W. Lee Warren Entscheidungen an der Schwelle des Todes

11/04/2024
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Prolog Wenn das Leben chaotisch wird

Die schwierigste und gefährlichste Operation, die ich je durchgeführt habe, hatte ich vorher nicht ein einziges Mal geübt. Ich musste etwas tun, was ein Chirurg im OP niemals tun würde: etwas Neues dazulernen, während er operiert.
In diesem Buch beschäftige ich mich mit einer besonderen Art von Hirntumor – dem sogenannten »Glioblastoma multiforme« –, der fast hundertprozentig zum Tod führt. Aufgrund meiner Erfahrungen mit diesem Tumor habe ich mich gefragt, welche Aussicht auf Erfolg meine Gebete für diese Patienten überhaupt hatten oder wie es um meine Glaubwürdigkeit und Seriosität stand, wenn ich ihnen auch gute Nachrichten gab, obwohl ich doch wusste, dass sie sterben würden. Dieses moralische Dilemma führte dazu, dass ich zu meinem geistlichen Mentor Philip Yancey Kontakt aufnahm, der mich dazu ermutigte, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben.
Das habe ich getan, doch herausgekommen ist ein anderes Buch als ursprünglich geplant.
Ich dachte, mein Leben als Militärchirurg, der auf der Balad Air Base im Irak Soldaten, Zivilisten und Terroristen gleichermaßen operierte und gleichzeitig damit fertig werden musste, dass sein bisheriges Leben gerade zu Ende gegangen war und ein neues begann –, wäre die packende Story für ein Buch. Doch oft ist das, was ich so sicher weiß, nur vermeintlich so sicher.
Mein ganzes Leben lang bin ich ein gläubiger Mensch gewesen.

Allerdings musste ich in den Schützengräben einer zerbrechenden Ehe und den Bunkern des Irakkrieges relativ früh lernen, dass ein von Dogmen geprägter Glaube dem Leben wenig geben kann. Nur an die Gnade zu glauben, hielt ich für wirklich wertvoll. Irgendwann aber war der Ansturm der brutalen Realität so groß, dass der Glaube an einen gnädigen Gott im Hinblick auf meine Patienten und meine eigene Geschichte unter die Räder kam.
Wenn ich mir das MRT meiner Patienten ansah und ich ein Glioblastom diagnostizierte, wusste ich, dass es innerhalb weniger Monate ihren Geist verwüsten und ihr Leben zerstören würde. Und ich dachte so bei mir: Ich kann schon jetzt dein Ende vo-raussehen. Dann aber bekam ich die Nachwirkungen des Krieges, meiner Scheidung und eines unvorstellbar schweren Verlustes zu spüren, der mein Privatleben erschütterte. Da merkte ich, dass ich am Sterbebett meines zerbrochenen Glaubens stand.
Und ich sah auch mein Ende voraus.
So war ich mit der größten chirurgischen Herausforderung meines Lebens konfrontiert: Ich versuchte, die fatalen Fälle von Krebs, all die Kinder, die im Sterben lagen, und die christlichen Klischees in meinem Kopf auf einen Nenner zu bringen, um den Glauben wiederzufinden, den ich verloren hatte. Ich hoffte da-rauf, dass er auf eine mir noch unbekannte Art und Weise wiederauferstehen würde.
Aber was passiert, wenn unser chaotisches Leben mit dem, was wir für unseren Glauben halten, einfach nicht klarkommt?


Teil 1
Zuvor
Die Hoffnung ist ein viel größeres Stimulans im Leben als irgendein Glück.

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist


Kapitel 1

Reißende Flut
Wenn du Fragen hast, stell sie einfach. Sei aber darauf gefasst, dass Gott antwortet.

Craig Groeschel, Hope in the Dark

Rosemary Beach, Florida
Sommer 2017

»Nicht so weit raus!« Ich musste brüllen, um den Wind und das Krachen der Brandung zu übertönen. Die Kinder spielten in den Wellen, lachten, machten Faxen und tauchten sich gegenseitig unter. Ich sah ihre Köpfe, die wie der Schwimmer an einer Angel aus dem Wasser hochkamen und immer wieder untertauchten.
Der Tag war märchenhaft verlaufen. Die Mitglieder unserer Familie lebten übers ganze Land verstreut und es glich einem Wunder, dass sie alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren. Meine Frau Lisa und ich saßen am Strand und genossen die Sonne, die Liebe, die uns verband, und die Gemeinschaft, nach der wir uns so sehr sehnten.
Josh, unser Ältester, war zweiundzwanzig und gerade dabei, von Alabama zurück nach San Antonio zu ziehen, um bei seinem leiblichen Vater zu arbeiten. Caity war achtzehn und hatte sich Hals über Kopf in Nate verliebt, der mit mir im Irak gedient hatte und nun mein chirurgisch-technischer Assistent war. Er war nach dem Krieg zu uns gekommen, um für uns zu arbeiten, und hatte sich jahrelang bemüht, keine Gefühle für die Tochter seines Chefs zu entwickeln, war damit aber kläglich gescheitert.
Kimber war fünfzehn und lebte bei ihrer Mutter in der Nähe von uns, genauso wie ihr Bruder Mitch, dreizehn Jahre alt, und unsere jüngste Tochter Kalyn, die gerade zehn geworden war. Unsere Familie war ein einziges Durcheinander, aber es war unsere Familie und es bedeutete uns so viel, diesen Tag am Strand gemeinsam zu verbringen.
Nachdem Gott Lisa in mein Leben gebracht hatte, wurden ihre Kinder (Josh und Caity) und meine Kinder (Kimber, Mitch und Kalyn) sofort zu unseren Kindern, und als wir heirateten, gelobten sie sich sogar geschwisterliche Treue. Doch während die Jahre vergingen und wir älter wurden, merkten wir immer deutlicher, dass ein Tag wie dieser aufgrund unserer vollen Terminkalender immer seltener wurde und damit auch wertvoller.
Eine Stunde zuvor hatte Dennis – Lisas Vater – Nate im Meer getauft. Wir hatten alle hüfttief im Wasser gestanden und uns an den Händen gehalten, während Dennis betete und Gott für diesen Tag und die Sonne und die Liebe dankte, die uns wie die rauschenden Wellen umgaben. Nate war als Säugling nicht getauft worden. Er hatte Dennis angesprochen und ihn gefragt, ob er das übernehmen würde. Dennis wurde von allen unseren Kindern seit der Zeit, als der Dreikäsehoch Josh vergeblich versucht hatte, »Opa« zu ihm zu sagen, nur »Tata« genannt.
Nate bekannte seinen Glauben an Jesus, Tata tauchte ihn unter und wir sangen dort am Golf von Mexiko Glaubenslieder.
Ein Sturm, der ein paar Meilen vor der Küste tobte, trieb immer höhere Wellen ans Ufer. Für die Surfer bedeutete das eine Menge Spaß, doch gleichzeitig spülte die aufgewühlte See auch massenweise Seetang und Quallen an Land. Josh und Mitch waren die Ersten, die das zu spüren bekamen und kreischend aus dem Wasser liefen, während glibberige Meerestiere aus ihren Bermudashorts plumpsten. Wir lachten darüber und gleichzeitig schüttelten wir uns vor Ekel.
Während die Sonne in einem wundervollen Farbenspiel immer weiter gen Westen wanderte und der Tag, der uns in so schöner Erinnerung bleiben würde, langsam zu Ende ging, fiel mir auf, dass Mitch sich immer weiter von der Stelle entfernte, an der die anderen Kinder herumplanschten.
»Komm jetzt zurück!«, rief ich, so laut ich konnte. Doch Mitch schien mich gar nicht zu hören. Er winkte kurz und tauchte kopfüber in die Brandung.
Ich machte ein paar Schritte hinaus ins Wasser und merkte, wie der Sog hinaus aufs Meer mit jeder Welle, die zurückströmte, stärker wurde.
Mitch war kein besonders guter Schwimmer und ich wusste, dass er gefährlich weit draußen war. Also watete ich in die Brandung, doch als Josh hörte, dass ich nach seinem kleinen Bruder rief, schwamm er hinaus, um ihn zu holen.
Schließlich stapften sie grinsend und lachend Arm in Arm an Land. Lisa machte ein paar Schnappschüsse, die bis heute gerahmt auf Joshs Schreibtisch stehen.
Bis heute, zehn Jahre später, sehe ich diese Szene noch vor mir. So macht man das bei uns, man schwimmt einfach raus und hilft sich gegenseitig. Seit dem Augenblick, an dem Lisa und ich beschlossen, unsere beiden Familien zusammenzuführen, haben alle, die das betraf, an einem Strang gezogen. Die Kinder haben sich nie als Stiefgeschwister bezeichnet. Es war eine wunderbare und heilsame Erfahrung zu sehen, wie Gott aus zwei seelisch verwundeten Familienteilen eine neue Einheit formte.
Während die anderen über den Hügel zu dem Haus zurückkehrten, das wir gemietet hatten, blieben Lisa und ich noch eine Weile am Strand, um den Sonnenuntergang zu genießen. Händchenhaltend saßen wir da und sprachen darüber, wie wichtig in unseren Augen der Glaube, die Familie und Zeiten wie die waren, die wir gerade erlebten.
Als es allmählich dunkel wurde und sich ein Tag, der mich ungeheuer dankbar machte, dem Ende neigte, machten auch wir uns auf den Rückweg.
An diesem Abend vereinte ich vor meinem inneren Auge alle meine fünf Kinder wie in einem Bilderrahmen. Ich sah ihr Lächeln, hörte ihre Stimmen und spürte die Liebe, die Nates Taufe und diese ganz besondere gemeinsame Zeit geprägt hatten. Am nächsten Morgen würden wir heimfahren nach Auburn, Alabama, und ich wusste, dass unser Urlaub schon nach wenigen Tagen intensiver Arbeit nur noch eine Erinnerung sein würde. Lisa leitete unsere neurologische Privatpaxis, die uns mehr abverlangte, als wir uns jemals vorgestellt hatten.
Bevor ich einschlief, ging mir wieder das Bild meiner Kinder in der Brandung durch den Kopf. Ich sah sie spielen, bemerkte, wie die Wellen immer höherschlugen, erkannte all die Gefahren, die dort lauerten – giftige Quallen oder Meeresströmungen –, und erlebte noch einmal, wie Mitch hinausgezogen und von Josh gerettet wurde. Ich unterhielt mich mit Lisa darüber, wie schade es war, dass wir sie nicht jeden Tag um uns haben konnten, und wie sehr wir uns wünschten, es wäre anders.
Als wir jünger waren, konnte ich sie noch alle fünf zusammen in meine Arme schließen, konnte sie retten, wenn sie in Schwierigkeiten steckten, und ihnen Geborgenheit schenken. Nun waren sie flügge geworden, sie waren groß und lebten über das ganze Land verstreut. Josh zog es nach San Antonio, Caity kam mit zu uns nach Hause und Kimber, Mitch und Kalyn fuhren wieder zu ihrer Mutter, die etwa eine Stunde von Auburn entfernt lebte. Bis zu einem Wiedersehen würde es wohl eine ganze Weile dauern.
Wie sollte ich sie unter diesen Umständen vor all den Gefahren und den Unterströmungen der Zeit, des Wachsens und des Wandels behüten?
In meiner eigenen Kindheit und Jugendzeit lebten mir meine Eltern einen einfachen Glauben vor. Sie lehrten mich, darauf zu vertrauen, dass Gott auf uns aufpassen und alles gut machen würde. Man kann nicht sagen, dass meine Eltern den Problemen dieser Welt gegenüber naiv gewesen wären, aber wir glaubten, dass wir alle Teil eines Plans waren und dass Gott uns stets versorgen würde, so wie er es schon immer getan hatte. In der gleichen Haltung ging ich auch die Erziehung meiner Kinder an und bemühte mich, ihnen den Frieden zu vermitteln, den nur der Glaube schenken kann.
Doch es ist eine Sache, den Kindern dieses Grundvertrauen zu vermitteln. Eine ganz andere Sache ist die Frage, wie real das Ganze für einen selbst aussieht, wenn man abends das Licht löscht und mit sich und seinen Gedanken allein ist.
Wir machten uns also daran, in alle Himmelsrichtungen auszuschwärmen, an unsere Arbeit zu gehen und ein Leben auf Distanz zu führen. Josh würde nicht mehr zur Stelle sein, um Mitch aus dem Meer zu retten, Caity und Kimber konnten sich nicht mehr ein Zimmer teilen und Kaley würde nicht mehr in unserer Nähe wohnen, wie sie es in unserem Ferienhaus getan hatte.
Doch Gott blieb bei uns, er war immer da gewesen, egal wie stürmisch die Zeiten waren – ob im Irakkrieg, während meiner Scheidung oder im Alltagsstress.
Im Dunkeln tastete ich nach Lisas Hand und drückte sie ganz fest.
»Es wird alles gut!«
»Ja, das wird es.«
Ich glaubte fest daran – damals.

ISBN: 9783963623554
Verlag: Francke
Erschienen: 2024
Einband: Paperback
Format: 20,5 x 13,5 cm
Seiten: 378

Autor/in
W. Lee WarrenW. Lee Warren
Dr. W. Lee Warren ist Gehirnchirurg und Autor. Er spielt Gitarre und liebt es, Verbindungen zwischen dem christlichen Glauben, der Wissenschaft und der Realität des Lebens herzustellen. Er lebt mit seiner Frau Lisa in Wyoming.