereien und Ornamente aufzuweisen. Er war ohne Verzierungen von Menschenhand einfach an sich vollkommen. Das honigfarbene glatte Holz seiner beiden Flügel, die Scharniere und das Schloß aus uraltem goldartigem Metall glänzten.
Mächtig, mich geradezu beeindruckend, beherrschend stand dieser Riese da. Barg er nicht auch Wunderbares? Kättel hatte mich noch nie hineinschauen lassen. Ihr »Getüch« (Leinen) bewahrte sie in der Wohnkammer auf.
»Was hast du eigentlich in diesem Wunderschrank?« wagte ich auch an jenem Morgen, wie schon oft, zu fragen. Und wieder antwortete Kättel mit ihrem schelmischen Lächeln. »Eh, allerlei Wunder. Demnächst zeig ich dir was davon.«
»Das versprichst du immer«, murrte ich, »was man verspricht, muß man auch halten. «
»Ist ja nix als altes Dings! Stell dir nit zu viel vor! Es ist uraltes Dings, wovon du doch nichts verstehst. Ist aber auch wiederum etwas Kostbares, je nach dem, der's versteht.«
Das waren zwar Worte, die wenig verständlich waren. Ich nahm in meiner jugendlichen Überheblichkeit jedoch an, daß ich nun im Bilde war.
»Ach«, sagte ich, »jetzt weiß ich's. In den Dörfern rings um Weißenburg, wo man noch wenigstens am Pfingstmontag zum Festzug
Tracht trägt, da heben sie diese Kleidung von Urururgroßmüttern auf. Die vererbt sich von einer Generation zur andern. Zu unserer Schulfeier hab ich mir von Rubys in Hunspach die Kindertracht mit der Rüsche überm Kopf >gelehnt<, und die Liesel die der jungen Mädchen mit der Schleife. Ha, das war eine Pracht, als die Gret die dicken schweren Seidenschürzen und Tücher zeigte. So was gibt's jetzt nicht mehr. Das hält hunderte von Jahren.«
»Na, so weißt du's halt«, schmunzelte Kättel.
»Aber in Kleeburg gibt's ja gar keine Tracht«, fiel mir ein. »Oder? Was hast du denn im Schrank?«
>;Wart's halt ab!« antwortete Kättel ungerührt. »Jetzt hab ich noch keine Zeit dazu. Vielleicht ist's noch kostbarer!«
Ich wußte, daß Kättel sich nie drängen ließ, so lieb sie auch war. Ich mußte halt warten.
Dicht unter meinem Fenster erklangen jetzt Kinderstimmen. Unten an der Straße, wo das Holpergäßchen rüber zum krummen Eck führte, war die Schule, und der Hof dahinter reichte bis an Kättels Haus. Auf dem Land hatten sie andere Ferien als wir in der Stadt. Es war Pause. Die Mädchen spielten Kreis und sangen.
Da hatte ich schon wieder eine Frage bereit: »Was singen die da?
Wir sind die Schwedenbauern, bekannt im ganzen Land, kaputt sind Schloß und Mauern, ist das nicht allerhand?
Warum Schwedenbauern?«
»Ei, so heißen wir halt im Unterland«, erklärte Kättel gleichmütig.
»Hast du nicht gesagt, alle, deren Familiennamen mit y endet, wären aus der Schweiz eingewandert, die Ruffy, Ruby, Jacky und all die andern? Da müßtet ihr doch Schweizerbauern heißen; warum Schwedenbauern?«
»Ach, du liebe Zeit«, klagte Kättel, »was hast du heut wieder eine Fragerei. Ist am End eine Verwechslung.«
»Warum seid ihr denn aus der Schweiz hierhergekommen?« gab ich meine Fragerei nicht auf.
Kättel hatte wieder ihr humorvolles Lächeln. »Am End hat man uns
eingeladen. Ich war halt nach dem großen Krieg vor mehr als zweihundert Jahren noch nicht dabei. So alt bin ich halt auch noch nicht. «
»Vielleicht sollten deine Vorfahren hier wieder aufbauen, urbar machen«, ließ ich die Weisheit meiner siebzehn Jahre leuchten. »Ob euch der französische König eingeladen hat?«
»Gewiß nicht«, meinte sie, »hier war's damals noch nicht französisch. Es waren auch Evangelische, und der französische Louis hätt solche nicht gewollt.« Sie schmunzelte wieder.
»Am End war's der schwedische König«, schlug ich vor.
»Was bist du ein kluges Maidel«, lobte sie spöttisch. »Ich glaub als, der wohnt ein bissel arg weit von hier.«
Ich spürte, daß ich einen heißen Kopf bekam. So dumme Einfälle zu haben! Doch ich hatte an jenem Tag meine Fragekrankheit, wie Kättel es mit dem lustigen Blinken ihrer blanken Kastanien-Augen bezeichnete.
Am Nachmittag bestimmte sie in ihrer diktatorischen Art, die bei ihrer schelmischen Liebenswürdigkeit keinen Widerspruch aufkommen ließ: »Wir machen nachher beim Lenel im Schloß einen Krankenbesuch. Du mußt natürlich mitgehen. Du hast halt ein Mundwerk wie deine Mama, tust es bloß nicht so gern auf. Aber wenn du willst, kannst du die nettesten Späßle erzählen, wenn siemit Verlaub zu sagen - auch zuweilen geschwindelt sind.«
Ins Schloß! Natürlich kannte ich den ansehnlichen Bauernhof, der etwas hinter Bäumen versteckt und ein wenig abseits der Straße und des Platzes um die große Linde inmitten des Dorfes lag. Aber warum hieß dieses Anwesen eigentlich Schloß? Ich hatte mir als Kind keine Gedanken darüber gemacht, hatte den wohlbekannten Namen einfach nachgeplappert. Doch nun fragte ich danach.
Kättel zuckte die Achseln. »Ich hab noch keinen König drin gesehen«, scherzte sie, »nur Bauersleut.«
Ich krauste die Stirn, überlegte. »Eigentlich sieht es aber nicht so recht wie ein Bauernhaus aus«, meinte ich. »Die breite Doppeltreppe außen, die weiten Flure und Gänge, die Kamine mit den halb zerbröckelten Verzierungen, die hohen Fenster. Ein Fach
ISBN:9783501010488
Format:13,5 x 20,5 cm
Seiten:200
Gewicht:270 g
Verlag:Johannis Druckerei
Erschienen:1974
Einband:Paperback