Selbst ist die Frau! Witemeyer Karen Leseprobe

12/08/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Prolog Winter 1882, Cooke County, Texas

Malachi Shaw schaffte den beschwerlichen Weg zurück aus der Bewusstlosigkeit nur mit aller größter Anstrengung. Doch bisher hatte alles, was Mal, wie er genannt wurde, in seinen dreizehn Lebensjahren erreicht hatte, größte Anstrengungen verlangt. Und dabei hatte er noch nicht einmal etwas Nennenswertes vorzuweisen. Er war verwaist. Halb verhungert.

Und … er fror. Das spürten seine Sinne als Allererstes. Die Kälte. Und nicht die bekannte Kälte, die man fühlte, wenn man sich während einer Kältewelle in einem viel zu dünnen Mantel unter der Saloon-Treppe versteckte. Nein. Um ihn herum herrschte eine Kälte, die regelrecht brannte. Doch das ergab überhaupt keinen Sinn. Mit einem Stöhnen hob Mal den Kopf und versuchte, seine Arme unter sich zu ziehen, um sich hochzustemmen. In diesem Augenblick traf ihn erst die volle Wucht seiner Schmerzen. Die Schulter pochte, die Rippen brannten und sein Kopf fühlte sich an, als sei er mit einem Zug kollidiert. Ach … richtig … das war er ja auch. Bruchstückhafte Erinnerungen wirbelten durch seinen Kopf, während er langsam aus der Schneewehe kroch, die seinen Sturz aufgefangen haben musste. 

Er war auf den Zug aufgesprungen wie schon ein Dutzend Mal zuvor, seit sein Trunkenbold von einem Vater es geschafft hatte, sich umbringen zu lassen – von einem Fuhrwerk überrollt, als er die Straße überqueren wollte. Der Alte war sowieso zu nichts zu gebrauchen gewesen. Hatte seinen Sohn in Mülleimern nach Essensresten suchen lassen, während er selbst jede noch so kleine Münze in Whiskey umgesetzt hatte. Doch immerhin hatte er ihnen ein Dach über dem Kopf besorgt – ein heruntergekommenes, undichtes Dach, das auf zwei baufällige Wände gesetzt war, die nicht einmal den Wind abhalten konnten – aber immerhin ein Dach. An dem Morgen, nachdem sein Vater beerdigt worden war, hatte die Frau, der die Hütte gehörte, Mal vor die Tür gesetzt. Sie hatte ihm kaum Zeit gelassen, seinen Sack zu holen, in dem er die wenigen Habseligkeiten aufbewahrte, die er besaß. Doch als er sich hektisch umgeschaut hatte, war der Sack nirgends zu finden gewesen.
„Nein!“ Er schlug mit der Faust auf den gefrorenen Grund neben sich und sank in sich zusammen. Was hatte er erwartet? Dass Gott sich plötzlich seiner Existenz erinnern und einen Finger krümmen würde, um ihm zu helfen? Ha! Nichts da! Der Große Mann hatte sich noch nie um ihn geschert. Warum sollte er plötzlich damit anfangen? Es war doch viel bequemer, sich dort oben im Himmel zurückzulehnen und sich darüber zu amüsieren, wie der arme Malachi Shaw sich durchs Leben kämpfte. Er hatte ihm die Mutter so früh genommen, dass Mal sich nicht einmal daran erinnern konnte, wie sie ausgesehen hatte. Hatte ihm einen Vater gegeben, der sich mehr für den nächsten Drink als für sein eigen Fleisch und Blut interessierte. Und dann hatte er ihm auch noch diesen Menschen weggenommen. 

Jetzt stand er alleine da. Ohne Zuhause. Niemand wollte ihm Arbeit geben. Ihm blieb nichts anderes übrig, als heimlich, als blinder Passagier, mit dem Zug zu reisen und nach einem Ort zu suchen, an dem er eine faire Chance bekommen würde. Und was hatte ihm das bisher gebracht? Einen Zusammenstoß mit einer Bande von Vagabunden, denen es gar nicht gefallen hatte, dass er in ihr Territorium eingedrungen war. Mal fasste sich vorsichtig an die schmerzende Beule auf seiner Stirn. Es waren vier gewesen. Alle doppelt so groß wie er. Und jeder war einmal an der Reihe gewesen zuzuschlagen. Bis der vierte Kerl Mals Kopf gegen den stählernen Türrahmen gedonnert hatte. An das, was danach gekommen war, hatte Malachi keine Erinnerung mehr. Offensichtlich war er von den Vagabunden aus dem Zug geworfen worden. Er konnte die Gleise oben auf der Böschung kaum ausmachen. Zu schade, dass Gott die Sache nicht endlich beendet hatte. Hätte Mal sich nicht einfach den Hals brechen können? Aber nein, wo bliebe denn da der Spaß, den Gott sich offensichtlich mit ihm machte?


„Du willst dich wohl noch länger über mich lustig machen?“ Er funkelte den dunkelgrauen Himmel, der bald ganz in Schwarz versinken würde, böse an. „Dass es dir und den Engeln da oben bloß nicht langweilig wird!“ Mal klopfte sich den Schnee aus den Haaren und von den Armen und kämpfte sich auf die Füße. Er schlug sich auch auf die Hose, um den weißen Staub loszuwerden, und biss die Zähne zusammen. Seine Finger brannten, als hätte er sie in eine offene Flamme gehalten. Seine Ohren und die Nase stachen ebenfalls. Seine Füße konnte er nicht einmal mehr spüren. Das war gar nicht gut. Er stampfte ein paarmal auf und legte die Hände an den Mund, um hineinzuhauchen. 

Es brachte allerdings nicht viel. Das Einzige, was ihn davor bewahren konnte, zu einem menschlichen Eisklotz zu werden, war ein Unterschlupf. Ein Feuer. Und ein Mantel. Das dicke Flanellhemd, das er aus der Armenkiste der Kirche hatte, tat nichts, um den schneidenden Wind abzuhalten. Und jetzt, wo es vom Schnee durchnässt war, entzog es ihm eher die Wärme, als dass es ihn schützte. Immerhin hatte er keine Löcher in den Schuhen. Die Sohlen waren dünn, aber unversehrt. Wenn er die guten Dinge aufzählen sollte, die ihm in seinem Leben widerfahren waren, dann konnte er immerhin den Prediger nennen, der sie ihm gegeben hatte. Das war vermutlich besser als nichts. Wenn diese Mistkerle ihm nur seinen Beutel gelassen hätten! Dann wäre er jetzt noch im Besitz von trockener Kleidung, Essen und einem Feuerstein.
„Hör auf zu jammern“, murmelte er sich selber zu. „Das wird deinen Magen nicht füllen. Wenn du dich aufwärmen willst, tu etwas dafür.“
Malachi reckte seine Schultern und hob den Kopf, um sich umzuschauen. Er suchte nach einem Gebäude irgendwo in der Nähe. Am besten eine Scheune, wo Tiere die Luft erwärmten. Doch er sah nichts. Nichts als schneebedeckte Prärie, aus der hier und da weiß gefärbte Bäume hervorstachen. Was hatte er auch erwartet? Dass eine geschlossene Kutsche mit einem dieser vornehmen Lenker vorfahren würde, um ihn zu fragen, wohin er reisen wolle? In diesem Moment stellte Mal sich vor, wie er zu ihm sagen würde: „Bringen Sie mich zur nächsten Scheune, guter Mann. Und schonen Sie bloß nicht die Pferde.“ Mit einem Schnauben schlug Mal den Kragen seines Hemdes hoch, schob die Hände in die Hosentaschen und fing an, nach Osten zu trotten. Gainesville konnte nicht weit weg sein. Dort war ihm die brillante Idee gekommen, von hinten auf den dritten Zugwaggon aufzuspringen. 

Das war nicht gerade seine beste Entscheidung gewesen. Die Kerle, die den Waggon schon belegt hatten, waren sofort auf ihn losgegangen. Der Zug konnte also keine weite Strecke zurückgelegt haben, bis sie ihn rausgeschmissen hatten. Bestimmt würde es eine Farm oder Ranch in der Nähe geben, wo er sich ein oder zwei Nächte in der Scheune verstecken konnte. Er musste es nur schaffen, sie zu erreichen, bevor die Nacht anbrach und man nicht mehr die Hand vor den Augen sehen konnte.
Zu dem Zeitpunkt, als Mal die ersten Gebäude erreichte, zitterte er so stark, dass er kaum noch das Gleichgewicht halten konnte. Der Wind, der aus Norden heranbrauste, warf ihn immer wieder aus der Bahn. Doch immerhin, es schneite es nicht! Der Prediger wäre stolz auf ihn. Er hatte gerade die Liste der guten Dinge, die ihm bisher in seinem Leben widerfahren waren, verdoppelt. Mal kicherte, doch der Laut wandelte sich in ein Husten. Eines, das seine Brust schmerzen ließ. Er krümmte die Schultern, zog den Kopf ein und drehte sich voll in den Wind. Er stakste über ein Feld, um den Weg zur Scheune abzukürzen.
Licht schimmerte aus dem Haus, das etwas entfernt stand. Rauch, ebenfalls ein Spielball des Windes wie er, wurde im scharfen Winkel aus dem Schornstein geblasen. Normalerweise vermied Mal es, in die Nähe von Menschen zu kommen. Doch in diesem Fall war ihm zu kalt, um sich nach einem besseren Unterschlupf umzuschauen. Wenn er sich einfach ins Heu betten und aufwärmen könnte, wäre er wieder verschwunden, bevor die Besitzer am Morgen aufwachten. Plötzlich dankbar für die aufkommende Dunkelheit, presste sich Malachi gegen die vom Haus abgewandte Seite der Scheune und schlich in Richtung des Tores an der Vorderseite.

Er öffnete es gerade so weit, dass er hindurchpasste, schlüpfte nach drinnen und hielt den Griff fest, damit der Wind das Tor nicht zuschlug. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war ein lautes Geräusch, das den Farmer alarmierte. Farmer trugen normalerweise Gewehre bei sich und Malachi war nicht gerade erpicht darauf, sich eine Ladung Schrot einzufangen. Er spähte durch den offenen Schlitz und beobachtete das Haus, bereit, in Richtung Feld davonzustürmen, sollte es nötig sein. Doch nichts geschah. Er ließ den angehaltenen Atem entweichen und schloss leise das Tor. Es sah aus, als könnte er seiner Liste noch eine Nummer drei hinzufügen. Mal grinste und schlich sich in die dunkelste Ecke des Stalles, die er finden konnte.
Der Heugeruch kitzelte ihn in der Nase, doch er war so glücklich, dem Wind entkommen zu sein, dass er sich nicht darum kümmerte. Mit tauben, zitternden Fingern schaffte er es, die Knöpfe seines Flanellhemdes zu öffnen. Er zog es zusammen mit seinem wollenen Unterhemd aus und hängte es über die Tür einer leeren Box. Danach versuchte er auch, die Senkel seiner Schuhe zu öffnen, doch seine Finger waren zu taub, um den Knoten zu lösen. Seine Füße würden warten müssen, bis seine Gliedmaßen etwas Gefühl zurückgewonnen hatten. Er blies sich in die Hände, dann betrat er die Box und verbarg sich in einem Haufen Stroh. Er lag einige Zeit lang ruhig da, die knochigen Arme vor der Brust verschränkt, die Knie fest angezogen. Die nasse Hose ließ seine Zähne unkontrolliert klappern. 

Er schloss die Augen und stellte sich alles Wärmende vor, an das er nur denken konnte. Ein Lagerfeuer. Eine Wolldecke. Aber nicht eine von diesen kratzigen Dingern. Nein, einen Quilt. Einen dicken, weichen, mit Daunen gefüllten Quilt mit gesäumten Kanten, wie er ihn einmal in einem Geschäft gesehen hatte. Und eine dampfende Schüssel mit Eintopf. Doch der Gedanke daran ließ seinen Magen sofort laut knurren. Na großartig! Eigentlich wusste er es doch besser. Er durfte nicht ans Essen denken. Jetzt würde er keinen anderen Gedanken mehr haben. Mal öffnete die Augen und ließ seinen Blick durch die Schatten der Scheune wandern. Vielleicht gab es noch Futter in dem Trog, an dem er vorbeigekommen war. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sich ein Abendessen aus Getreide gönnte, das er dem Vieh stibitzt hatte. Schreckliches Zeug. Hart und trocken und es blieb immer zwischen den Zähnen hängen. Aber es würde seinen knurrenden Magen beruhigen und ihm vielleicht sogar etwas Schlaf bringen.
Zögernd streckte sich Malachi und klopfte sich das Heu ab. Er biss die Zähne zusammen, damit sie endlich zu klappern aufhörten, und ging langsam dorthin zurück, wo er den Trog gesehen hatte. Eines der Pferde schnaubte und trat gegen seine Boxentür. „Ganz ruhig, Junge“, murmelte Mal leise. „Ich tu dir nichts.“ Im Dämmerlicht, das durch die Fenster fiel, konnte Mal die großen braunen Augen des Pferdes sehen und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Doch das Tier beruhigte sich wieder. Malachi entspannte sich, hielt seinen Blick aber weiter auf das Tier gerichtet, da es ihm nicht gefiel, wie es ihn anstarrte. 

So hochnäsig. Wie die Besitzerin des Ladens, auf dessen Hinterhof er in den Mülleimern nach Essen gesucht hatte. Er war von ihr mit dem Besen vertrieben worden – wie Ungeziefer. So in Gedanken versunken bemerkte Mal die Schaufel nicht, bis sein Fuß dagegenstieß. Sie polterte laut zu Boden. Das Echo dröhnte von den Wänden. Mal erstarrte, sein Herz schlug lauter als der Hammer eines Schmieds. Angeln quietschten. Er fuhr herum in Richtung des Geräusches. Es ertönte zu seiner Linken. Zwischen ihm und der Tür. Er hörte Schritte auf sich zukommen. Malachi schnappte sich die umgefallene Schaufel und hob sie hoch. Er würde zuschlagen und loslaufen, sobald der Farmer sich zeigte. Eine Silhouette erschien vor der ersten Pferdebox. Eine kleine Gestalt mit großen, runden Augen und einem Heiligenschein aus lockigem schwarzem Haar. Blasse Haut. Volle, rosige Wangen.
Mal ließ seine Arme langsam sinken und stellte die Schaufel weg. Es würde nicht zuschlagen und weglaufen. Nicht, wenn Gott ihm einen Engel gesandt hatte. „Wer bist du?“, fragte der Engel mit kindlich neugieriger Stimme. Keine Vorwürfe. Mal konnte nicht antworten. Der Engel fragte nicht weiter. Starrte ihn nur an. Da erst erinnerte Mal sich, dass er kein Hemd anhatte. Er schlang die Arme um seine Mitte und versuchte, seine abgemagerte Brust zu verstecken. Er wollte den Engel nicht beleidigen. Oder ihm seine dürren Rippen zeigen. 

Ein Mann hatte schließlich seinen Stolz. „Du musst schrecklich frieren“, sagte der kleine Engel endlich. Dann fing er an, seinen zugeknöpften Mantel zu öffnen, und bevor Mal verstand, was geschah, wurde ihm das schwere Ding um die Schultern gelegt. Die dicke Wolle fühlte sich himmlisch an und war immer noch angewärmt von der Körperwärme des Engels. Hitze stieg in seinem Körper auf, bis er sich wie eine Kerze fühlte, deren Wachs zerschmolz.
„Steh nicht einfach da herum und starr mich an, als hättest du noch nie ein Mädchen gesehen“, verlangte die Engelsgestalt. „Steck deine Arme in die Ärmel!“ Die Gestalt funkelte ihn an und schob die Unterlippe vor. Dann, weil Mal keine Anstalten machte, sich zu bewegen, stopfte der Engel Mals Hände in die viel zu kurzen Ärmel des Mantels. „Du bist ja halb erfroren“, beschwerte sich der Engel, nachdem er Mal wieder losgelassen hatte. Schnell fing er an, den Mantel zuzuknöpfen, dann rieb er Mals Arme. Durch die Reibung wurde Mal noch wärmer und seine Haut fing förmlich an zu brennen. 

Er starrte auf den Kopf des Engels hinunter. Er reichte ihm gerade bis zum Kinn. Ganz schön klein, dieser Engel. Und ziemlich rechthaberisch. Vielleicht war es doch nur ein Mädchen, wie die Gestalt eben selbst behauptet hatte. Die Kleine schien fertig zu sein und trat zurück. „Hm. Das reicht noch nicht.“ Sie stapfte zur Scheunenwand hinüber, schnappte sich eine Satteldecke und kam zurück. „Setz dich!“, befahl sie, ohne einen Widerspruch zu dulden und reichte ihm die Decke. Als er ihr gehorcht hatte, wickelte sie die Decke um ihn und betrachtete ihn kritisch. Ihr Blick kam auf seinen nackten Händen zum Ruhen. „Oh! Meine Handschuhe!“ Ein Grinsen trat auf ihr Gesicht und sie lief in die Box, aus der sie zuvor gekommen war. Eilig kam sie zurück und warf ihm ein Paar knallroter Handschuhe zu. „Hier. Zieh die an.“ Ihr Gesicht verdunkelte sich kurz. „Und mein Schal!“ Sie wickelte sich den langen, gestrickten Streifen vom Hals und band ihn ihm um Hals und Kopf. „Das ist schon besser.“ Der Triumph in ihrer Stimme ließ Mal lächeln.
Sie betrachtete ihn noch einmal, wobei sich erneut Sorgenfalten auf ihrer Stirn zeigten. Er fing an, sich wie einer dieser Schneemänner zu fühlen, die die Kinder in der Schulpause bauten. Er erwartete fast, dass sie ihm gleich noch eine Karotte ins Gesicht drücken würde. Das hätte ihm allerdings nichts ausgemacht. Eine Karotte schmeckte viel besser als Getreide. „Deine Füße“, sagte sie endlich. 

„Die Schnürsenkel sind immer noch ganz schneeverkrustet. Tante Henry macht immer einen Riesenwirbel darum, dass ich meine nassen Stiefel und Socken ausziehe, bevor meine Füße schrumpelig werden. Aber wenn du da draußen im Schnee herumgelaufen bist, gibt es viel mehr, um das wir uns Sorgen machen müssen, als schrumpelige Füße.“ Tante Henry? Wer war das denn? Das Mädchen blickte von seinen Füßen auf und richtete ernst ihren Blick auf Mal. „Der alte Tarleton ist vor ein paar Jahren in einen Eissturm geraten und seine Füße sind so kalt geworden, dass sie eingefroren waren. Drei seiner Zehen sind schwarz geworden und abgefallen.“ Sie berichtete diese schreckliche Geschichte mit einem großen Maß an ganz und gar nicht engelsgleichem Enthusiasmus. „Also ziehen wir die Schuhe lieber aus.“ Sie kniete sich vor ihn hin und begann, an den Schnürsenkeln herumzuzupfen.
Das war genug. Er konnte nicht erlauben, dass sein Engel seine stinkenden Füße berührte. Er wusste ja nicht, in welchen Mist er getreten war. „Das mache ich selbst“, knurrte er. Mal versuchte, das Engelsmädchen wegzuschieben und die flauschigen roten Handschuhe auszuziehen, doch sie ließ ihn nicht. „Lass die Handschuhe an!“ Sie funkelte ihn so böse an, dass er nicht zu widersprechen wagte. „Ich werde nicht zulassen, dass du dir unter meiner Aufsicht den Tod holst.“ Warum tat sie das? Warum half sie ihm, anstatt ihren Vater um Hilfe zu rufen, damit er ihn verjagte? Warum gab sie ihm ihre Kleidung? Sprach mit ihm, als wäre er jemand anderes? Als wäre er nicht der Abschaum, von dem er selber wusste, dass er es war? Endlich hatte sie die Schnürsenkel aufgebunden und zog ihm die Schuhe aus. Mal versuchte, seine Füße unter der Pferdedecke zu verstecken, bevor sie die erbärmlichen Socken sah, doch sie ließ es nicht zu. Langsam zog sie ihm die löchrigen Dinger aus und zischte immer wieder ungehalten wegen seiner eisigen Zehen. Mal war froh, dass sie noch nicht so schwarz waren wie die vom alten Tarleton.

Doch sie waren schmutzig. Hässlich. Er entzog sie ihren sauberen weißen Händen und versteckte sie so gut wie möglich unter der Satteldecke. Sie sagte nichts, sondern ließ sich einfach auf den schmutzigen Boden fallen und zog ihre Schuhe aus. Was wollte sie …? Dann zog sein Engel sich auch noch die dicken Wollsocken aus und suchte unter der Decke nach seinen Füßen. Bevor er reagieren und sich vor ihr zurückziehen konnte, hatte sie sich seinen rechten Fuß geschnappt, zog ihn hervor und stülpte einen Strumpf darüber. Dann suchte sie seinen linken Fuß und verfuhr damit ebenso. Bis dahin hatte er schon vollkommen aufgegeben, sich zu wehren. Selbst sein halb eingefrorenes Gehirn erkannte, wenn er einen Kampf verloren hatte.
Die Wärme der Strümpfe brachte das Gefühl zurück in seine Füße. Schon nach wenigen Augenblicken fingen sie an, heftig zu stechen und zu pochen. Der Schmerz war so schlimm, dass er das Mädchen am liebsten weggeschubst und ihm verboten hätte, ihn zu berühren. Doch das tat er nicht. Das würde er niemals tun. Niemals. Ihm wurde gerade der größte Segen zuteil, den sein jämmerliches Leben bisher erfahren hatte. Auf keinen Fall würde er etwas tun, das sie verletzte. Also biss er die Zähne zusammen und hielt still, während sie die Pferdedecke über seine Füße legte. „Und jetzt etwas Wärme für das Innere.“ Sie erhob sich und schob ihre nackten Füße zurück in ihre Stiefel. Dann verschwand sie erneut in der Box. Als sie wieder auftauchte, trug sie wankend einen vollen Eimer Milch vor sich her. 

Er sprang auf, um ihr zu helfen und nahm ihr den Eimer ab. „Sie ist noch warm“, sagte sie. „Aber ich habe keine Tasse.“ Malachi war bei dem Gedanken daran, frische Milch zu trinken, schon längst das Wasser im Mund zusammengelaufen. „Ich brauche keine Tasse.“ Er würde seinen Mund einfach direkt an den Eimerrand legen und ihn langsam kippen, bis die sahnige Flüssigkeit seinen ausgetrockneten Hals hinunterströmen würde. Doch nein! Das konnte er nicht tun. Er würde vor ihr nicht wie ein Tier trinken. Er würde die Milch nicht mit seinen schmutzigen Lippen verderben.
Er sah sich um. Dort. Auf der Werkbank. Da stand ein Glas voller Nägel, Reißzwecken und anderer Kleinteile. Malachi lief zu dem Tisch, drehte das Glas um und ließ den Inhalt vorsichtig auf die Tischplatte kullern, damit nichts auf den Boden fiel. Dann wischte er den Staub mit seiner immer noch feuchten Hose ab. „Das wird gehen.“ Sie zog die Nase kraus. „Aber das ist schmutzig.“ Er grinste. „Ein bisschen Schmutz hat mir noch nie geschadet.“ Sie lächelte ebenfalls, was Mal fast umgeworfen hätte. Noch nie hatte er so etwas Schönes, so etwas Gutes gesehen, das für ihn gedacht war. Ein Lächeln wie dieses war normalerweise anderen vorbehalten. Menschen, die es verdienten. Nicht ihm. Er räusperte sich und ging an ihr vorbei zurück zu dem Eimer. Mal wollte nicht den Rest der Milch verderben, indem er das Glas in den Eimer tunkte, deshalb stellte er es auf den Boden und hob den Eimer an. „Ich halte es“, zirpte das Mädchen und grinste immer noch, als erlebe sie gerade das beste Abenteuer ihres Lebens. Geschwächt durch sein Martyrium, zitterten Mals Arme, während er den Eimer hielt. 

Etwas von der Milch schwappte über den Rand des Glases. Mals Blick flog sofort zu dem Mädchen und seine Brust wurde eng. „Mach weiter“, sagte sie und schien überhaupt nicht erbost darüber zu sein, dass die Milch über ihre Finger gelaufen war. „Füll es bis zum Rand.“ Die Enge in seiner Brust ließ nach. Mal folgte ihrer Anweisung, dann stellte er den Eimer ab und nahm das Glas entgegen.
Er hob es an die Lippen und schloss die Augen, als die frische, sahnige Milch über seine Zunge strömte. Er genoss die Süße, trank langsam, gezügelt. Und als nur noch ein Drittel übrig war, hielt er inne und stellte das Glas beiseite. „Willst du nicht austrinken? Tante Bertie sagt immer, dass ich austrinken muss, bevor ich vom Tisch aufstehen darf.“ War es vorhin nicht noch Tante Henry gewesen? Malachi schüttelte den Gedanken ab. Der Name der Tante war vollkommen egal. „Ich hebe es für später auf.“ Er hatte gelernt, dass er niemals alles auf einmal essen durfte, wenn er etwas zu essen hatte, denn man konnte nie wissen, wann es das nächste Mal etwas geben würde. Es war besser, sich Vorräte anzulegen. „Aber wir haben doch noch viel mehr.“ Sie nickte in Richtung des Eimers.
„Das gehört dir. Deiner Familie.“
Das Mädchen sah ihn seltsam an, als verstehe es nicht, was er damit meinte. „Den Tanten wird es nichts ausmachen.“
Mal schüttelte den Kopf. „Wie du meinst.“ Sein kleiner Engel sah sich in der Scheune um und wirkte zum ersten Mal, seit Mal ihn getroffen hatte, nicht so, als hätte er alles im Griff. Das Mädchen schlang die Arme um sich und versuchte, ein Zittern zu unterdrücken. „Du frierst“, warf Mal ihr viel rauer vor, als er es hätte tun sollen, doch verflixt noch mal, das Mädchen hätte ihm sagen sollen, dass es fror! Sofort warf er ihr die Decke zu und zog den Mantel aus. „Du musst zurück ins Haus, Mädchen. Setz dich neben den Ofen oder so.“
„Ich bin kein Baby!“ Sie schob schmollend ihre Unterlippe vor, aber seine Entschlossenheit verstärkte sich noch. Sie war viel zu jung, um hier in der Kälte zu zittern, während es nebenan im Haus schön warm war.
„Hau ab, Mädchen. Mir geht es gut.“ Sie zog ihren Mantel an und schob ihre kleinen Hände in die Handschuhe. „Wie heißt du?“, wollte sie wissen.
Er starrte sie an, dann antwortete er zögerlich. „Malachi.“
Jetzt lächelte sie wieder. „Und ich bin Emma.“
„Schön für dich“, knurrte er und fühlte sich immer noch schlecht, weil sie seinetwegen hatte frieren müssen.
„Und jetzt verschwinde.“ Und genau das tat sie. Und alles Licht verschwand mit ihr. Jetzt war Mal wieder alleine. In der Dunkelheit. Wo er hingehörte. An diesen Umstand hatte er sich gewöhnt. Eigentlich dürfte ihm das nichts mehr ausmachen. Jahrelang hatte es ihm nichts ausgemacht. Doch jetzt war es plötzlich anders. Denn jetzt wusste er, was ihm entgangen war.
Mal nahm die Satteldecke und warf sie sich über die Schultern. Dann griff er nach dem Glas mit der Milch und wollte zurück zu seinem Heulager gehen, doch der Anblick des Milcheimers ließ ihn innehalten. Sie hatte ihn zurückgelassen. Sein Herz fing an zu klopfen. Bedeutete das etwa, dass sie zurückkommen würde? Oder hatte sie die Milch einfach vergessen? Wie ihn? Vielleicht sollte er sie zum Haus tragen. Um ihr für ihre Hilfe zu danken. Er bückte sich, um den Henkel zu nehmen.
Da flog die Scheunentür auf. „Gute Neuigkeiten, Malachi!“ Emma stand in der Tür und lachte so strahlend, dass er sich fast die Hand vor die Augen halten musste. „Die Tanten haben mir erlaubt, dich zu behalten!“

Kapitel 1
Sommer 1894
Harpers Station
Baylor County, Texas

Emma Chandler riss den Zettel mit der Schmähbotschaft von dem Nagel, der in der Kirchentür steckte. Sie zerknüllte das abscheuliche Ding in der Faust und stopfte es in die Rocktasche, obwohl sie es am liebsten mitten auf die Straße geschmissen, es mit fünfzig Pferden niedergetrampelt, daraufgespuckt und es anschließend in Brand gesteckt hätte, damit es als harmlose Asche vom Wind verweht würde. Wie konnte es jemand wagen, ihre Damen zu bedrohen? Dazu hatte dieser Unmensch kein Recht! „Er wird immer dreister.“ Die stoische Stimme ihrer Freundin durchbrach Emmas wütende Gedanken und erinnerte sie daran, dass es ihr nichts bringen würde, sich in ihre Wut hineinzusteigern. Sie musste mit kühlem Kopf agieren. Bedacht und besonnen.
„Ja, das stimmt.“ Emma sah sich nach dem Feigling um, obwohl sie wusste, dass sie niemanden entdecken würde. Das hatte sie noch nie. Und das war immerhin schon die dritte Botschaft innerhalb der letzten zwei Wochen. Und jedes Mal war der Ort für die Botschaft so gewählt, dass er die Gemeinschaft etwas mehr ins Herz traf. „Aber es sind nur Worte.“
„Wir haben keine Garantie dafür, dass es dabei bleiben wird.“ Victoria Adams fasste Emmas größte Angst in Worte. „Wenn ihn seine Worte nicht weiterbringen, wird er härtere Maßnahmen ergreifen.“ In Toris Stimme schwang eine Sicherheit mit, als hätte sie etwas Ähnliches schon selbst erlebt. „Lass mich den Zettel sehen, Emma.“ Sie streckte die Hand aus.
Emma seufzte und zog ihn aus der Tasche. Sie ließ ihn in die Hand ihrer Freundin fallen und wusste, dass Tori sofort erkennen würde, dass die „härteren Maßnahmen“ bereits ergriffen worden waren.
Victoria strich die Notiz glatt und überflog die knappen Zeilen. Leise flüsterte sie die Worte, die dort geschrieben standen.

„‚Frauen von Harpers Station,
verschwindet heute noch von hier oder ich werde euch verschwinden lassen. Das ist meine letzte Warnung!‘“

„Wir müssen ein Treffen einberufen.“ Emma stampfte die Kirchentreppe hinunter und marschierte über den Vorplatz.
Tori folgte ihr die Treppe hinunter, blieb dann jedoch stehen. Sie lehnte sich an das Geländer und wartete darauf, dass Emma zurückkam. „Was willst du ihnen sagen?“
Die leise Frage ließ Emma innehalten. Sie wirbelte zu ihrer Freundin herum. „Ich werde nicht aufgeben, Tori. Ich werde mich nicht von einem Rüpel einschüchtern lassen!“ Sie streckte die Arme in Richtung der kleinen Ansammlung von Gebäuden aus, die sich um die alte Postkutschenstation herum gruppierten, die schon vor zwanzig Jahren die ersten Siedler hierher gelockt hatte. „Harpers Station ist eine Zuflucht für Frauen, die genau dieser Art von Bedrohung entkommen wollen. Wir haben so hart dafür gearbeitet, hier alles aufzubauen, die Frauen herzubringen, ihnen ein neues Leben zu bieten. Ich werde mich nicht wie ein Mäuschen einschüchtern lassen, nur weil ein sturer, uneinsichtiger Mann seine Muskeln spielen lässt!“
Tori machte keine Anstalten, Emmas leidenschaftliche Rede zu unterbrechen. 

Sie sah ihre Freundin nur still an und wartete da-rauf, bis sie genug Dampf abgelassen hatte. Das war dann schließlich auch der Fall. Emma mochte sich zwar dagegen wehren, ihre Prinzipien über den Haufen zu werfen, doch sie würde niemals die Sicherheit ihrer Frauen aufs Spiel setzen. Niemals. Nicht einmal für das hehre Ideal, das sie hier alle zusammengeführt hatte.
Sie ging dorthin zurück, wo Tori noch immer auf sie wartete, und ließ ihre Verärgerung so weit verpuffen, dass ihre Gedanken wieder klar wurden. „Ich werde die Mütter mit Kindern ermutigen, dem Rat des Sheriffs zu folgen und – vorübergehend – in eine der Nachbarstädte zu ziehen.“ Emmas Schultern sanken etwas herab, als sie Tori in die Augen sah. „Das schließt auch dich mit ein.“ Wie sehr sie es hasste, ihre engste Freundin, die mit ihr diese Kolonie der Frauen aufgebaut hatte, wegzuschicken. Doch Tori hatte einen vierjährigen Sohn und wenn dem kleinen Lewis irgendetwas zustoßen würde … Nun, daran wollte sie nicht einmal denken.
Toris Augen verengten sich.

 „Ich werde nirgendwo hingehen.“ Die Härte in ihrer Stimme ließ keinen Raum für Widerspruch. „Ich werde dich in diesem Kampf nicht alleine lassen. Außerdem, wohin sollten wir gehen? All meine Ersparnisse stecken in meinem Laden. Ich kann wohl kaum das Geschäft mitnehmen. Und wenn ich das verliere, verliere ich alles.“
„Ich werde mich für dich um alles kümmern“, bot Emma an, doch ihre Freundin schnitt ihr das Wort mit einem knappen Kopfschütteln ab.
„Du musst die Bank leiten. Du brauchst nicht noch eine zusätzliche Belastung. Ich werde Lewis an der kurzen Leine halten. Uns wird schon nichts passieren.“ Toris Hände ballten sich zu Fäusten und Emma wusste, dass sie sich nicht mehr umstimmen lassen würde.
Victoria zeigte niemals Emotionen – außer freundschaftlicher Zuneigung und der Liebe zu ihrem Sohn. Sonst nichts. Keine Angst, keinen Zorn, keine Überraschung. Nichts, was jemandem ihr gegenüber einen Vorteil verschaffen könnte. Wenn sie also so erzürnt war, dass sie ihre Fäuste ballte, mussten ihre Gefühle am Brodeln sein.
„Ich will meinem Sohn zeigen, dass man für die Dinge kämpfen muss, an die man glaubt, auch wenn es einen in Gefahr bringt. Wir verstecken uns nicht.“
Eine Welt des Schmerzes steckte hinter dieser Aussage, eines Schmerzes, den Emma sich gar nicht vorstellen konnte. Tori kämpfte seit dem Tag, an dem sie entdeckt hatte, dass sie schwanger war. Ungewollt schwanger durch den Angriff eines Mannes, der überall in ihrer Heimatstadt beliebt war. Sie hatte um eine Heimat gekämpft, nachdem ihr Vater sie vor die Tür gesetzt hatte. Um den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn. Und gegen die Angst, wieder einmal den Charakter eines Mannes falsch einzuschätzen und den gleichen Albtraum noch einmal durchleben zu müssen.
Emma trat dicht an Victoria heran und berührte ihren Arm. Da erst entspannten sich Toris Hände wieder und sie legte eine Hand auf Emmas.
„Wir halten zusammen“, versprach Emma.
Tori nickte. „Ja, das tun wir.“

Zwei Stunden später, kurz nach Mittag, stand Emma vorn in der Kirche, hatte sich gegen die Wand gelehnt und beobachtete, wie die Frauen langsam hereinkamen. Ihr Herz wurde schwer, als sie in die vertrauten Gesichter blickte. Wer würde weggehen? Wer würde bleiben?
Betty Cooper stampfte den Mittelgang entlang, ihre stämmige Figur und der zügige Schritt bereiteten den Weg für die vier jüngeren Frauen, die ihr folgten. Die Matrone mittleren Alters überwachte die Legehennen, die den Frauen von Harpers Station einen Großteil ihres Einkommens brachten. Sie war seit den ersten Tagen hier in Harpers Station an Emmas Seite. Verwitwet, kinderlos, doch sie hatte eines der größten Herzen, denen Emma jemals begegnet war. Sie versteckte es gut hinter ihrer schroffen Art und ihrem Beharren auf harter Arbeit, doch sie gluckte über den Frauen, als wären es ihre eigenen Küken.
Die Damen des Nähkreises, von denen einige ihre Kinder dabeihatten, redeten miteinander, während sie ihre angestammten Plätze in den mittleren Reihen auf der rechten Seite einnahmen. Sie fertigten exquisite Quiltdecken, die in Fort Worth zu Höchstpreisen verkauft wurden. Wenn die Hälfte von ihnen die Gemeinschaft verließ, wie sollten die übrigen Frauen dann noch ihre Quote erfüllen? Der Händler verlangte fünfzehn Quilts im Monat, was leicht zu bewerkstelligen war, wenn alle zehn Frauen täglich zu Nadel und Faden griffen. Aber wenn ihre Zahl auf fünf fiel …?
Grace Mallory kam durch die Tür, wie immer mit gesenktem Kopf, den Blick auf die Füße gerichtet, als sie in die hinterste Bank schlüpfte. Die stille Frau war erst seit sechs Monaten in der Stadt und blieb am liebsten für sich, doch dank ihrer Fähigkeiten als Telegrafistin hatte Harpers Station endlich einen funktionierenden Draht zur Außenwelt. Das Land hatte ihnen noch kein Postamt zugesagt, also mussten Briefe immer noch aus Seymour versandt werden, was stets mit Reisekosten verbunden war. Doch nun konnte jede der Frauen hier für weniger als einen Nickel pro Wort ein Telegramm verschicken. Falls Grace sich entscheiden sollte zu gehen, wäre das ein schwerer Verlust.
Emmas Aufmerksamkeit wanderte zu den anderen, die sich schon versammelt hatten. Diejenigen, die sich um den Gemeindegarten kümmerten und Obst und Gemüse einmachten, das dann verkauft wurde. Die Damen, die das Café führten. Die Besitzerin der Pension. Die Geburtshelferin, die als Stadtärztin arbeitete.
Und natürlich die „Tanten“: Henrietta und Alberta Chandler saßen in der ersten Reihe, so entschlossen und eisern, wie sie es immer in ihrer Unterstützung gewesen waren. Tante Henrys Augen waren von einem klaren, fast kämpferischen Licht erleuchtet, als sie steif wie ein Brett in der Bank saß. Wie immer, wenn es um Frauenrechte ging, trug sie ihre Pluderhose. Tante Bertie wirkte dagegen viel weicher und weiblicher, als sie dort neben ihrer älteren Schwester saß. Sie lächelte Emma aufmunternd zu und winkte mit dem kleinen Finger.

Die Tanten hatten Emma großgezogen, seit sie acht Jahre alt gewesen war. Tante Henry hatte in ihr den Wunsch geweckt, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen, und Tante Bertie ihr beigebracht, wie man sich von seinem Herzen leiten ließ. Sie waren diejenigen gewesen, die Emma geholfen hatten, ihren Traum von einer Stadt für Frauen wahrzumachen. Einem Ort, der von Frauen geführt und an dem Frauen beigestanden wurde. Eine Zuflucht für diejenigen, die Hilfe brauchten, und ein Ort der Unterstützung für jene, die niemanden hatten, an den sie sich wenden konnten – oder wollten.
Vor zwei Jahren, als Emma an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag in den Besitz ihres Erbes gelangt war, hatte sie von einer alten, verlassenen Stadt gehört, die für einen lächerlich niedrigen Preis verkauft werden sollte. Die Siedler hatten die alte Postkutschenstadt verlassen und waren in das nahe Seymor gezogen, das an die Eisenbahnlinie angeschlossen worden war. Die Tanten und Emma hatten ihre Ersparnisse zusammengelegt und gemeinsam das Land und die Stadt gekauft. Dank einiger wohlplatzierter Anzeigen in lokalen Zeitungen im ersten Jahr und ihrer wachsenden Bekanntheit als Gemeinschaft von Frauen – im positiven wie im negativen Sinne – zählte die Stadt mittlerweile schon fünfzig Bewohner. 

Frauen und Kinder, die erfolgreich auf sich selbst gestellt lebten, indem sie sich gegenseitig unterstützten.
Und jetzt drohte ein uneinsichtiger, hasserfüllter Mann damit, alles zu zerstören, was sie hier aufgebaut hatten. Emma biss die Zähne zusammen. Nicht unter meiner Obhut.
Als alle Frauen sich gesetzt hatten, suchte Emma noch einmal nach himmlischem Beistand. Du siehst, was mir verborgen bleibt, Herr. Du weißt, was für uns alle am besten ist. Bitte lass mich diesen Frauen keinen schlechten Rat geben. Leite uns, damit wir uns von unseren Feinden nicht unterkriegen lassen.
„Emma?“ Victoria berührte ihren Arm. Das sanfte Einvernehmen, das sich in dieser Berührung ausdrückte, beruhigte und tröstete sie. „Wir sind so weit.“
Emma nickte und lächelte ihre Freundin an. Dann stieß sie sich von der Wand ab und zog ihr blaues Jackett glatt, das sie immer trug, wenn sie eine gewisse Autorität ausstrahlen wollte. Sie trat an das kleine Pult, das der reisende Prediger nutzte, wenn er sonntags die Predigt hielt. Wenn es doch am kommenden Sonntag diese Stadt noch geben würde!
Alle im Raum wurden still.
Emma räusperte sich. „Danke, Frauen von Harpers Station, dass ihr so kurzfristig zusammenkommen konntet. Wir haben etwas sehr Wichtiges zu besprechen.“
Sie sah in die vertrauten Gesichter, manche nervös, andere neugierig, einige vorwurfsvoll, als wäre diese dringende Angelegenheit Emmas Schuld. Schnell blickte Emma wieder zurück zu ihren Tanten. Henry nickte ihr zu und ihre Augen funkelten vor Vertrauen. Bertie lächelte nur, doch diese Regung kam sichtlich aus tiefstem Herzen, sodass Emma sich sofort gestärkt fühlte.
„Ich gehe davon aus, dass ihr alle schon wisst, dass heute Morgen ein dritter Zettel gefunden wurde. Der Schreiber der Nachricht hat seine Drohungen konkretisiert und uns ein Ultimatum gesetzt. Wir sollen noch heute von hier verschwinden.“
Lautes Gemurmel erhob sich, als die Frauen sich zueinander umwandten und ihre Fragen austauschten.
„Ladys, bitte.“ Emma hob ihre Stimme, um gehört zu werden. „Ich werde gleich alle eure Fragen beantworten. Aber zuerst will ich euch sagen, dass ihr nicht dazu gezwungen seid, hierzubleiben. Jede von euch muss für sich entscheiden, was am besten für sie ist. Und ihr sollt wissen, dass ich eure Entscheidungen annehmen werde, egal wie sie ausfallen.“ Sie blickte sich wieder um. „Jetzt, wo das geklärt ist, will ich euch sagen, dass wir immer noch keine Ahnung haben, wer der Mann ist, der hinter diesen Drohungen steckt. Miss Adams und ich haben uns mit dem Sheriff getroffen, als wir die erste Botschaft erhalten hatten.

 Er hat sich damals in der direkten Umgebung umgeschaut, konnte aber keine verdächtigen Hinweise finden. Heute haben wir ihm wieder telegrafiert, genau wie vor einigen Tagen, als wir den zweiten Zettel gefunden hatten. Aufgrund der gehäuften Viehdiebstähle im südlichen Teil des Baylor Countys kann er uns keinen Schutz schicken. Er hat aber noch einmal darauf hingewiesen, dass es sicherer für uns wäre, unsere Sachen zu packen und von hier wegzugehen. Dass wir uns vor der Gefahr in Sicherheit bringen und nach Seymour oder Wichita Falls ziehen sollen oder zurück nach Hause zu unseren Familien gehen müssen.“
„Aber ich habe keine Familie“, rief eine der Frauen von hinten. „Deshalb bin ich ja hierhergekommen.“
„Für mich gibt es nichts in Seymour“, rief eine andere. „Ich war schon dort. Ohne das Geld von Bettys Eierfarm könnte ich meine Kleinen nicht ernähren.“
Andere panische Stimme kamen hinzu und erfüllten den Raum mit Verzweiflung.
Eine Frau in braunem Kleid erhob sich. Flora Johnson, eines der neueren Mitglieder der Stadt, die sich mit anderen um den Garten kümmerte. Sie war vor etwa zwei Wochen mit blauem Auge und anderen körperlichen Verletzungen hier aufgetaucht. „Sie haben uns gesagt, dass wir hier sicher sind.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und jetzt sagen Sie uns, dass wir auf uns alleine gestellt sind? Dass der Sheriff keinen Finger rührt, um uns zu schützen?“ Sie sah sich im Raum um, der mittlerweile wieder still geworden war. „Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber ich habe erfahren, was einer Frau passiert, wenn sie einen Mann davon abzuhalten versucht, sich einfach zu nehmen, was er will. Es ist alles andere als angenehm. Wenn ich einen Ort hätte, an den ich gehen könnte, wäre ich schon am Packen.“ Sie wandte sich wieder nach vorn und zeigte anklagend auf Emma. „Sie können uns nicht beschützen, Miss Chandler. Das kann niemand.“
Mit pochendem Herzen, aber erhobenem Kinn sah Emma ihre Frauen an. „Sie haben recht, Flora. Ich kann Ihnen … keiner von Ihnen … versprechen, dass Sie hier sicher sind. Ich weiß nicht einmal, ob wir einen oder mehrere Widersacher haben. Es wird gefährlich werden hierzubleiben und es kann sein, dass jemand verletzt wird. Ich kann Ihnen aber versprechen, dass ich hierbleiben und kämpfen werde.“ Sie ließ den Blick schweifen. „Harpers Station ist mein Traum und meine Verantwortung. Meine Tanten und ich lieben dieses Stück Land und ich werde mich nicht von meinem Grund und Boden vertreiben lassen. Wir haben mit Widerständen zu kämpfen, ganz ähnlich wie die mutigen Familien, die vor uns dieses Land besiedelt hatten. Sie mussten damals Überfälle und Angriffe der Comanchen abwehren. Einige starben. Einige gingen weg. Doch die meisten sind hiergeblieben und haben ihr Land verteidigt. 

Und genau das werde auch ich tun.“ Sie nickte fest. „Ich werde standhalten und beschützen, was wir aufgebaut haben. Doch ich werde von keiner von euch verlangen, diesen Kampf mitzukämpfen. Jede von euch muss ganz allein für sich entscheiden … doch ich empfehle dringend, dass diejenigen von euch, die Kinder haben, anderswo Schutz suchen, wenn es möglich ist. Die Kleinen müssen beschützt werden. Und auch, wenn ihr vorübergehend weggeht, verspreche ich euch, dass ihr jederzeit zurückkehren könnt, wenn die Gefahr gebannt ist. Ihr werdet immer einen Platz hier in Harpers Station haben.“
„Es sei denn, Harpers Station existiert dann nicht mehr“, donnerte eine laute Männerstimme von draußen.
Emmas Blick fuhr zum Fenster zu ihrer Linken, wo ein Mann mit schwerem Ledermantel stand, ein dunkles Tuch verbarg sein Gesicht. Dann sah sie ein metallenes Blitzen.
„Alle auf den Boden!“, schrie Emma und sprang von der Stufe hinüber zu ihren Tanten. Sie riss die beiden mit sich zu Boden, als auch schon ein Schuss die Luft zerriss.

Übersetzt von Rebekka Jilg
Originaltitel: No other will do
326 Seiten, Buch, Paperback
Format: 13,5 x 20,5 cm
Bestellnummer: 331662
ISBN: 978-3-86827-662-6

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