Winkler Mechthild, Ich liebte Hasenheide - Man braucht das Schöne, um das Schwere zu tragen

04/25/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

KAPITEL 3

Mutter empfing mich in der Diele. „Ich habe eine Neuigkeit für dich", sagte sie bedrückt. ‚Keine sehr erfreuliche?" vermutete ich.
„Wie man's nimmt. Erika ist da."
„Und warum freut dich das nicht?"
„Ich denke an dein Fest morgen. Wie wird Dieter es aufnehmen? Sie hätte sich anmelden sollen."
»Als Tochter muß man doch unerwartet nach Hause kommen können!" nahm ich ihre Partei.
„Natürlich hast du recht", stimmte sie zu. „Aber Erika benimmt sich so seltsam. So undurchsichtig. Sie sagt einfach, sie hätte mal für ein paar Tage aus München verschwinden müssen, und dein Geburtstag sei ein guter Grund dafür."


„An meinem Geburtstag war sie ja gar nicht da! Und von meinem Fest morgen konnte sie nichts wissen", wunderte ich mich. „Oder hast du ihr davon geschrieben?"
„Nein. Und ich habe ihr vorhin vergeblich nahegelegt, morgen etwas anderes zu unternehmen oder wenigstens auf ihrem Zimmer zu bleiben. Sie behauptet, das mit dem Fest treffe sich prima, weil es alles viel unverdächtiger mache, aber sie will nicht mit der Sprache heraus, was sie damit meint."
„Ich werde selbst mit ihr reden", beschloß ich und wandte mich zur Tür.
„Du mußt dich gedulden. Vater hat sie ins Gebet genommen."
Es dauerte lange, bis die beiden aus Vaters Zimmer kamen und sich zu uns in die Küche setzten, wo Mutter und ich gerade mit dem Abwasch fertig waren. Erika sah verweint aus, und Vaters Blick war erschreckend ernst.

„Hör zu, Monika", sagte Vater. „Erika ist auf meinen Wunsch zu deinem Fest gekommen. Ich wollte dir eine Überraschung bereiten."
„Aber Vater!" protestierte ich. „Davon ist doch kein Wort wahr! Warum lügst du mich an?"
„Ich lüge dich nicht an, mein Kind. Was ich eben gesagt habe, ist die Version, die wir alle - hörst du, wir alle! - unbedingt aufrechterhalten müssen, und zwar jedermann gegenüber. Warum das so ist, kann ich jetzt nicht erklären, aber ich verlasse mich auf euch. Also: Erika und ich haben die Überraschung ausgeheckt, und niemand außer uns, auch Mutter nicht, hat etwas davon gewußt. Ist das klar?"
„Es kann doch gar nicht gehen, Vater", widersprach ich. „Ich habe Dieter versichert, daß Erika in München ist. Willst du ihm die Peinlichkeit zumuten, sie trotzdem hier zu treffen, nachdem sie ihn in die Wüste geschickt hat?"
»Er mich!" rief Erika dazwischen. „Nicht ich habe ihn fortgeschickt, sondern er mich."
Eine Weile waren wir sprachlos.
»Warum?" fragte Mutter schließlich.
„Das kann sie dir später erzählen", griff Vater ein. „Jetzt ist vordringlich, daß wir uns wegen morgen einig werden." Er wandte mir sein besorgtes Gesicht zu. „Glaubst du mir, Monika, daß ich absolut zwingende Gründe für das habe, was ich von dir verlange?"
„Es fiele mir leichter, wenn ich die Gründe wüßte", trotzte ich.
»Monika hat recht", nahm Mutter meine Partei. „Wenn man jemand um Hilfe bittet, schuldet man ihm Information; und wenn man Vertrauen verlangt, sollte man es auch gewähren."
»Außerdem kann ich nicht gut lügen, und wenn ich über etwas im Dunkeln tappe, mache ich eher Fehler, als wenn ich Bescheid weiß", setzte ich hinzu.
»Das ist's ja, was ich meine", ergänzte Mutter. »Es kann nichts Gutes aus einer Sache herauskommen, die auf Unehrlichkeit aufgebaut wird."
Vater schaute von Mutter zu mir und schien unsre Einwände zu bedenken.
„Ihr macht es mir sehr schwer", seufzte er.
„Wir?" fragte ich und sah zu Erika hin.
Sie hob die Augen und erwiderte meinen Blick. Dann wandte sie sich an Vater: „Ich hätte es dir nicht erzählen sollen, wenn du auch noch so sehr gedrängt hast." Ihre Stimme klang belegt, als ob sie in großer innerer Aufregung wäre. „Ich hätte überhaupt nicht herkommen sollen. Aber das ist nun passiert, und ich finde, Mutter und Monika müssen Bescheid wissen."
AC
Sie heftete ihre Augen auf Mutters Gesicht und sagte kaum hörbar: „Ich habe in München Freunde, von denen einige bei der Gestapo denunziert wurden."
„Wer oder was ist Gestapo?" fragte ich verständnislos.
„0 Gott, du Baby!" Erika sah kurz zu mir hin. „Geheime Staatspolizei. Hitlers Schnüffler. Wer denen in die Fänge gerät, kann sein Testament schreiben, wenn er noch Zeit dazu hat."
„Mach's halb so theatralisch!" giftete ich sie an, ärgerlich über die Anrede Baby und gereizt von der gespannten Atmosphäre im Zimmer.
„Man kann es nicht ernst genug nehmen", wies Vater mich zurecht.
„Was habt ihr getan?" fragte Mutter mit weißem Gesicht und zitternden Lippen.
„Getan? Leider gar nichts. Aber geredet wurde halt, darüber, was alles falsch ist in unserm Land, und ob und wie man etwas ändern könnte. Einige von uns sind einem Spitzel aufgesessen. Meine Zimmernachbarin im Studentenheim ist abgeholt worden. Ihr Verlobter studiert hier an unsrer Uni; er mußte gewarnt werden, und weil es bei mir vielleicht nicht auffällt, wenn ich herfahre, habe ich das übernommen."
„Wäre es nicht einfacher gewesen, zu telefonieren oder ein Telegramm zu schicken?" fragte ich.
„Wirklich, Monika, soviel Naivität gehört verboten!" tadelte mich Erika. „Post und Telefon werden überwacht, wenn du erst mal auf der Liste bist. Hast du denn keine Ahnung, wie es in unserm Staat zugeht?"
„Stehst du auch unter Verdacht?" erkundigte sich Mutter.
„Ich weiß es nicht. Wir hoffen, daß die Geschnappten dicht halten."
„Es wäre eine bodenlose Gemeinheit, wenn sie's nicht täten!" warf ich ein.
„Könntest du für dich garantieren, unter Folter nicht auszusagen?" Erika sah mich zornig an.
„Folter! Wir leben doch nicht im Mittelalter!" protestierte ich.
„Aber du lebst hinter dem Mond!" entgegnete sie scharf. Sie wandte sich wieder zu Mutter: „Verstehst du, warum alles ganz natürlich und normal aussehen muß? Ich bin zu Monikas Fest gekommen, fahre nach dem Wochenende wieder nach München, studiere dort brav weiter und kehre zum nächsten Semester hierher zurück, um mein Examen zu machen. So habe ich es mit Vater besprochen."
„Ich bin traurig, daß ihr mich nicht in euer Vertrauen ziehen wolltet."
„Nur dir zuliebe, Mutter!" Erika liefen plötzlich die Tränen übers Gesicht. „Weil Mitwissen gefährlich ist. Man kann dadurch selbst in Bedrängnis geraten."
„Außerdem", sagte Vater hart, „stellt jeder Mitwisser ein Risiko dar. Die Gestapo weiß, wie man an Informationen kommt. Es muß nicht immer Folter sein. Es gibt andere Wege, Drohungen und Repressalien oder heimtückische Bespitzelungen, Belohnung von Denunziationen und was sonst noch alles."
Er sah mich unglücklich an. „Daß nun auch du noch da hineingeraten bist, beunruhigt mich schrecklich."
„Das ist ein Preis, den wir für unser Familienleben zahlen müssen." Mutter nickte mir zu, während sie es sagte, und wandte sich dann an Vater.
„Was würde es für Erika bedeuten, wenn sie verraten würde?"
„Schon die geringste Kritik kann als Wehrkraftzersetzung ausgelegt werden", antwortete Vater, „und Gespräche darüber, wie man etwas ändern könnte, gelten als Vorbereitung zum Hochverrat. Auf beides steht Todesstrafe."
„Durch Erhängen oder Enthaupten", fügte Erika bei.
„Kind, wie konntest du dich auf so etwas einlassen!" stöhnte Mutter.
„Und ihr ... Wie konntet ihr weiterleben, als ob nichts geschehen wäre, damals, als Bücher verboten und Künstler ins Exil gedrängt und jüdische Geschäfte zerstört wurden?! Wie konntet ihr zulassen, daß die Juden weggeholt und in Lager gesperrt wurden?! Und sagt bloß nicht, ihr wußtet nichts davon, denn ich selbst kann mich daran erinnern, wie die Synagoge gebrannt hat."
„Wir sind hineingeschlittert, Kind, ob du das verstehen kannst oder nicht", antwortete Vater. „Als alles anfing, damals, in der Weimarer Republik, waren wir des Parteiengezänks und der offensichtlichen Unfähigkeit der meisten Politiker so müde! 

Wir haben uns nicht die Mühe gemacht, alle auf den Markt kommenden politischen Programmschriften zu studieren. Wir hätten vielleicht etwas von dem wissen können, was mit Hitler auf uns zukam, etwas, nicht alles, und das Schlimmste sicherlich nicht. Wir hätten Hitlers Buch lesen können, aber diese Lektüre reizte mich nicht. Es gab so viele Parteiredner und Propagandaparolen, zuerst schien Hitler nur einer unter anderen, und als sich abzeichnete, daß er so etwas wie ein Hoffnungsträger für viele geworden war, neigten wir dazu, ihm eine Chance zu geben. Er versprach die Bildung einer handlungsfähigen Regierung und die Abschaffung der wirtschaftlichen Notlage. Ihr könnt euch wahrscheinlich nicht vorstellen, was das damals bedeutete. Man räumte ihm ein, daß er im Anfang mit scharfen Maßnahmen durchgreifen müsse, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. 

Und er hatte Erfolge! Wie die zustande kamen, lag nicht auf der Hand - auch wir hatten keinen Durchblick—, und den allermeisten Menschen genügte es damals, daß endlich für Arbeit und Brot und Ruhe und Ordnung gesorgt war. Die demokratischen Politiker hatten sich mißliebig gemacht, die Liquidierung der Demokratie tat kaum jemand weh. Kurze Zeit nachher, als einigen so langsam die Augen aufgingen, war es schon zu spät. Ihr seht ja selbst, wie es denen geht, die Mißbilligung erkennen lassen. Was würde sich ändern im Land, wem würde es konkret nützen, wenn Erika und ihre Freunde sterben müßten?!" Tränen.

 »Bisher dachte ich, ihr hättet es nicht soweit kommen lassen dürfen, aber wie Vater es erklärt, war ja von Anfang an alles verfahren."-
»Es würde wenigstens dokumentieren, daß nicht alle Deutschen die Verbrechen gutheißen, die bei uns geschehen!" sagte Erika heftig. „Es ist leicht, zu verurteilen, wenn man die Dinge ohne profundes Wissen der Zusammenhänge sieht", sagte Vater. „Aber wenn man mitten drin steckt, hilft das Urteil von außen gar nichts. Vielleicht werden Jahrzehnte vergehen müssen, bis man sachlich darüber reden kann, wie alltägliches Verhalten odgar ehrliche Überzeugung zum Schuldigwerden führten."
»Wer würde schon groß davon erfahren?" fragte Mutter, und ich hielt Erika vor: „Du versuchst ja selbst, jeden Verdacht von dir abzulenken." „Im Augenblick«, erklärte Mutter vehement, „geht es mir um nichts anderes als darum, unser Kind zu retten."
Ihre Schultern sackten nach vorn. »Ja", sagte sie leise, »ich habe Angst. Das scheint alles so sinnlos, sich quälen und umbringen zu lassen, wenn doch keiner davon aufgerüttelt wird." „Verdammt nochmal!" platzte ich heraus. „Ich komme mir immer noch vor wie in einem Alptraum! Das kann doch nicht wahr sein, daß hier bei uns zu Hause jederzeit ein Geheimpolizist schellen und Erika verhaften kann, nur weil sie meint, daß unsre Regierung Fehler macht!"
»Aufgerüttelt wären wir; wir sind es ja jetzt schon", sagte Mutter, »aber aufgerüttelt wozu?, frage ich dich. Wenn ein Aufgerüttelter seine Stimme erhebt, ist er am nächsten Tag selber mundtot. Was wirfst du uns also vor, Kind?" „Du wirst dich damit abfinden müssen", sagte Erika schluchzend. „Und wenn du dich nicht damit abfinden willst, kann es dir gehen wie meinen Freunden- und vielleicht auch mir", fügte sie leise bei.
„Ich weiß es bald auch nicht mehr." Wieder kamen Erika die „Und für einen solchen Staat kämpfen unsre Soldaten?" fragte ich fassungslos.
„Das kompliziert ja alles so furchtbar", stellte Vater fest. „Man müßte wünschen, daß wir den Krieg verlieren - aber kann man das wollen?"
„Meine Freunde denken, es wäre das kleinere Übel", bemerkte Erika.
Mutter wandte sich heftig zu ihr hin. „Sie haben keine Erfahrung mit einem verlorenen Krieg. Wir haben sie."
„Und diesmal würde alles noch hundertmal schlimmer", ergänzte Vater.
Im gleichen Augenblick schellte es an der Haustür. Wir fuhren alle erschrocken zusammen.
»Kurz vor elf!" sagte Vater, der die Uhr gezogen hatte. »Wer will jetzt etwas von uns, um diese Zeit?!"
Es war ein Nachbar, dem aufgefallen war, daß in einem unserer oberen Zimmer das Verdunklungsrollo nicht heruntergelassen war. Wir konnten froh sein, daß er es bemerkt hatte. Wenn

ISBN:    9783765516283
Format:    21 x 14 cm
Seiten:    400
Verlag:    Brunnen
Erschienen:    1998
Einband:    Hardcover