Wilson Dorothy C. Mutter Brand - Er brachte ihnen das Licht

05/27/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Erster Teil

Wie lieblid, sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen. .
Jes. 52,7

Obwohl sie das neunte von elf Kindern war - neun davon waren Mädchen -‚ war sie niemals nur »eine der Harristöditer«, sondern immer und völlig sie selbst, Evelyn Constance Harns, von ihrem älteren Bruder Charlie »Babs« und »Baby« und von der übrigen Familie gewöhnlich »Erle« genannt.
Evies Welt war klein, aber schön, und stillte alle Bedürfnisse. Sie bestand aus einem Haus und einem Garten, einer frommen Mutter, einem zärtlichen Vater, acht innig geliebten Schwestern und zwei lustigen Brüdern. Ihre Welt war voller Güte und Behagen, sie schenkte Frieden und Geborgenheit. Sie war reich an Duft und Farben; an süßen, saftigen Trauben, die in dem großen Treibhaus wuchsen; an dicken, goldenen Kürbissen in dem andern Gewächshaus, das sie »die Hölle« nannten; an Stachelbeeren und Johannisbeeren im Küchengarten; an grünen Farnen und Kletterpflanzen; an rosafarbenen, karmin- und korallenroten Begonien und Geranien. Selbst der schwarze Eisenzaun um den Garten war oft unter einer Fülle großer lilaer Fliederblüten begraben. Und da Evie mit den Augen und der Seele einer Künstlerin geboren war, stachen die Farben alle Süßigkeiten und Wohlgerüche aus.


Es war eine Welt von bunten Farben, ja, aber auch von Schwarz und Weiß. In den moralischen Anschauungen der Familie Harns gab es keine Grautöne. Sünde war schwarz, Tugend weiß, und die Trennlinie war klar gezogen. Zwischen den Kardinalsünden wie Diebstahl, Vergewaltigung, Mord und Gotteslästerung und den in den Augen strenger Baptisten nicht so schweren Vergehen wie Tanzen, Kartenspielen, Theaterbesuch, Sonntagsentheiligung gab es nur einen Unterschied im Grad, nicht in der Art. Das Rauchen war verboten. Aus Höflichkeit fühlte sich Vater Harns zwar verpflichtet, auf einem Aschenbecher

zwei Zigarren für Gäste vorrätig zu haben, stürzte aber, sobald der tibeltäterdas Haus verlassen hatte in sein Arbeitszimmer, um sämtliche Fenster aufzureißen. Alle Arbeit, sogar das Kochen war am Snn-tag verboten.
»Die Dienstboten müssen ebensoviel Gelegenheit haben, zum Gottesdienst zu gehen, wie wir«, sagte Vater Harns bestimmt Aber kaltes Fleisch und kalte Kitsch- oder Stachelbeertorten schmeckten ja auch' Und da immer ein paar Lehrer seiner geliebten Sonntagssdiule sowie zu Besuch weilende Missionare zum Tee eingeladen wurden, brachte der Tag mehr spannende Erlebnisse als Verzicht mit sich. Und weil Liebe und nicht Furcht die treibende Kraft des religiösen wie auch des häuslichen Lebens der Harns war, weitete sich Evies Welt von Jahr zu Jahr.
Selbstverständlich gab es außerhalb der Mauern noch mehr Welt! Zunächst einmal den St. Johns-Wald, an den dann eine unbestimmte Gegend, Londongenannt, angrenzte; und dahinter etwas noch Vageres, »die Welt«, die fast ganz in heidnische Dunkelheit getaucht war. Dank 1 der Missionare, die oft in der »Kapelle« sprachen, konnte sie sich unter Indien und Afrika mehr vorstellen als unter England, und die »Armen und Verlorenen« hatten mehr menschliche Wirklichkeit für sie als die
Queen. -
Evie konnte wenig für die »Verlorenen« tun, außer daß sie Pfennige in die Missionssammelbüchse warf. Aber für die Armen gab es eine• Geschenkkiste,in die zerbrochenes Spielzeug, abgelegte Kleider und was die Kinder sonst sucht mehr brauchten, wanderten Aber schon als Evie noch ganz klein war, kamen ihr Zweifel über diese Art von Wohltätigkeit. Dazu kam, daß Mutter oft Sachen weggab, die sie wirklich noch brauchte, und sie schien große Freude daran zu haben.
»Meine Liebe, ich kann meine Stiefel nicht finden«, sagte Vater einmal ratlos.
Mutter sah ihn mit strahlendem Lächeln an.
»0, das tut mir sehr leid. Ein armer Mann war an der Tür. Seine
Schuhe waren voller Löcher. Ich hoffe, daß du das verstehst.«.
Vater verstand es. Hatte sie nicht einmal ihr eigenes Kleid ausge-
zogen, um es einer armen Kusine zu schenken?
Als Evie noch ein kleines Kind war, wurde ihre Welt durch eins Veränderung erschüttert. Die »Great Central Railway« beschlag-
nahmte ihr elterliches Haus und Grundstuck, um Versdnebebahnhofe zu bauen Die Familie zog in ein neues Heim in der Cavendish Road Nr. 3 Dieses Haus hieß genau wie das alte »Nethansa«, das heißt »Gabe Gottes«, und mit seinen hohen, grauen Ziegelwänden war
ein ebenso sicherer Zufluchtsort. Man lief über die alten bekannten Teppiche Der riesige Nußbnumschrank im Wohnzimmer enthielt die-
selben Schätze: die Nautilusmusdiel, die Krabbe aus Elfenbein, die grüne Wedgwood-Gruppe »Tanzende Mädchen«. An der Wand hing dieselbe Uhr mit dem Trompete blasenden Engel, und selbstverstand hei standen überall im Haus Einzelstucke von Vaters geliebter Martin-Keramik, die die drei Bruder Martin in einem kleinen Schuppen im selbstgebauten Brennofen herstellten
Seine Freude, wenn er eine gelungene Schöpfung der Bruder aus dem weißgluhenden Ofen herauskommen sah, war überschwenglich; und er empfand wirklich Schmerz über einen Riß oder wenn die sorgfältig aufgestapelten Werkstücke unter der starken Hitze zusammenfielen. Die Bruder waren Kunsthandwerker und nicht bereit, ihre sdiopferischeBegabung furMassenproduktionen zu opfern »Sie sollten
dieses Stuck nicht pflegte einer von ihnen listig zu Vater zu
sagen Und da dieser wußte, daß es so ausgezeichnet war, daß sie sich nicht davon trennen wollten, nahm er es prompt in seine fl Sammlung
auf.- . -. .
Evie teilte Vaters Freude am Schönen; sie folgte mit dem Finger den feinen Linien an Krügen und Figürchen und brach in Ausrufe des Entzückens über die leuchtenden Blautone aus Ebenso begeistert war sie von Vaters anderem Hobby, seinem wertvollen Mikroskop, das die Wunder der Natur, wie zum Beispiel die unzähligen Facetten eines Insektenauges, enthüllte. Vater und Tochter malten auch leidenschaftlich gern, und Evie war außer sich vor Stolz, als eins von ihres Vaters Bildern in die »National Gallery« aufgenommen wurde
Wenn es Mangel in ihrer beinahe vollkommen schonen Kindheit gab, dann war ihr eigenes, selbstbewußtes kleines Ich daran schuld Sie hatte eineii ganz großen Kummer: Sie war eine der »Kleinen«. Nach ihren sieben älteren Schwestern -- Grace, Minnie,, Lily, Ross, -Eunice, Florence und Hope - war Chanhie gekommen, der erste Junge. Dann, nach einer kurzen Pause, waren sie, Stella und Bruder Bertie gefolgt Obwohl sie die älteste dieses Trios war und wie sie wußte, die klügste und reifste, wurde sie mit ihnen auf den gleichen Platz verwiesen Vielleicht übte sie sich deshalb so verbissen im Stelzenlaufen - sie konnte sogar Treppen mit Leichtigkeit hinauf- und hinuntersteigen -‚ weil sie zeigen wollte, wie erwachsen sie schon war.
»Schick die drei Kleinen ins Kinderzimmer'« hieß es oft nach dem Essen, wenn ernstere Dinge besprochen werden sollten, und dann wurde sie mit den beiden »Babys« ins Kinderzimmer abgeschoben. 

Das war mehr als Demütigung. Das war Ablehnung. Aber sonntagsaben& gab es einen Ausgleich. Da versammelte Mutter die »drei Kleinen« um sich und erzählte ihnen Geschichten von Jesus. Zu den vielen Bibelsprüchen, die sie lernten, gehörten auch die Seligpreisungen.
»Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.«
Evie wiederholte diese Worte mit einem Gefühl plötzlicherBefreiung. Sie beschrieben ihren Zustand ganz genau. Wie Christ, der Pilger in den aufregenden Abenteuern der »Pilgerreise«, fühlte sie, wie eine Last von ihr abfiel. Von diesem Tag an dachte sie nicht mehr soviel über ihre eigenen Schmerzen und Enttäuschungen nach, sondern mehr darüber, wie sie andern helfen konnte.
»Zu jung!« meinten einige ihrer Schwestern, als sie darum bat, getauft zu werden.
Mutter dachte nicht so. Und als Evelyn Constance Harns im Alter von elf Jahren nach Art der Baptisten durch Untertauchen getauft wurde, war sie mit einer Leidenschaft und Hingabe dabei, die ihr ganzes Leben prägen sollte..
Vater Harns hatte sich zum Ziel gesetzt, seine Kinder für ihr ganzes Leben reichlich zu versorgen. Keins von ihnen sollte jemals gezwungen sein, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und nichts wäre ihm lieber gewesen, als sie alle, besonders seine neun Töchter, zu seinen Lebzeiten und darüber hinaus zu Hause zu behalten.
»Wenn ich nicht vermittelt hätte«, pflegte Mutter Harns lachend zu sagen, »wären heiratsfähige junge Männer niemals bei uns willkommen gewesen.«
Als wohlhabender Kaufmann war Vater Harns durchaus in der Lage, sein ehrgeiziges Ziel finanziell zu verwirklichen. Ein Leben im Wohlstand, ja Reichtum war das Erbe seiner Kinder von beiden Seiten der Familie. Großvater Wilson, Mutters Vater, war Importkaufm941 für Eier und andere Waren aus Dänemark. Er und Vater Hirns blieben auch als Geschäftsleute ihrer religiösen tYberzeugung treu, und beide verbanden Sparsamkeit mit unerschütterlicher Ehrlichkeit. »Lieber hungern als borgen«, sagte Großvater mahnend. »Ich hätte lieber meine Uhr ins Leihhaus gebracht, um meine Rechnungen zu bezahlen, als Schulden zu machen.«

Es war das Viktorianische Zeitalter, wo junge Frauen aus wohlhabenden Familien in häuslicher Geborgenheit lebten. Dienstboten reinigten das Haus und kochten, Hausmädchen kümmerten sich um ihre persönlichen Bedürfnisse. Rechtlich hatte die Frau wenig zu sagen. Wirtschaftlich war sie völlig vom Ehemann, Vater oder Bruder abhängig. Nur wenige Berufe standen ihr offen: Erzieherin, Schneiderin, in seltenen Fällen Schriftstellerin - und die beiden ersten wurden stillschweigend für arme Adlige reserviert. Vater Harns' Wunsch, seinen Töchtern ein sorgenfreies Leben zu sichern, war also nichts Besonderes. Ungewöhnlich war nur, daß er sie nicht heiraten lassen mochte.
Ihre Erziehung entsprach den Gepflogenheiten jener Zeit und schloß außer Lesen, Schreiben und Rechnen wenig praktische Fächer ein.

Ein wenig Stichen, Malen, Musik und vielleicht ein bißchen Französisch ergänzten die Ausbildung. Da Vaters Vater eine Gouvernante der königlichen Hofhaltung in Paris geheiratet und er selbst einen Teil seiner Jugendzeit in Frankreich verbracht hatte, legte er auf Französisch großen Wert.
Rosa, die klügste von Evies Schwestern, wurde die Lehrerin der drei Kleinen. Für Evie war das sehr erfreulich, denn Rosa teilte nicht nur
ihre künstlerischen Neigungen, sondern auch ihre Liebe zur Natur, und
sie machten lange Spaziergänge im Park, wo sie die Namen vonBlumen und Bäumen lernte. Ein Internatsaufenthalt von Evie und Stella wurde
nach zwei unglücklichen Wochen abgebrochen, weil die beiden fast
krank vor Heimweh nach Hause kamen. In einer kleineren, weniger unpersönlichen Schule in Boscomb, dicht am Meer, hielten sie dann
aus. Trotzdem - Französisch war für Evie eine Qual. Sie fühlte sich
wie ein Tier im Käfig, wenn sie über ihren Schulaufgaben schwitzen und sich mit Konjugationen abmühen mußte, statt Felsen, Wellen und
Sonnenaufgang zu malen. Obwohl sie mit ihrer unbändigen Energie lernte und lernte, konnte sie Mademoiselle nur Töne den Mißbilligung entlocken. Einzig und allein der Gegenwart der sanften, -liebevollen Stella war es zu verdanken, daß sie durchhielt.
Die nächsten französischen Sprachstudien betrieben die beiden Schwestern in der Nähe von Paris. Sie verbrachten drei Monate als
zahlende Gäste im Hause von Pastor Saillen. Der Aufenthalt hier wurde auch geistlich ein Erlebnis. Zwei englische Jungen, ebenfalls Internatsschüler, waren vom Leben und der Lehre des Pastors so beeindruckt, daß sie sich taufen lassen wollten. Pastor Saillen zögerte.
»Erst müßt ihr euren Vater um Erlaubnis bitten.«
Ein Telegramm löste das Problem sehr schnell.

»Kommt sofort nach Hause!«
Der Grund für den schroffen Befehl stand im nachfolgenden Brief
»In England sind die Baptisten eine niedrige Gesellsdiaftsklasse un werden sehr verachtet. Ich will nicht, daß meine Söhne geringgesdiätr. werden Sie können ruhig fromm sein aber niemals Baptisten.«
Evie war verärgert und, was schlimmer war, ratlos. Hatten Väter das Recht, ihren Kindern vorzuschreiben, was sie glauben sollten>
Angenonmien, eines von Vaters Kindern wollte sich gern der »Church of England« anschließen oder - was das strenge hugenottische Erb& verhindern möge! - katholisch werden?! Sie war verunsichert...
Als sie Frankreich verließ, hatte sie Fortschritte im Lesen des Fränzö-sisdien gemacht und konnte es leidlich gut sprechen. Aber Sprachen, würden nie ihre Stärke sein.
Zu Hause trug sie sich in der Kunstschule von St. John's Wood ein. Da Malen zu den annehmbaren Betätigungen »höherer Töchter« gehörte und die Schule gerade um die Ecke lag, war Vater ganz damit einverstanden.
Evie besuchte Vorlesungen, wanderte durch Bildergalerien und bemalte Leinwand um Leinwand mit prachtvollen Sonnenuntergangsfarben. Sie stand früh auf, um den Sonnenaufgang über dem Nebel einzufangen, ein hoffnungsloser Versuch, Turners »Sonne, im Nebel aufgehend« nachzuahmen. Turner! Sie schwelgte in den karmesinroten und goldenen Farbtönen seines »Ulysses«, seines »Venedig«, »Stadt in Rosa und Weiß, aus dem smaragdgrünen Meer sich erhebend gegen einen saphirblauen Himmel«. Sie erhielt die Erlaubnis, in der Tate-Galerie zu kopieren, und als alle Schüler ein Ausstellungsstück vorlegen mußten, wurden ihr ein paar gute Noten verliehen
»Natürlich!« sagte einMitsdiüler geringschätzig.»Sie kopiertTurner in der Tat.«
Die Freude war ihr verdorben - das Vertrauen in die menschliche Natur war hin.
Aber Evie war nicht nur Künstlerin, sondern auch Modell. Ihre aristokratische Schönheit regte die schöpferische Phantasie der Studenten und Lehrer an. Einer der Lehrer war Bildhauer. Er überredete sie, ihm für eine Büste zu sitzen »Sie sehen so traurig aus«, sagte er einmal mit beruflichem Interesse. Ein paar andere Bemerkungen waren nicht so beruflich, und wenn ihr Vater die süßen Nichtigkeiten gehört hätte, die seinen Lippen entflohen, hätte er mit ihrer künstlerischen Ausbildung sofort Schluß gemacht. Doch seine Töchter. hatten Diskretion gelernt.
Unsicherheit und eine wachsendetJnruhe bemächtigten sichEvies. Die Farben auf der Leinwand erschienen ihr tot, während doch die Pracht eines Sonnenuntergangs zum Teil in seinen ständigen Verwandlungen lag, in seinen kaleidoskopischen Veränderungen, Mischungen, Kreseen-dos. Sie nahm Unterricht über Bewegungsdarstellung, trotzdem blieb alles flach, bewegungslos. Ob sie sich vielleicht lieber in Portraitmalerei hervortun sollte -wie Baker, eine ihrer Konr4litoninnen? Zumindest würde sie es dann mit Menschen zu tun haben!
Menschen . . . Mehr und mehr wurde sie sich ihrer bewußt, als sie sich von den engen Mauern der Kindheit und Jugend entfernte. Sie sah gequälte, bekümmerte Gesichter auf den Straßen, hoffnungslose Augen, die in den düstern Slums rund um die Kapelle aus den Fenstern blickten.
Menschen. . . Häufig kamen Missionare in die Gemeinde und danach mit nach Hause Zu ihnen gehörte auch Mrs Booth, die Frau eines Missionars in Indien, die von der großen Not der Frauen In Madras erzählte und damit Evies innere Unruhe nur noch vergrößerte. Als Mitglied eines Komitees half sie ein Frauenhilfswerk ins Leben rufen, dessen Ziel es war, eine Missionarin in die Zenanas auszusenden, jene abgeschlossenen Hofe der indischen Hauser, die kein Mann betreten durfte, der nicht zur Familie gehörte. Eine junge Frau, Olive Elliott, bewarb sich, und das Komitee stimmte ihrer Berufung zu Als Evie sie da stehen sah, jung, stark, voll froher Zuversicht, wurde ihr die Ungewißheit ihres eigenen Lebens fast unerträglich. Hätte nicht sie, Evie, gewählt werden sollen?
An ihre Staffelei zurückgekehrt, kamen ihr die Pinsel wie Spielzeug vor. Einmal wagte sie es, ihrer Freundin Baker gegenüber den kühnen Gedanken zu äußern.
»Hast du - hast du schon einmal daran gedacht, Missionarin werden zu wollen?« platzte sie heraus.
Baker schien gar nicht überrascht zu sein.
»Ja, ich habe das schon oft gedacht. Ich würde auch bestimmt eine werden wollen, wenn Gott mir nicht dieses Maltalent gegeben hatte Ich bin sicher, er will, daß ich es weiter ausbilde. Das braucht aber natürlich nicht auf dich zuzutreffen.«
Evie beneidete ihre Freundin. War sie deshalb so sicher, weil sie mehr Vertrauen in ihre Begabung hatte? Nein, das war es nicht. Das Leben ,goirde immer leichter sein für die Bakers in dieser Welt. Ihre Wünsche ließen sich leicht als Gottes Führung auslegen. Sie waren wie stille Ströme, die in klar begrenzten Betten bestimmten Zielen zuflossen.

Während die Evie -. Sie kam sidivorwie ein reißender Wildbach„„" der über Hindernisse, Klippen und Treibsand stürzte und erbarmungslos einem von Gott bestinunten Betätigungsfeld für ihre Energ: getrieben wurde, es aber niemals finden konnte.
Vater Harns hatte seine Töchter vergeblich abzuschirmen, versucht. Ein heiratsfältiger junger Mann nach dem anderen drang in die Burg ein und trug eine Braut davon. Es gehörte zum viktorianischen Brauch, daß die älteste Tochter zu Hause blieb und für ihre Eltern sorgte, bis sie heiratete. Als Grace die Frau eines wohlhabenden Farmers -wurde, übernahm Minnle die Sorge für den Haushalt. Als sie heiratete und nach Bristol zog, trat Lily an ihre Stelle. Als dann Lily einen Vetter heiratete, wurde die Ordnung unterbrochen. Rosa, die vierte und begabteste aller Mädchen, wurde die Frau des Farmers Ridiardkobbins, der die Farmer's Union gründete und schließlich unter Asquith und Lloyd George Staatsmann wurde.
Es war Eunice, die nun die Leitung des Haushalts übernahm. Und dabei blieb es. Das herlisdiöne Mädchen nahm keine der ihr gebotenen Gelegenheiten zum Heiraten wahr. Mit ihrer großen mathematischen Begabung, ihrem unglaublichen Gedächtnis und mit ihrem W'zssens-drang, mit dem sie sich in so verschiedenartige Fächer wie Astronomie und Archäologie vertiefte, würde sie es in späterer Zelt in einem Beruf weit gebracht haben. Aber ihr ein7iger Wunsch war, bis zum Tode ihrer Eltern für sie zu sorgen.
Ein Hauch von Romantik zog plötzlich ins Haus, als ein Onkel, der sich in Brisbane, Australien, niedergelassen hatte, zur Kolonialausstellung nach London kam Er brachte eine Sammlung von großen Opalen mit - und seinen Sohn, Charles Frazer. Vater Harns begann sofort, sein Sammelhobby auf Opale auszudehnen, und füllte einen ganzen Schrank damit Pur seine Tochter jedoch besaß Charles eine größere Anziehungskraft als Opale Er entschied sich für Florence Plorne Als er abreiste, versprach er ihr, wiederzukommen, sobald er im Geschäft eingearbeitet sei, und sie als seine Frau heimzuholen
Evie teilte die Qualen einer dreijährigen Wartezeit mit Florrie Das half ihr ein wenig über ihr eigenes Unbefriedigtsem hinweg Aber die drei Jahre vergingen, und Charles kam zurück, und dann war plötz-
lidi alles vorbei, und Florrie war gegangen. Charlie und Bertie hatten inzwischen geheiratet und zogen Kinder groß. E& waren nur noch vier Mädchen zu Hause, die tüchtige Eumce, die impulsive Hope, die ihre Schwestern manchmal dadurch schockierte daß sie rannte und pfiff, die sanfte Stella und Evie.
Florries Weggang hinterließ einen leeren Raum Die künstlerischen Studien kamen Evie mehr und mehr wie ein zweck- und zielloses Hobby vor. Nur eins konnte sie teilweise befriedigen die »Wohltätigkeit«. Wie Malen und Sticken wurde sie als angemessene Besi41~ftigung für »höhere Tochter« betrachtet So billigte auch Vater Harns die
Besuche seiner Töchter in den benachbarten Slums Er hatte sie sogar selbst oft auf solche Expeditionen mitgenommen, war mit ihnen durch
schmutzige Treppenhauser und dumpfe Korridore in Stuben gegangen,
die nach Armut, Alkohol und Krankheit rochen Mutter leitete neben ihrer Geschenkkisten-Aktion eine Gesellschaft zum Wohl »gefallener
Mädchen« Es wurden Babyausstattungen zusammengestellt und
jeweils für einen Monat an unglückliche Mutter verliehen, von denen erwartet wurde, daß sie die Sachen gewaschen zurückbrachten. Trotz
ihres Abscheus vor solcher Art von Freigebigkeit (schrecklich, alte
Sachen -wegzugeben!) flickte Evie zerrissene Kleidung, sammelte Spenden ein, ergänzte Ausrangiertes heimlich von ihrem Taschengeld und
suchte entschlossen Baracken, Mietskasernen und Armenhäuser auf. Für
solche Gänge zog sie sich genauso sorgfältig an wie für einen Fünfuhrtee. Sie dachte, es sähe gönnerhaft aus, wenn sie sich nicht in ihren
besten Sachen zeigte. Erst Jahre später wurde ihr klar, daß gerade die Rüschen, Spitzen, Seidenstoffe und großen Blumenhüte die verhaßteste
Form gönnerhaften Benehmens gewesen war. -
»Sie sieht so schön aus«, hörte sie einen kleinen Jungen sehnsüchtig sagen, »als ob sie gerade aus einem wunderhübschen Garten käme.«
Daneben hörte Evie die Berichte von Missionaren, die aus Afrika und Indien zurückkamen, und verschlang jedes Wort aus entsprechen-
den Veröffentlichungen. Eine davon, eine kleine Broschüre, die 1910 herauskam, trug den Titel: »Wie das -Evangelium in die >Berge des Todes< kam«, und ihr Autor war ein jünger Missionar mit Namen
Jesse Mann Brand. -
Evie las sie mit glühender Begeisterung Sie hatte schon früher einmal von dem jungen Brand gehört. Er war Mitglied der Guildford-Gemeinde und vor drei Jahren nach Indien gegangen. Nun berichtete er von der Reise die er mit Mr. Morling, einem anderen Missionar, -in die »Kolli Malai«, die Berge des Todes, gemacht hatte, eine Bergkette

in Südindien, wo es noch Zehntausende von Menschen gab, die noch nie das Evangelium gehört hatten
in Gedanken begleitete Evie die beiden Männer, besuchte mit ihnen ein Dorf nach dem andern, wo sie allmählich das Vertrauen der scheuen Einwohner gewannen, ihnen die Geschichte von dem großen, gutigen »Guru« erzählten, der die Sunde haßte, aber die Sunder liebte der Blinden das Augenlicht und Kranken die Gesundheit schenkte der kleine Kinder segnete, mit den Trauernden Weinte und schließlich den Tod überwand.
Die Leute hatten aufmerksam zugehört, schrieb der Junge Brand
»Wir glauben, daß dein >Yesu< der einzige wahre >Swami< ist«, hatten drei Männer zu ihm gesagt »Wenn du bei uns bleibst und uns unterrichtest oder wenn du andere Lehrer schickst, werden wir alle Christen werden.«
»Aber ehe sie diesen Schritt tun können« - Evie Augen hingen an den durch Kursivschrift hervorgehobenen Worten -‚ »mußt Ihr ihnen Priester und Lehrer senden «
Evies Herz pochte wie wild Wenn nur -I Aber das war natürlich unmöglich. Sie war schon dreißig Jahre alt Und außerdem wurde Vater es nie erlauben Die so liebevoll gewobenen seidenen Faden der Abhängigkeit waren zu einem starken Netz geworden, aus dem es kein Entrinnen gab.
In der Familie waren Krisen eingetreten. Rosa starb und ließ Richard Robbins mit zwei kleinen Kindern zurück. Mutter sah plötzlich schmal und alt aus, die Lodadien um ihre glatten Wangen wurden weiß Vaters Schritt wurde langsamer, seine Stimme schwacher, obwohl er sie bei den Famlienandachten und im Gottesdienst zu ebenso innigem Lob und Dank erhob Das Netz zog sich immer enger zusammen Dann kam Florrie aus Australien mit ihren Kindern, weil der zweijährige Ray wegen eines Muttermals behandelt werden mußte Die Reise war eine Qual für sie gewesen
»Du fährst am besten ing ihr zurück«, sagte Vater zu Evie »Sie braucht jemanden, der ihr die beiden kleinen Jungen betreuen hilft.«
Die Reise war eine Gnade Sechs Wochen für die Hin- und Ruchfahrt und sechs Wochen in Australien, das ergab drei Monate, in- denen ihr
22 - Leben aus dem schrecklichen Stillstand -herausgerissen wurde. Und irgendwie verwandelten die größere Nahe der dunklen Erdteile, die sie sich im Geist so oft vorgestellt hatte, der Anblick schwarzer, glänzender Körper, die zum Schiff beraussdiwamnien, und dunkelbärtiger Kulis, die mit Kohlenlasten auf dem Kopf über die Decks schwärmten, ihre Unrast in Hoffnung Wenn sie ihnen so nahe kommen konnte, wer weiß, was für ein Wunder geschah! -
»Ich danke dir, ich danke dir, Gott'« jubelte sie immer wieder.
Aber es war die Rückreise, die ihr Leben veränderte. Sie war einem frommen Ehepaar anvertraut worden, das sie mit einem jungen Missionar bekanntmachte, der in Afrika arbeitete. Er suchte sie immer wieder auf und schilderte ihr beredt und anschaulich, wie nötig er neue Mit-arbeitet in seiner Mission brauche, besonders Frauen, die Beziehungen zu ihren dunkelhäutigen Schwestern herstellen könnten.
»Frauen wie Sie!« sagte er eindringlich zu ihr. »Ich fühle Ihre große Liebe zur Mission. Sie würden sicher gern Ihr Leben für solch eine Aufgabe einsetzen.«
Unter seinem zwingenden Blick schien ihr Blut erst zu stocken und raste dann wild durfh ihren Körper.,
»Ja, o ja!« kam es von ihren Lippen. - -
In den folgenden! Tagen war sie voll bebender Erwartung. Begierig nahm sie alle Einzelheiten seines Lebens in der Mlssionsstation in sich -- auf und hoffte von einer Begegnung zur andern auf den Augenblick, der über ihre Zukunft entscheiden wurde. Sicher würde er ihr bald
- einen Heiratsantrag machen. Der Augenblick kam - und mit ihm ein -
unsanftes Erwachen. ! -
»Wenn wir erst in England -sind, haben Sie hoffentlich bald Gelegen-hei; -meine Frau kennenzulernen. Sie mußte schon eher in Urlaub fahren, wie Sie wahrscheinlich wissen. Wie wird sie sich freuen, zu hören, daß sie vielleicht eine Freundin und Mitarbeiterin auf dem Missionsfeld bekommt'«
Evie antwortete mit steifen Lippen. Sie war erstaunt, daß sie über-
haupt einen Ton herausbrachte. - - --
»Ich - ich will sie gern kennenlernen. Aber - - bitte, machen -Sie ihr keine Hoffnungen, ehe ich mir klar geworden bin. Es. gibt - viele
Schwierigkeiten -.« - -
Sobald sie konnte, -lief sie in ihre Kabine, warf sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in den Kissen. Wie dumm! Was für eine alberne Närrin war sie gewesen!
@ 1976 R. Brockhaus