Winterfeld-Platen Leontine von, Wanderer zum Licht,

06/05/2023
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

Haben die hohen, spitzen Dächer und der alte Kirchturm je so majestätisch ausgesehen wie an diesem Morgen? Als hätten sie von Gold und Purpur durchwirkte Gewänder an, die ein solches Glänzen schaffen, daß man die geblendeten Augen vor dieser Pracht sekundenlang schließen muß. Aber es ist weder ein Königsmantel noch ein Diadem, was die Giebel und Dachfirste so aufleuchten läßt, - es ist nur die Morgensonne, die ruhig den Nebelschwaden von der Wiesen steigt, die die Stadt rings umgeben. Heute ist Markttag, und da drängt und schiebt es sich vor dem verwitterten Rathaus, das schon seit Jahrhunderten Wache hält an dem großen Platz mit seinem groben Pflaster. 

Zwischen den Budenreihen schieben sich die Käufer, und die Kinder, die mit ihrem Ranzen zur Schule traben, werfen begehrliche Blicke auf die roten Zuckerherzen und blinkenden Blechtrompeten. Aus dem Gedränge löst sich eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt. Darin sitzt ein Bübchen mit großen, hellen Augen, in den dicken Händchen eine anknabberte Brezel. Ein Netz mit Gemüse hängt der Frau am Arm, und auf den Füßen des Kindes liegt ein großes, in Papier gewickeltes Brot. 

Die Frau mag so Ende der Deißig sein und hat noch einjunges Gesicht. Ihr lockiges, braunes Haar ist von keinem Hut oder Tuch bedeckt, aber auf ihrer Stirn steht eine Falte, und auch die Mundwinkel sind im Unmut zusammengezogen. Ihr ist warm geworden beim Schieben des Wagens auf dem holprigen Pflaster, und sie bleibt, als sie den, Marktplatz überquert hat, ein wenig seufzend an der nächsten Straßenecke stehen, um sich auszuruhen. Mit dem Taschentuch fährt sie sich über das erhitzte Gesicht und lehnt sich müde gegen eine Hauswand. Hier sind doch wenigstens nicht soviel Menschen, hier kann sie in Ruhe verschnaufen.

Da kommt von der anderen Straßenseite her ein junger Mann auf sie zu, der einen großen Pakken Bücher unter dem Arm trägt. Es ist Kaspar David, der im gleichen Haus wie die Frau wohnt, und ganz oben unter dem Dach ein kleines Zimmer hat.
„Guten Morgen, Frau Nebeling! Ist das nicht ein herrlicher Tag heute?"
Er streckt ihr die freie Rechte hin und schüttelt kräftig ihre Hand. Die Falte auf ihrer Stirn wird tiefer, und sie schüttelt den Kopf.
Was soll mir der schöne Tag, wenn ich ihn doch nicht genießen kann vor lauter Arbeit?"

Oh soviel Zeit haben Sie schon noch, um diesen Sonnenglanz auf allen Dächern zu bewundern! Wird einem das Herz da nicht weit, und möchte man nicht dahinfliegen mit den Schwalben?"
Sie setzt ihren Kinderwagen wieder in Bewegung und lacht gezwungen.
„Dann fliegen Sie doch los, Herr David! Ich muß nach Hause in die alte Tretmühle, weil Mann und Kinder warten und endlose Arbeit!"
Er beugt sich freundlich herab und nimmt ihr die Griffe des kleinen Wagens aus den Händen, nachdem er vorher seine Bücher neben das Brot gelegt [hat.
„Lassen Sie mich den Kinderwagen schieben, das Pflaster ist hier so uneben. Und das schwere Netz können Sie auch noch irgendwo anhängen, dann brauchen Sie es nicht zu schleppen."
Sie sieht erstaunt zu ihm auf, denn er ist fast einen Kopf größer. ja, aber ist es ihnen nicht peinlich, hier mitten in der Stadt mit dem Kinderwagen?"
„Warum?"
„Ihre Bekannten könnten Sie auslachen. Viele Studenten würden das als eine unerhörte Zumutung ansehen -
Mögen sie doch! Warum soll ich nicht auch mal ein solch herziges Bübchen fahren? Und Sie sehen müde aus und haben noch einen ziemlich weiten Weg." Sie seufzt.

„Ja, eigentlich bin ich immer müde. Mein Mann muß früh heraus, sein Frühstück muß fertig
sein. Dann müssen die beiden anderen Kinder schnell zur Schule fertiggemacht werden! Und dann Reinmachen, - Einkaufen, - Mittagko-chen -”
Er schüttelt bekümmert den Kopf. Und sein Gesicht wird sehr nachdenklich.
„Ist das bei allen Hausfrauen so? Ich kann mich doch besinnen, daß meine Mutter immer
noch ein bißchen Zeit für andere Dinge übrig hatte. Sie sah auch nie so vergrämt und abgehetzt aus und hat uns immer auf alle Schönheiten in der weiten Gottesnatur aufmerksam gemacht."
„Sie hatte vielleicht viel Hilfe und nicht drei Kinder wie ich."
„Oh, wir waren fünf Geschwister. Vater war Lehrer und Mutter konnte sich kein Kindermäd-
chen leisten. Aber nun sind wir ja glücklich bei Ihnen angelangt, Frau Nebeling. Ich trag' Ihnen den Kleinen die drei Treppen hinauf. Der Wagen bleibt wohl unten?"
„Ich weiß nicht, Herr David, —wenn doch alle Menschen so hilfsbereit wären! Und kommen
Sie doch abends wieder zu uns, wenn Sie Zeit haben. Mein Mann freut sich, wenn er jemand zum Erzählen hat"
Als sie oben in ihrer Küche ist und sich die große, derbe Schürze vorbindet, muß sie sich erst erschöpft auf einen Stuhl setzen. Ach, warum ist sie nur immer so schlapp? Ist es die
Frühlingsluft, oder die ununterbrochene Tretmühle des langen, grauen Alltags? Sie weiß, irgend etwas fehlt in ihrem Leben, -etwas, das ihr Antrieb und Kraft geben könnte! Ihr Mann schüttelt oft den Kopf darüber und sagt:
„Du hast doch die Kinder!"
„Ja, und jedes Kind ist eine Sorge mehr!"
„Aber wir haben doch unser leidliches Auskommen und -"
„Das ist es ja gerade, was mich ständig bedrückt: Leidliches Auskommen! Das heißt, es reicht so gerade eben hin, aber man kann sich nie und niemals das Geringste leisten. Ich meine, so ein kleines Extra-Vergnügen. Hofers Lotte geht fast jeden Abend ins Kino, und Frau Kruse hat sich wieder ein neues Kleid machen lassen! Ich kann so etwas niemals tun! Immer das Alte wieder flicken, - immer nur sehen, daß die Kinder sauber und heil sind zur Schule! Für einen selbst bleibt auch nicht ein Pfennig übrig! Andere Beamte bekommen mal eine Gehaltszulage, - du niemals!"
Sie hatte es neulich in großem Ärger vorgestoßen und die Teller beim Abwaschen durcheinander geworfen, daß es nur so klirrte; Da hatte ihr Mann, der sonst immer fröhlich war, sie ganz bekümmert angesehen:
„Ich glaube, Lisbeth, es ist der Neid, der dich quält. Aber du mußt wirklich nicht immer auf die sehen, .die es besser haben. Sieh dir doch einmal die an, denen es viel schlechter geht als uns. 

Zum Beispiel das Fräulein Griese gegenüber, oder den alten Karsten unten im Keller!"
Da hatte sie schrill aufgelacht.
„Ja, wenn du uns allerdings mit denen vergleichst! Kannst ja noch den Lumpensammler dazurechnen! Der hält uns natürlich für wohlhabend!"
„Na siehst du, das sind wir auch wirklich. Vor allem, wenn du unsere drei gesunden, herzigen Kinder ansiehst! ist das nicht ein Reichtum, der nicht mit Geld zu bezahlen ist?"
Da hatte sie sich unwirsch abgewandt. „Ach, du willst mich einfach nicht verstehen, Hans! Man könnte ebensogut tauben Ohren sein Leid klagen!".
Er war ihr mit der Hand über die braunen Haare gefahren.
„Versündige dich nicht, Lisbeth! Armut ist noch lange kein richtiges Leid. Und wir haben immer noch unser bescheidenes Auskommen gehabt. Was würde mir Reichtum nützen, wenn ich krank wäre, oder die Kinder stürben?"
Dabei war er leise kopfschüttelnd aus der Tür gegangen.
Das war noch gar nicht lange hergewesen. Aber statt über seine Worte nachzudenken, war sie ärgerlich auf ihn. Ach, die Männer verstanden einen ja doch nie!
Müde steht Frau Nebeling von ihrem Stuhl auf. Dann sieht sie sich suchend nach ihrem Jüngsten um, den Herr David vorhin so freundlich hier auf den Fußboden gesetzt hatte. Über ihr ungutes Grübeln hatte sie ihr Bübchen ganz vergessen. Das hatte sich schleunigst die seltene Freiheit zunutze gemacht und war rasch auf allen vieren ins Nebenzimmer gekrochen, denn laufen konnte es noch nicht. Und hier hatte es Vaters Papierkorb unter dem Schreibtisch entdeckt und umgekippt. Nun spielt es selig mit all den alten Umschlägen und Papierstückchen, die es rings umher auf dem Fußboden verstreut, und jauchzt und kräht dazu, daß es eine Lust ist
Sekundenlang bleibt die Mutter in der Tür stehen und sieht dem frohen Spiele zu. Dann bückt sie sich und hebt den Kleinen vom Boden hoch in ihre Arme. Fest, fest preßt sie das Kind an sich und geht mit ihm hinaus auf den angrenzenden Balkon. Frühlingsblumen wetteifern in den Holzkästen ringsum mit ihren leuchtend bunten Farben. Ein Schmetterling, der sich in die Stadt verirrte, gaukelt sonnentrunken von einer Blüte zur andern. Man hat von hier oben eine weite Sicht über die Gärten der Stadt Und fern bis zu den Wiesen hin, von denen die Nebel nun alle verschwunden sind. Und in all dem Morgensonnen-glanz wird die Seele der Frau allmählich ganz still. Als sie auf die Straße hinuntersieht, geht dort ein Blinder, von seinem treuen Hund geführt. Sie kennt den Mann mit der breiten Binde an seinem Arm, denn er kommt immer um dieselbe Zeit hier vorbei. Es gibt ihr einen Stich ins Herz, weil er ja all die Pracht ringsumher nicht mehr sehen kann. Und dann jagt ein Krankenwagen vorüber. Wen holt er ab? Vielleicht in allerletzter Minute?
Wieder preßt sie ihr Kind an sich, und es kommt wie Scham in ihre Seele. Ist sie nicht unermeßlich reich? Sie senkt den Kopf und geht still an ihre Arbeit.
Der lachende Tag ist vorüber und macht einem linden, dämmerigen Frühlingsabend Platz. Oben in seiner Studentenbude kramt und packt der junge Kaspar David. Er möchte das Licht noch nicht anschalten, denn diese Dämmerstunden sind ihm die liebsten des Tages. Da können die Gedanken ungehindert wandern, ohne daß hetzende Arbeit sie stört. Und obgleich es ziemlich wüst aussieht in seinem Zimmer, wo ein Teil Bücher verstreut auf der Erde liegt, und ein anderer Teil schon in die bereitstehenden Kisten verstaut ist, so hat er doch das große Bedürfnis, ein wenig beim Aufräumen innezuhalten und alles einfach so stehen und liegen zu lassen, um sich auf die breite, niedrige Fensterbank zu setzen und einige tiefe Atemzüge der reinen, herben Abendluft in Lunge und Seele fluten zu lassen. Sein verträumter Blick geht über die Dächer der Stadttief unter ihm und bleibt an dem wuchtigen, alten Kirchturm hängen, der seinem Zimmer oben im Dach-
geschoß so nahe ist, daß er das Moos auf den altersgrauen Steinen erkennen kann.
jetzt hebt der Student lauschend den Kopf: Poltert da nicht jemand seine steile Treppe herauf? Er wundert sich, denn er bekommt nicht oft Besuch, und hier oben unterm Dach wohnt weiter keiner als er.
Ohne anzuklopfen wird die Tür stürmisch aufgerissen, und eine etwas ärgerliche Stimme ruft:
„Aber Kaspar, bist du eigentlich hier oder nicht? Warum machst du kein Licht an?"
„Weil es so viel schöner ist, Ulrich. Und ganz dunkel ist es ja auch noch nicht. Aber falle nicht über meine Bücher da auf der Erde!":
Der andere hat allmählich die Fensterbank erreicht und setzt sich rittlings darauf, den einen Fuß draußen in der Dachrinne. Nun ist das Abendrot über den Wiesen stärker geworden und wirft einen purpurnen Widerschein in alle Fenster und auch auf die Turmspitze, daß sie leuchtet wie Gold. Am übrigen Himmel verblassen die Farben, nur einige rosenfarbene Wölkchen künden davon, daß die Sonne einmal dagewesen ist. Gedämpft klingt der Lärm der Gassen von unten herauf. Mit wuchtigen Schlägen holt die Turmuhr über ihnen zur ihrem stündlichen Mahnruf aus.
„Ein schönes Plätzchen, Kaspar, das du dir hier ausgesucht hast. Nur das laute Dröhnen der Uhr und der Glocken würde mich stören."
„Ich bin schon so daran gewöhnt, daß ich es

@ 1996 Otto Bauer Verlag