Finger an Gottes Hand Chirurg Leprologe Paul Brand, Dorothy C Wilson

01/06/2025
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Sadagopan wurde in Südindiens heiliger Tempelstadt Katschipuran geboren, von der man in alten Zeiten sagte: „Glücklich bist du, wenn du in Katschipuran geboren bist, auch wenn du ein Esel wärest."

Aber Sadagopan war nicht glücklich; denn er lebte sechs Jahre lang als Ausgestoßener, gemieden von der Gesellschaft, von seinen Feunden, ja sogar von den eigenen Verwandten.
Er stammte aus einer geachteten, gebildeten und künstlerisch begabten Familie. Sein Vater war Redakteur bei einer der führenden Tamil-Zeitungen. Seine Mutter, seine Tanten und zwei ältere Schwestern waren Musiker. Als sein Vater in Nordindien arbeitete, wohnte Sada-gupan bei seiner Großmutter. Vorher hatte er eine Zeitlang im Hause eines Onkels gelebt, wo er sich wahrscheinlich den Aussatz zuzog.

Bücher von Dorothy C.Wilson


Er war acht Jahre alt, als der Fleck auf seinem Rücken bemerkt wurde; zu jung noch, um zu wissen, was das bedeutete. Man schickte ihn zur Behandlung ins Regierungskrankenhaus. Er ging aber weiter in die Schule und verlebte eine normale, glückliche Kindheit. Die Krankheit machte ihm bis ungefähr zu seinem vierzehnten Lebensjahr wenig Beschwerden. Dann begannen seine Hände wie Klauen zu werden. Infolge fortschreitender Lähmung der Armmuskulatur konnte er die Finger nicht mehr normal beugen und strecken, und es wurde ihm immer schwerer, etwas festzuhalten. Zu seinem Schrecken merkte er auch eines Tages, daß er kein Gefühl mehr in den Fingern hatte. Und bald darauf entdeckte er eine blutende Wunde an seinem Fuß, die von einem scharfen Stein herrührte, der, ohne daß er es gemerkt hatte, in seinen Schuh geraten war.
Als er die sechste Klasse der Grundschule beendet hatte und in eine höhere Schule eintreten wollte, begann das Unheil.

Der neue Rektor begrüßte ihn stirnrunzelnd.
„Du mußt mir ein ärztliches Zeugnis bringen", sagte er kurz.
Sadagopans Großmutter ging mit ihm zu dem Arzt, der ihn im Regierungskrankenhaus behandelt hatte. Er schien über ihre Bitte ärgerlich zu sein.
„Und. was könnte einem Aussätzigen eine Ausbildung nützen?” sagte er zu der Frau, drehte sich um und ließ sie stehen.
Sadagopan ging nach Hause. Aber das Haus wurde ihm zum Gefängnis, in dem all seine Hoffnungen und Träume eingesperrt waren. Keine Ausbildung? Kein Beruf? Keine Freunde? Wohin er jetzt auch ging, sah er kalte Blicke, abgewandte Augen. Alte Bekannte wichen vor ihm auf die andere Straßenseite aus, Fremde sahen entsetzt auf seine Hände. Er verließ das Haus fast nur noch, um ins Krankenhaus zu gehen. Aber auch dort bemerkte er, was er vorher nicht bemerkt hatte: daß er in einem besonderen Raum behandelt und immer so schnell wie möglich abgeschoben wurde.
Eines Tages ging er auf dem Rückweg vom Krankenhaus in ein Cafe und bestellte eine Tasse Kaffee. Der Ober, der seine Bestellung entgegennahm, kam nicht wieder. Zehn Minuten vergingen, fünfzehn Minuten. Empfindlich und nervös, wie er war, glaubte Sadagopan, jeder sähe ihn spöttisch an. Er wäre am liebsten fortgelaufen, nahm sich aber zusammen und fragte einen anderen Ober, warum er nicht bedient werde.
„Du bekommst keinen Kaffee", erwiderte dieser.
Vernichtet stolperte Sadagopan aus dem Cafe.
Von da an verließ er sechs Jahre lang nur selten das Haus. Seine Mutter starb in Nordindien. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie aussah. Hätte er nicht seine ältere Schwester gehabt, die ebenfalls aussätzig war, eine Frau mit starker Willens- und Geisteskraft, dann hätte er das Leben unerträglich gefunden. Als sie - nicht an Aussatz, sondern an Tuberkulose - starb, war das ein neuer harter Schlag für ihn. Aber jetzt begann er schon abzustumpfen und gefühllos zu werden, wie seine Hände und Füße gefühllos geworden waren.
Sechs Jahre später, als seine Krankheit längst nicht mehr ansteckend war, - wenn sie das überhaupt jemals gewesen war -‚ zeigte sich ein Hoffnungsstrahl. Ein christlicher Arzt sorgte dafür, daß er eine Oberschule besuchen durfte. Mit äußerster Anstrengung schaffte er das Examen und hoffte nun sein Brot verdienen zu können. Aber er hätte es wissen sollen: Niemand wollte ihn anstellen.
Monate der Einsamkeit und des Ausgestoßenseins folgten. Da fiel wieder ein, Sonnenstrahl in die Dunkelheit. Er lernte in Madras den Sekretär des indischen Aussätzigen-Hilfswerks, Sri T. N. Jagadisan, kennen. Sein neuer Freund, der selbst an Aussatz litt, war erschüttert über den Zustand von Sadagopans Händen und Füßen. 

Die Finger zeigten jetzt nicht nur völlige Krallenstellung, sondern waren zum großen Teil verstümmelt. Die Füße eiterten seit Jahren fast ständig.
„In Vellore gibt es einen neuen Ätzt, Dr. 'Paul Brand", erzählte ihm Jagadisan. „Er ist ein englischer Chirurg, der Hände wie deine operiert und wieder tauglich gemacht hat. Du könntest ihn einmal aufsuchen." Im Februar 1951 machte sich Sadagopan mit einem Brief von Sri Jaga-disan an Dr. Brand auf den Weg nach Vellore.
Die Reise war nicht angenehm. Während der Busfahrt war er den üblichen Angst und Abscheu verratenden Blicken ausgesetzt. Aber ‚er mußte froh sein, daß er überhaupt fahren durfte. Häufig wurden Leprakranke aus den öffentlichen Verkehrsmitteln hinausgewiesen. Als er in Vellore ankam und im Krankenhaus des Christian Medical College nach Dr. Brand fragte, wurde er nach dem vier Meilen entfernten College weitergeschickt. Er wollte wieder einen Bus benutzen, aber diesmal nahm ihn der Fahrer nicht mit.
Es war ein heißer Tag. Sadagopan war müde. Seine Kleider waren zerknüllt und mit Staub bedeckt. Als er im College ankam, waren die Verbände um seine Füße vom Eiter so durchnäßt, daß er bei jedem Schritt feuchte Spuren hinterließ.
Vor dem Eingang des College-Büros sah er eine ausländische Frau mit freundlichem Gesicht.
Verzeihung!" Er ging schüchtern einen Schritt auf sie zu. „Ich heiße Sadagopan und möchte zu Dr. Brand. Ich habe einen Brief für ihn von Sri Jagadisan."
Die Frau trat nicht zurück, obwohl Sadagopan überzeugt war, daß sie seine kranken Hände und Füße bemerkt hatte. Sie sagte ihm, daß Dr. Brand verreist sei, in ein oder zwei Tagen aber wiederkomme. Ob Sadagopan irgendwo in Vellore übernachten und morgen oder übermorgen noch einmal nachfragen wolle.
Er versuchte sein furchtbare Enttäuschung zu verbergen. Als er sich wortlos abwandte, um den Weg zurückzugehen, sagte sie zögernd, aber besorgt:
„Sie - Sie finden doch wohl eine Unterkunft, nicht wahr?"
Er drehte sich wieder um und sah, daß sie auf ihn zugekommen war. Ihre blauen Augen schauten ihn verständnisvoll an. Sadagopan hätte am liebsten geweint. Seit Jahren 'hatte ihn keine Frau so angesehen, ohne Angst oder Ekel - oder auch Mitleid, sondern so, als ob sie sich um ihn sorge wie um ein anderes menschliches Wesen. 

Und ehe er sich's versah, erzählte er ihr, wie es ihm mit dem Bus ergangen sei und wie unmöglich es für ihn sein werde, in der Stadt eine Unterkunft zu finden.
Er konnte kaum fassen, was nun folgte.
»Kommen Sie mit mir!" sagte sie. „Ich bin Dr. Brands Frau. Bleiben Sie bei uns, bis mein Mann zurückkommt."
Sie machte ihm ein bequemes Lager auf der Veranda zurecht.
„Ich hoffe, Sie verstehen, daß ich Sie der Kinder wegen nicht ins Haus bitten darf", sagte sie freimütig zu ihm.
‚Q Ja!" erwiderte er bescheiden. „Es ist mehr, als ich erwarten kann." Sie brachte ihm zu essen und setzte sich auch manchmal zu ihm und unterhielt sich mit ihm.
Nach drei Tagen kam Dr. Brand nach Hause. Es war spät in der Nacht, aber er ging sofort zu Sadagopan, begrüßte ihn freundlich und untersuchte seine Hände und Füße. Er sagte ihm, es bestehe die Möglichkeit, daß die Geschwüre wieder verheilten, weil, wie er glaube, nicht der Aussatz selbst sie verursacht habe, sondern unvorsichtiges Laufen. Und die Klauenhände, so schlimm sie seien, könnten durch Operationen wiederhergestellt werden. Sadagopan werde seine Finger wieder beugen und strecken, er werde wieder schreiben und wie ein normaler Mensch essen können. Schon morgen würden sie mit seiner. Rehabilitation beginnen.
„Nun schlafen Sie gut!" sagte Dr. Brand und legte seinen Arm freundschaftlich um die Schultern des Jungen Mannes.
Zum ersten Male seit Jahren schlief Sadagopan gut; nicht nur, weil er in seiner Hoffnungslosigkeit Hoffnung gefunden, sondern weil er in seiner Verlassenheit Freunde gefunden hatte. Er war wieder wie ein Mensch behandelt worden.
Etwa zwölf Jahre später lernte ich Sadagopan im Büro eines Sanatoriums in Südtndien kennen. Als Stenotypist und Sekretär verdiente er dort den Lebensunterhalt für sich, seine Frau und seinen gesunden Jungen.
Ich fragte ihn, ob er mir helfen wolle, Material für mein geplantes Buch zu sammeln. Seine Augen leuchteten auf. Ja, das wollte er!
Und dies ist nun die Geschichte des Mannes, der Sadagopan und vielen seiner zwölf Millionen Leidensgenossen in aller Welt einen neuen Lebensinhalt gab.
Wenn Paul Brand zurückschaut, . staunt er, daß das oft unbedacht gewobene Muster seines Lebens einen so wohlüberlegten Plan verrät. Ganz deutlich lassen einige der Fäden eine sorgfältige Meisterhand erkennen, und die Kettenfäden liefen schon lange vor seiner Geburt zwischen England und Indien hin und her.
Sein Urgroßvater, Josef Brand, hatte die ersten Fäden gespannt. Es gab die widersprechendsten Geschichten über ihn. Bei der, die Pauls Phantasie am meisten erregte, heuerte er im Alter von achtzehn Jahren als Fähnrich zur See an. Auf dem Wege nach Indien ließ er sich etwas zu Schulden kommen und wurde eingesperrt. Als das Schiff In Bombay vor Anker ging, gelang es ihm, zu entfliehen und zur Küste zu schwimmen. Dort fand er Stellung bei einem reichen Kaufmann, arbeitete sich in dem Geschäft empor und heiratete die Tochter seines Chefs. Nach einigen Jahren reiste er mit seiner Familie und einem Beutel Juwelen nach England zurück. Sein Geld hatte er auf einer Bank in Bombay stehenlassen. Das Schiff ging in einem Sturm
unter, aber er, seine Familie und die Juwelen wurden gerettet. -
Nach ihrer Ankunft in Southampton stiegen Josef, seine Frau und die Kinder mit dem Beutel Juwelen in eine Droschke. Dem Droschken-kutscher gelang es, die Juwelen zu stehlen. Die Bank in Bombay hatte inzwischen Bankrott gemacht, und die Familie kam ohne einen Pfennig an ihrem Bestimmungsort an.
Pauls Großvater, Henry Brand, wollte als Junge von noch nicht zehn Jahren die Schule verlassen und das Familienvermögen wieder einbringen helfen. Aber sein Vater, Josef Brand, erlaubte es ihm nicht. Da lief Henry von Hause fort. Er hatte gehört, daß Verwandte von ihm in Surrey lebten. Teils zu Fuß, teils per Anhalter mit dem Wagen eines Farmers kam er zu seinen Verwandten, die ein Bau- und Möbelgeschäft besaßen. Seine erste Aufgabe bestand darin, Späne zu fegen. Dabei bewies er Energie und Ausdauer und wurde als Tischlerlehrling eingestellt. Wie sein Vater arbeitete er sich in seinem Beruf empor und heiratete die Tochter seines Chefs, Lydia Mann.

Da ihm das Bauhandwerk mehr lag als das Tischlerhandwerk, mit dem sich sein Schwiegervater vorwiegend beschäftigte, gründete er in Guild-ford ein eigenes Unternehmen und wurde im wahrsten Sinne des Wortes ein konstruktiver Bürger der Stadt. Viele Gebäude zeugten von seiner Geschicklichkeit als Baumeister. Er war etwa zwölf Jahre in der Stadtverordnetenversammlung tätig, wurde Ratsherr und Bürgermeister und zog sich nur deshalb vom öffentlichen Dienst zurück, weil ihm sein Arzt sagte, er müsse entweder die Arbeit im Stadtrat oder sein Geschäft aufgeben. Er hätte wahrscheinlich das letztere getan, wem nicht fünf seiner sieben Kinder Mädchen gewesen wären, von denen nur zwei heirateten, oder wenn einer seiner beiden Söhne ihm den Wunsch erfüllt hätte, in das Geschäft einzutreten. Aber Ski-ney, der jüngere, wollte lieber Elektroingenieur werden. Und gerade, als Henry das Geschäft Jesse, seinem Ältesten, übertragen wollte, der geborener Baumeister und im Baufach ausgebildet war, hörte Jesse den Klang ferner Trommeln und begann, an die Millionen von Menschen in der Welt zu denken, die noch nichts von der Frohen Botschaft gehört hatten.
Diesmal war es nicht Abenteuerlust, die einen Brand nach dem Orient lockte, sondern das Verlangen, Menschenseelen zu retten. Jesse bereitete sich auf den von ihm erwählten Beruf vor, indem er ein Jahr Tropenmedizin in der Livingstone-Medical-School, einem kleinen Spezial-Institut zur Ausbildung junger Missionare, studierte.
Dann fuhr die Familie Brand an einem nebligen Freitag im November 1907 von Guildford nach London, um Jesse nach Indien abreisen zu sehen, wo er unter dem Schutz der Strict Baptist Mission arbeiten wollte.
Unterstützt von seiner dritten Tochter, Daisy, die bald seine tüchtige Sekretärin wurde, führte Henry nun das Geschäftweiter. Wenn es ihm auch leid tat, daß er auf seinen Sohn verzichten mußte, so zeigte er es doch nicht. Er war es ja selbst gewesen, der den Gedanken an die Millionen, die Christus brauchten, in Jesse geweckt und dafür gesorgt hatte, daß er den Ruf der fernen Trommeln hörte. Denn Henry Brand war ein frommer Mann, der, obwohl er in der Woche schwer arbeiten mußte, Sonntag für Sonntag überall in Surrey in winzigen Baptisten-kapellen predigte.
Eine große Freude war ihm der Brief, den er zwölf Jahre später von seinem Sohn erhielt und sorgfältig aufbewahrte.
„Mein liebster Vater!" schrieb Jesse von einer einsamen Missions- atlon auf dem Gipfel eines indischen Berges. „Idt möchte Dir noch nmal sagen, wie sehr ich Dir dafür danke, daß Du mich für die Mis-ifonsarbeit in Indien frei gegeben hast. Wenn ich im Geschäft geblieben wäre, wäre Dein Leben in den letzten zehn Jahren leichter gewesen. Ich fing gerade an, Dir die Kuliarbeit abzunehmen, wie wir es hier nennen, als für mich der Ruf nach Indien kam und Du wieder die ganze Last auf Dich nehmen mußtest. Du tatst es ohne Klage und hast sie auch die schweren Kriegsjahre hindurch getragen, so daß nicht id ein Opfer brachte, indem ich hierherging, sondern Du und Mut-
)esse Brand kam kurz vor Weihnachten 1907 in Madras an. Ausge-
stet mit Energie, Glaubenseifer, einem einjährigen Kursus in Tropenmedizin, zweiundzwanzig Jahren strenger Erziehung und einem hübschen schwarzen Schnurrbart, stürzte sich der junge Missionar in die Aufgabe seines ersten Jahres, die Tamilsprache zu lernen. Am nächsten Weihnachtsfest war er in Sendamangalam, einer Missionsstation 150 Meilen südwestlich von Madras.
Jesse besaß einen kühnen Pioniergeist. Selbst die Fülle der Aufflben auf diesem Vorposten befriedigte ihn nicht. Immer wieder blickte er hinauf zu den benachbarten Bergen, die steil aus der Ebene emporragten. Kohl Malai, Berge des Todes, wurden sie genannt. Die Bewohner der Ebene scheuten sie wie die Pest, weil man, wie es hieß, nach einer einzigen Nacht, die man dort verbrachte, tödliches Malaria-fieber bekam. Aber was war mit den zwanzigtausend Menschen, die oberhalb jener dichten Wälder und steilen, von Wolken umgebenen Abhänge leben sollten? Monate vergingen, und sie blieben in Geheimnisse gehüllt. Bis eines Tages ein kranker Mann an der Tür des Missionshauses erschien.
„Wo kommst du her?" fragte Jesse, dem die Kleidung und das Aussehen des Mannes ungewöhnlich vorkamen.
„Aus den Bergen."
Die Augen des jungen Missionars leuchteten auf.
„Ist niemand dort oben, der dir helfen kann?"
„Niemand."
Nun hatte Jesse keine Ruhe mehr.
„Wir müssen hinauf", drängte er Morling, den älteren Missionar der Station.
Sie brachen eines Morgens um drei Uhr auf, fuhren zuerst mit einem Ochenwagen bis zum Fuß der Berge, luden dann ihr Gepäck auf die Köpfe der Kulis und kletterten einen steilen Pfad hinauf, durch dichten Wald und an steinigen Abhängen entlang. Nachdem sie fünf Meilen zurückgelegt hatten, gelangten sie auf eine grüne, wellige Hochebene mit bewaldeten Hügeln, gewundenen Tälern und hier und da einem Dorf aus braunen Hüften mit spitzen Strohdächern. Wo sie hinkamen, flohen die Leute vor ihnen, bis in einem Dorf Jesses Patient mit strahlendem Gesicht auf ihn zukam und rief: „Es ist der Doktor!" Da versammelten sich alle und hießen die Fremden als Freunde willkommen.

Vierzehn Tage lang blieben die Missionare bei dem Bergvolk, wohnten in Strohhütten und Kuhställen und versuchten die tamilsprechen-den Dorfbewohner zu überzeugen, daß es einen Gott gebe, der sie mehr liebte als ihre „swamis", Götter, die in rohen Tempeln und Steinhaufen wohnten. Viele der Eingeborenen schienen die Botschaft gern zu hören. Nach diesem Besuch befriedigte es Jesse nicht mehr, in der Ebene zu arbeiten. Bei seinem Urlaub in England im Jahre 1911 versuchte er das Interesse an einer Mission in den Bergen zu wecken. Als er zurückkehrte und ein Missionar aus Madras auf Urlaub ging, tat es ihm leid um die Zeit, die er dort verbringen mußte, um ihn zu vertreten. Aber er wurde entschädigt. In Madras fand er eine begeisterte Zuhörerin für seine Pläne.
Sie war ihm nicht völlig fremd.

 Er hatte Miß Evelyn Constance Hat-ris in England im Hause ihres Vaters kennengelernt, eines strengen Baptisten, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, jeden werdenden oder auf Urlaub befindlichen Missionar, der seine Gemeinde in St. John's Wood besuchte, zum Essen mit nach Hause zu nehmen. Jetzt war die junge Missionarin mit einjähriger medizinischer Ausbildung hier in Madras. Sie hatte wahrscheinlich einen sehr starken eigenen Willen; denn Jesse konnte es sich nicht vorstellen, daß der besorgte Mr. Harns einer seiner neun behüteten Töchter freiwillig erlauben würde, sich allein mit dn Schwierigkeiten in Indien herumzuschlagen. Jesse und Evelyn haften mehr miteinander gemeinsam als ein oberflächliches medizinisches Wissen und den Wunsch, Menschen zu heilen und Indiens Millionen evangelisieren zu helfen. Jesse sah es an dem Aufleuchten ihrer Augen, als er von den „Bergen des Todes" mit ihren einsamen Pfaden und Dörfern erzählte.
Die Räder der Verwaltung begannen sich zu drehen, und Jesse wurde schließlich auf ein ganz einsames Missionsfeld geschickt. In der Ebene baute er die Einzelteile für sein Haus und ließ sie von Kulis auf dem
Kopf hinauftragen. Oben mußte er die Einzelteile vorwiegend allein zusammensetzen, da die meisten Kulis solche Angst vor dem Berg--fieber hatten, daß sie vor Einbruch der Nacht wieder in die Ebene zurückliefen.
Im August 1913 heirateten Jesse Brand und Evelyn Hanis in Senda-mangalan. Es war ein richtiges „tamasha", ein großes Volksfest. Denn Jesse hatte sich bei vielen durch seinen unermüdlichen, fruchtlosen Dienst, besonders während der jüngsten Pocken- und Choleraepidemien, sehr beliebt gemacht. Das junge Paar war so mit Girlanden beladen, daß es sie mehr als einmal abnehmen und dann von neuem umhängen mußte. Nach einem späten Hochzeitsfrühstück brachen die Braut und der Bräutigam in ihren Hochzeitskleidern zu ihrem neuen Heim in den Bergen auf. Die ersten fünf Meilen bis zum Fuß des Gebirges fuhren sie in einer Jutka, einem kleinen, von einem weidengeflochtenen Baldachin überdachten und von einem Pony gezogenen Wagen.
„Ich habe zwei Dhoolies gemietet", sagte Jesse stolz zu seiner jungen Frau. „So werden wir eine richtige Hochzeitsprozession haben'
Die Dhoolies, Sänften aus Segeltuch und Bambusstäben, waren da; aber keine Kulis, um sie zu tragen. Es stellte sich heraus, daß die gemieteten Männer alle fortgelaufen waren, um ein Wildschwein zu jagen. Jesse ließ seine junge Frau beim Gepäck zurück und rannte davon, sein indischer Kollege in entgegengesetzte Richtung, um Kulis zu suchen. Sie konnten nur vier finden.
Es war fast vier Uhr nachmittags, als sie fertig waren zum Aufbruch. Monsunwolken sammelten sich am Himmel. Es donnerte. Jesse sah seine junge Frau besorgt an. Er hatte alles so gut vorbereitet, hatte alles richtig machen wollen.
„Wir könnten umkehren und morgen in die Berge aufbrechen."
Aber Evelyn wollte das nicht. Sie setzte sich in ihrem langen, weißen Hochzeitskleid auf den Dhoolie und stemmte die Füße fest gegen den vorderen Bambus-Querbalken. Stöhnend hoben die Kulis das plumpe Gestell auf die Schultern und trotteten davon, um vor Einbruch der Dunkelheit auf dem schmalen Bergpfad so weit wie möglich voranzukommen und bald in kühlere Gegenden zu gelangen. Ihre braunen, nur von einem Lendentuch bedeckten Körper glänzten bald von Schweiß. Auch die junge Frau, die mit den Händen die seitlichen Stangen umklammerte, um die ungewohnten rollenden Bewegungen etwas abzufangen, merkte bald, wie ihr ordentlich gescheiteltes Haar unter 

Verlag: Oncken 
Jahr: 1966 
Einband: Hardcover 
Seitenzahl: 240 
Format: 14 x 21 CM