Nachfolge lernen - Zinzendorf und das Leben der Brüdergemeine, Peter Zimmerling

10/20/2022
von Christ-und-Buch Günter Arhelger

1. DIE PRAXIS DES GLAUBENS IN DER BRÜDERGEMEINEBV11286.jpg?1666279305949
Gehurtsstunde des 
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In den Losungen der Brüdergemeine ist unter dem 13. August folgende Notiz zu lesen: „Abendmahlsfeier in der Kirche zu Berthelsdorf; Zusammenschluß der Einwohner Herrnhuts zur Brüdergemeine durch den Geist Gottes." Was verbirgt sich hinter dieser knappen Bemerkung?
Im Juni 1722 hatten Glaubensflüchtlinge aus Mähren, Nachfahren der Böhmischen Brüder des Johann Huß, um Aufnahme auf den Gütern Zinzendorfs in der sächsischen Ober-Lausitz gebeten und am 17. Juni mit dem Bau der ersten Häuser für die neue Siedlung begonnen.' Bis zum Jahr 1727 war Herrnhut auf 220 Personen angewachsen, von denen ein Drittel Nicht-Mähren waren. Herkunfts- und bildungsmäßig wie auch religiös herrschte ein buntes Gemisch, was zu starken religiösen Spannungen führte. Der Graf faßte daraufhin den folgenschwersten Entschluß seines Lebens .2 Er nahm Urlaub von seinem Amt als Hof- und Justizrat in Dresden und siedelte nach Herrnhut über, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Dort begann er, eine feste Gemeindeordnung in Form von „Ortsstatuten" zu erarbeiten. Dazu führte er mit den Einwohnern viele Gespräche, um sie aus Selbstsucht und Selbstgerechtigkeit zu gegenseitiger Achtung und Liebe zu führen.


Der Erfolg seiner Mühe war die freiwillige Annahme der Statuten durch alle Bewohner Herrnhuts am 12. Mai 1727. Die Gemeindeordnung erschien in zweierlei Gestalt: erstens als Dorfverfassung für die politische Gemeinde Herrnhut (Herrschaftliche Gebote und Verbote); zweitens als Statuten für die geistlibhe Gemeinde (,‚Brüderlicher Verein und Willkür in
Herrnhut"),I Theoretisch wurde hier zwischen einer alle ver-
pflichtenden bürgerlichen und einer freiwilligen geistlichen Verfassung unterschieden. Tatsächlich gehörte aber nahezu jeder
Einwohner Herrnhuts auch dem „Brüderlichen Verein" an. Die Entwicklung lief dadurch von Anfang an auf eine Verschmelzung von Ortsgemeinde und „Gemeine" hinaus. Es entstand darum in Herrnhut nie eine Ecclesiola im Sinne Speners, ein Kirchlein derer, die mit Ernst innerhalb der volkskirchlichen Gesamtgemeinde Christen sein wollten, weil alle zur Kerngemeinde gehörten.
Mit den Statuten, die wir noch näher betrachten werden, war eine Ausgangsbasis geschaffen, von der aus Herrnhut ein „christlichsoziales Gemeinwesen" werden konnte. Davon gingen weltweite Wirkungen aus!
Damit Herrnhut seine Sendung erfüllen konnte, hätten die Statuten allein nicht genügt. Zinzendorfs Plan, einen Ort zu schaffen, durch den die Welt gesegnet würde, gelang nur, weil es an diesem Ort zu einer Erweckung kam. Mehrere Ereignisse bereiteten diese vor.
Zunächst fand man sich in seelsorgerlichen Kleingruppen von drei bis fünf Personen, den sogenannten Banden, zusammen, in denen es zur Erneuerung der brüderlichen Gemeinschaft kam.' Von Bedeutung war die gemeinsame Bemühung - vor allem in der Fürbitte - um einen im Nachbarort zum Tode verurteilten Menschen. Ein tiefes Erschrecken vor dem Gericht Gottes ergriff die Herrnhuter und führte zu einer Bußbewegung unter ihnen. Die Folge war ein inneres Verlangen nach Bibelbesprech-stunden und Gebetsgemeinschaften. Gleichzeitig besuchte man sich gegenseitig immer wieder aus seelsorgerlichen Gründen. Schließlich brachte Zinzendorf von einer schlesischen Reise die Historie der Böhmischen Brüder von Joh. Amos Comenius (1592 - 1670) mit, in der die Brüder ihre eigene Geschichte entdeckten. Man entdeckte die innere Verwandtschaft der in
BV11286-1.jpg?1666280627678Herrnhut zustande gekommenen Ordnung der Laienämter mit der Kirchenordnung der Väter.9
Entscheidend aber wurde eine gemeinsame Abendmahlsfeier der Herrnhuter in Berthelsdorf ‚° Dort, im Hauptort von Zinzendorfs Gütern, zu dem Herrnhut in kirchlicher Hinsicht gehörte, war Johann Andreas Rothe (1688 - 1758) Pfarrer; Er hatte alle Herrnhuter eingeladen, mit ihm zusammen das Abendmahl zu empfangen. Hören wir, was darüber im Herrn-huter Diarium (Tagebuch) von 1727 steht. Es wurde auf Grund von unmittelbaren Aufzeichnungen Anfang der dreißiger Jahre niedergeschrieben:
13 August Das große und ungemein erweckte Abendmahl wurde denn gehalten am 13. August. Zuvor, ehe wir in die Kirche gingen, und auf dem Wege hinein, redete je einer mit dem anderen und hie und da fanden sich ihrer zwei, die sich miteinander zusammenschlossen unter den Brüdern. In der Kirche ward der Anfang gemacht mit dem Liede: Entbinde mich, mein Gott, wobei eine verruchte Person, so der Handlung zusah, ganz zermalmt wurde. 

Danach ward ein recht apostolischer Segen von Herrn Rothe auf die zwei Konfirmierten geleget und von der Gemeine bekräftiget. Als bald darauf fiel die Gemeine vor Gott nieder, fing zugleich an, zu weinen und zu singen: Hier legt mein Sinn sich vor dir nieder. Man konnte kaum unterscheiden, ob gesungen oder geweint würde, und es geschah beides zugleich mit solcher Anmut, daß auch der Prediger, welcher administrierte (denn Herr Rothe ging mit der Gemeine zum Tisch des Herrn) ganz perplex drüber wurde. Nachdem das Lied vorbei war, beteten etliche Brüder mit Gotteskraft, trugen dem Herrn die gemeinschaftliche Not und sonderlich dieses vor, daß man sich um und um fast keinen Rat sähe mit diesen, die aus dem Diensthause gegangen wären, ohne Sektiererei oder Trennung durchzukommen und daß doch beides der rechten Art seines Hauses nicht gemäß sei. 

Wir baten Ihn also kindlich und ringend, er solle uns die rechte Natur seiner Kirche lehren und uns in der äußern Verfassung so leben lassen und wandeln, daß wir unbefleckt und dabei unanstößig blieben, damit wir nicht einsam, sondern fruchtbar würden und weder die Ihm geschworene Treue und den Gehorsam gegen sein Wort noch die gemeine Liebe in den Kleinsten verletzten. Wir baten ihn, daß er uns in der rechten Heilsordnung seiner Gnade wolle teilhaftig sein und nicht geschehen lassen, daß eine Seele von der Blut- und Kreuz-Theologie, daran unsre einige Erlösung hinge, auf sich selbst und ihr Gutes abgeführt werden möchte. Wir trugen ihm sonderlich unsrer benachbarten Brüder bedenkliche Umstande vor und so viele 100 durch diese Oecono-mia [Haushaltung, d. h. Herrnhut] andernorts erweckte Seelen, die teils auf Abwege geraten, teils keine Zucht des Geistes annehmen, sondern sich nur aufs Wissen legen wollten.

Nachdem nun die innigste Salbung über uns alle ausgeflossen und wir nicht ferne von Ihm waren, baten wir in Glaubens-Gewißheit, er solle unsre beiden Ältesten, Christian David und Melchior Nitschmann (die aus guter Meinung, aber mit betrübtem Ausgang in Sorau waren), kräftig in unsre Gemeinschaft ziehen und erfahren lassen, was wir erfuhren. Nach der Absolution wurde das Mahl des Herrn mit gebeugten und erhöhten Herzen gehalten und wir gingen ziemlich außer uns selbst ein jeglicher wieder heim. . . . Wir brachten diesen und folgenden Tag in einer stillen und freudigen Fassung zu und lernten lieben.""
Kennzeichnend ist in diesem Bericht zunächst die Erkenntnis der Schuld aneinander und vor Gott. 

Die Brüder begreifen, daß ihr christliches Zeugnis nur als Gemeinschaft fruchtbar werden kann. Sie trennen sich darum sowohl vom Separatismus als auch von fehlender Kirchenzucht. Mitte ihrer Theologie soll nicht die eigene Heiligkeit sein, die man sich durch besondere fromme Leistungen erwerben könnte. Vielmehr steht die Erlösung durch das Blut Jesu Christi im Zentrum des Glaubens.
Schließlich gedenken die Brüder in der Fürbitte die ihnen bekannten anderen Gläubigen.
Damit sind sämtliche Motive weltweiter Wirksamkeit der Brüdergemeine in der Stunde ihrer geistlichen Geburt vorweggenommen: das Wissen um die Verlorenheit jedes Menschen vor Gott; das daraus folgende weltweite missionarische Wirken; der Versuch des Aufbaus einer Gemeinde mit eigenständigen Strukturen und Ämtern im Rahmen des vorhandenen Staatskirchen-tums; die Neuentdeckung der Botschaft von der Rechtfertigung aus Glauben; der Aufbau einer weltweiten Diaspora-Arbeit; ein Besuchsdienst unter den Christen aller Konfessionen.
Zinzendorf und die leitenden Brüder haben immer das Geschehen vom 13. August 1727 als einschneidendes Erlebnis gesehen. 

Der Graf nannte diesen Tag ihren Pfingsttag. Dacid Nitschmann meinte: „Von der Zeit an ist Herrnhut zu einer lebendigen Gemeine Jesu Christi worden. Tatsächlich wäre Herrnhut ohne dieses neue Ergriffenwerden aller von der Kraft des alten Evangeliums nie zu dem geworden, was es in der Kirchengeschichte dann war. In der Folgezeit entstand ein „neues Modell gelebten Glaubens", wie es die evangelische Christenheit bis dahin noch nicht gesehen hatte.

2. Ist die Brüdergemeine eine protestantische Ordensbewegung?
Man hat das Herrnhutertum und den Pietismus immer wieder mit den mittelalterlichen Mönchsorden verglichen)' War das Herrnhutertum wirklich eine Ordensbewegung im Protestantismus? Mönchsorden und Herrnhutertum hatten eins gemeinsam: Sie waren Erweckungsbewegungen, die die verfaßte Kirche in Bewegung brachten. Sie riefen sie zurück zum unverkürzten Evangelium. Beide Bewegungen mußten um ihre kirchliche Anerkennung kämpfen und waren manchmal nahe daran, aus der jeweiligen Großkirche hinausgedrängt zu werden. Beide Bewegungen konnten in der Kirche zeitweise als Ferment wirken, ihre späteren Lebensäußerungen entscheidend mitprä-gen, gingen schließlich aber doch mehr oder weniger in ihr auf.
Es gab aber auch Unterschiede zwischen Herrnhut und den mittelalterlichen Orden: Herrnhut war kein Orden, sondern eine Gemeinde, in der man sich auf eine geistliche Lebensordnung verpflichtete, aber kein Gelübde ablegte. Die Familien führten meist ein weitgehend selbständiges Leben. Es gab weder eine obligatorische (verpflichtende) Gütergemeinschaft für alle, noch gab es einen Ordensgehorsam. Man kannte auch kein Amt, das dem eines Abtes oder eines Ordensgenerals entsprochen hätte."
Die entscheidende Ursache der Ferment-Wirkung der Herrn-huter lag in der Ausbildung von gemeinschaftlichen .Lebensformen auf der Grundlage des Evangeliums. In ihnen versuchte man, die gewonnenen Glaubenserkenntnisse gemeinsam zu leben. Das Verlangen nach Anschaulichkeit des Glaubens führte innerhalb der Brüdergemeine zu weithin neuen Formen von Gemeinschaftsleben. Durch die Kraft der brüderlichen Verbundenheit wurden sogar selbstverständliche Gepflogenheiten alltäglichen Lebens durchbrochen.
Die eigenen Ortsgemeinden, die es bei Zinzendorfs Tod in der ganzen Welt gab, waren Kristallisationspunkte brüderischen Lebens. Wie sehr Zinzendorf diese geschlossenen Siedlungen für notwendig hielt, zeigt sein Protest gegen die Anlage von gemischten Siedlungen in der letzten von ihm überhaupt gehaltenen Rede: „Wenn wir nicht über unserm Grundplan halten, kommen wir nicht durch; der muß unveränderlich sein und
bleiben; bei dem müssen wir leben und sterben und uns keinen Schein davon abwendig machen lassen. . . Ich will eine Protes-tation hinterlassen, zum Andenken, wenn ich werde zum Hei-
land gegangen sein daß ich diese Methode zu handeln nimmermehr gelten lasse; ich wünsche dergleichen Gemeinen nicht zu erleben."'
Wieso dieser Protest? Die Briidergemeinorte, „Dörfer des Heilandes", wie Zinzendorf sie nannte", waren Lazarett und Aussendungsanstalt in einem. Alle Orte zeichneten sich durch• ein ständiges Kommen und Gehen aus. Sie waren Missionsstationen - auch darin vergleichbar mit den großen Klöstern und Ordensburgen des Mittelalters. Der Graf verstand ihre Bewohner als marschierende Kolonne des Heilandes. Darum sorgte er auch dafür, daß die Orte klein und damit beweglich blieben.
„Mein Zweck bei den Ortsgemeinen und Chören war, ein Asyl für die Geradheit und Wahrheit zu schaffen, daß alles menschliche Elend erscheinen dürfte, wie es ist, und ein jedes seinen Jammer in ein treues Ohr ausschütten dürfte, ohne deswegen etwas zu befahren [befürchten]. Manches andere 
Schöne und Selige, das herausgekommen ist, hat meine Erwartung übertroffen."" Oder an anderer Stelle: „Und was ist eigentlich der Character eines Lehrers der alten, erneuerten
BrüderKirche, wovon Jesus am Creutze Stifter ist ...die Mährische Kirche nicht für die Kirche halten, sondern nur für ein Ruhe=Plätzgen der unsichtbaren Gemeine, die alles 

durchsauren soll, Seelen zum Lamm laden, und alle Welt in den ewigen Hochzeit'Saal: Gasthöfe bauen auf allen Strassen, für die Fremdlinge der Erden; was aber ein geschenkt Handwerk hat,
oder seine eigene Herberge, nur dahin zurechte weisen.'- Die Ortsgemeinen sollten also „Ruhe Plätzgen" und „Gasthöfe",
„Asyle für die Geradheit, und Wahrheit" sein. Missionare und Diaspora-Arbeiter, aber auch hilfesuchende Besucher kamen in diese Seelsorge-Zentren zur geistlichen und körperlichen Regeneration.
Als Stätten brüderlichen Lebens waren sie Orte gelebten Glaubens, in denen die vielfältigsten Begabungen ihrer Bewohner freigesetzt wurden. Hautfarbe, Rassen- und Standesunter-
schiede wurden bedeutungslos unter der alle verbindenden und verpflichtenden Aufgabe, Menschen für Jesus Christus zu gewinnen. 

Weil alle verfügbaren Kräfte auf die Sache Jesu gelenkt wurden, entwickelte man in den Dörfern einen einfacheren Lebensstil. Durch Zinzendorfs prägenden Einfluß war er jedoch in die ästhetischen Formen des Barock eingebettet."
Voraussetzung dafür, daß die Brüdergemeinorte das werden konnten, was sie geworden sind, war außerdem, daß sie jeweils auf eigenem Grund und Boden erbaut wurden. Herrnhut bei-

INHALT
Vorwort
I Die Praxis des Glaubens in der Brüdergemeine 17
1. Eine Erweckung als Geburtsstunde des Herrnhutertums 17
2. Ist die Brüdergemeine eine protestantische Ordensbewegung? 19
3. Streiteridee, Losgedanke und Losungen 26
a) Streiteridee 26
b) Losgedanke 30
c) Losungen 34
4. Aufhebung der Standesschranken 36
5. Kirchliche Emanzipation der Frau 38
6. Erziehung auf der Grundlage der „Imitation" Jesu Christi 45
a) Erziehung »ohne Schlag" 45
b) Sexualerziehung und Eheberatung 50
7. Gottesdienstliches Leben 56
8. Die Architektur der Gemeine: steingewordener 60
Ausdruck der Theologie Zinzendorfs
II. Zinzendorfs Theologie: Eine Theologie derer, die auf dem Weg sind
1. Zinzendorfs Lehre von Jesus Christus. Der „Umgang mit Jesus Christus" als Antwort auf Atheismus, Rationalismus und Moralismus seiner Zeit

2. Zinzendorfs Schriftverständnis. Die Schrift als lebendige Stimme Christi 70
a) Die Entstehung von Zinzendorfs Schriftverständnis 70
b) Die Schrift als einzige Quelle der Offenbarung 71
c) Die Schrift als lebendige Stimme Christi. Auseinan- 73
dersetzung mit Orthodoxie und Spiritualismus
d) Das Recht der Bibelkritik und ihre Grenzen 75
e) Die Wiederentdeckung der reformatorischen 81
Gleichzeitigkeit der Schrift. Überwindung des 
Moralismus des älteren hallischen Pietismus
3. Zinzendorfs Verständnis vom Heiligen Geist. Der 84
Predigtstuhl des Geistes ist die ganze Welt
a) Das Wirken des Heiligen Geistes mit den Unbekehrten. .84
b) Das Wirken. des Heiligen Geistes mit den „Kindern 90
Gottes" . .
4. Zinzendorfs Verständnis von christlicher Gemeinde. . 94 
Die weltweite Gemeinschaft derer, die Jesus Christus nachfolgen
Nachwort von Horst-Klaus Hofmann 107
Anmerkungen 115
Literaturverzeichnis . 131