Inhalts-Verzeichnis. 1894
Der Herr ist mein Hirte........................ 1,
Das Geheimnis des Glaubens...........................................................10
Habt ihr Den gesehen, den meine Seele liebt?".......................... 2l >
Handelt bis ich komme."................................................................29
Der Sabbath der Ruhe.....................................................................39
Siehe, du bist schön, meine Freundin.".......................................... 47
Auf daß nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht werde." . ö7
Jerobeam, der Sohn Joas'.......................................................... 66
Komm mit mir!".......................... 75
Glieder des Leibes Christi...............................................................84
Aufgeschaut! das Herz nach oben! (Gedicht!................................83
Messer von Gilgal...........................................................................85
Die Vorbilder des 3. Buches Mose 93. 143. 141. 469. 197. 225
Du hast inir das Herz geraubt."............................................ 100
Entschiedenheit................................................................................ 110
Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, meine Braut." 129
Wache auf, Nordwind, und komme, Südwind!".........................153
Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet :e." . . . 183
Gedanken ................................................................ 195. 250. 279
Droben ist Ruh! (Gedicht)..............................................................196
Alles an Ihm ist lieblich."........................................................ 212
Keine Thränen mehr........................................................................ 221
Wohin ist dein Geliebter gegangen?"........................................ 236
Wie hat's die Seele doch so gut! (Gedicht!..............................252
Die Berufung Rebekkas...................................................................253
In den Nußgarten ging ich hinab."........................................265
Abraham und der König von Sodom.........................................275
Im Lichte des Richtcrstuhls........................................................ 278
Die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe." . . 281
Ein König ist gefesselt durch deine Locken."............................. 296
Äuszug.............................................................................................. 305
Der hinabgestiegen ist derselbe, der auch hinausgestiegen ist." 306
Wie schön bist du, und wie lieblich bist du, o Liebe, :c." . 309
Tag für Tag Seine Wonne."...................................................327
lieberreich in Hoffnung...................................................................332
Der Herr ist mein Hirte. (Nach einem Vortrag über Ps. 23.)
Im 22. Psalm sehen wir den Herrn, den Hirten
der Schafe, am Kreuze von Gott verlassen und in den
Staub des Todes gelegt für uns. Wir finden dort den
Ausdruck, die vollkommene Offenbarung Seiner unendlichen
Liebe, Seiner völligen Hingabe für Seine Schafe. Er ist
tn der Stellung, in welcher wir uns als Sünder vor
Gott befanden, beladen mit unsern Sünden, an unsrem,
Stelle von Gott zur Sünde gemacht. Er geht durch die
Finsternis, durch das Verlassensein von Gott, durch die
tiefen Fluten des göttlichen Gerichts. Er leert den Kelch
des göttlichen Zornes bis zum letzten Tropfen, und zwar
alles das für uns, in Seiner unaussprechlichen Liebe zu
uns, in völliger Hingabe und vollkommenem Gehorsam
Seinem Vater gegenüber, der Ihn in diese Stellung gebracht
hatte.
Wie ist diese Betrachtung geeignet, unsre Herzen
aufs tiefste zu ergreifen und unser aller Gewissen zu berühren!
Welch ein Gedanke, daß es der Sohn Gottes,
der Heilige und Geliebte Gottes, der vollkommene Jesus
war, der dort aus freier Liebe für mich starb, einer Liebe,
die ein solches Werk mit Freuden übernehmen konnte! —
wie Er sagt: „Siehe, ich komme, o Gott, um Deinen
Willen zu thun."
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Es handelte sich um nichts Geringeres, als für uns
in solche Tiefen der Leiden hinabzusteigen. Nur so war
es möglich, uns für Gott zu erkaufen, uns zu besitzen,
uns vom Tode zum Leben, aus der Gewalt Satans zu
Gott zu bringen. Und in welch eine herrliche Stellung
sind jetzt die Seinen durch Seinen Opfertod gebracht! Wir
hören Ihn in Vers 22 als der Auferstandene ausrufen:
„Verkündigen will ich Deinen Namen meinen Brüdern."
Die Folgen Seines Todes, die Folgen Seiner Hingabe
und Seiner Leiden für die Sünde sind lauter Gnade,
Heil und Segen.
Hier in diesem herrlichen 23. Psalm begegnen wir
sodann dem Ausdruck einer Seele, die diese Liebe kennt,
die das Bewußtsein hat, dem Herrn, dem Hirten der
Schafe, um einen solchen Preis auzugehören. Der Psalm
giebt den Gefühlen der Schafe im Blick auf den Hirten
Ausdruck, den Gefühlen einer Seele, die Jesum, den
Herrn, den guten Hirten, vollkommen kennt und genießt,
und die in Seiner Liebe ruht.
„Jehova ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln."
(Vers 1.) Er ist mein Hirte. Er ist mein Eigentum,
und ich bin Sein. Er ist der gute Hirte, der Sein
Leben für mich gelassen hat, als ich noch tot in Sünden
war und als Sein Feind in der Irre ging. Dieselbe
Liebe, die Ihn in den Tod trieb, dieselbe Liebe, die alles
überwunden und mich erlöst hat, ist jetzt für mich. Er
ist ganz für mich. Er ist mein, und ich stehe in Seiner
Liebe und Hirtenpflege. Ich bin Sein — welch ein
Glück, Geliebte, welch ein unaussprechliches Glück, Sein
Eigentum zu sein, sich nicht einsam und verlassen zu
wissen, sondern geliebt, beschirmt und gepflegt von Jhm l
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Möchten wir alle dieses Glück durch den Glauben verwirklichen
!
Aber nicht allein bin ich Sein, sondern auch alles was
Er gethan hat, ist sür mich, ja Er selbst ist mein. Er
ist nicht nur der Hirte Seiner Herde im allgemeinen;
nein, es ist das Vorrecht eines jeden Einzelnen, zu
bezeugen: Er ist mein! Alles was Er ist, alle Seine
Vollkommenheiten und Tugenden, alle Seine Liebe und
Huld, alle die Führungen Seiner Gnade, alles was Er
gethan hat — alles, alles ist für mich! Er ist für mich
gestorben; Er hat Sein Leben für die Schafe gelassen
und hat sie teuer erkauft durch Sern Blut; ja mehr noch,
Er hat alles beseitigt, was gegen sie war, hat alle feindlichen
Mächte besiegt und die Seinigen vollkommen und
für ewig aus allen Banden befreit. Sie sind Sein auf
immerdar. Der Heilige Geist, der uns gegeben worden
ist, giebt uns Zeugnis von unsrer gesegneten Stellung in
Ihm, von dem Verhältnis und der Verbindung, in welche
wir zu Ihm gebracht sind. Und wie Er am Kreuze für
uns war, so ist Er für uns heute, morgen und in alle
Ewigkeit, für uns in dem gegenwärtigen Augenblick, in
allen Umständen und Lagen dieses Lebens. Und bedenken
wir es wohl, es ist der mächtige Herr, Jehova der
Heerscharen selbst, der für uns ist, so daß ein jeder von
uns mit aller Zuversicht sagen kann: „Mir wird nichts
mangeln." O welch einen Reichtum, welch einen Schatz
besitzen wir in Ihm!
Mag die Wüste noch so öde und leer erscheinen,
mögen die Umstände noch so schwierig und drückend sein,
mag es den Schafen noch so sehr an Kraft fehlen, mögen
sie sich befinden inmitten einer Welt, welche sie nicht kennt
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und die ihnen feindlich gesinnt, ja wo alles wider sie ist
— der Glaube sagt zuversichtlich: „Der Herr ist mein,
und ich bin Sein. Er ist mein, und da ich in Seiner
Liebe stehe und Sein Eigentum bin, so ist Er mein
Hirte, und mir wird nichts mangeln."
Es ist die Freude der Seele in unserm Psalme, von
Ihm zu zeugen, Seine Tugenden zu verkünden, Ihn
zu preisen, von Ihm zu erzählen, zu sagen, was Er ist.
Wie lieblich! Das Schaf denkt nicht an sich, es steht
nicht unter dem Einfluß der Umstände, sondern es ist
mit Ihm beschäftigt, den es als seinen Hirten kennt.
Es betrachtet Seine Güte, Seine Treue; es kennt Ihn,
und Er ist alles für das Herz. „Er lagert mich auf
grünen Auen, Er führt mich zu stillen Wassern." (Vers 2.)
Wunderbar! Woher kommen diese grünen Auen, und
von wo entquellen diese stillen Wasser? Giebt das die
Wüste? Nein, solche Dinge finden sich nirgendwo in der
Wüste; und doch i n der Wüste, inmitten dieser bösen
Welt, findet die Seele unter der Pflege des guten Hirten
grüne Auen und stille Wasser. Es sind himmlische Güter,
himmlische Segnungen, welchen die Seele in der Nachfolge
Jesu begegnet.
An anderen Stellen der Schrift redet der Herr von
Seinen Schafen, und da lernen wir Seine Gedanken
betreffs ihrer kennen. So z. B. in Ev. Joh. 10. Hier
aber ist es das Schaf, das von seinem Herrn redet. Der
Herr ist es, der das ganze Herz erfüllt. Wenn Er Seine
Schafe ausgelassen hat, so geht Er vor ihnen her, und
die Schafe folgen Ihm; denn sie kennen Seine Stimme.
Und was finden sie? Was finden wir in Seiner Nachfolge?
WaS giebt Er uns? „Er lagert uns auf grünen
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Auen." Betrachten wir z. B. den Apostel Paulus. Was
war die Wüste für ihn? Was fand er in dieser Welt?
Wahrlich, wenn jemals ein Mensch Ursache hatte, niedergedrückt
und beschwert zu sein, so war er es. Welch ein Weg
der Leiden war sein Weg! Aber was that er? Er freute
sich und frohlockte inmitten der größten Leiden und
schmerzlichsten Umstände. Denn was fand er in der
Nachfolge seines Herrn? Nur grüne Auen, nur stille
Wasser! „Das Leben ist für mich Christus", konnte
er sagen. (Phil. 1.) Er verfolgte seinen Pilgerpfad so zu
sagen in immer zunehmender Treue, und deshalb nahmen
auch seine Prüfungen immer mehr zu, und endlich war
der Kerker in Rom sein Los. Aber wenn wir ihn in
dieser Wüste wandeln sehen, wenn wir ihn im Gefängnis,
in Leiden erblicken, finden wir da einen müden Pilger?
Sehen wir einen niedergeschlagenen Mann? „Freuet euch
im Herrn allezeit", ruft er den Philippern zu, „und wiederum
will ich sagen: Freuet euch !" (Kap. 4.) Ja, er erfuhr in
überströmender Weise die Wahrheit der Worte: „Der Herr
ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er lagert
mich auf grünen Auen, Er führt mich zu stillen Wassern."
„Er erquickt meine Seele." (V. 3.) Ja, Geliebte, so ist
es. Er erquickt uns, wenn wir ermattet sind, Er richtet uns
auf und stellt uns wieder her. Wie Er für Sein Volk
in der Wüste das Manna war, wie Er der Fels war,
der nachfolgte, an den sie sich nur zu wenden hatten, um
erquickende Wasser zu empfangen, so ist Er auch heute
für die Seinen Erquickung, Stärke, Trost und Hilfe.
Der Weg ist schwierig, und wir, ach! wie bald würden
wir schwach und müde werden, wenn Er uns nicht hielte!
Wie oft würden wir inmitten der Schwierigkeiten des
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Glaubensweges ermatten! Aber „der Herr ist mein
Hirte", und Er selbst erquickt meine Seele, und Er leitet
mich um Seiner selbst willen, „um Seines Namens
willen". Er will unser Wohl. Das ist es, was Ihn
leitet in allen Seinen Führungen. „Er leitet mich in
Pfaden der Gerechtigkeit." Er leitet uns überall,
ja, es ist Seine Freude, dies zu thun.
Aber es giebt noch Köstlicheres als das. So schön
und lieblich es ist, von Ihm zu zeugen, von dem zu
reden, was Er für uns ist in den Mühsalen und Leiden
unsers Weges, so giebt es doch noch etwas Höheres und
Gesegneteres. Es ist das Vorrecht, mit Ihm zu
verkehren. Was sagt David im Blick hierauf? „Auch
wenn ich wandelte im Thale des Todesschattens, fürchte
ich nichts Uebles, denn Du bist bei mir; Dein Stecken
und Dein Stab, sie trösten mich." (Vers 4.) Im Thale
des Todesschattens, d. i. in dieser finstern Welt der
Sünde, in welcher der Tod herrscht und seine Schatten
auf alles wirft, fühlt die Seele das Bedürfnis nach der
Nähe des Hirten selbst, nach Seiner beseligenden und
tröstenden Gemeinschaft. Er selbst ist diesen Weg gegangen;
Er weiß, was es heißt, als ein himmlischer
Fremdling hienieden zu pilgern, wo nichts das Herz wahrhaft
erfreuen kann, wo Sünde und Tod uns umgeben.
Er ist hindurchgegangen in Gemeinschaft mit dem Vater,
und selbst angesichts des Todes konnte Er sagen: „Ich
bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir." (Joh. 16,
32.) Er hat alles überwunden und sitzt jetzt zur Rechten
des Vaters. Wir sind in Seine Nachfolge eingetreten
und genießen jetzt ebenfalls Seine persönliche Gegenwart
und erfreuen uns Seiner Nähe. Und selbst wenn der
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Tod auf unserm Pfade liegen sollte, fürchten wir nichts
Uebles. Er, der größer ist als der Tod, ist bei uns,
um uns zu stärken und zu unterstützen; und Er geleitet
uns sicher bis ans Ziel. O wie köstlich, Geliebte, wir
werden bald bei Ihm sein! Welch eine Freude! Er wird
uns führen zu den Strömen vollkommener Glückseligkeit.
Wir sind also hienieden der Gegenstand Seines
Schutzes, Seiner treuen Hirtenpflege. Er ist es, der über
uns wacht, der stets in Liebe mit uns beschäftigt ist. Immerfort
bleiben Seine Hände über uns ausgestreckt, und nie
zieht Er Sein wachsames Auge von uns ab. Er hat es
übernommen für uns zu sorgen, und darum ist es nicht
unsere Sache, an das zu denken, was uns begegnen könnte,
oder auf Mittel zu sinnen, um unsern Weg zu ebnen.
Welch eine Ruhe verleiht das dem Herzen! Wie selig ist
es, Seine Nähe zu verspüren! „Du bist bei mir."
Gerade indem wir Ihm folgen und mit Ihm unsern Weg
gehen, er mag nun durch Tiefen oder durch Wüsten führen,
erfahren wir, daß Er bei uns ist. Vielleicht müssen wir
zu Zeiten mit dem Psalmisten sagen: „Im Meere ist Dein
Weg, und Deine Pfade in großen Wassern, und Deine
Fußstapfen sind nicht bekannt." (Pf. 77, 19.) Aber es
ist Sein Weg; Er geht voran, und wir haben nur nachzufolgen.
Wohin Er uns auch führen mag, überall ist
Er es, der vorangeht. Er läßt uns nicht allein in den
tiefen Wassern. Er bahnt den Weg, dessen herrliches
Ende Ihm von Anfang an bekannt ist, und am Ende
wird uns auch nichts anderes übrigbleiben als das Bekenntnis:
„Du hast Dein Volk geleitet' wie eine Herde."
(V. 20.) Vor Ihm, der alles überwunden hat, müssen
alle Feinde und Hindernisse weichen.
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Allerdings werden wir, wenn wir dem Herrn nachfolgen,
die Welt wider uns finden und denselben Haß
erfahren, den Er einst erfuhr. Die Welt kennt uns nicht,
und Satan, der Fürst dieser Welt, ist unser Widersacher.
Doch was haben wir zu fürchten, wenn Er bei uns ist
und in dem Kampfe selbst vorangeht? „Du bereitest vor
mir einen Tisch angesichts meiner Feinde." sVers 5.) Ja,
vor Ihm sind alle Feinde ohnmächtig, und Er giebt etwas,
das kein Widersacher zu rauben vermag. „Du hast mein
Haupt mit Oel gesalbt, mein Becher fließt über." Das
Herz ist glücklich und getrost trotz der zahlreichen Feinde
und findet seine Freude darin, den Willen des Herrn zu
thun und Ihm zu folgen, so wie es einst Seine Freude
war, den Willen des Vaters zu thun; und indem wir
Ihm mit Herz und Gewissen folgen, giebt Er uns Kraft
und bereitet uns einen Tisch der Güte angesichts unsrer
Feinde.
So ist also für alles in Fülle gesorgt: Der Herr
ist mein Hirte; Er lagert mich auf grünen Auen und
führt mich zu stillen Wassern; Er ist bei mir, mein Stecken
und mein Stab; Er setzt mir einen Tisch vor, an welchem
ich mich in friedevoller Sicherheit niederlassen und mich
an Seiner Güte und Freundlichkeit erquicken kann. Die
Seele ist vollkommen glücklich in dem Genuß einer solchen
Liebe. Wie könnte eS auch anders sein? In der Gegenwart
des Herrn und auf Seinen Wegen sind vollkommene
Zuversicht und Freude unser Teil. Ja, nicht nur Zuversicht,
sondern auch eine fröhliche Hoffnung für die
Zukunft erfüllt'das Herz. „Fürwahr, Güte und Huld
werden mir folgen alle Tage meines Lebens." Das ist
Zuversicht; der Herr geht voran, und Er ist der gute
9
Hirte, darum werden Seine Güte und Huld mir folgen
immerdar. Selbst in öden und dunklen Tagen, in Tagen
der Leiden und Kämpfe, der schwierigsten Glaubens-
Prüfungen darf ich zuversichtlich sagen: „Güte und Huld
werden mir folgen immerdar". Tag für Tag werde ich
Seine Erbarmungen erfahren, sie sind jeden Morgen neu.
Tag für Tag werden mich Gnade und Huld umgeben,
denn ich bin Sein Eigentum. Welch ein Segen, welch
ein Weg des Friedens, des Glückes und der Freude!
Zwar oft dunkel, aber erleuchtet durch Seine Gegenwart,
ein Weg der vollkommensten Glückseligkeit.
Und wenn mein Blick über diese Erde hinauswandert,
was dann? „Ich werde wohnen im Hause Jehovas
auf Länge der Tage." Das ist Hoffnung, und zwar
«ine gewisse, zuversichtliche Hoffnung, das Ergebnis der
vollkommnen Liebe des Herrn. Diese Liebe von Tag zu
Tage erfahren zu dürfen bis zu ihrem endlichen vollkommnen
Genuß in der Herrlichkeit des Vaterhauses
droben, das ist das Verlangen des Gläubigen. O welch
eine herrliche Stellung, Geliebte! Wie ist doch der Weg
des treuen Gläubigen so voll von Frieden und Freude!
wie wird er erleichtert durch diese herrliche Hoffnung, bald
bei Ihm zu sein, dort wo Er ist, auf immerdar! Der
Herr gebe uns allen, diese Hoffnung durch den Glauben
zu verwirklichen und Ihm, dem guten Hirten, der uns
jetzt pflegt und weidet, zu folgen bis ans Ende, bis wir
bei Ihm sein und ewiglich Ihn schauen werden, wie
Er ist!
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Das Geheimnis des Glaubens.
(1. Tim. 3, 9.)
Was ist das Geheimnis des Glaubens? Um eS
mit wenigen Worten zu sagen: der Inbegriff alles dessen,
was nur dem Glauben geoffenbart, der Welt aber verborgen
ist. Es wird in der Schrift unter verschiedenen
Gesichtspunkten betrachtet und trägt dementsprechend auch
verschiedene Namen. So heißt es z. B. in Kol. 2 das
„Geheimnis Gottes", weil Gott in ihm alles kundgethan
hat, was Er vor Grundlegung der Welt im Blick auf
Christum und die Kirche in Seinem Herzen beschlossen
hatte; alles was die Schatten des Alten Testaments, das
Hohepriestertum, die Opfer, die Stiftshütte mit ihren
Einrichtungen rc. vorbildlich darstellten. Darum lesen wir
auch, daß in dem Geheimnis Gottes verborgen seien alle
Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.
(Kol. 2, 2. 3.) Im Lichte dieses Geheimnisses verstehen
wir z. B. die Bedeutung der Wege Gottes im Alten
Testament, den Charakter und Zweck der verschiedenen
Haushaltungen, die vorbildliche Bedeutung, welche Adam
und Eva, Isaak und Rebekka nebst vielen andern alt-
testamentlichen Heiligen im Blick auf Christum und die
Kirche hatten u. s. w.
Ferner hören wir in der Schrift von dem „Geheimnis
des Christus". (Eph. 3, 4; Kol. 4, 3.) Es
wird so genannt, weil es speziell Christum und die Beziehungen
des Gläubigen zu Ihm zum Gegenstände hat.
Insofern ist der Ausdruck vielleicht nicht so allgemein
und umfassend wie „Geheimnis des Glaubens" oder
„Geheimnis Gottes". Zu dem „Geheimnis des Christus"
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gehört die Stellung des Gläubigen in Christo vor Gott.
Gott sieht die Gläubigen nicht mehr nach ihrem alten
Zustande, sondern in Christo und Christum in
ihnen. Christus ist für sie die Hoffnung der Herrlichkeit,
das heißt der Grund ihrer Hoffnung; es giebt keinen
andern für sie. Indem sie in Ihm sind, nehmen sie, so
arm und verloren sie in sich auch sein mochten, teil an
dem unausforschlichen Reichtum Les Christus. Wenn der
Apostel von dem Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses
spricht, so fügt er hinzu: „welches ist Christus in
euch, die Hoffnung der Herrlichkeit". (Kol. 1, 27.)
Ferner bilden die Gläubigen den Leib Christi und
werden zusammen mit Ihm als eine Person betrachtet.
„Denn gleichwie der Leib einer ist und viele Glieder
hat, alle die Glieder des Leibes aber, obgleich viele, ein
Leib sind: also auch der Christus." (1. Kor. 12,12.)
Wieder in einem andern Sinne ist die Rede von dem
„Geheimnis der Gottseligkeit". Als solches umfaßt
es vornehmlich die Herrlichkeit der Person Christi, des
fleischgewordenen Wortes; und daS ist unstreitig der erhabenste
Teil des Geheimnisses des Glaubens. Deshalb
sagt auch der Apostel: „Anerkannt groß ist das
Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist geoffenbart worden
im Fleische, gerechtfertigt im Geiste, gesehen von den
Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der
Welt, ausgenommen in Herrlichkeit." (1. Tim. 3, 16.)
Diese große, erhabene Wahrheit hat die Kirche als der
Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit allezeit aufrecht
zu erhalten. Mit ihr steht und fällt das Christentum.
Ja, nicht nur dies; auch alle Ratschlüsse Gottes betreffs
Israels, der Nationen und der ganzen Schöpfung stehen
12
und fallen mit dieser Wahrheit. Die Erlösung, die
Wiederherstellung Israels samt der Erfüllung aller ihm gegebenen
Verheißungen, die Befreiung der Schöpfung von
der Knechtschaft des Verderbnisses, die Segnungen des
tausendjährigen Reiches für Israel und die Völker der
Erde, der ewige, glückselige Zustand des neuen Himmels
und der neuen Erde, und vornehmlich die durch alles
dieses bezweckte Verherrlichung Gottes — alles wird in
Frage gestellt, wenn das Geheimnis der Gottseligkeit nicht
voll und ganz aufrecht erhalten wird.
Es ist daher kein Wunder, daß dieser Grundstein
aller Wahrheiten von jeher in ganz besonderer Weise den
Angriffen des Feindes zum Zielpunkte gedient hat. Um die
Seelen unter seinen Einfluß zu bringen, sucht er den einfachen
Glauben durch menschliche Vernunftschlüsse zu ersetzen.
Man will erklären, was nicht zu erklären, ergründen, was
nicht zu ergründen ist. Leider sind zu allen Zeiten viele
eine Beute solcher Vernunftschlüffe oder der „fälschlich
sogenannten Kenntnis" geworden. (Siehe Kol. 2, 8;
1. Tim. 6, 20.) Schon zu den Zeiten der Apostel war
es so, und darum schreibt Paulus an die Korinther:
„Denn die Waffen unsers Kampfes sind nicht fleischlich,
sondern göttlich mächtig zur Zerstörung der Festungen;
indem wir die Vernunftschlüsse zerstören und jede Höhe,
die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes." (2. Kor.
10, 4.) Auch in unsern Tagen tauchen allerlei Vernunftschlüffe
und Spekulationen des menschlichen Geistes auf,
und es ist nötig, sie mit Entschiedenheit zu bekämpfen
und zurückzuweisen, wenn wir anders „das Geheimnis
des Glaubens in reinem Gewissen bewahren" wollen.
Wir haben schon bemerkt, daß es ein Werk des Feindes
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ist, die Geheimnisse der Person Christi durch die menschliche
Vernunft erklären zu wollen. Ihr Kennzeichen
ist, daß sie stets über die Schrift hinauSgeht, vor allem
wenn es sich um die Person des Sohnes Gottes handelt,
den niemand kennt als nur der Vater. Dem Glauben
genügtes zu wissen, daß Gott geoffenbart worden
ist im Fleische, daß das ewige Wort Fleisch
wurde, daß wir versöhnt worden sind durch den Tod
des Sohnes Gottes, daß das Blut Jesu Christi,
Seines Sohnes, uns reinigt von aller Sünde u. s. w.
Vor diesen einfachen, klaren Worten Gottes zerstieben alle
Vernunftschlüsse des Menschen wie die Spreu vor dem
Winde, und der einfältige Christ glaubt sie, ohne weitere
Erklärungen nötig zu haben oder nur zu erwarten. Nur
eine Person, die Gott gleich und doch wahrhaftig Mensch
war, konnte den Forderungen eines heiligen Gottes betreffs
der Sünde genügen. Nur eine göttliche Person, die das
Leben in sich selbst hatte, konnte unsre Sünden tragen
und für uns sterben, ohne von dem Tode behalten zu
werden. Weder ein heiliger Engel, noch ein unschuldiger
Mensch, (wenn es einen solchen gegeben hätte,) hätte dies
zu thun vermocht, weil weder der eine noch der andere
wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch in einer Person war.
Das Werk der Versöhnung ist die große Grundlage,
auf welcher allein die Erfüllung der Ratschlüsse Gottes,
die Erlösung und die Wiederherstellung aller Dinge ruhen
kann. Und dieses Werk war ganz und gar abhängig
von dem göttlichen Willen. Wer anders als der Sohn,
der von Ewigkeit her im Schoße des Vaters war, die
zweite Person der Gottheit, hätte den Willen Gottes vollbringen
können? Er hat gesagt: „Siehe, ich (der Sohn)
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komme, (in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben),
um Deinen Willen, o Gott, zu thun." Er (der Sohn)
hat diesen Willen erfüllt, indem Er starb und Seinen
von Gott Ihm bereiteten Leib zum Opfer darbrachte.
(Hebr. 10, 5—10.) Das Werk ist göttlich von seinem
ersten Ursprung bis zu seinem Ende. Gegründet auf den
Willen Gottes, ward es ausgeführt durch den Sohn
Gottes, und darum ist es das feste, unerschütterliche
Fundament der ewigen Ratschlüsse Gottes. Das was
dem Kreuze seinen unendlich kostbaren Wert in den Augen
Gottes giebt, was ihm seine göttliche Kraft und Wirkung
verleiht, ist die Person» die dort an unsrer Statt war.
Es war das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes,
welches dort floß. Wäre es dieses nicht, so würde das
ganze Werk mit allem, was darauf gegründet ist, in Nichts
zusammenfallen.
Gott aber sei gepriesen, daß der Wert des Opfers
Christi von Seiner Schätzung und nicht von derjenigen
des Menschen abhängt! Er sieht am Kreuze das Opfer
Dessen, der von Ewigkeit her die Wonne Seines Herzens
ausmachte. Schon das vorbildliche Opfer des Alten
Bundes war ein „lieblicher Geruch dem Jehova;" das
Opfer Christi ist dies in göttlicher Vollkommenheit. (Vergl.
3. Mose 1, 9 mit Ephes. 5, 2.) Und darum können
weder die Macht und List des Feindes, noch die eitlen
und thörichten Vernunftschlüsse des Menschen dem Werke
Christi irgend welchen Abbruch thun, oder gar die Erfüllung
der ewigen Ratschlüsse Gottes aufhalten. Und
ebenso wenig vermögen sie die Ruhe und den Frieden
dessen zu stören, der in Einfalt des Glaubens auf diesem
kostbaren Werke ruht. So unerschütterlich wie das Werk,
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so unerschütterlich ist auch die durch dasselbe bewirkte
Erlösung. Der Friede des Gläubigen, sowie seine Hoffnung
auf eine ewige Herrlichkeit sind deshalb fest und
untrüglich. Er kann singen:
Seiger Ruh'ort! — süßer Friede
Füllet meine Seele jetzt;
Da, wo Gott mit Wonne ruhet,
Bin auch ich in Ruh' gesetzt.
Der Gegenstand des Geheimnisses der Gottseligkeit
ist also ausschließlich die anbetungswürdige Person des
Herrn, dessen Herrlichkeit als Erretter darin geoffenbart
ist. Diese Herrlichkeit wurde schon vor Seiner Geburt
durch den Engel angekündigt: „Und du sollst Seinen
Namen Jesus nennen, denn Er wird Sein Volk erretten
von ihren Sünden". Desgleichen war schon durch den
Propheten gesagt worden: „Und sie werden Seinen Namen
nennen: Emmanuel, das ist verdolmetscht: Gott mit
uns". (Matth. 1, 21. 23.) „Fürchtet euch nicht",
lautete die Botschaft des Engels an die Hirten auf dem
Felde, „denn stehe, ich verkündige euch große Freude, die
für das ganze Volk sein wird; denn euch ist heute ein
Erretter geboren in Davids Stadt, welcher ist
Christus, der Herr". (Luk. 2, 10. 11.) Welch ein
großes Geheimnis: Gott ist geoffenbart worden im Fleische!
Wie tief und inhaltsreich sind diese wenigen Worte! Gott,
der Ewige, der Schöpfer und Erhalter des Weltalls, der
während der ganzen Zeit des Alten Bundes hinter dem
Vorhänge verborgen war, ist geoffenbart worden;
nicht in der Pracht Seiner Majestät, wenn Er sich aufmacht
die Erde zu schrecken (Jes. 2, 19—21), sondern in
der Herrlichkeit Seiner Natur, voller Gnade und Wahrheit.
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(Joh. 1, 14.) Er ist geoffenbart worden im Fleische,
zugänglich für einen jeden. Man konnte Ihn sehen, hören,
anschauen und betasten (1. Joh. 1, 1); Er wohnte unter
uns (Joh. 1, 14) wie einer unsers Gleichen, wurde
hungrig, aß und trank (Matth. 21, 18; 11, 19), wurde
müde und schlief. (Joh. 4, 6; Luk. 8, 23.) Er war
wahrhaftig Mensch und doch wahrhaftig Gott — welch
ein Geheimnis! Gott war da, nicht um zu richten, sondern
um zu erretten. „Ich bin nicht gekommen, auf daß ich
die Welt richte, sondern daß ich die Welt errette."
(Joh. 12, 47.) Wer anders als Gott hätte also reden
können? Eine solche Sprache in dem Munde irgend eines
Geschöpfes wäre nicht nur die höchste Anmaßung, sondern
auch sinnlose Thorheit gewesen. Nur Christus hatte die
Macht, zu richten und zu erretten. „Wer kann Sünden
vergeben, als allein Gott?" fragen die Pharisäer, und
sie hatten Recht; aber ach! sie glaubten nicht, daß Gott
selbst in der Person des verachteten Jesus vor ihnen
stand. Und doch hatte Er ihnen in Seiner Herablassung
stz manche Beweise Seiner göttlichen Macht gegeben und
that es auch bei dieser Gelegenheit wieder, indem Er
sprach: „Was ist leichter, zu sagen: dir sind deine Sünden
vergeben, oder zu sagen: Stehe auf und wandle? Auf
daß ihr aber wisset, daß der Sohn des Menschen Gewalt
hat, auf der Erde Sünden zu vergeben .... sprach Er
zu dem Gichtbrüchigen: Ich sage dir, stehe auf und nimm
dein Bettlein auf und gehe nach deinem Hause. Und alsbald
stand er vor ihnen auf rc." (Luk. 5, 23—25.)
Es lag stets in der Gewalt des Herrn, über die
Welt, über die Macht Satans, über Leben und Tod zu
verfügen. Er hatte Gewalt über die Teufel, sie in den
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Abgrund zu senden; und wie sehr diese die Macht des
Herrn kannten und fürchteten, geht daraus hervor, daß
sie Ihn baten, Er möge ihnen nicht gebieten, in den
Abgrund zu fahren. (Luk. 8, 31.) Und diese Gewalt
konnte Er auch andern mitteilen, so daß diese ebenfalls
Kranke zu heilen, Teufel auszutreiben und Tote aufzuerwecken
vermochten. (Matth. 10, 8 ; Mark. 3, 15.) Wenn Er ferner
von Seinem Leben spricht, so sagt Er: „Niemand nimmt
es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich
habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wieder
zu nehmen." (Joh. 10, 18.) Und Er ließ es aus eigner
Machtvollkommenheit, damit in der Ausführung des Erlösungswerkes
zugleich der Gerechtigkeit Gottes volle Genüge
geschehe und Gottes Heiligkeit und Majestät vollkommen
verherrlicht werden möchten. Und nachdem alles vollbracht
war, nahm Er das Leben wieder in derselben Macht,
gemäß Seinen eignen Worten: „Brechet diesen Tempel ab,
und in drei Tagen werde i ch ihn aufrichten ... Er aber
sprach von dem Tempel Seines Leibes." (Joh. 2, 19. 21.)
Er, der die Welten gemacht, hat auch in derselben Macht
die Reinigung unsrer Sünden ausgeführt, und sich alsdann
in eigner Machtvollkommenheit zur Rechten der
Majestät in der Höhe gesetzt. (Hebr. 1, 1—3.)
Gott selbst, geoffenbart im Fleische, war es also,
der das große Werk der Gnade ausführte, das — gegründet
auf die Herrlichkeit Seiner eignen Person —
göttlich vollkommen und unwandelbar ist. Es ist die
Quelle, aus welcher die Ströme des Segens für die
Kirche, für Israel, die Nationen und die ganze Erde hervorfließen.
Das tausendjährige Reich, der Himmel und
schließlich die neue Erde werden die Zeugen dieser Seg
18
nungen, aber auch der Herrlichkeit Dessen sein, der sich
«inst selbst erniedrigte bis zum Tode, ja zum Tode am
Kreuze; der, obgleich der Schöpfer des Weltalls, als Kind
in der Krippe lag und auf dieser Erde nicht hatte, wohin
Er Sein Haupt legen konnte. (Luk. 9, 58.) Dann wird
die tiefe Bedeutung der Worte des Propheten erkannt
werden: „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn
uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf Seiner
Schulter; und man nennt Seinen Namen: Wunderbarer,
Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst."
(Jes. 9, 6.)
Dann wird auch das „Geheimnis des Glaubens"
in seinem vollen Glanze geoffenbart sein: die Verbindung
der Kirche mit Christo als Sein Weib, Seine Miterbin
und Sein Leib. Es wird erkannt werden, was sie nach
den ewigen Ratschlüssen Gottes und was jeder Gläubige
in Christo ist; alle werden bekleidet sein mit der Herrlichkeit
Christi. Sie werden sein „zum Preise der Herrlichkeit
Seiner Gnade" und „zum Preise Seiner Herrlichkeit"
(Eph. 1, 6. 12); und die Fürstentümer und Gewalten
in den himmlischen Oertern werden ewiglich die „gar
mannigfaltige Weisheit Gottes" an der Versammlung bewundern.
(Eph. 3, 10.)
Nicht als ob dieses innige Verhältnis der Kirche zu
Christo, sowie die Einheit der Gläubigen mit Ihm und
unter einander erst dann zur Thatsache würden; nein, sie
sind jetzt schon Thatsache. Und gerade das ist das Geheimnis
des Christus, das Geheimnis Gottes, welches der
Glaube bewahrt und verwirklicht trotz der Verwirrung, die
ihn hier umgiebt. Es jetzt zu kennen ist in der That
«ine unschätzbare Gnade, da in diesem Geheimnis, wie
19
bereits oben gesagt, „alle Schätze der Weisheit und der
Erkenntnis verborgen sind". (Kol. 2, 3.) Ohne die wirkliche
Erkenntnis desselben ist es unmöglich, die Wahrheit
zu kennen und darin zu wandeln.
Gott gebe uns deshalb allen Gnade, das Geheimnis
des Glaubens zu kennen und treu zu bewahren! Aber
wie kann es bewahrt werden? Nur in einem „reinen
Gewissen". Das ist überaus wichtig. Der Größe deS
Vorrechtes entspricht immer die Größe der Verantwortlichkeit.
Gott hat uns Seine Geheimnisse anvertraut, und darum
sind auch wir in gewissem Sinne, gleich dem Apostel,
Verwalter derselben. Aber deshalb gilt auch uns das
Wort: „UebrigenS sucht man hier an den Verwaltern,
daß einer treu erfunden werde." (1. Kor. 4, 1. 2.)
Hüten wir uns deshalb, daß uns nicht um unsrer Untreue
willen die Verwaltung entzogen werde! Laßt uns acht
haben auf uns selbst, daß wir das Geheimnis des Glaubens
in reinem Gewissen bewahren, daß wir auf die Stimme
des letzteren hören und sie nicht ersticken. Sicher meldet
das Gewissen, so lange es rein und zart ist, jeden leichtfertigen
und unreinen Gedanken an; aber wenn wir nicht
auf diese Anmeldung achten, so unterbleibt das Selbstgericht,
und das Gewissen ist dann schon nicht mehr rein.
Niemand aber kann absehen, wo wir enden werden, wenn
wir in einem solchen Zustande vorangehen. Das geistliche
Leben sinkt tiefer und tiefer, der Blick und die Klarheit
des Geistes trüben sich mehr und mehr, und schließlich
tritt völlige Verblendung ein. Wie ernst ist das! Nichts
ist wichtiger im Blick auf unser praktisches Leben, als die
Bewahrung eines reinen Gewissens vor Gott und Menschen.
Und sollte uns der Gedanke, daß Gott uns in Seiner
20
großen Gnade Seines Vertrauens gewürdigt und uns
Sein Geheimnis für diese letzten Tage geoffenbart hat,
nicht zu umso größerer Treue anspornen? Der Apostel
wußte das ihm geschenkte Vertrauen wohl zu schätzen. Er
sagt: „Ich danke Christo Jesu, unserm Herrn, der mich
kräftig gemacht, daß Er mich treu geachtet und in
den Dienst gestellt hat." (1. Tim. 1, 12.) Auch Timotheus
sollte wegen des ihm geschenkten Vertrauens den
guten Kampf kämpfen (1. Tim. 1, 18), und wir sehen
an dieser Stelle, daß der Gläubige gerade dann den
guten Kampf kämpft, wenn er „den Glauben bewahrt
und ein gutes Gewissen, welches", wie der Apostel
hinzufügt, „etliche von sich gestoßen und, was den Glauben
betrifft, Schiffbruch gelitten haben."
Der Herr ist nahe und wird bald Seine Kirche zum
Himmel entrücken; und dann werden die Gerichte über
diese sichre Welt hereinbrechen, um den Weg zu bahnen
für die Offenbarung des Geheimnisses Gottes angesichts
der ganzen Schöpfung. Dann wird auch die Person
des Herrn in Herrlichkeit geoffenbart werden, und die Kirche
mit Ihm. (Kol. 3, 4.) Damit ist die Vollendung des
Geheimnisses Gottes gekommen, wie geschrieben steht: „In
den Tagen der Stimme des siebenten Engels, wenn er
Posaunen wird, wird auch vollendet sein das Geheimnis
Gottes, wie Er Seinen eignen Knechten, den
Propheten, die frohe Botschaft verkündigt hat." (Offbg.
10, 7.)
21
„Habt ihr Den gesehen, den meine
Seele liebt?"
(Hohel. 3.)
„Auf meinem Lager in den Nächten suchte ich den
meine Seele liebt: ich suchte Ihn und fand Ihn
nicht!" (V. 1.) Das Herz der Braut fühlt die Einsamkeit
der Nacht, während sie aus das Tagen des
Morgens wartet. Sie denkt an den Einen, der den
Morgen mit sich bringen wird; aber sie hat das Bewußtsein
Seiner Nähe verloren. Das ist ein Rückgang, ein
Fehler. Das Gewissen ist wach, die Zuneigungen sind
lebendig, und doch ist keine Freude da; sie ist in Unruhe.
Woher mag das kommen? Ein waches Gewissen, eine
brennende Liebe, und doch Finsternis! Für einen solchen
Seelenzustand kann es nur eine Ursache geben: das
Auge ruht nicht auf dem Geliebten selbst.
Scheinbar mag es noch andere Ursachen geben, aber das
ist die wirkliche Ursache. Das Auge der Braut ist
umhergewandert, und darum befindet sie sich in Finsternis,
in tief empfundener Einsamkeit.
Es macht für die Zwecke des Feindes wenig aus,
wohin sich das Auge wendet, wenn er es nur von
Christo ablenken kann. Es mag mit dem Besten beschäftigt
sein, wie z. B. mit dem Werke des Herrn, mit
der Liebe zu den Brüdern, mit der Gemeinschaft, mit der
Bedienung der Heiligen u. s. w.; aber selbst diese Dinge,
so schön und gesegnet sie an und für sich sind, werden
zu Fehlern aller Art führen, wenn eines von ihnen die
Stelle der Person Christi einnimmt und zu dem das Herz
beherrschenden Gegenstände wird. Und was sollen wir erst
22
sagen, wenn die Interessen des eignen Ichs oder die Welt
in einer ihrer tausenderlei Formen Eingang ins Herz
finden? Was anders als Schwachheit, Finsternis und
Verwirrung kann dann die Folge sein?
Man sagt oft im Hinblick auf einen solchen Seelenzustand:
Der Herr verbirgt für eine Zeit Sein Antlitz,
um uns zu prüfen und die schlummernden Zuneigungen
unsrer Herzen zu wecken. Allein wir finden im Hohenliede
keinerlei Grund für eine solche Annahme, und sicherlich
widerstreitet sie schnurstracks den einfachen und klaren Belehrungen
der Apostel des Neuen Testaments. Christus
ist stets vollkommen, Er bleibt sich immer gleich trotz
unsrer großen und beklagenswerten Veränderlichkeit. Auch
sind wir ins Licht gebracht, so wie Gott selbst im Lichte
ist. Der Vorhang ist zerrissen, und Christus hat Seine
Erlösten ins „Allerheiligste" eingeführt. Wir sind, wo
Er ist und wie Er ist. Und Johannes schreibt in seiner
ersten Epistel, „daß die Finsternis vergehe und das wahrhaftige
Licht schon leuchte". (Kap. 2, 8.)
Wohl mag es einer Seele, die in Finsternis ist, so
scheinen, als ob der Herr sich von ihr entfernt hätte.
Aber eS scheint auch nur so; es ist stets die Seele,
die sich von Ihm entfernt, nicht aber umgekehrt. Sicherlich
kann der Herr einer Seele, wenn sie Ihn aus dem
Auge verloren hat, Seine göttliche Liebe nicht in derselben
Weise offenbaren, wie wenn sie Ihm treu nachfolgt;
wie Er selbst gesagt hat: „Wenn jemand mich liebt, so
wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn
lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung
bei ihm machen." (Joh. 14, 23.) Aber das ist etwas
ganz anderes. Der Herr verändert sich niemals. Tritt
23
«ine Veränderung in unsrer Gemeinschaft mit Christo, in
dem Genuß Seiner Person, ein, so liegt die Schuld
lediglich an uns. Wir dürfen versichert sein, daß Er uns
Seine Liebe in dem ausgedehntesten Maße kundgeben wird,
so lange unser Auge auf Seine Person gerichtet bleibt.
So lange Er unser Gegenstand, unser Ein und Alles ist,
erfüllen Licht, Liebe, Friede und Freude das Herz. Wenn
aber das Auge umherschweift, wenn Er nicht mehr den
Gesichtskreis der Seele ausfüllt, so wird es finster in uns,
und bald folgt durch die List des Feindes eine endlose
Reihe von beunruhigenden, sorgenden Gedanken und Gefühlen.
„Die Lampe des Leibes ist das Auge; wenn
nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib
Licht sein.« (Matth. 6, 22.)
Laß uns deshalb, geliebter Leser, aus der Erfahrung,
welche die Braut hier macht, die für uns so notwendige
Unterweisung lernen, daß nichts anderes als die Person
des Herrn Jesu Christi jemals die Zuneigungen
und Liebestriebe der neuen Natur befriedigen kann. „Habt
ihr Den gesehen, den meine Seele liebt?« ist die passende
Frage dieser Natur, wenn man Ihn selbst aus dem
Auge verloren hat. Die Form der Frage mag verschieden
sein, aber die Ursache der Unruhe ist stets die
gleiche. Ein einfältiges Auge kann nicht einen doppelten
Gegenstand haben. Die Braut hat sich während der
Nacht mit irgend etwas anderem neben ihrem Geliebten
beschäftigt; vielleicht war es die Wüste oder die Beschwerlichkeit
des Weges, vielleicht auch die erwartete
Herrlichkeit des anbrechenden Tages. Aber sicher war es
nicht Er, wie zu einer früheren Zeit, als sie von Ihm
sagen konnte: „Ein Bündel Myrrhe ist mir mein Ge
24
siebter." (Kap. 1, 13.) Damals füllten Friede uni>
Freude ihre ganze Seele aus, und der süße Wohlgeruch
Seines Namens verbreitete sich überall, wohin sie ging.
Jetzt offenbaren sich Ruhelosigkeit und Sorge, und ihre
eigne Schwachheit tritt ans Licht.
„Ich will doch aufstehen und in der Stadt umhergehen,
auf den Straßen und auf den Plätzen, will suchen
den meine Seele liebt. Ich suchte Ihn und fand Ihn
nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt
umhergehen: Habt ihr Den gesehen, den meine Seele
liebt?" (V. 2. 3.) Die Stellung und Thätigkeit der
Braut sind jetzt verändert, aber Ruhe findet sie nicht.
Sie hat den Geist der Nachlässigkeit von sich abgeschüttelt.
Ihre Frage ist die Sprache einer Seele, die es ernst
meint. Aber die Straßen und Plätze der Stadt, wo
Wächter angestellt sind, um die moralische Ordnung aufrecht
zu erhalten, sind nicht die Orte, wo sie ihren Geliebten
finden kann. „Er weidet unter den Lilien". Sie
weiß das sehr wohl, aber sie ist unruhig und verwirrt,
wie viele es vor und nach ihr in ähnlichen Umständen
gewesen sind. Die Spuren der Herde, die Wohnungen
der Hirten, das grünende Gras, der Myrrhenberg und
der Weihrauchhügel, das blühende Gefilde, der Garten,
die Gewürzbeete — das sind Seine Lieblingsorte: dort
ist Er zu finden, nicht in der Stadt. Aber so wie die
Unthätigkeit der Braut verkehrt war, so ist jetzt auch ihre
Thätigkeit vom Uebel. Wären Demütigung und Bekenntnis
der erstern gefolgt, so würde die letztere wohl
vermieden worden sein. Andrerseits aber können wir
nicht anders als die Glut ihrer Liebe, die Fülle ihres
Herzens und die Aufrichtigkeit ihres Bekenntnisses be
25
wundern. Viermal in diesen vier Versen spricht sie von
„Dem, den ihre Seele liebt". Aber niemals behauptet
sie, Ihn zu haben, bis sie Ihn wirklich besitzt, oder
glücklich zu sein, bis sie es ist. Wollte Gott, daß wir
bei unsern Verirrungen und Fehlern auch stets dieselbe
Liebe und Aufrichtigkeit, denselben Ernst offenbaren möchten!
Gerade durch die Glut ihrer Liebe wurde ihr Fehler ans
Licht gestellt. O möchte auch bei uns jedes Abirren vom
Herrn durch die Innigkeit unsrer Liebe zu Seiner anbetungswürdigen
Person aufgedeckt werden!
Die Liebe der Braut ist eine solche, daß nichts als
Er selbst das Bedürfnis ihres Herzens stillen kann.
Und wäre sie im Himmel gewesen, anstatt in der Stadt,
und hätte Ihn nicht dort gefunden, so wäre es genau
so gewesen wie jetzt; sie würde ihr Suchen haben fortsetzen
müssen, bis sie Ihn gefunden hätte. Der Himmel
mit all seinem herrlichen Glanz, ohne Ihn, würde die
Zuneigungen ihrer erneuerten Seele nicht befriedigt haben.
Sie suchte Ihn selbst, und nichts und niemand anders
konnte Seinen Platz einnehmen. Nur die Liebe des
Retters kann die Liebe des Erretteten befriedigen, nur
die Liebe des Bräutigams diejenige der Braut.
„Die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist
aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt,
hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe . . . Wir
lieben, weil Er uns zuerst geliebt hat." (1. Joh. 4, 7—19.)
Ueber dieser armen Welt, über den Wolken, über den
Stürmen ruht der Gläubige an dem Herzen des Geliebten.
Woher kommt es aber, daß so viele wahre Christen trotzdem
keinen gegründeten Frieden, keine ungetrübte Ruhe
kennen, von Freude und Liebe gar nicht zu reden? Ein
26
fach weil Christus selbst nicht der einzige Gegenstand
ihres Herzens, der Mittelpunkt aller ihrer Wege ist.
Ihre Ruhelosigkeit und die steten Störungen ihres Friedens
haben allein hierin ihren Grund. In demselben Augenblick,
da Christus den rechten Platz im Herzen erhält,
kommt alles andere von selbst in Ordnung. Wenn aber
irgend etwas zwischen dem Herzen und Christo steht, so
ist der Heilige Geist betrübt, die Seele ist in Finsternis,
und Schwachheit und Verwirrung folgen. Alles ist in
Unordnung.
„Kaum war ich an ihnen vorüber, da fand ich den
meine Seele liebt. Ich ergriff Ihn und ließ Ihn nicht,
bis ich Ihn gebracht hatte in das Haus meiner Mutter
und in das Gemach meiner Gebärerin." (V. 4.) Groß
war die Freude Sulammiths, als sie ihren Geliebten fand.
„Ich fand Ihn." Gesegnete Worte! Ich, ein armes,
schwaches, irrendes Geschöpf, fand Ihn, den Urquell
aller Freude, die Quelle aller Glückseligkeit! Ihr ernstes
liebendes Suchen ist belohnt. Es muß immer so sein.
„Der Suchende findet." Wenn das Herz wirklich dem
Herrn zugewandt ist, so findet es Ihn bald. Es ist
Seine Freude, sich einer suchenden Seele zu offenbaren.
(Vergl. Joh. 20, 16.) Er begegnet Seiner Braut auf
dem Wege. Sie erblickt Ihn, sie ergreift Ihn und will
Ihn nicht eher wieder loslassen, bis sie Ihn in das HauS
ihrer Mutter gebracht hat.
Aber so groß ihre Freude auch sein mag, so ist sie
doch nichts im Vergleich mit der Seinigen. Auf den
ersten Blick mag es scheinen, als wenn die Freude nur
auf einer Seite vorhanden wäre. Aber es ist nicht so. Der
Größe unsrer Liebe wird unser Schmerz entsprechen,
27
wenn wir den Geliebten aus dem Auge verloren haben, und
unsre Freude, wenn wir Ihn wiederfinden. Kostbare Wahrheit,
wenn wir sie auf den Herrn anwenden! Welch ein
weites Feld eröffnet sich da unsern Betrachtungen! Wahrlich,
hier giebt es vieles zu lernen im Blick auf die Liebe
unsers Herrn und auf Sein tiefes Mitgefühl mit Seinem
Volke. Nehmen wir einmal an, die Liebe des Bräutigams
sei hundertmal größer als die Liebe der Braut; wird nun
Sein Schmerz, wenn sie von Ihm abirrt, nicht auch hundertmal
größer sein als der ihrige? Sicherlich. Die Größe
der Liebe bestimmt, wie gesagt, die Größe des Schmerzes
oder der Freude. Wie war das Verhältnis zwischen der
Freude des Vaters und derjenigen des verlorenen Sohnes, als
sie einander begegneten? Oder richtiger, wie groß war der
Unterschied? Unendlich! Und so wird es stets sein zwischen
dem Herrn und den Seinigen. O mit welcher Sorge
sollten wir deshalb über uns wachen, daß wir nicht abirren
und so das zärtlich liebende Herz des Herrn Jesu
betrüben und täuschen! Und andrerseits, welch ein
mächtiger Beweggrund liegt für uns in dieser Liebe, umzukehren
und aufrichtig Buße zu thun, wenn wir uns
aus Seiner Gegenwart verloren und dadurch Ihn betrübt
und Seinen heiligen Namen verunehrt haben!
Indes möchte gefragt werden: Wer ist die Mutter
und was haben wir unter dem Hause der Mutter
zu verstehen? Auf diese Fragen giebt uns der Prophet
Hosea eine einfache, klare Antwort. Wir lesen dort r
„Sprechet zu euern Brüdern: Mein Volk, und zu euern
Schwestern: Begnadigte. Rechtet mit eurer Mutter,
rechtet!" (Kap. 2, 1. 2.) Israel als Nation ist die
Mutter. Und wenn die lange abgebrochenen Beziehungen
28
zwischen dem Herrn und Seinem alten Volke wieder angeknüpft
werden, dann wird Er eingehen in das Haus
der Mutter.
Die Braut, oder der gottesfürchtige Ueberrest des
Volkes, fällt, in dem Bewußtsein der Liebe des Bräutigams,
in Seine Arme. Sie konnte keinen Ruheplatz finden, bis
sie Ihn gefunden hatte. Jetzt aber, erschöpft von ihrem
langen Umherwandern, gleich dem verlornen Sohne in dem
fernen Lande, findet sie süße Ruhe in Seiner unveränderlichen
Liebe. Sein Herz ist der einzige Ruheplatz für das
ihrige. „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den
Gazellen oder bei den Hindinnen des Feldes, daß ihr nicht
wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr gefällt!" Wir
haben diesen Ausruf schon in unsern Betrachtungen über
das 2. Kapitel näher besprochen. Er kommt noch einmal
in Kapitel 8, 4 vor; und jedesmal wenn er sich findet,
folgt die Ankunft des Herrn unmittelbar darauf. In
Kapitel 2, 7 offenbart Er sich selbst: „Horch, mein Geliebter!
Siehe, da kommt Er." Es handelt sich dort um
Ihn persönlich. Hier in Kapitel 3 ist es der Messias,
der in königlicher Herrlichkeit heranzieht, als der wahre
Salomo, gekrönt von der Liebe Seines Volkes. „Betrachtet
den König Salomo in der Krone, mit welcher
seine Mutter (Israel) ihn gekrönt hat am Tage seiner
Vermählung und am Tage der Freude seines Herzens!"
(V. 11.) In Kap. 8, 5 wird die Braut gesehen, wie sie
in Verbindung mit Ihm, an Seiner Seite, die
Wüste verläßt. „Wer ist sie, die da heraufkommt von
der Wüste her, sich lehnend auf ihren Geliebten?" Das
ist ein beachtenswerter Fortschritt. Was könnte das Herz
mehr begehren? Es ist der Inbegriff, der Gipfelpunkt
alles Glückes. Bei Ihm zu sein, eins mit Ihm und
Ihm gleich, das ist die volle und ewige Segnung Seines
Volkes.
„Handelt, bis ich komme."
(Lies Luk. 19, 11—27.)
„Während sie aber dieses hörten, sprach Er hinzufügend
ein Gleichnis, weil Er nahe bei Jerusalem war,
und sie meinten, daß das Reich Gottes alsbald erscheinen
sollte. Er sprach nun: Ein gewisser hochgeborner Mann
zog in ein fernes Land, um ein Reich für sich zu
empfangen und wiederzukommen." (V. 11. 12.)
Schon in diesen ersten Worten, mit welchen der Herr
das Gleichnis von den zehn Pfunden einleitet, tritt uns
eine Thatsache entgegen, die das ganze Gleichnis deutlich
charakterisiert. Er steht im Begriff — denn Er ist der
hochgeborne Mann —, diese Welt zu verlassen und in
den Himmel zurückzukehren; und bei diesem Seinem Hingang
läßt Er das Judentum und die Welt weit hinter
sich zurück, ebenso weit wie der verlorene Sohn umgekehrt
das Vaterhaus hinter sich zurückließ, als er diesem den
Rücken wandte und in ein „fernes Land" zog. (Luk. 15,13.)
Der Mensch konnte sich von Gott entfernen und hat es gethan;
aber sein sündiger Zustand machte es ihm unmöglich,
ohne die Dazwischenkunft der Gnade wieder zu Gott
zurückzukehren — die Entfernung ist zu groß, der Himmel
ist unerreichbar für ihn. „Wo ich hiugehe", sagt der
Herr zu den Juden, „könnet ihr nicht hinkommen . . .
Ihr seid von dem was unten ist, ich bin von dem was
30
oben ist; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von
dieser Welt. Daher sagte ich euch, daß ihr in euern
Sünden sterben werdet; denn wenn ihr nicht glauben
werdet, daß ich es bin, so werdet ihr in euern Sünden
sterben.« (Joh. 8, 21—24.)
Die neue Stellung des Herrn war völlig unvereinbar
mit dem Judentum und der Welt überhaupt; aber Seine
Worte bezeichnen auch sehr klar die Stellung des Christen
während der Abwesenheit seines Herrn. Für ihn ist der
Himmel nicht mehr ein „fernes Land"; nein, er ist seine
Heimat geworden, wohin er seiner Stellung nach in Christo
versetzt ist (Eph. 2, 6), und wo er bald auch mit Ihm
weilen wird. Wir sind durch das Blut des Christus nahe
geworden, und sind nicht von der Welt, gleichwie Christus
nicht von der Welt ist. (Eph. 2, 13; Joh. 17, 14. 16.)
Auch sind wir berufen, Zeugnis abzulegen von der uns
zu teil gewordenen Gnade und unsern abwesenden Herrn
hienieden zu vertreten, das heißt Sein Leben und Seine
Gesinnung zu offenbaren. In Uebereinstimmung damit
lesen wir: „Er berief aber Seine zehn Knechte und gab
ihnen zehn Pfunde und sprach zu ihnen: „Handelt, bis
ich komme." (V. 13.)
Christus war „Diener der Beschneidung geworden
um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißungen
der Väter zu bestätigen." (Röm. 15, 8.) Aber der Zustand
Israels erlaubte es nicht, daß ihre Verheißungen
erfüllt und sie in das Reich eingeführt wurden, denn anstatt
sich der Gerechtigkeit Gottes zu unterwerfen, trachteten
sie ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten. (Röm. 10, 3.)
Unmöglich aber konnte der Herr das Reich in Verbindung
mit einem solchen Zustande einführen; denn wie hätte Er
31
die Gerechtigkeit des Menschen zur Grundlage desselben
machen können? Er konnte nicht neuen Wein in alte
Schläuche fassen (Matth. 9, 17), nicht ein System anerkennen,
das seiner wahren Natur nach nur menschliche
Anmaßung und Feindschaft wider Gott war. Darum
verließ Er dasselbe und ging hin, „um ein Reich für sich
zu empfangen" (V. 12), ein Reich, gegründet auf die
göttliche Grundlage der Gerechtigkeit und des Gerichts;
denn „Gerechtigkeit und Gericht sind Deines Thrones
Grundfeste". (Psalm 89, 14.) Er ist hingegangen und
noch nicht wieder zurückgekehrt; erst wenn durch die Gerichte
der Vorsehung Gottes alle Feinde zum Schemel
Seiner Füße gelegt sind, ist der Augenblick da, wo Er
das Reich in Besitz nehmen wird, oder wo, mit anderen
Worten, das Reich der Welt unsers Herrn und Seines
Christus gekommen ist, und wo Er herrschen wird in die
Zeitalter der Zeitalter. (Offenb. 11, 15.)
Die gegenwärtige Stellung des Herrn, Sein Verweilen
im „fernen Lande" und Sein Wiederkommen in
Macht und Herrlichkeit sind sehr bezeichnend für die
Stellung und das Verhalten Seiner Knechte hienieden.
Wollen diese mit ihrem abwesenden Herrn in Uebereinstimmung
sein, so ist eine entschiedene Trennung von der
Welt und ihren Dingen unbedingt notwendig für sie.
Christus hat uns geheiligt, das heißt abgesondert durch
Seinen Hingang in den Himmel, wie Er selbst abgesondert
ist. Er sagt zum Vater: „Und ich heilige mich
selbst für sie, auf daß auch sie Geheiligte seien durch
Wahrheit." (Joh. 17, 19.) Von unserm Verhältnis zu
Christo als Seine Braut oder Sein Leib ist in unserm
Gleichnis keine Rede; es handelt sich nur um unsre Ver
32
antwortlichkeit als Seine Knechte; und das Bewußtsein
Seiner gegenwärtigen Stellung bewahrt uns in der uns
geziemenden Absonderung und himmlischen Gesinnung,
während die Erwartung Seiner Ankunft uns anspornt,
das uns anvertraute Pfund treu zu verwalten. Es ist
ein großes Vorrecht für uns, mit einer solchen Verwaltung
seitens des Herrn betraut zu sein, während Seiner Abwesenheit
Zeugnis ablegen zu dürfen von Ihm und der
Fülle Seiner Gnade. Aber die Kraft und Wirkung unsers
Zeugnisses hängt ganz und gar ab von der Art und
Weise, wie die Liebe und das Vertrauen zum Herrn, sowie
die daraus hervorgehende Absonderung und himmlische
Gesinnung von uns bewahrt werden. Alle Knechte haben
je ein Pfund empfangen, sind gleicher Gnade teilhaftig
geworden;*) trotzdem hat der eine mehr, der andere weniger
dazu gewonnen, und ein dritter gar nichts. Dieser Unterschied
hängt, wie schon bemerkt, einzig und allein von dem
persönlichen Verhältnis ab, in welchem ein jeder zum
Herrn steht.
*) In dem Evang. Matthäus ist es anders. Dort teilt der
Herr nach Seiner Weisheit und Unumschränktheit Seine Gaben
verschiedenartig aus, je nach den Fähigkeiten Seiner Knechte. Hier
in Lukas tritt mehr die Verantwortlichkeit der Knechte hervor; alle
empfangen gleichviel.
Wie ernst ist diese Erwägung, vor allem im Blick
auf den schließlichen Ausgang unsers Dienstes bei der
Ankunft des Herrn! „Wir müssen alle geoffenbart werden
vor dem Richterstuhl des Christus, auf daß ein jeder
empfange, was er in dem Leibe gethan, nach dem er gehandelt
hat, es sei Gutes oder Böses." Die wichtige
Frage ist, ob wir alle mit dem Apostel sagen können:
33
„Deshalb beeifern wir uns auch, ob einheimisch oder ausheimisch,
Ihm wohlgefällig zu sein." (2. Kor. 5,
9. 10.) Es handelt sich in unserm Gleichnis ganz und
gar nicht um Fähigkeiten (denn alle haben ein gleiches
Teil empfangen), sondern einzig und allein um Treue
gegen Christum. Diese Treue fehlte bei dem, der das
ihm anvertraute Pfund in einem Schweißtuch (dem ausdrucksvollen
Sinnbild einer irdischen Gesinnung), verwahrt
hielt, und er wird gerichtet durch seine eignen Worte.
Er sagt: „Herr, siehe Dein Pfund, welches ich in einem
Schweißtuch verwahrt hielt" (Vers 20), und bekennt also
selbst, daß er ein Pfund empfangen habe. Trotzdem
fürchtet er den Herrn und hält Ihn für einen strengen
Mann, der da nimmt, was Er nicht hingelegt, und erntet,
was Er nicht gesäet hat. Das was der Herr an ihm
gethan hat, daß Er ihn Seines Vertrauens würdigte und
ihm ein Pfund übergab, hat bei ihm weder Liebe noch
Vertrauen erweckt; er fürchtet den Herrn als einen strengen
Mann. Wenn aber der Herr wirklich ein so strenger
Mann war, warum hatte er dann nicht das Geld zum
Vorteil seines Herrn in eine Bank gelegt? (V. 23.) Ach,
der eigentliche Grund seines Verhaltens war eben nicht
die angebliche Furcht vor seinem Herrn, sondern die
irdische Gesinnung seines bösen Herzens, das Haschen und
Jagen nach den Dingen dieser Welt. Das hatte ihn den
Herrn und die von Ihm empfangenen Segnungen verachten
und vergessen lassen. Er fand keine Zeit, an Ihn zu
denken, für Ihn zu leben oder etwas für Ihn zu sein in
dieser Welt.
Das ist die traurige Geschichte vieler christlicher Bekenner.
Ihr Ausgang wird demjenigen des untreuen
34
Knechtes gleichen. Sie werden vor dem Richterstuhl Christi
bekennen müssen, daß sie „die himmlische Gabe geschmeckt",
unter den Wirkungen des Heiligen Geistes gestanden und
„das gute Wort Gottes geschmeckt" haben, mit einem Wort,
daß der „häufig über das Land kommende Regen" ihnen
zu teil geworden ist. Aber anstatt nützliches Kraut hervorzubringen,
haben sie nur Dornen und Disteln getragen.
(Hebr. 6, 4 — 8.) Anstatt gleich ihrem Herrn Fremdlinge
zu sein auf dieser Erde, sind sie Fremdlinge im Himmel
und einheimisch hienieden geworden. Der Himmel ist für
sie ein „fernes Land". Sie gehören zu denen, „welche
auf der Erde wohnen" (Offenb. 2, 13; 3, 10), und
haben gleich Lot die wasserreichen Ebenen Sodoms den
Gefilden Kanaans vorgezogen (1. Mose 13, 11. 12), oder
wie die Kinder Ruben und Gad ihr Teil diesseit des
Jordans gewählt. (4. Mose 32, 5.)
Eine entschiedene, unbedingte Trennung von der
Welt, sei es nun die religiöse oder die gottlose Welt, ist
die erste Bedingung für einen treuen Knecht. Nur das
kann, der Natur der Sache nach, den Gedanken seines
abwesenden Herrn entsprechen. Denn unmöglich kann ein
Ehrist sich mit den Grundsätzen der Welt eins machen,
wenn er an die gegenwärtige Stellung seines Herrn denkt
und dessen Rückkehr beständig erwartet. Und ein solches
beständiges Warten auf Ihn setzte der Herr ohne Frage
bei Seinen Knechten voraus, als Er ihnen die Pfunde
übergab mit den Worten: „Handelt, bis ich komme."
(V. 13.) Wenn man an diesen Auftrag des Herrn und
an Sein Kommen denkt, wird man keine Zeit haben, sich
mit Plänen für diese Welt zu beschäftigen. Im Gegenteil,
je lebendiger man Ihn erwartet, desto entschiedener
35
wird man die Zeit zu einem „Handeln" im Sinne des
Herrn auskaufen. Die Liebe zu Ihm ist die wahre
Triebfeder eines wirklich christlichen Lebens. Sie allein
vermag die echten Früchte der Hingebung und Selbstverleugnung
zu erzeugen; sie ist stark genug, uns ohne jeden
anderweitigen Antrieb „handeln" zu lassen für Christum,
indem sie uns über uns selbst und die niedrigen Beweggründe
einer selbstsüchtigen Welt erhebt. Und wir dürfen
versichert sein, daß auf einem solch ungezwungenen, freiwilligen
Handeln das Auge des Herrn mit besonderem
Wohlgefallen ruht. Einem Knechte, der so handelt, reicht
Er immer mehr dar; denn Er sagt selbst: „Jedem, der
da hat, wird gegeben werden." (V. 26.) Der Heilige
Geist kann in einem solchen frei und ungehindert wirken,
was Er bei dem nicht vermag, der nicht mit ganzem
Herzen dem Herrn anhängt.
Sicher wird kein wahrer Christ ohne jegliche Frucht
erfunden werden an jenem Tage; aber es wird ein Unterschied
sein. Und das ist umso ernster für uns, als wir sehen,
daß der Herr Kenntnis davon nimmt. „Und es geschah,
als Er zurückkam, nachdem Er das Reich empfangen hatte,
da hieß Er diese Knechte, denen er das Geld gegeben, zu
sich rufen, auf daß Er wisse, was ein jeder erhandelt
hätte." (V. 15.) Die Verantwortlichkeit ist eine persönliche
Sache. „Also wird nun ein jeder von uns für sich selbst
Gott Rechenschaft geben." (Röm. 14, 12.) Keiner kann
den andern dort vertreten, weder der Bruder den Bruder,
noch der Mann das Weib, noch die Eltern die Kinder,
oder umgekehrt. Der Herr prüft das Werk eines jeden
persönlich, und nimmt Kenntnis von allem, was wir für
Ihn gethan haben, selbst von dem Becher kalten Wassers,
36
den wir einem der Seinen um Seinetwillen reichen durften.
(Matth. 10, 42.) Welch ein ernster Augenblick wird das
sein! Möchten wir uns denselben stets vergegenwärtigen!
Wie viel höher würden wir alsdann jede Stunde, jeden
Tag und jede Woche zu schätzen wissen, die der Herr uns
schenkt, um sie für Ihn zu verleben. Wahrlich, es würde
nicht so manche Stunde in nutzloser oder gar leichtfertiger
Weise verbracht werden, wie eS heute geschieht, wenn alle
bedächten, daß der Herr sie an jenem Tage noch einmal zur
Sprache bringen wird! Ein jeder von uns würde mit
dem Apostel begehren, dereinst „vollen Lohn" zu
empfangen. (2. Joh. 8.) Nicht als ob dieser Lohn der
Beweggrund unsers Handelns sein sollte; nein, das
wäre ein niedriger Beweggrund. Wohl aber soll er uns
zur Ermunterung dienen; und für den treuen Knecht
liegt in der That eine große Ermunterung, ein kräftiger
Sporn in dem Gedanken an die Anerkennung, die seinem
schwachen Thun dereinst von feiten Seines geliebten Herrn
zu teil werden wird.
Die hier in den Versen 17 und 19 erwähnte Belohnung
bezieht sich auf das Reich. Wir werden mit
Christo in Herrlichkeit geoffenbart werden und mit Ihm
herrschen. Indes steht dies hier mit unsrer Treue in
Verbindung, denn es handelt sich um die Verantwortlichkeit.
Etwas Aehnliches sehen wir in der Offenbarung;
auch dort werden die verheißenen Herrlichkeiten dem Ueber -
winder zugesichert: „Wer überwindet, wird dieses ererben."
(Offenb. 21, 7.) Sicher ist das ein Beweis,
daß der Herr die Schwierigkeiten und Hindernisse, die
der Feind uns auf dem Wege entgegenstellt, kennt und
ihnen Rechnung trägt. Er ist kein „harter" Mann, und
37
Er ist nicht ungerecht, zu vergessen. Welch eine Ermunterung
ist das für uns, uns durch jene Schwierigkeiten
nicht zurückschrecken zu lassen! Er kennt die Kämpfe und
Herzensübungen, die Schmerzen und Thränen, die dem
Gläubigen hienieden um so weniger erjpart bleiben, je
entschiedener er den Pfad des Glaubens verfolgt; und
Er weiß es zu schätzen, wenn wir trotz allem auf diesem
Pfade ausharren. Er findet eine besondere Freude darin,
uns an jenem Tage als „Ueberwinder" bezeichnen zu
können, die mit Ihm gekämpfl und gelitten und sich so
zu sagen eine Krone „errungen" haben. Und aus diesem
Grunde erlaubt Er den Widerstand des Feindes, die
Trübsale und Prüfungen auf unserm Wege, um uns
Gelegenheit zum „Ueberwinden" zu geben, wie auch Er
selbst überwunden hat. „Wer überwindet, dem werde ich
geben, mit mir aus meinem Throne zu sitzen, wie auch
ich überwunden und mich mit meinem Vater gesetzt
habe auf Seinen Thron." (Offenb. 3, 21.) Möchten wir
diese Absichten des Herrn besser verstehen lernen und von
diesem Standpunkte aus die Trübsale und Hindernisse
betrachten! Wir würden sie dann auch mehr für ein
Vorrecht halten und mit dem Apostel sagen können: „Wir
rühmen uns der Trübsale." (Röm. 5, 3.)
In unserm Gleichnis kommt jedoch noch ein andrer
Punkt in Betracht, der das Verhalten der treuen Knechte
kennzeichnet, nämlich ihre Wertschätzung der ihnen zu teil
gewordenen Gnade. Keiner von ihnen sagt: „I ch habe"
. . . sondern: „Dein Pfund hat so und so viele Pfunde
hinzugewonnen." Sie schreiben alles, was sie empfangen
und gethan haben, der Gnade zu. Es erinnert uns dies
an den schönen Ausspruch, den David einst that bei
38
Gelegenheit der großen Freigebigkeit des Volkes zum
Tempelbau: „Denn wer bin ich und waSM mein Volk,
daß wir vermöchten auf solche Weise freigebig zu sein?
Denn von Dir ist alles, und aus Deiner Hand
haben wir Dir gegeben." (1. Chron. 29, 14.) So sagt
auch der Apostel: „Aber durch Gottes Gnade bin ich,
was ich bin; und Seine Gnade gegen michM nicht vergeblich
gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als
sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade
Gottes, die mit mir war." (1. Kor. 15, 10.)
Auch uns bleibt nichts anderes übrig als die Gnade
zu rühmen. Wir vermögen dem Herrn nichts zu bringen
als was wir zuvor von Ihm empfangen haben: aus
Deiner Hand haben wir Dir gegeben. Und je tiefer
wir von dem Gefühl unsrer eignen Nichtigkeit durchdrungen
sind, desto herrlichere Erfahrungen werden wir von dem
Reichtum und der Macht der Gnade machen. Sie ist an
nichts gebunden und von nichts abhängig; weder unsre
Schwachheit noch der Verfall kann ihre Wirksamkeit hindern.
Sie ist frei und unumschränkt, zu wirken, wann
und wo sie will; sie kann sich in ihrer Macht erheben
über Sünde und Schwachheit, und trotz derselben ihre
Fülle ausströmen lassen. Also hat sie sich erwiesen in
Christo Jesu, indem sie da, wo die Sünde überströmend
geworden, noch überschwenglicher geworden ist. (Röm.
5, 20.) Wie unendlich kostbar ist diese Gnade! Welch
ein Glück, in unsrer Schwachheit auf sie rechnen zu dürfen!
Sie ist vollkommen genügend für den Treuen in den
Tagen des Verfalls und der Untreue. Auf sie macht der
Apostel sein geliebtes Kind Timotheus aufmerksam mit
den Worten: „Du nun, mein Kind, sei stark in der
39
Gnade, die in Christo Jesu ist." (2. Tim. 2, 1.) Sie
erfüllt unsre Herzen mit Vertrauen zum Herrn, und giebt
uns Mut und Kraft, für Ihn zu handeln. Durch sie
lernten auch die treuen Knechte in unserm Gleichnis den
Herrn von einer andern Seite kennen als ihr „böser"
Mitknecht. Ihre Worte: „Herr, Dein Pfund hat zehn
Pfunde hinzugewonnen .... Herr, Dein Pfund hat
fünf Pfunde eingetragen", zeugen davon, daß sie die
Macht und Fülle dieser Gnade an sich erfahren haben.
Und wir können versichert sein, daß wir nie ein tieferes
Gefühl von der Gnade haben werden als dereinst vor
dem Richterstuhl Christi. Dort wird alles, was wir für
Ihn hienieden sein und thun konnten, zum Ruhme und
Preise Seiner Gnade sein.
Der Sabbath der Ruhe.
„Und Jehova redete zu Mose und sprach: Rede zu
den Kindern Israel und sprich zu ihnen: . . . Sechs
Tage soll man Arbeit thun; aber am siebenten Tage ist
ein Sabbath der Ruhe, eine heilige Versammlung; keinerlei
Arbeit sollt ihr thun; es ist ein Sabbath dem Jehova
in allen euern Wohnsitzen." (3. Mose 23, 1 — 3.)
Nachdem Gott in den sechs Schöpfungstagen Himmel
und Erde geschaffen hatte, ruhte Er am siebenten Tage
von Seiner Arbeit. Und fürwahr, Er könn te ruhen, denn
alles, was Er gemacht hatte, war ohne Tadel. Kein
Makel, keine Unvollkommenheit klebte Seinem Werke an.
Er sah alles an, und siehe, es war „sehr gut". „Und
Er ruhte am siebenten Tage von all Seinem Werk, das
Er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag
40
und heiligte ihn; denn an demselben ruhte Er von all
Seinem Werk." (1. Mose 2, 1—3.)
Leider, leider sollte die Ruhe Gottes nicht von langer
Dauer sein. Der Mensch übertrat Seine Gebote, fiel in
die Sünde und brachte die ganze Schöpfung mit sich unter
den Fluch. Jammer und Elend, Furcht und Schrecken,
Krankheit und Tod hielten mit der Sünde ihren Einzug
in die schöne Schöpfung Gottes; und Gott konnte nicht
länger ruhen. „Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich
wirke", sagte der Herr Jesus einst, als die Juden ihn
zu töten suchten, weil Er am Sabbath einen kranken
Menschen gesund gemacht hatte. Wie könnte der heilige
Gott, der Gott der Liebe, ruhen inmitten eines Schauplatzes
der Sünde und des Elends? Unmöglich. Kaum
war der Sündenfall geschehen, als auch die Liebesthätigkeit
Gottes begann. Er suchte den gefallenen Menschen auf,
gab ihm die Verheißung eines Samens, welcher der alten
Schlange den Kopf zermalmen sollte, und bekleidete ihn
und sein Weib mit Röcken von Fell — ein sprechendes
Bild von der Bekleidung des Sünders auf Grund des
vergossenen Blutes, des ein für allemal vollbrachten Versöhnungswerkes
Christi. Und seit jener Zeit hat Gott
nicht aufgehört, sich in Liebe mit dem armen, sündigen
Menschen zu beschäftigen. Er wirkt, und Er wird fortwirken,
bis Er sagen kann: „Es ist geschehen. Ich
bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das
Ende", (Offenb. 21, 6) oder mit anderen Worten, bis
die große Sabbathruhe Gottes gekommen ist und Er
ruhen wird in Seiner neuen Schöpfung inmitten Seines
glücklichen, erlösten Volkes in alle Ewigkeit.
Welch ein kostbares Wort ist das Wörtchen „Ruhe" !
41
Wie tröstend und ermunternd klingt es in das Ohr des
müden Wanderers, des bejahrten Pilgrims! Wie hoffnungsvoll
und verheißend redet es zu dem Herzen des schwergeprüften
Dulders, des Trauernden und Betrübten! Wie
erquickt und stärkt es den erschöpften Kämpfer, den ermüdeten
Arbeiter! Ruhe, selige Ruhe wird ihrer aller
Teil sein droben in der Herrlichkeit, bei Jesu im Vaterhause!
Gott will nicht allein Seine Sabbathruhe genießen.
Er will allen Seinen Erlösten teil daran geben,
Er will ruhen inmitten Seines Volkes. „Also bleibt
noch eine Sabbathruhe dem Volke Gottes übrig." (Hebr.
4, 9.) Das ist der große Grundgedanke, der sich durch
den ganzen herrlichen Heilsplan Gottes hindurchzieht:
neue Himmel und eine neue Erde zu schaffen, in welchen
Gerechtigkeit wohnt (2. Petr. 3, 13), und diese mit erlösten,
gereinigten Wesen zu bevölkern, die mit Ihm in
der neuen Schöpfung zu ruhen und alle die reichen
Segnungen derselben zu genießen vermögen. Und wenn
diese neue Schöpfung vollendet dastehen, wenn Gott selbst
sagen wird: „Es ist geschehen!" dann wird Er wiederum
all Sein Werk anschauen, das Er gemacht hat, und es
wird „sehr gut" sein, ja unendlich herrlicher als Seine
erste Schöpfung, die durch die Sünde verdorben wurde;
und kein Feind, keine Sünde wird diese neue himmlische
Schöpfung je wieder auzutasten, je wieder zu verunreinigen
vermögen. O welch eine Gnade ist es, sagen zu
dürfen: „Auch ich werde teil haben an diesen kostbaren
Dingen, auch mir bleibt diese Sabbathruhe Gottes noch
übrig! Bald, bald werde ich Ihn sehen, den meine Seele
liebt, und mit Ihm eingehen in die ewigen Freuden
dieser Ruhe!"
42
Doch wie hat Gott es möglich gemacht, dem gefallenen
Menschen an dieser Sabbathruhe teil zu geben?
In dem Kapitel, dessen erste beide Verse unsrer Betrachtung
als Einleitung dienen, folgt auf die Verordnung
über den Sabbath der Ruhe sofort das Passahfest, jenes
schöne Vorbild des Versöhnungswerkes Christi. Ach! der
Mensch, selbst der so reich gesegnete und bevorzugte Israelit,
konnte unmöglich sechs Tage arbeiten und dann von seinem
Werke ruhen; er konnte unmöglich am siebenten Tage
auf alles das, was er in der abgelaufenen Woche gethan
hatte, zurückblicken und mit aufrichtigem Herzen sagen: „Mein
Werk ist sehr gut, und nun kann ich auf Grund desselben
ruhen." Nein, der aufrichtige, gottesfürchtige Jude mußte
stets sagen: „Alles ist unvollkommen, alles mangelhaft!"
Wie hätte er also mit glücklichem Herzen ruhen können?
Schon diese eine Erwägung zeigt uns den großen
Unterschied zwischen dem jüdischen Sabbath und dem christlichen
Sonntag oder dem „Tage des Herrn". Während
der eine am Ende der Woche lag und gleichsam das
sechstägige Werk des Israeliten krönen sollte, bildet der
andere den Anfang der Woche, und die Ruhe, die der
Gläubige an ihm genießt, hat nichts zu thun mit seiner
Arbeit, sondern gründet sich einzig und allein auf das
Werk eines Andern, des Sohnes Gottes. Wie thöricht
ist es daher, den christlichen Sonntag als eine Fortsetzung
des jüdischen Sabbaths zu betrachten und die Gebote, die
Gott bezüglich dieses Tages gegeben hat, auf jenen anzuwenden!
Es beweist das nur die gesetzliche Gesinnung
so vieler Christen unsrer Tage und ihre tiefe Unkenntnis
über die Gedanken Gottes und die Stellung des Gläubigen
in Christo.
43
Soll denn der Christ am Sonntage nicht ruhen von
der Mühe und Plage des täglichen Lebens? Soll er nicht
den „Tag des Herrn" feiern als einen hohen Festtag,
an welchem er sich, fern von dem geschäftigen Treiben des
Alltaglebens, mit seinen Mitgläubigen versammelt, um
den „Auferstandenen" zu preisen und Gott zu dienen?
Gewiß! nur möchte ich nicht sagen: er soll, sondern:
er darf, es ist sein Vorrecht, das zu thun. Die
Feier dieses Tages ist ihm nicht ein gesetzliches Gebot,
sondern eine süße Liebespflicht. Es ist seines Herrn
Tag, an welchem sein Heiland aus den Toten auferstand
und in der Mitte Seiner versammelten Jünger erschien
mit dem gesegneten „Friede euch!" auf Seinen Lippen;
an welchem Er ihnen Seine durchbohrten Hände und
Füße zeigte als die Beweise Seines vollbrachten Werkes,
Seines Sieges über Sünde, Tod und Teufel; fa, an
welchem Er immer noch in der Mitte der zu Seinem
Namen hin versammelten Gläubigen gegenwärtig ist, um
mit ihnen, als der Erstgeborne vieler Brüder, als ihr herrliches
Haupt, als ihr Herr und Erlöser, Gott dem Vater
Lob und Dank darzubringen, wie geschrieben steht: „Ich
will Deinen Namen kundthun meinen Brüdern, inmitten
der Versammlung will ich Dir lobsingen." (Hebr. 2, 12.)
Es ist hier nicht der Platz, noch näher auf den
Unterschied zwischen dem Sabbath und dem Tage des
Herrn einzugehen; nur das Eine sei noch erwähnt: Während
der Israelit am letzten Tage der Woche ruhen sollte,
und zwar von all seinem Werk, das er in der Woche
vorher gethan hatte, und, wie bereits bemerkt, niemals
den Sabbath seiner wahren Bedeutung nach feiern konnte,
beginnt der Christ seine Woche damit, daß er sich mit
44
dankbarem Herzen an Den erinnert, der ihn aus seinem
Sündenelend befreit, aus der Macht Satans errettet, aus
der Gewalt der Finsternis in Sein wunderbares Licht
versetzt und ihn fähig gemacht hat, Gott jetzt mit Einsicht
und Verständnis zu dienen. Der erste Tag der Woche
ist deshalb kein Tag der Unthätigkeit für ihn, sondern
vielmehr in ganz hervorragender Weise ein Tag wahrer
christlicher Thätigkeit Gott und Menschen gegenüber. Ein
einsichtsvoller und vor allem ein treuer Christ ist am
Sonntag Abend vielleicht müder als an den Abenden in
der Woche; allein sein Herz ist fröhlich und gestärkt, sein
Geist dankbar und glücklich. Und so geht er, gleichsam
aus der Gegenwart des Herrn kommend und gekräftigt
mit Seiner Kraft, am Montag an sein Tagewerk, das
er frohen Mutes thun kann im Aufblick zu Dem, der ihn
kräftigt und zum Preise des Gottes, der ihn erkauft hat
durch das Blut Seines Eingebornen.
Doch kehren wir zu unserm Gegenstände zurück. In
dem eben Gesagten ist bereits die Frage beantwortet
worden, wie Gott es möglich gemacht hat, dem sündigen
Menschen an Seiner Ruhe teil zu geben. Er hat Seinen
eingebornen Sohn in die Welt gesandt, Ihn, das vor
Grundlegung der Welt zuvorbestimmte, wahre Passahlamm.
Das was der Mensch nimmermehr thun konnte, hat
Christus gethan. Er hat Gott hienieden vollkommen verherrlicht;
all Sein Thun war eine kostbare Speise für
den Vater, ein duftender Wohlgeruch für das Herz Gottes.
Er, der wahre Israelit, hat gearbeitet von früh bis spät,
und Seine Arbeit war vollkommen, Sein Thun ohne
Tadel, Sein Werk „sehr gut". Er hätte zum Vater zurückkehren
können, um dort von Seiner Arbeit und Mühe
45
auszuruhen. Aber Sein Zweck war nicht nur, den Vater
hienieden zu verherrlichen, wo Er von Seinen Geschöpfen
auf alle Weise verunehrt worden war, sondern auch aus
diesen sündigen, gefallenen Kreaturen Ihm eine große,
unzählige Schar von Kindern zuzuführen. Deshalb
litt und starb Er am Fluchholze; deshalb war Er von
Gott verlassen, „zerschlagen und verwundet". (Jes. 53.)
Unsre Sünden und Missethaten lagen auf Ihm; für uns
war Er zur Sünde gemacht. Im Blick auf dieses
Sein Werk konnte Er alle Mühseligen und Beladenen
einladen, zu Ihm zu kommen, mit der bestimmten Verheißung:
„Ich werde euch Ruhe geben." Kostbares
Wort! Der Gläubige findet jetzt schon Ruhe für sein
beladenes Gewissen, Ruhe für sein armes, ruheloses Herz,
und am Ende wartet seiner die große Sabbathruhe Gottes.
Dort in der neuen Schöpfung, wo Gott ihn nach „Geist,
Seele und Leib" tadellos darftellen wird vor Seiner
Herrlichkeit mit Frohlocken (1. Thess. 5, 23; Judas 24),
wird er voll und ganz die Frucht des Werkes Christi
kennen und schmecken. Gott wird mit Wonne ruhen inmitten
dessen, was Seine Liebe und Macht geschaffen hat;
Christus wird ruhen inmitten Seiner Erlösten und die
Frucht der Mühsal Seiner Seele genießen; und der
Gläubige wird ruhen und ohne Aufhören trinken aus dem
Meere der Liebe, das ihn umgiebt. Die Zeit des Glaubens
und Hoffens, die Zeit des Kämpfens und Leidens ist vorüber,
die Zeit der Ruhe ist gekommen — nicht eine Zeit der
Unthätigkeit, denn wie könnte die Liebe jemals unthätig
sein? aber eine Zeit der ungestörtesten Anbetung, des glücklichsten
Genusses, der seligsten Freude, des friedlichsten Verkehrs,
der innigsten Gemeinschaft und der vollkommensten
46
Ausübung der Liebe. Wir erfahren heute, was Liebe ist
und was sie thut gegenüber verlornen Sündern, gegenüber
schwachen, von Sünde und Versuchungen aller Art umgebenen
Gläubigen; dann werden wir erfahren, was
Liebe ist und was sie thut inmitten einer Szene ungetrübter,
wolkenloser Herrlichkeit, in einer Schöpfung, in
welcher nichts mehr an das „Alte" erinnert. „Das Erste
ist vergangen. Und der auf dem Throne saß, sprach:
Siehe, ich mache alles neu. Und Er spricht zu
mir: Schreibe, denn diese Worte sind gewiß und wahrhaftig.
Und Er sprach zu mir: Es ist geschehen.
Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und
das Ende." (Offbg. 21, 4-6.)
Von diesem ewigen Sabbath der Ruhe war jener,
von dem wir in den Büchern Mose lesen, ein liebliches
Vorbild. Schon damals hat Gott von ihm geredet im
Bilde, denn Sein Herz war erfüllt von Seinen Ratschlüssen
der Liebe, und Er fand Seine Freude darin,
Jahrtausende vorher von dem zu reden, was Er thun
wollte zum ewigen Glück der Seinen und zur Befriedigung
Seines eignen Herzens. Und Er wird Seine
Ratschlüsse ausführen, Seinen Vorsatz erfüllen; denn Er
ist der Gott, „der alles wirkt nach dem Rate Seines
Willens". (Eph. 1, 11.) Und wir? Ach, Geliebte, wir
werden zuschauen, erkennen, wie wir nie erkannt haben,
Blicke thun in die Tiefen des Reichtums der Liebeswege
Gottes, wie wir sie nie gethan haben, und — wir werden
anbeten, staunen und bewundern. Und nicht lange mehr
werden wir hienieden pilgern. Bald wird Er kommen,
den unsre Seele liebt, und uns einführen in die ewige
Ruhe, in die Freuden des Vaterhauses droben. Darum
47
laßt uns nicht müde werden auf dem Wege! Möge keiner
von uns auch nur „zurückzubleiben scheinen!" Laßt
uns vielmehr „Fleiß anwenden, in jene Ruhe einzugehen"!
(Hebr. 4.)
Nicht mehr lange! Lehr' uns wachen!
Morgenröte zeigt sich schon von fern;
Bald wird landen unser Nachen,
Der uns trägt zu Dir, dem guten Herrn.
Lehr' uns wachen, kämpfen ohn' Ermüden,
Immer näher bringt uns jeder Tag;
Lehr' uns wandeln völlig abgeschieden,
Unserm Kampf folgt sel'ge Ruh^nach.
„Siehe, du bist schön, meine Freundin."
(Hohel. 4, 1—7.)
„Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist
schön: Derne Augen sind Tauben hinter deinem Schleier.
Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen
des Gebirges Gilead lagern." (V. 1.) — Als
das blutflüssige Weib den Saum des Gewandes Jesu
anrührte, strömte die Kraft, die in Ihm war, auf sie
über. (Mark. 5.) Der Finger des Glaubens berührte
nicht nur das Kleid des Heilandes, sondern auch die
geheimen Quellen Seines Herzens, welche nur der Glaube
zu erreichen vermag. Alle die Reichtümer dieses Herzens
wurden dem Glauben erschlossen. Ihre Not wurde „alsbald"
und vollkommen gestillt. Der Quell ihres Blutes
vertrocknete, und die Krankheit wich. „Sie erkannte am
Leibe, daß sie von der Plage geheilt war." Dennoch
kannte ihre Seele noch keinen Frieden, noch keine
Ruhe, von Freude gar nicht zu reden. Sie fiel Jesu
zu Füßen „voll Furcht und Zittern".
48
Wie ist es möglich, fragen wir vielleicht, daß die
wunderbare Kraft des hochgelobten Herrn von einem
Gläubigen erfahren werden kann, ohne daß er Frieden
besitzt? Es war so bei jenem Weibe, trotzdem ihr Glaube
groß war, und es ist heute so bei Tausenden der Erlösten
des Herrn. Aber wie ist das möglich? Die Geschichte
des Weibes giebt uns, wie mir scheint, eine klare Antwort
auf diese Frage. Obgleich sie alles empfangen hatte,
was sie in ihrer Not bedurfte, waren ihr doch die
Gedanken Seines Herzens noch fremd geblieben.
Und um ihr vollen Frieden in Seiner Gegenwart
zu geben, bedurfte sie der Offenbarung dieses Herzens
der Liebe. Was ihr not that, war zu erfahren, was Er
über sie dachte. Und das ist, was jeder Sünder
bedarf, um völlig glücklich zu sein. Das erste Anrühren
des Glaubens sichert der Seele alles, was Er ist und
was Er zu geben hat; aber volle Ruhe findet sie erst
dann, wenn sie das Herz kennen lernt, das alles aufgab,
um uns zu besitzen. Erst dann ruht sie glücklich und
friedevoll in Seiner Liebe. O welch eine Gnade, Seine
Gedanken über uns zu kennen, Seine Liebe zu uns zu
genießen!
Doch siehe, mein Leser, wie diese Liebe sich jenem
armen Weibe zuwendet. „Und Er blickte umher, um sie
zu sehen, die dieses gethan hatte." Welch eine Liebe
drückt sich in diesen Worten aus! Das Herz des Heilandes
frohlockt; Er hat den Preis gewonnen! Die Werke
Satans sind zerstört, Gott ist verherrlicht; die Gnade
strahlt in ihrem himmlischen Glanze, und der Glaube
triumphiert. Doch Sein Auge muß sie sehen, muß auf
ihr ruhen. „Wer ist es, der dieses gethan hat?" fragt
49
Er. Mit welch einer Teilnahme ruht Sein Blick auf
dem zitternden Weibe! Und dann offenbart Er ihr Sein
Herz und füllt ihre Seele mit dem Frieden und der
Freude Seines Heils. „Tochter" — zärtlicher Ausdruck
der Liebe und des nahen, innigen Verhältnisses — „dein
Glaube hat dich geheilt; gehe hin in Frieden und sei
gesund von deiner Plage."
Diese Gedanken drängten sich dem Schreiber unwillkürlich
auf bei dem Sinnen über die ersten sieben Verse
unsers Kapitels. Der Geliebte offenbart hier Seiner
Geliebten in bemerkenswerter Weise Seine Gedanken über
sie, über ihre fleckenlose Schönheit in Seinen Augen. Er
sitzt gleichsam da und betrachtet mit inniger Freude jeden
Zug Seiner lieblichen Braut; und dann redet Er zu ihr
von Seiner bewundernden Liebe. „Du hast mir das Herz
geraubt, meine Schwester, meine Braut." Ein solches Lob
von menschlichen Lippen würde höchst verderblich sein;
wenn es aber von Seinen Lippen kommt, so vertieft es
nur unsre Demut und macht uns Ihm ähnlicher. Es
füllt die Seele mit einer stillen und friedevollen Freude,
verbindet uns inniger mit Ihm und verwandelt uns mehr
in Sein Bild.
Nachdem Er der Braut in allgemeinen Ausdrücken
versichert hat, daß sie „schön" sei in Seinen Augen, zählt
Er sieben verschiedene Eigenschaften auf, die Er mit
Freuden betrachtet hat; und da jede einzelne Eigenschaft
in sich selbst vollkommen ist, so erblickt Er in ihr die
Vereinigung von Vollkommenheit und Schönheit: „Ganz
schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an
dir." (V. 7.) Die Genauigkeit, mit welcher der Herr sie
betrachtet, beweist das unendliche Interesse, das Er an
50
ihr nimmt. Die Zahl sieben erweckt zugleich den Gedanken
an Fülle und Vollendung. Und dürfen wir uns
darüber wundern? Der Gläubige ist in jeder Beziehung
vollkommen in Christo, lieblich in Seiner Lieblichkeit.
Christus hat alles, was von uns war, hinweggethan und
uns alles gegeben, was von Ihm ist. Deshalb heißt
es in Epheser 4 von uns: „ihr habt abgelegt den alten
Menschen und den neuen angezogen, der nach Gott geschaffen
ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit."
(V. 22 — 24.) — Doch werfen wir jetzt einen kurzen
Blick auf die einzelnen Eigenschaften der Braut.
„Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier."
Die Taube war nach dem Gesetz ein reines Tier. Sie
allein durfte von allem gefiederten Gevögel auf dem Altar
Gottes geopfert werden. Sie ist ein bekanntes Bild der
Demut, der Reinheit und Harmlosigkeit. „Deine Augen
sind Tauben." Das Auge wird oft in der Schrift zur Bezeichnung
des geistlichen Lichtes und Verständnisses gebraucht.
„Wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer
Leib licht sein." (Matth. 6, 22.) Zugleich ist das Auge
der Taube sehr scharf. Sie entdeckt ihren Schlag schon
aus weitester Ferne. Wird sie fern von ihrer Heimat freigelassen,
so steigt sie in die Luft empor, höher und höher,
bis sie endlich kaum noch sichtbar ist; sie hält Umschau,
und dann fliegt sie plötzlich geradeswegs und eiligst heimwärts.
O möchte auch unser Geistesauge ebenso scharf sein,
damit wir, nachdem wir einmal den auferstandenen Herrn
erschaut haben, alles, was dahinten ist, vergessen und uns
ausstrecken nach dem, was vor uns liegt! Unser Ziel ist
Christus in der Herrlichkeit droben; aber dieses Ziel muß
geschaut werden, ehe man ihm zustreben kann. Der Apostel
51
konnte sagen: „Eines aber thue ich: Vergessend was dahinten,
und mich ausstreckend nach dem, was davorne ist,
jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der
Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu." (Phil. 3.)
Können wir dasselbe sagen? Ist es wahr auch von uns?
Wonach jagen wir? was ist unser Ziel? Der Herr gebe
uns Gnade, diese Fragen mit Aufrichtigkeit zu beantworten!
„Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den
Abhängen des Gebirges Gilead lagern." Der Geliebte
denkt bei diesem Vergleich vielleicht an das lange, glänzende
Haar der Ziegen des Morgenlandes. Zugleich erscheinen
diese dem beobachtenden Blick als eine Herde,
eine gesammelte Schar, die auf den fetten Weiden des Gebirges
Gilead lagert. Eine jede hat Ueberfluß, und sie
alle zusammen bilden eine Herde. — Der Apostel Paulus
sagt uns auch, daß das lange Haar der Schmuck des Weibes
sei; es ist ihr als ein Schleier gegeben. (1. Kor. 11, 15.)
Könnte nicht ferner in den Worten des Geliebten
ein Hinweis liegen auf das lange Haar des Nasiräers,
welches ein Bild der geistlichen Kraft war? Simsons
große Stärke lag in seinen sieben Locken; sie waren das
Symbol seines ungebrochenen Gelübdes, seiner Weihung
für Gott. Jeder Gläubige ist seiner Stellung nach ein
Nasiräer, und er sollte eS auch in seinem praktischen Verhalten
sein. Seine Kraft liegt in der Absonderung von
allem, was die Natur zu nähren und zu erregen vermag.
So lange Simsons Locken ungeschoren blieben, konnte der
Feind ihn nicht bezwingen. So lange er das Geheimnis
seiner Gemeinschaft mit Gott bewahrte, blieb der Geist in
Kraft bei ihm. Aber wie schwer wird es einem Nasiräer,
seine Locken in dem Schoße einer Delila zu bewahren!
52
Ach, daß die Finger einer Hure jemals die Locken eines
Nasiräers Gottes berühren sollten! Laßt uns deshalb mit
ernster Wachsamkeit und in stetem Gebet suchen, in Absonderung
von der Welt, in Gemeinschaft mit Christo und
in der Kraft des Geistes zu wandeln, damit wir niemals
in Gefahr kommen, unser Gelübde zu brechen und das
Geheimnis unsrer Gemeinschaft zu verraten!
„Deine Zähne sind wie eine Herde geschorner Schafe,
die aus der Schwemme heraufkommen, welche allzumal
Zwillinge gebären, und keines unter ihnen ist unfruchtbar."
Hier stellt der Vergleich mit großer Vollkommenheit jeden
einzelnen Punkt ans Licht. Inden geschornen Schafen
erblicken wir die Entfernung der Schuld der Natur, Regelmäßigkeit,
Ebenmaß. „Die aus der Schwemme heraufkommen"
— deutet auf Reinheit hin; sie sind gewaschen
in der Quelle, die alle Unreinigkeit wegnimmt. „Die
allzumal Zwillinge gebären" — redet von Fruchtbarkeit;
„keines von ihnen ist unfruchtbar" — nichts mangelt.
So erblickt des Herrn Auge volles Ebenmaß, Reinheit
und Fruchtbarkeit in derjenigen, die Er liebt.
„Deine Lippen sind wie eine Karmesinschnur, und
dein Mund ist zierlich." — Wie der Strom der Gnade
Gottes, der diese Welt durchfließt, mit dem Blute des
Kreuzes gefärbt ist, so sollte auch die Unterhaltung des
Gläubigen stets diesen Charakter tragen. „Ich hielt nicht
dafür", sagt Paulus, „etwas unter euch zu wissen, als
nur Jesum Christum, und Ihn als gekreuzigt"; und an
einer andern Stelle: „Von mir aber sei es ferne, mich
zu rühmen, als nur des Kreuzes unsers Herrn Jesu
Christi." (1. Kor. 2, 2; Gal. 6, 14.) O möchte sich
auch, um in der Sprache des Bildes zu reden, durch all
53
unser Reden eine Karmesinschnur hindurchziehen, damit es
dem Geliebten stets wohlgefällig sei!
Als Jesaja die Herrlichkeit des Herrn schaute, wurde
er zu dem Ausruf gebracht: „Wehe mir! denn ich bin
verloren; denn ich bin ein Mann von unreinen Lippen,
und inmitten eines Volkes von unreinen Lippen wohne
ich." Aber dann flog einer der Seraphim zu ihm, und
in seiner Hand war eine glühende Kohle, die er mit der
Zange vom Altar genommen hatte. Und er berührte den
Mund des Propheten damit und sprach: „Siehe, dieses
hat deine Lippen berührt; und so ist deine Ungerechtigkeit
gewichen und deine Sünde gesühnt." (Jes. 6.)
Die Karmesinschnur, welche Rahab in ihr Fenster
binden mußte, redet ebenfalls laut und deutlich von der
reinigenden und rettenden Kraft des Blutes Christi.
Allein wir können uns hier nicht weiter über diesen
Gegenstand verbreiten. Der Herr gebe uns aber, daß
wir unsre Lippen vor allem bewahren, was ihnen ihre
liebliche Frische in den Augen Jesu und unsrer Mitpilger
rauben könnte! „Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit
Salz gewürzt, um zu wissen, wie ihr jedem einzelnen
antworten sollt." (Kol. 4, 6.)
„Wie ein Schnittstück einer Granate ist deine Schläfe
hinter deinem Schleier." Das Herz der Granate wird
hier als Bild der Schläfen der Braut benutzt. Der
Granatapfel ist eine köstliche Frucht von scharlachroter
Farbe, dessen weißrötliches Innere einen erquickenden,
säuerlichen Saft enthält. Der Vergleich erweckt den Gedanken
an Zartgefühl und Sittsamkeit, die sich in leichtem
Erröten kundgiebt. Ist der Gedanke richtig, so bedeutet er
eine gesegnete Veränderung für das Haus Jakob, welches
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die Braut ja bildlich darstellt. Es gab eine Zeit, wo
der Herr von Seinem Volke sagen mußte: „Ich wußte,
daß du hart bist, und daß dein Nacken eine eiserne Sehne
und deine Stirn von Erz ist." (Jes. 48, 4.) Welch
ein Wechsel! Welche Wunder vermag die Gnade zu bewirken!
Statt jener Verhärtung und Verstockung erblickt
der Herr jetzt in Seiner Geliebten das Bild demütiger
Sittsamkeit und zarten Fühlens.
„Dein Hals ist wie der Turm Davids, der in
Terassen gebaut ist: tausend Schilde hängen daran, alle
Schilde der Helden." Der Turm Davids war verziert
mit den Zeichen seiner Siege. Er war ein gewaltiger
Kriegsheld. Der Herr errettete ihn aus der Hand aller
seiner Feinde und aus der Hand Sauls. Er bahnte
durch seine Siege den Weg zu der friedlichen Regierung
Salomos, seines Sohnes. Aber was waren sie alle im
Vergleich mit den Siegen des Königs-Messias? Das
ganze Buch Gottes ist gleichsam ein ununterbrochener
Bericht der Siege Christi. Aber der turmähnliche Hals
Seiner Braut, geschmückt mit zahlreichen Edelsteinen, stellt
die Siegeszeichen dar, die Er im Lande Judäa gewonnen
hat. Wir lesen von Israel als einem hartnäckigen
Volke, als hochmütig wandelnd mit gerecktem Halse.
Solche Bilder bezeichnen einen traurigen moralischen Zustand.
Hier aber ist durch des Herrn Gnade die Veränderung
vollständig, der Triumph Seiner Liebe ist ein
vollkommener. „Das Joch der Uebertretung" ist von dem
Halse der Tochter Zion entfernt. Statt widerspenstig
und hart zu sein wie eine eiserne Sehne, ist sie lieblich,
demütig, und doch zugleich schön und stattlich wie der
Turm Davids. Und der Herr betrachtet mit stiller
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Wonne diese schönen Charakterzüge Seiner Braut. Die
heilige Freiheit und vollkommene Glückseligkeit Seines
Volkes wird dereinst in alle Ewigkeit das Gedächtnis an
die Triumphe Seiner Liebe bewahren.
Die siebente und letzte Eigenschaft der Geliebten
(V. 5) ist zunächst ein Zeichen voller moralischer Entwicklung,
der Bildung des Herzens für Christum, und
dann ein Bild der Ernährung, ein Mittel des Wachstums
und Segens für andere. Der Gegensatz zwischen
der Braut und „der kleinen Schwester" von Kap. 8, 8
ist bestimmt und belehrend. Man denkt, daß die völlige
Entwicklung der Braut und das Fehlen derselben bei der
„kleinen Schwester" den moralischen Zustand Judas und
Ephraims, oder der zwei Stämme und der zehn, darstellen.
Wenn die zwölf Stämme wiederhergestellt sein werden,
wird der Unterschied sich zeigen. Nichtsdestoweniger werden
auch die zehn Stämme sich der gesegneten Resultate
dessen, was geschehen ist, erfreuen. Ephraim aber werden
jene tiefen Herzensübungen fremd sein, durch welche Juda
in Verbindung mit dem Messias gegangen ist; und demzufolge
wird es auch die moralische Entwicklung entbehren,
welche durch diese Uebungen hervorgerufen wird. Als Christus
hienieden wandelte, verworfen und gekreuzigt wurde,
waren nur die zwei Stämme im Lande. Die zehn sind nie
aus ihrer Gefangenschaft zurückgekehrt; und ehe sie wieder
aus allen Völkern gesammelt und in ihr Land zurückgeführt
werden, wird Christus sich schon dem Hause Juda zu erkennen
gegeben haben als Der, der da kommt „in Macht
und Herrlichkeit". Der Ueberrest wird bei der Rückkehr
des Messias zumeist aus Angehörigen des Stammes Juda
bestehen. „Das Zwillingspaar junger Gazellen, die unter
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den Lilien weiden", weist vielleicht auf die einheitliche
Verbindung zwischen Herz und Geist hin, die dann bei
dem Ueberrest vorherrschen wird im Blick auf den lange
ersehnten Messias. Sie finden ihre Freude jetzt da, wo
Er sie findet. „Er weidet unter den Lilien." Ihr Herz
fühlt sich zu Ihm hingezogen, alle ihre Zuneigungen vereinigen
sich in Ihm, der sich ihnen geoffenbart hat.
Zugleich wird Juda ein Mittel der Ernährung und
Segnung bilden, sowohl für die zehn Stämme als auch
für alle Völker der Erde. „Freuet euch mit Jerusalem
und frohlocket über sie, alle die ihr sie liebet; seid hocherfreut
mit ihr, alle die ihr über sie trauert! auf daß ihr
sauget und euch sättiget an der Brust ihrer Tröstungen,
auf daß ihr schlürfet und euch ergötzet an der Fülle ihrer
Herrlichkeit! Denn so spricht Jehova: Siehe, ich wende
ihr Frieden zu wie einen Strom, und die Herrlichkeit der
Nationen wie einen überflutenden Bach, und ihr werdet
saugen; aus den Armen werdet ihr getragen und auf den
Knieen geliebkost werden." (Jes. 66, 10 — 12.)
Nachdem der Bräutigam so mit tiefer Freude die
makellose Schönheit Seiner Braut betrachtet und beschrieben
hat, lesen wir: „Bis der Tag sich kühlt und die Schatten
fliehen, will ich zum Myrrhenberge hingehen und zum
Weihrauchhügel." (V. 6.) Spricht Er diese Worte, oder
kommen sie aus dem Munde der glücklichen Braut, die,
hingerissen von Seiner Liebe, da zu sein verlangt, wo Er
sich mit Vorliebe aufhält? Fast scheint es, als sei es die
Braut, die so den innersten Gefühlen ihres Herzens Ausdruck
giebt. Doch sei es, wie es sei, Er ruft ihr die herrlichen
Worte zu: „Ganz schön bist du, meine Freundin, und
kein Makel ist an dir!" — Anbetungswürdiger Herr!
„Auf daß nicht das Kreuz Christi zunichte
gemacht werde."
(1. Kor. 1, 17.)
Das Kreuz Christi bildet den Mittelpunkt der Ratschlüsse
Gottes in Gnade. Die Opfer des Alten Bundes
wiesen immer von neuem auf dasselbe hin; die Opfer des
tausendjährigen Reiches werden umgekehrt die Gläubigen
beständig daran erinnern. Die einen waren Vorbilder,
die andern werden Erinnerungs- oder Denkzeichen sein.
Das Opfer Christi war eine Notwendigkeit. Es gab keinen
andern Weg für Gott, um mit dem gefallenen Menschen
in Beziehung zu treten. „Gleichwie Moses in der Wüste
die Schlange erhöhte, also muß der Sohn des Menschen
erhöht werden, auf daß jeder, der an Ihn glaubt, nicht
verloren gehe, sondern ewiges Leben habe." (Joh. 3, 14.
15.) Selbst in der himmlischen Herrlichkeit wird der
Kreuzestod Christi das ewige Thema der Loblieder der
Erlösten, die Grundlage ihrer Anbetung bilden. Der bedeutungsvolle
„Ausgang", den der Herr in Jerusalem
erfüllt hat (Luk. 9, 31), wird dort völlig erkannt und in
würdiger Weise gepriesen werden. Die Majestät, Heiligkeit
und Gerechtigkeit Gottes, sowie Seine unendliche Liebe
und Weisheit, sind durch das Kreuz vollkommen ans Licht
gestellt und verherrlicht worden, und zwar im Gericht über
die Sünde und in der Erlösung und Befreiung des ver
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lornen Sünders. Das Gute hat dort über das Böse gesiegt.
Christus hat die Fürstentümer und Gewalten ausgezogen
und sie öffentlich zur Schau gestellt. (Kol. 2, 13—15.)
Der Tod ist zunichte gemacht worden, und die Macht des
Bösen und seines Urhebers, des Widersachers aller Ratschlüsse
Gottes, hat am Kreuze eine vollständige Niederlage
erlitten. Es ist erwiesen worden, daß das Thörichte
Gottes weiser ist als die Menschen, und das Schwache
Gottes stärker als die Menschen. (1. Kor. 1, 25.) Alles
das zeugt von dem unendlichen Werte, sowie von der
Notwendigkeit des Kreuzes Christi.
Andrerseits ist das Kreuz das Ende aller Anmaßungen
des Menschen und der Welt, indem es gezeigt hat, daß
der wahre Zustand beider unversöhnlich ist mit der Herrlichkeit
Gottes. Daher der Haß und die Feindschaft der
Welt gegen das Kreuz Christi: es war den Juden ein
Anstoß, und den Nationen eine Thorheit. (1. Kor. 1, 23.)
Heute ist es nicht anders; die Gesetzlichkeit stößt sich an
dem Kreuze, die Vernunft nennt es eine Thorheit. Der
stolze Mensch kann es nicht ertragen, alle seine vermeintlichen
Vorzüge, seine eigene Gerechtigkeit, seine Kenntnisse,
Fähigkeiten und Weisheit als untauglich und wertlos beiseite
gesetzt zu sehen, und er möchte gern das Kreuz aus
dem Wege räumen, oder ihm wenigstens seine Schärfe
und ernste Bedeutung nehmen. Dieses Streben kann selbst
den Christen gefährlich werden, wenn sie nicht wachsam
sind. Schon zur Zeit des Apostels gab es solche, die er
als „Feinde des Kreuzes Christi" bezeichnen mußte. (Phil.
3, 18.) Auch bei den Gläubigen zu Korinth machte sich
dieses Streben bemerkbar, indem sie großen Wert legten
auf Menschen-Weisheit und äußern Schein. Das Hohe
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dieser Welt, das was vor Augen ist, zog sie mächtig an
und verdarb ihr geistliches Urteil.
Paulus redet deshalb ernst zu ihnen. Er zeigt ihnen
die Verwerflichkeit eines solchen Strebens, indem er ihnen
in scharfen Worten ihren fleischlichen Zustand vorhält und
sie daran erinnert, in welch schroffem Gegensatz sie sich
dadurch zu Gott und Seinem Thun stellten. „Wo ist
der Weise? wo der Schriftgelehrte? wo der Schulstreiter
dieses Zeitlaufs? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt
zur Thorheit gemacht? . . . Das Thörichte der Welt hat
Gott auserwählt, auf daß Er die Weisen zu Schanden
mache; und das Schwache der Welt hat Gott auserwählt,
auf daß Er das Starke zu Schanden mache; und das
Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott auserwählt,
und das, was nicht ist, auf daß Er das, was ist, zunichte
mache, damit sich vor Gott kein Fleisch rühme."
Ferner sagt er ihnen, daß Christus ihn gesandt habe,
„das Evangelium zu verkündigen, nicht in Redeweisheit,
auf daß nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht
werde". Er erinnert sie daran, daß er nicht nach „Vortrefflichkeit
der Rede oder Weisheit" zu ihnen gekommen
sei, als er ihnen das Zeugnis Gottes verkündigt habe, sondern
daß er bei ihnen gewesen sei „in Schwachheit und in
Furcht und in vielem Zittern". (Kap. 2, 1—5.) Ferner
macht er sie darauf aufmerksam, daß sie bei all ihrem
Trachten nach weltlicher Weisheit und hohen Dingen keine
geistlichen Fortschritte gemacht hatten: „Und ich, Brüder,
konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern
als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christo. Ich
habe euch Milch zu trinken gegeben, nicht Speise; denn
ihr vermochtet es noch nicht, aber ihr vermöget es auch
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jetzt noch nicht, denn ihr seid noch fleischlich." (Kap. 3,
1—3.) Sie rühmten sich der Menschen; und mit einem
Ernst, der in tief beschämender Weise sie darauf hinwies,
wem ihr Rühmen eigentlich hätte gelten sollen, fragt der
Apostel sie: „Ist Paulus für euch gekreuzigt, oder
seid ihr auf Paulus' Namen getauft worden?" Wie niederschmetternd
und demütigend sind diese Worte für alle, die
einem Menschen den ersten Platz einräumen, anstatt Christo!
Mit welchem Eifer war der Apostel bemüht, daß nicht
das Kreuz Christi zunichte gemacht, sondern die Schranke
aufrecht erhalten werde, welche die Anmaßungen und den
Ruhm des Menschen zerstörte und die Herrlichkeit Gottes
sicherte. „Also ist weder der da pflanzt etwas, noch der
da begießt, sondern Gott, der das Wachstum giebt."
(Kap. 3, 7.) „Wer sich rühmt, der rühme sich des
Herrn."
Die Gefahr, daß das Kreuz Christi zunichte gemacht
werde, ist in unsern Tagen des Verfalls größer als je.
Die bekennende Kirche hat ihm bereits seinen wahren
Charakter genommen. Es ist heute nicht mehr ein Zeichen
der Schmach und Verachtung, sondern vielmehr ein Ehrenzeichen.
Zugleich ist die Person Christi der großen Masse
der Bekenner kaum noch dem Namen nach bekannt, und
Seine Autorität wird längst nicht mehr von ihnen anerkannt.
Ein Mann wie Paulus, von schwächlicher Gestalt
und unkundig in der Rede (2. Kor. 10, 10 und 11, 6),
wäre kein Mann für sie. Würde er auch, bekleidet mit
der Autorität Christi, ohne Furcht und in der Kraft des
Geistes die Wahrheit verkündigen, so würde er doch
keinen Eindruck auf sie machen, kein Gehör finden. Die
bekennende Kirche muß Männer haben, die dem herrschenden
61
Geschmack entsprechen: tüchtige Redner, von ansehnlichem
Aeußern und gewaltiger Stimme, die da reden, wie es
den Leuten „in den Ohren kitzelt". (2. Tim. 4, 3.) Was
müssen die Folgen davon sein und was das Ende! Sicher
kann man auch heute fragen: „Wo ist der Weise? wo der
Schriftgelehrte? wo der Schulstreiter dieses Zeitlaufs?"
Die bekennende Kirche steht mit der Welt auf einem
Boden, und wird auch mit ihr endigen im Gericht. Gott
kann es um Seiner eignen Herrlichkeit und um der tiefen
Erniedrigung Seines geliebten Sohnes willen nicht zu--
geben, daß das Kreuz Christi zunichte gemacht werde.
Das Kreuz ist die einzige Grundlage, auf welcher Er mit
uns sein und uns Seiner Kraft und Segnungen teilhaftig
machen kann. Sobald dies nicht mehr anerkannt wird,
sobald die Einfalt verloren geht und man der mit dem
Evangelium vom Kreuze verbundenen Schmach aus dem
Wege zu gehen sucht, machen die traurigen Folgen sich
geltend; und diese sind: Abnahme des geistlichen Lebens,
der geistlichen Frische und Kraft, Verweltlichung und
schließlich völlige Gleichstellung mit der Welt.
Dem Auge des nüchternen Gläubigen kann es nicht
entgehen, daß sich die erwähnten traurigen Folgen auch
unter uns bemerkbar machen. Die Frische des Herzens
und das Interesse für die Person und das Wort des
Herrn haben vielfach einem gewissen Sattsein und einem
zunehmenden Weltsinn Platz gemacht. Die Gegenwart des
Herrn und die Leitung des Heiligen Geistes inmitten der
Versammlung genügen manchem nicht mehr; man ist nur
befriedigt, wenn hervorragende Persönlichkeiten oder Gaben
in der Mitte sind. Ist dies auch, Gott sei Dank, nicht
der allgemeine Zustand der Gläubigen, so sind es doch
62
bedenkliche Symptome. Die Gefahr liegt uns nahe, daS
Kreuz Christi zunichte zu machen und uns dem Geschmack
der Welt ein wenig anznpassen; man möchte so gern etwas
von dem haben, was ihren Beifall findet. Und diese
Gefahr ist um so größer, je mehr die Versammlungen
nach außen hin zunehmen. Wie leicht kann da der Charakter
der Einfalt und Einfachheit, der einer im Namen
Jesu versammelten Gemeinschaft von Gläubigen eigen ist,
verloren gehen, indem die Augen der Anwesenden, statt
auf den Herrn in der Mitte, auf irgend einen Bruder
gerichtet sind! Würde es nicht wohl manchem auffallend
oder gar anstößig erscheinen, wenn in einer großen Versammlung
ein Mann aufstehen und das Zeugnis Gottes
verkündigen würde, nicht in „Redeweisheit" oder nach
„Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit", sondern in
Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern, wie
Paulus es einst that in Korinth? Ich fürchte, daß er an
manchen Orten Anstoß erregen würde, selbst wenn er in
„Erweisung des Geistes und der Kraft" redete. Das
Trachten nach hohen Dingen und die Liebe zur Welt,
das Blicken auf das was vor Augen ist, der Mangel eines
ganzen Herzens für Christum und das Fehlen der wahren
Unterwürfigkeit unter Sein Wort sind Dinge, die leider
nicht vereinzelt dastehen. Sie beweisen, daß das Kreuz
Christi für viele Gläubige nicht mehr das ist, was es für
Gott und die Heiligen in der Herrlichkeit ist und sein wird;
daß wir in Gefahr stehen, die engen Grenzen zu überschreiten,
die das Kreuz gezogen hat, um einen weiteren
Spielraum zu haben für die Dinge des Fleisches.
Der treue Apostel mußte gerade deswegen den Haß
der Welt und der Juden in so bitterer Weise erfahren,
63
weil er nicht ihnen zu Gefallen diese Grenzen überschreiten
wollte. Hätte er sich herbeigelassen, die Wahrheiten des
Christentums nur ein wenig den jüdischen Einrichtungen
anzupassen, so würde er dem Haß der Juden sofort die
Spitze abgebrochen haben; das Aergernis des Kreuzes
wäre hinweggethan gewesen, und seine Verfolgungen hätten
ein Ende gehabt. Aber wo wäre die Herrlichkeit Gottes
geblieben? Doch die Liebe des Apostels zum Herrn war so
groß, seine Treue so unerschütterlich, daß weder die Freundschaft
noch die Feindschaft der Juden ihn bewegen konnte,
ihnen auch nur „eine Stunde durch Unterwürfigkeit" nachzugeben,
„auf daß", wie er selbst sagt, „die Wahrheit
des Evangeliums bei euch verbliebe". (Gal. 2, 5; 5, 11.)
Mit derselben Entschiedenheit übte er auch der Versammlung
gegenüber seinen Dienst aus in Uebereinstimmung
mit der tiefen Erniedrigung seines Herrn und Heilandes.
Die Ehre Dessen, der sich für ihn erniedrigt hatte, ging
ihm über alles, und er wollte gleich seinem Herrn nicht
mehr sein als ein Diener, als der Letzte von allen; in
den Augen der Gläubigen wollte er nicht mehr gelten,
als was sie an ihm sahen oder von ihm hörten. (2. Kor.
12, 6.) Würde er gesucht haben zu glänzen, so würde er
sicher gerade in Korinth großes Gewicht auf „Redeweisheit"
gelegt haben; er würde es sich haben angelegen
sein lassen, seinen Dienst doch in etwa ihrem fleischlichen
Geschmack anzupassen. Aber nein; das Kreuz Christi hatte
einen zu tiefen Eindruck auf ihn gemacht, als daß solch
eitle Gedanken Raum in seinem Herzen hätten finden können.
Aus demselben Grunde konnten ihn weder Habsucht, noch
Menfchengefälligkeit, noch irgendwelche unreinen Beweggründe
in seinem Dienste beeinflussen. (1. Thess. 2, 3—5.)
64
Gebe der Herr, daß Sein Kreuz mehr vor unsern
Augen stehe! Es ist das einzige wahre Heilmittel in
unsern Tagen des Verfalls gegen den lähmenden und
tötenden Einfluß der Dinge um uns her. Der Apostel
wandte dieses Heilmittel an, indem er den Korinthern
schrieb: „Denn ich hielt nicht dafür, etwas unter euch zu
wissen, als nur Jesum Christum, und Ihn als gekreuzigt."
(1. Kor. 2, 2.) Wenn jemand nie wirklich
unter dem Eindruck des Kreuzes Christi gestanden hat, so
hat er auch noch nie sein gänzliches Verderben, aber auch
noch nie die Liebe Gottes wahrhaft erkannt. Am Kreuze
sehen wir, was wir sind, aber auch, was Gott für
uns ist. Darum ist es nötig, hier Halt zu machen und
keinen Schritt weiter zu gehen, bis wir die Lektionen des
Kreuzes gelernt und unsern Herzen tief eingeprägt
haben. Nur dann werden sie auch in unserm Wandel
zum Ausdruck kommen, und wir werden erfahren, daß
das Wort vom Kreuze für uns „Gottes Kraft und
Gottes Weisheit" ist. (1. Kor. 1, 23. 24.) Erst dann
wenn wir mit uns zu Ende gekommen sind, kann Gott
anfangen, durch uns zu wirken; denn das Bewußtsein
unsrer Schwachheit und die Kraft Gottes gehen stets
Hand in Hand. Niemand ist so stark und weise wie ein
Christ, dessen Ausgangspunkt das Kreuz Christi ist. Es ist
für ihn dasselbe, was Gilgal einst für Israel war. (Jos.
5, 9.) Dort war mittelst der Beschneidung die Schande
Aegyptens von Israel abgewälzt worden; dort war ihr
Lager, von wo sie auszogen zum Kampf gegen die Feinde,
und wohin sie nach ihren Siegen zurückkehrten. In ähnlicher
Weise hat am Kreuze unsre Beschneidung, der Tod des
alten Menschen, stattgefunden, und die Schande der Welt
65
ist dadurch von uns abgewälzt worden. Aber dort müssen
wir auch unser Lager haben; wir müssen stets von
dort ausgehen, stets dahin zurückkehren, das heißt allezeit
dessen, was am Kreuze geschehen ist, unsers Gestorbenseins
mit Christo, eingedenk bleiben. So lange Israel Gilgal
zu seinem Ausgangspunkt hatte, blieb es siegreich; sobald
eS davon abließ, war seine Kraft gebrochen, und der
Verfall trat ein. (Siehe Richt. 2, 1—5.)
Welch eine ernste Mahnung für uns, zu wachen und
das Kreuz Christi stets zu unserm Ausgangspunkt zu
machen; denn nur dann wird unsre geistliche Energie bewahrt
bleiben, nur dann der eigentlich christliche Charakter,
das himmlische Wesen des Christentums, in uns sich
kundgeben, samt wahrer Niedriggesinntheit, Gnade und
wahrhaftiger Heiligkeit. Alle diese kostbaren Dinge kamen
an dem Kreuze zum Ausdruck. Es war das Kreuz
Christi, des Sohnes Gottes, der sich freiwillig so tief
erniedrigte, um Sein Leben als Lösegeld zu geben für
viele. (Mark. 10, 45.) Und unter welchen Umständen
opferte Er dieses teure Leben! Ach! unter den Lästerungen,
dem Hohn und Spott der Umstehenden, inmitten der
„Hunde" und einer „Rotte von Uebelthätern" (Psalm
22, 16), die Ihm zuriefen: „Wenn Er Israels König
ist, so steige Er jetzt herab vom Kreuze, und wir wollen
Ihm glauben". (Matth. 27, 42.) Aber als der Sanftmütige
und von Herzen Demütige harrte Er aus und
ließ Sein Leben, damit die Gnade freien Lauf habe gegen
elende, verlorene Sünder. Da war keine Erregung des
Fleisches, keine Bitterkeit des Herzens. „Vater, vergieb
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!" war Seine
Antwort auf den bittern Haß und die schreckliche Feind-
66
schäft des Menschen. (Luk. 23, 34.) Geprüft bis zum
Aeußersten, sowohl durch Seine Jünger als auch durch
Seine Feinde, gequält von den schrecklichsten Leiden, zeigte
sich nur Seine vollkommene Heiligkeit, Sein gänzliches
Abgesondertsein von der Sünde, Seine unendliche Liebe,
Sein unergründliches Erbarmen, Seine vollkommene Unterwürfigkeit
und Demut.
Christlicher Leseri Könnten wir uns nun erheben
und etwas aus uns selbst machen wollen? Könnten wir
irgendwie zu glänzen suchen oder der dem Fleische angeborenen
Kreuzesscheu und Furcht vor der Schmach Christi
Raum geben angesichts solcher Thatsachen? Sollte nicht
vielmehr tiefe Scham unser Angesicht röten, wenn wir
den Hang nach solchen Eitelkeiten in uns entdecken, während
unser Herr und Heiland in so tiefer Erniedrigung war?
Sollten wir unsre eigene Ehre suchen oder auf unserm
Recht bestehen, während Er in Seiner Gnade und Liebe
alles erduldete und ertrug, um uns zu retten? O
möchten unsre Blicke allezeit fest auf das Kreuz Christi
gerichtet bleiben! und laßt uns allen Ernstes darauf
achten, daß es in keiner Weise durch uns zunichte gemacht
werde! Möchten wir stets mit dem Apostel sagen
können: „Allezeit das Sterben Jesu am Leibe umhertragend,
auf daß auch das Leben Jesu an unserm Leibe
offenbar werde!" (2. Kor. 4, 10.)
Jerobeam, der Sohn Joas^.
(2. Kön. 14, 23-29.)
Ueber Jerobeam, den Sohn des Joas, König von
Israel, berichtet das Wort Gottes nur wenig; aber selbst
67
dieses Wenige wird, wenn wir es mit Aufmerksamkeit
und unter Gebet betrachten, für unsre Herzen von
Segen sein.
Jerobeam war ein gottloser König; er that, was
böse war in den Augen Jehovas und wich nicht von allen
Sünden Jerobeams, des Sohnes NebatS. Trotzdem erlaubte
ihm Gott, die Grenze Israels wiederherzustellen
vom Eingänge Hamaths bis an das Meer der Ebene.
Den Grund dazu finden wir im 26. Verse: „Jehova sah,
daß das Elend Israels sehr bitter war." Also nicht um
Jerobeams willen half der Herr, auch nicht um des Volkes
willen; denn beide waren in einem schlechten Zustande.
Es war vielmehr Sein unergründliches Erbarmen, das Ihn
trieb, sich Seines Volkes anzunehmen. Eine wichtige Belehrung
für uns! Wenn Gott Segen giebt, so schließen
wir leicht daraus, daß die Personen oder Körperschaften,
die diesen Segen genießen, sich in einem guten Zustand
befinden oder Gott wohlgefällig sein müßten. Allein Gott
kann segnen, und Er thut es, rein aus Seinem Erbarmen
heraus. „Er läßt Seine Sonne aufgehen über Böse und
Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte."
Jener Schluß kann also sehr irrig sein. Der gute Zustand
einer Person oder Gemeinschaft giebt sich nach außen
vor allem darin kund, daß das Böse, mag es in einer
Form sich zeigen, in welcher es will, sofort erkannt und
gerichtet wird. In einer solchen entschiedenen Verurteilung
des Bösen offenbart sich ein Leben bewußter Gemeinschaft
mit Gott, sowie wahre geistliche Kraft.
Mit den beiden Vorgängern Jerobeams stand es in
gewisser Beziehung besser als mit ihm, obwohl auch von
ihnen gesagt wird, daß sie thaten was böse war in den
68
Augen Jehovas. Von dem König Joahas lesen wir z. B.
(2. Kön. 13, 4), daß er zu Jehova flehte und erhört
wurde. Sein Gebet gab Jehova Veranlassung, ihm zu
helfen. Ferner erlangte Joas, des Joahas Sohn, durch
Elisas Vermittlung und einen, wenn auch nur geringen
Glauben seinerseits, einen dreimaligen Sieg über die
Syrer. Doch von Jerobeam, dem Sohne und Enkel jener
Männer, wird mit keiner Silbe erwähnt, daß er durch
sein Verhalten Jehova irgendwie Anlaß gegeben hätte,
helfend und rettend einzugreifen. Wir lesen weder von
Gebet, noch von der geringsten Bethätigung des Glaubens.
Er und sein Sohn verdankten ihren Platz auf dem Throne
Israels einzig und allein der Verheißung Jehovas an
Jehu, daß ihm Söhne des vierten Gliedes auf dem Throne
Israels sitzen sollten. Und doch war, wie wir gesehen
haben, Jerobeam unter allen Königen Israels derjenige,
welcher nicht nur zu der längsten Regierung, sondern auch
zu der höchsten Machtentfaltung des Reiches berufen war.
Er brachte Damaskus und Hamath wieder an Israel, die
Hauptstädte der Syrer, welche einst David und Salomo
denselben genommen und in Besitz gehabt hatten. Die
alte Glanzperiode des Reiches schien damit wieder anbrechen
zu wollen. Freilich erkannte man im Innern sofort,
daß es nicht die Zeit Davids oder Salomos war.
Erstlich war das Reich geteilt, und dann war der Mittelpunkt
der Hauptmacht nicht Jerusalem, sondern Samaria.
Das Traurigste von allem aber war, daß das Bethel
(Gotteshaus) Israels ein Beth-Awen (Götzenhaus) geworden
war. (Vergl. Hosea 4, 15 u. 1. Kön. 12, 29.)
Mit der größten Machtentfaltnng nach außen verband
sich also Wohlleben im Innern, wie wir dies aus den
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Schilderungen der Propheten Hosea und Amos sehen;
und dabei: Zertrennung, Herrschaft eines Königs, den
zwar die Treue Gottes Seinen Verheißungen gegenüber
aufrecht erhielt, der sich aber um Gott nicht kümmerte.
Es war die Herrschaft des Menschen, den Gott in Seiner
Gnade stützte, um Sein Wort zu erfüllen, der aber nichts
nach Gott fragte, sondern den Gottesdienst des Menschen,
oder, was dasselbe sagen will, Götzendienst übte. Es
war ein ausgesprochen staatlich-religiöses System, ein Vorbild
des Staatskirchentums unsrer Tage. Der Priester
Amazja nennt Bethel „ein Heiligtum des Königs" und
einen „königlichen Wohnsitz". (Amos 7, 13.) Der Name
Jehovas wurde benutzt, doch nur um den Staat zu stützen
und seine Politik zu fördern. Und einem solchen Reiche
und einem solchen Manne ließ Gott noch Hülfe und
Rettung widerfahren, trotzdem sich keine Spur von Buße
und Umkehr zeigte! O mit welcher Langmut hat Er doch
zu aller Zeit die Gefäße des Zornes getragen, zubereitet
zum Verderben!
UeberdieS war Syrien als Zuchtrute Israels end-
giltig hinweggethan. Wir finden sogar später den König
Pekach von Israel mit dem König Rezin von Syrien im
Bunde gegen Ahas, den König von Juda. Ja, Israel
stand mächtig da; aber es war nur das Reifen zum
Gericht, welches mit ihm als Volk ein Ende machen sollte.
Indem Gott die Syrer beiseite thut, läßt Er die Assyrer
sich nähern, welche die Vollstrecker Seines Strafurteils an
Israel sein sollten. Derselbe Prophet Jona, der Sohn
Amittais, der den Sieg über die Syrer durch Jerobeam
angekündigt hatte (siehe 2. Kön. 14, 25), wird nach
Ninive, der Hauptstadt Assyriens, gesandt, um durch seine
70
Predigt das Herz des Königs und Volkes zu erreichen.
Gott bereitete sich die Rute Seines Zornes zu (Jes. 10, 5),
und dann folgt Angriff auf Angriff seitens der Assyrer
gegen Israel, bis Salmaneser das Volk in die Gefangenschaft
führt. Jerobeam, der Sohn Joas', ist der letzte
König, mit dem sich Gott noch beschäftigt; mit ihm schließt
die Geschichte Israels, wenigstens was das Königtum
betraf, vor Gott ab. In den Schriften von Hosea und
Amos geschieht seines Namens noch Erwähnung, während
feine Nachfolger nicht mehr genannt werden, obgleich Hosea
wenigstens noch unter der Regierung derselben geweissagt
hat. Wenn Gott sich nachher noch an Israel wendet,
wie durch den Propheten Oded (2. Chron. 28, 9—13),
oder durch Hiskia, der das Volk aufforderte, das Passah
mitzufeiern — die letzte feierliche und rührende Einladung,
welche an Israel erging, zu Jehova umzukehren, und die
etwa drei Jahre vor dem Beginn der Belagerung Sama-
rias durch Salmaneser stattfand — so wendet er sich an
das Volk, nicht mehr an den König.
Sekarja, der Sohn Jerobeams, wurde nach nur
sechsmonatlicher Regierung erschlagen und damit der Herrschaft
des Hauses Jehus ein Ziel gesetzt. Was noch in
der Regierung folgte, war ein Haufe Verschwörer und
Thronräuber. Mit einem Königtum, mit welchem Gott
sich noch beschäftigen konnte, wie zu den Zeiten Elias und
Elisas, war es zu Ende. Gott hatte den Königen von
Israel nichts mehr zu sagen; aber die Rute Seines
Zornes war geschwungen und fiel in immer wuchtigeren
Schlägen auf den verhärteten Nacken des Volkes und
seiner Führer. Elia und Elisa hatten noch versucht, das
Volk und Königtum zu Gott zurückzuführen. Es hatte
71
damals wenigstens noch eine Verbindung zwischen dem
Königtum und Gott vermittelst dieser Propheten bestanden.
Joas, der Vater Jerobeams, hatte noch über dem sterbenden
Elisa gerufen: „Mein Vater, mein Vater! Wagen
Israels und seine Reiter!" Aber nachdem Jona die letzte
Hilfe Jehovas, die Er dem Volke zukommen lassen wollte,
angekündigt hatte, wurde er nach Ninive geschickt, und
Hosea und Amos erklärten, daß das Volk seinen Platz
vor Gott verloren habe, und daß das Ende des Königtums
gekommen sei.
Noch ein gewaltiges Zeugnis legte Gott vor Volk
und König ab, das Amos zuvor anküudigen mußte (siehe
Amos 8, 8 und 9, 5. 6), und dessen Sacharja nach der
Rückkehr aus Babel noch gedenkt (Sach. 14, 5): das
Erdbeben. Es geschah in den Tagen, als Ussija, König
von Juda, und Jerobeam gleichzeitig regierten. Es ist
ein Vorbild für die letzten Tage, und wird seine Erfüllung
finden, wenn der jüdische Ueberrest fliehen wird und der
Herr erscheint. Das Wort Haggais: „Noch einmal, da
werde ich erschüttern den Himmel und die Erde und das
Meer und das Trockene," scheint auf dieses Erdbeben
zurückzuweisen. Es war ein ernster Warnungsruf. Das
ganze Land erbebte; es wogte insgesamt auf wie der Nil
und sank wieder zurück wie der Strom Aegyptens. Es
mahnte König und Volk, daß Land und Bewohner, so
mächtig sie auch äußerlich dastehen mochten, in den Händen
Jehovas waren, „der Seine Obergemächer im Himmel
gebaut und Seine Gewölbe über der Erde gegründet hat".
Jehova bestätigte das Wort, das Er durch Seinen Knecht
geredet hatte. Es war ein letzter Mahnruf zur Buße an
König und Volk.
72
Aber ach I auch diese Stimme scheint überhört worden
zu sein. Das Endgericht, welches mit Sturmeseile herannahte,
wurde nicht gesehen. Als das Entsetzen über das
schreckliche Naturereignis sich gelegt hatte, schritten König
und Volk sorglos auf dem alten Wege weiter. Welch
ein sündliches Wohlleben damals in Israel herrschte, geht,
wie schon erwähnt, aus den Schriften der zwei letzten
Zeugen Gottes an sie, Hosea und Amos, hervor. Die
Zuchtrute (Syrien) war zerbrochen, ja in die Hand Israels
gegeben, das Königtum war befestigt, die alten Grenzen
des Reiches wiederhergestellt, Joas hatte sogar über Juda
triumphiert, das Erdbeben war vorüber — warum also sich
ernster Sorge hingeben? König und Volk machten es wie
die Leute in den Tagen Noahs: „Sie aßen, sie tranken,
sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten."
Und ist es in unsern Tagen nicht gerade so? Der
Herr Jesus hat einst gesagt: „Desgleichen wird es an
dem Tage sein, da der Sohn des Menschen geoffenbart
wird." Und wir brauchen uns nur umzuschauen, um zu
sehen, wie göttlich wahr dieser Ausspruch ist. Ja, ich
möchte noch einen Schritt weitergehen und fragen: Ist
es nicht selbst bei den Gläubigen oft so, daß sie, wenn
der Herr eine zu ihrer Unterweisung gebrauchte Zuchtrute
beiseite thut, bald aller Zucht vergessen? Es ist nicht
immer ein Beweis von einem guten Zustande bei uns,
wenn der Herr die Rute weglegt, mit der Er uns schlug.
„Wen der Herr liebt, den züchtigt Er." Auch „rühmen
wir uns der Trübsale." Paulus konnte den Dorn für
das Fleisch nicht entbehren. Es ist ernst, wenn der Herr
sagen muß: „Warum solltet ihr weiter geschlagen werden,
da ihr nur den Abfall mehren würdet?" So war es
73
einst bei Israel und Juda (Jes. 1, 5); und es ist sehr
zu befürchten, daß dieser Zustand völliger Unempfindlichkeit
für das, was der Herr Seiner Kirche sagen will, die
Christenheit heute schon in vorgeschrittenem Maße charakterisiert.
Ist er in seiner vollen Reife vorhanden, so ist
jeder Schlag, jedes Wort umsonst. Der Herr hört auf
zu züchtigen und zu warnen. Das hereinbrechende Verderben
muß seinen Lauf nehmen. O möchte der Herr
uns allen ein offnes Ohr, ein zartes Gewissen geben für
jeden Wink, jede Mahnung, jede Rüge, jede Züchtigung!
Möchte ein jeder von uns wissen, was Er ihm und uns
allen zu sagen hat! „Wer ein Ohr hat, höre!"
Die halbe Reformation, die von Jehu ins Werk gesetzt
wurde (2. Kön. 10), war nur eine Station auf dem
Wege zum völligen Untergang. Diesem ging dann wohl
noch eine kurze Zeit der Machtentfaltung voraus, die das
Volk der Güte Gottes verdankte; sie konnte aber das
Verderben nicht aufhalten. Wird es der Christenheit nicht
ebenso ergehen? Sind alle diese Dinge nicht zum Vorbilde
und zur Belehrung für uns geschrieben? Ich glaube,
daß die Christenheit unsrer Tage gerade aus der Zeit
Jerobeams, des Sohnes Joas', wichtige und ernste Belehrungen
ziehen kann. Wie die Reformation Jehus den
Baalsdienst Jsebels beseitigte, so wurde durch den Protestantismus
dem Papsttum ein gewaltiger Stoß versetzt;
aber es war in beiden Fällen kein gründliches Aufräumen
mit allem, was nicht dem geoffenbarten Willen Gottes
entsprach. Es folgten viele und ernste Züchtigungswege
Gottes; aber es wurde ihnen kein Gehör geschenkt.
Heute hat der Herr gewissermaßen Ruhe gegeben; das
Evangelium wird in Fülle weithin verkündigt und feiert
74
Triumphe. Wie steht es? Ist nun alles gut? O möchte
niemand sich täuschen! Wenn in gegenwärtiger Zeit hie
und da Entfaltungen der Macht und des Segens Gottes
in der Mitte derer, die sich Christen nennen, sich offenbaren,
so sind das Beweise dafür, daß Gott gütig, daß Er voll
Erbarmen ist, aber keineswegs, daß es gut steht, daß der
Zustand ein Ihm wohlgefälliger ist. Lassen wir uns auch
nicht täuschen durch eifrige Geschäftigkeit nach außen hin!
Nachdem die thörichten Jungfrauen ihre Lampen geschmückt
und auch noch den Gang zu den Krämern gemacht hatten
(freilich zu spät!), empfing sie das Wort des Herrn: „Ich
kenne euch nicht." Mögen wir uns auch nicht dadurch
beirren lassen, daß der Mensch bemüht ist, äußerlich
alles wiederherzustellen wie zu den Tagen der Apostel,
und daß er scheinbar sein Ziel erreicht. Das Urteil des
Herrn über die Frucht all dieser Bemühungen lautet:
„Ich kenne deine Werke, daß du den Namen hast, daß
du lebest, und bist tot." Mag Laodicäa sich auch rühmen:
„Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts",
so ist doch das ernste Wort des Herrn: „Ich werde dich
ausspeien aus meinem Munde", bereits ausgesprochen und
wird bald in Erfüllung gehen. (Offbg. 3.) Das Gericht
ist angekündigt und wird vollzogen werden.
Noch ein letztes gewaltiges Zeugnis wird der abge-
fallenen Christenheit vorgestellt werden, aber daun wird
es zur Buße zu spät sein; ich meine die Entrückung der
Gläubigen. Der Herr wird kommen und die Seinigen
zu sich nehmen, damit sie auf ewig da seien, wo Er ist.
So wie einst Henoch nicht mehr gefunden wurde, weil
Gott ihn entrückt hatte, so wird auch die Welt nach der
Ankunft des Herrn die Gläubigen nicht mehr finden.
75
Sicher wird dieses wunderbare Ereignis die Herzen der
Menschen eine Zeitlang mit Erstaunen, vielleicht auch
mit Furcht und Schrecken erfüllen; aber ihre Gedanken
werden bald durch die hereinbrechenden Gerichte wieder
abgeleitet werden. Schreckliche Schläge des Zornes Gottes,
furchtbare Ausbrüche Seines Grimmes werden über sie
kommen. Angst und Entsetzen wird sie ergreifen, wie
einst zu den Zeiten des Erdbebens in Israel, als alle
trauerten, die in dem Lande wohnten. Was die Israeliten
damals fühlten, war nur ein kleiner Vorgeschmack von
dem, was am Ende der Tage über die ungläubigen Bewohner
dieser Erde kommen wird. Denn „dann wird
Bedrängnis der Nationen sein in Ratlosigkeit bei brausendem
Meer und Wasserwogen, indem die Menschen verschmachten
vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über
den Erdkreis kommen." (Luk. 21, 25. 26.)
Glücklich ein jeder, der in Jesu geborgen ist, um
allem diesem zu entfliehen, und der unter Wachen und
Beten in Abhängigkeit von Ihm und in Gemeinschaft mit
Ihm Seinem Kommen entgegenharrt! Geliebter Leser, bist
du geborgen? Und wenn du geborgen bist, wachst du?
„Komm mit mir!"
(Hohe!. 4, 8.)
„Mit mir vom Libanon herab, meine Braut, mit
mir vom Libanon sollst du kommen; vom Gipfel des
Amana herab sollst du schauen, vom Gipfel des Senir
und Hermon, von den Lagerstätten der Löwen, von den
Bergen der Panther." — Wir befinden uns bei unserm
leider oft so sorglosen Umherwandern häufig viel näher
76
bei den „Lagerstätten der Löwen", als wir denken; wir
schweben vielleicht in großer Gefahr, und sind uns dessen
gar nicht bewußt. Hinter den anziehendsten Dingen der
Natur verstecken sich unsre schlimmsten Todfeinde. Der
„Libanon" (als Vorbild betrachtet) erweckt den Gedanken
an die höchste irdische Erhebung. Aber gerade dort, wo
sich dem natürlichen Auge eine so herrliche, fesselnde Aussicht
und den Sinnen so viel Anziehendes darbietet, lauert
der reißende Löwe und der grausame Panther.
Wir thun gut, hier einen Augenblick stehen zu bleiben
und uns daran zu erinnern, daß die lieblichsten Scenen
der Erde Feinde in sich bergen, die listiger und gefährlicher
sind als Löwen und Panther. Wie sind wir so
geneigt, unsre Augen umherwandern zu lassen und uns
mit dem zu beschäftigen, was die Natur anzieht und
befriedigt! O möchten wir mehr acht haben auf die
schwachen Seiten in unserm christlichen Leben, auf unsre
Neigungen und Liebhabereien! Manche Gläubige liebäugeln
mit der Welt und trachten nach ihren Vergnügungen —
nicht gerade nach solchen, die offenbar schlecht und verwerflich
sind, aber nach den sogenannten unschuldigen Freuden
dieses Lebens. Andere verlangen nach weltlichem Lesestoff,
nach Erzählungen, Romanen rc., und vernachlässigen das
lebendige Wort Gottes. Wieder andere gehen ganz auf
in ihren Geschäften und jagen nach den armseligen Gütern
dieser Welt. Alle solche Wege, und viele ähnliche,
führen zu „den Lagerstätten der Löwen", zu den Bergen
der Panther, d. h. sie bringen die Seele in große Gefahren.
Sie nähren die natürlichen Neigungen und fesseln
die Sinne, während das Herz ausdörrt und das göttliche
Leben verkümmert. Es giebt nur ein Auge, das die
77
Schlinge früh genug entdecken, nur eine Stimme, die
das Herz zur rechten Zeit von der Stätte der Gefahr
Hinwegrufen kann. Und dieses Auge, diese Stimme ist
das Auge und die Stimme des Geliebten. O wie gut,
daß Er über uns wacht, daß Er uns warnt und mit
zärtlicher Liebe uns zu sich ruft!
Nichts könnte lieblicher sein als die Art und Weise,
wie der hochgelobte Herr hier Seine Braut aus ihrer
gefährlichen Lage befreit. „Mit mir sollst du kommen",
sagt Er. Er ruft ihr nicht gebieterisch zu: „Gehe eilend
hinweg! Gefahr ist im Verzüge! Du stehst an dem Eingang
der Löwenhöhle!" Er ängstigt und erschreckt sie nicht.
Nein, „komm mit mir", so bittet Er, „mit mir vom
Libanon herab, meine Braut, mit mir vom Libanon." Er
sucht ihr Herz vom Libanon, der Stätte irdischer Freuden,
aber geistlicher Gefahr, abzulenken. Welch eine Gnade
giebt sich in dem Wörtchen „Komm!" kund. Wie klingt es
dem Ohre so viel angenehmer als ein gebieterisches „Geh!"
In dem einen drückt sich Gemeinschaft aus, in dem andern
Trennung.
„Kommt denn und laßt uns mit einander rechten",
ruft der Herr dem widerspenstigen Hause Israel zu;
und wenn dieser gnädigen Einladung Folge geleistet worden
ist, so beschäftigt und beunruhigt Er die Umkehrenden nicht
mit Beweisen ihres traurigen Verhaltens, sondern sagt:
„Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee
sollen sie weiß werden; wenn sie rot sind wie Karmesin,
wie Wolle sollen sie werden." (Jes. 1, 18.) Welch eine
liebliche, gesegnete Art des Rechtens für einen schuldigen
Sünder! So kann nur der Herr rechten. Dieselbe Gnade
entfaltet Er, gepriesen sei Sein herrlicher Name! auch der
78
ganzen Welt gegenüber in jener alle umfassenden Einladung:
„Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und
Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben." (Matth.
11, 28.) Sobald die Einladung angenommen und befolgt
wird, ist das Resultat gesichert: „Ich werde euch Ruhe
geben", Ruhe von dem schweren Druck und Joch der
Sünde, Ruhe von euern eignen fruchtlosen Anstrengungen,
Ruhe mit mir selbst im Paradiese Gottes. Anbetungswürdiger
Herr! möchte dieses kostbare „Komm!" mehr
geschätzt werden von denen, die noch fern von Dir sind! —
Die ganze Schrift ist angefüllt mit diesem lieblichen, herzbewegenden
Wörtchen; und welcher Gläubige hätte nicht
schon den herrlichen Schluß dieser vielen „Komm!" der
Heiligen Schrift bewundert? „Und der Geist und die
Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm!
Und wen da dürstet, der komme; wer da will, nehme das
Wasser des Lebens umsonst." (Offbg. 22, 17.)
Doch es giebt in dem liebevollen Zuruf des Bräutigams
noch zwei andere Worte, welche das Herz mit tiefer
Freude erfüllen; sie lauten: „mit mir". „Komm mit
mir!" Könnte man Worte finden, die mehr geeignet
wären, alle Furcht zu verbannen und dem Herzen volles
Vertrauen einzuflößen, wie schwierig die Umstände auch
sein mögen? Unmöglich. Wenn wir das Brüllen des
Löwen vernommen haben und wissen, daß er nahe ist, so
mögen wir wohl mit Besorgnis erfüllt sein; denn wo ist
unsre Kraft, um ihm zu widerstehen? Wir haben keine.
Aber diese drei Worte voll unvergleichlicher Gnade: „Komm
mit mir!" enthalten alles, was das Herz bedarf. Bei
Ihm ist die Braut in vollkommener Sicherheit, wie rauh
und steil der Pfad auch sein und wie drohend die Gefahr
79
sich ihr auch entgegenstellen mag. Indes ist das bloße
Entrinnen die geringste Gnade, welche jene Worte in sich
schließen. Sie geben zugleich auch der Freude Ausdruck,
welche der Bräutigam an der Gesellschaft Seiner Braut
findet. Ihre Gegenwart ist Seine Wonne. Wunderbare,
gesegnete Wahrheit! Dieser Gedanke übertrifft alle anderen
an Kostbarkeit. Der Herr erfreut sich an uns und verlangt
danach, uns bei sich zu haben! Selbstverständlich ist
Seine Freude in keiner Weise abhängig von dem Geschöpf,
denn Er ist sowohl Gott als Mensch und genügt sich selbst
vollkommen; Er ist der Unabhängige, der ewige, lebendige
Gott, der Jehova-Jesus. Aber als Sohn des Menschen
hat Er in Seiner wunderbaren Gnade und Liebe uns
gleichsam notwendig gemacht für die volle Entfaltung
Seiner Herrlichkeit und für Seine ewige Wonne. Die
Versammlung, welche Sein Leib ist, ist Seine Fülle.
(Eph. 1, 22. 23.) Und zu der Tochter Zion sagt Er
gleichfalls: „Höre, Tochter, und siehe, und neige dein
Ohr; und vergiß deines Volkes und deines Vaters Hauses!
Und der König wird deine Schönheit begehren; denn
Er ist dein Herr: so huldige Ihm." (Ps. 45, 10.11.)
Diese schöne Stelle wird dem Herzen der Braut, des
jüdischen Ueberrestes, bei der Rückkehr des Herrn in göttlicher
Kraft nahe gebracht werden. Der Herr sucht hier
ihre Gedanken und Neigungen von der alten jüdischen
Ordnung der Dinge, „dem Hause ihres Vaters", abzulenken
und sie ganz und gar der neuen Ordnung unter
dem Messias in Seiner königlichen Herrlichkeit entsprechend
zu bilden. Israel wird auf dieser Erde, in dem Lande
Immanuels gesegnet werden.
Der Geist Gottes hat diese kostbare Wahrheit: „mit
80
Christo", so eingehend und ausführlich in den Heiligen
Schriften entwickelt, daß wir wohl noch einen Augenblick
dabei verweilen sollten. Sie ist in dem unveränderlichen
Ratschluß Gottes festgestellt und zieht sich gleich einem
goldenen Faden durch alles hindurch. „Er, der doch
Seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für
uns alle hingegeben hat: wie wird Er uns mit Ihm
nicht auch alles schenken?" (Röm. 8, 32.) Welch ein
Gedanke! „Alles ... mit Christo", in Gemeinschaft mit
Ihm! Gesund oder krank, reich oder arm, ich bin in
jeder Lage mit Ihm und besitze Ihn in allen Umständen,
wie sie sich auch gestalten mögen. Nach der Beweisführung
des Apostels schließt das Größere das Geringere ein,
und das Geringere wird besessen und genossen mit dem
Größeren.
Sollte auch ein Christ in so ärmlichen Verhältnissen
sein, daß eine trockene Brotkruste und ein Glas kaltes
Wasser seine einzige Mahlzeit bildeten, so kann er doch
triumphierend sagen: Mag es auch noch so ärmlich stehen,
ich besitze meine Brotkruste mit Christo, und Christum mit
ihr. Von dem niedrigsten Zustand hienieden bis zu der
höchsten Stellung in der Herrlichkeit droben haben wir
alles mit Christo, und unsre reichste Segnung besteht
darin, eins zu sein mit Ihm; und dieses Einssein
mit Christo, dem Haupte der Kirche, ist so wirklich, so
vollkommen, daß der Apostel von sich sagen kann: „Ich
bin mit Christo gekreuzigt", und im Blick auf alle Christen:
„Indem wir dieses wissen, daß unser alter Mensch
mitgekreuzigt worden ist." (Röm. 6.) Ja, er spricht von
jenem Einssein in den verschiedensten Beziehungen: Wir
sind mit gekreuzigt, mit gestorben und mitbegraben, mit
81
lebendig gemacht, mit auferweckt; Gott hat uns in Ihm
mitsitzen lassen in den himmlischen Oertern; wir sind
Mit erben, berufen mitzuleiden und sind mit verherrlicht.
Und dieses Einssein der Kirche mit Ihm ist dem Herzen
Christi so wertvoll, daß überall da, wo von unserm zukünftigen
Zustande die Rede ist, er beschrieben wird als
in Verbindung mit Christo stehend. „Heute wirst du mit
mir im Paradiese sein." „Ausheimisch von dem Leibe,
einheimisch bei dem Herrn." „Indem ich Lust habe,
abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit
besser." „Und so werden wir allezeit bei dem Herrn
sein." „In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen;
wenn es nicht so wäre, würde ich es euch gesagt
haben; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten.
Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so
komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen,
auf daß, wo ich bin, auch ihr seiet." —
Amen! Das giebt dem Herzen Ruhe, vollkommene Ruhe
ewiglich.
Glieder des Leibes Christi.
„Ihr aber seid der Leib Christi, und Glieder
insonderheit." (I. Kor. 12, 27.)
Zwischen Christo und Seinen Erlösten besteht die
innigste Verbindung. Alle wahren Gläubigen sind durch
den Heiligen Geist mit Christo im Himmel verbunden,
durch einen Geist zu einem Leibe getauft, oder wie
wir in Eph. 5, 30 lesen: „Wir sind Glieder Seines
Leibes, von Seinem Fleisch und von Seinen Gebeinen."
82
Eine Trennung ist unmöglich. Christus und die Seinigen
sind eins. Die Annahme, daß ein Glied Christi verloren
gehen könne, würde eine Unvollkommenheit in dem Leibe
bedeuten, dessen Haupt Christus ist; und das ist unmöglich.
Alles ist unumschränkte, göttliche Gnade. Unser
Glaube Vereinigtuns in diesem Sinne nicht mit Christo,
sondern der Geist Gottes selbst, der in dem Gläubigen
wohnt; der Heilige Geist, welcher auf diese Erde herniederkam,
als Jesus zum Vater zurückkehrte. So bildet
die in Christo Jesu geoffenbarte unendliche Gnade Gottes
die Grundlage, auf welcher unsre Seelen mit Wonne
ruhen.
Der Geist Gottes gebraucht das Bild des menschlichen
Körpers, um uns die Bedeutung dieser wunderbaren
Vereinigung zwischen Christo und den Seinigen verständlich
zu machen. Was könnte inniger sein als die Verbindung
zwischen den einzelnen Gliedern des menschlichen Körpers?
Und der Gläubige ist durch die Gnade aus seiner früheren
Stellung herausgenommen und zu einem Gliede des Leibes
Christi gemacht worden. Er ist mit dem im Himmel verherrlichten
Christus verbunden. Christus konnte sich nicht
mit dem Menschen in seinem gefallenen Zustande verbinden.
Er kam „in der Gleichheit des Fleisches der Sünde"
(Röm. 8, 3), aber in Ihm war keine Sünde; und Er
wäre für immer „allein" geblieben, wenn Er nicht freiwillig
in den Tod gegangen wäre, um den Sünder aus der Gewalt
desselben zu befreien. „Wenn das Weizenkorn nicht
in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein;
wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht." (Joh. 12, 24.)
Christus wurde Mensch und starb, um Sein Volk von
Sünde, Welt, Satan und von sich selbst zu befreien.
83
„Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind,
so hat auch Er gleicherweise an denselben teilgenommen,
auf daß Er durch den Tod den zunichte machte, der die
Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle die
befreite, welche durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch
der Knechtschaft unterworfen waren." (Hebr. 2, 14.15.)
Im Tode des Herrn erblicken wir also unsern Tod,
das Ende dessen, was wir von Natur sind; denn Er
ist in vollkommner Gnade an unsre Stelle getreten und
hat unsre Strafe getragen. Als auferstanden aus den
Toten und verherrlicht zur Rechten der Majestät droben
ist Christus das Haupt Seiner Kirche oder Versammlung.
Von dorther ist der Heilige Geist gekommen, um alle
wahren Gläubigen mit ihrem Haupte im Himmel zu vereinigen.
— Möchten nun auch alle diese einfache, aber so
kostbare Wahrheit verstehen und verwirklichen!
Aufgeschaut! das Herz nach oben!
Aufgeschaut! das Herz nach oben!
Hier auf Erden such' es nicht;
Wahres Leben, Lieben, Loben
Kennt man droben nur im Licht.
Dieser Erde eitler Schein
Kann die Seele nicht erfreun.
Willst du leben, lieben, loben,
Aufgeschaut! das Herz nach oben!
Pracht und Schönheit, Glanz und Schimmer,
Alles was die Welt dir beut,
Stillt des Herzens Sehnen nimmer,
Ist nur Wahn, nur Eitelkeit.
84
Suchst du Ruhe, wahres Glück,
Lenke aufwärts deinen Blick!
Jesus — Wahrheit, Licht und Leben —
Kann und will dir Ruhe geben.
Drücken Leiden dich darnieder,
Scheint der Weg dir rauh und schwer,
Schau empor zu Jesu wieder,
Er verscheucht der Sorgen Heer.
Wirs auf Ihn die ganze Last,
Sag' Ihm alles, was du hast. —
Willst du stehn in schweren Proben,
Aufgeschaut! das Herz nach oben!
Noch ein Weilchen still vertraue
Dem, der deine Pfade lenkt;
Noch ein Weilchen auf Ihn baue,
Der dem Müden Stärke schenkt!
Sieh, des Vaterhauses Ruh'
Winkt dem Pilgrim freundlich zu.
Bald in neuen, sel'gen Weisen
Wirst du deinen Heiland preisen.
Bald ist jeder Kampf beendet,
Bald der letzte Schritt gethan;
Bald dein Tagewerk vollendet,
Immer kürzer wird die Bahn.
Schon erglänzt der Morgenstern,
Jesu Kommen ist nicht fern.
Darum: Willst du lieben, loben,
Aufgeschaut! das Herz nach oben
Messer von Gilgal.
(Josua 4 u. 5.)
„Und das Volk stieg herauf aus dem Jordan am
zehnten des ersten Monats; und sie lagerten sich in
Gilgal an der Ostgrenze von Jericho." (Jos. 4, 19.)
In einem Sinne erblicken wir hier die Vollendung der
Erlösung des Volkes. Das Blut des Passahlammes war
in jener denkwürdigen Nacht in Aegypten vergossen und
an die Thürpfosten gestrichen worden; Gott hatte Israel
aus Aegypten heraus durch das Rote Meer geführt
und sie von der Macht des Feindes befreit. Die Wüste
lag hinter ihnen, und sie lagerten im Lande. Der
Jordan, das Bild des Todes, war durchschritten; sie
waren mit der Bundeslade gleichsam in den Tod gegangen,
und befanden sich jetzt mit ihr außerhalb des Todes. Sie
hatten nicht nur den Jordan durchschritten, um die Früchte
des Landes (des Vorbildes des himmlischen Kanaan) zu
genießen, sondern sie lagerten jetzt im Lande. „Jene
zwölf Steine, die sie aus dem Jordan genommen hatten,
richtete Josua auf zu Gilgal." Mit welcher Ruhe konnten
die zwölf Stämme die Wiederkehr der Wasser des Todes
beobachten! Die Fluten vermochten sie nicht mehr zu
erreichen. Sie waren im Lande, in Ruhe und Frieden
gelagert.
Das ist der Platz der ganzen Kirche Gottes. *) Sie
ist versetzt in das himmlische Kanaan. Nicht alle Kinder
*) Wir reden hier natürlich nur von der wahren Kirche,
den lebendig Gläubigen.
86
Gottes wissen das, und nur wenige genießen es. Das
kostbare Blut des Lammes Gottes ist ein für allemal geflossen.
Die Sünden des Gläubigen find alle ausgelöscht,
um nie wieder ans Licht zu kommen. Die ganze Kirche
kann sagen: „In welchem (Christus) wir die Erlösung
haben durch Sein Blut, die Vergebung der Vergehungen."
(Eph. 1, 7.) Aber das ist nicht alles; der Gläubige ist
auch befreit von der Herrschaft der Sünde und von der
Gewalt Satans, gestorben mit Christo und auferstanden
mit Ihm. (Röm. 6; Kol. 2 u. 3.) So wie Israel
durch den Jordan gegangen war und nun in Kanaan
lagerte, so hat Gott uns, die wir tot waren in Sünden,
„mit dem Christus lebendig gemacht, — durch Gnade seid
ihr errettet, — und hat uns mitauferweckt und mitsttzen
lassen in den himmlischen Oertern in Christo Jesu".
(Eph. 2, 5. 6.) Angesichts dieser Thatsachen möchten
wir den Leser fragen: Ist der Himmel auch dein Lagerplatz?
Fühlst du dich daheim dort? Die Bundeslade,
d. i. Christus, ist nicht mehr in den Fluten des Todes;
ebenso wenig sind es die Erlösten, sie sind mit Ihm durch
den Tod gegangen. Wir können jetzt getrost aus den
Fluß des Todes zurückblicken. O wie die Wogen und
Wellen desselben über Seine reine, heilige Seele hingegangen
sind!
Die Denksteine in Gilgal sollten die Kinder Israel
stets daran erinnern, daß der Herr, ihr Gott, die Wasser
des Jordan vor ihnen ausgetrocknet hatte, bis die ganze
Nation vollends hinübergegangen war. So können auch
wir, wenn wir das Gedächtnismahl unsers Herrn feiern,
uns im Glauben niederlassen in den himmlischen Oertern
und von dort aus rückwärts schauen auf den Fluß des
87
Todes und des Gerichts. Nicht Aegypten, nicht die Wüste,
sondern Kanaan ist unser Lagerplatz. Welch ein Platz:
gelagert in dem Lande! Was sollten die Väter in Israel
antworten, wenn ihre Kinder sie künftig fragen würden:
„Was bedeuten diese Steine?" Sollten sie sagen: Wir
hoffen, daß der Herr uns durch diese in das Land
bringen wird? Welch eine Thorheit wäre das gewesen!
Aber ist es weniger thöricht, wenn heute auf die Frage:
Was bedeuten dieses Brot und dieser Wein? geantwortet
wird: Wir hoffen dadurch für den Himmel passend gemacht
zu werden? Oder: Wir hoffen, durch die Teilnahme
an diesem Mahle Trost, Segen, Stärkung, Heils,
gewißheit re. zu erlangen?
Was bedeuten denn dieses Brot und dieser Wein?
Sie stellen den Tod dar, ja den Tod Jesu für uns.
Sie erinnern uns zugleich an den Tod, durch welchen wir
mit Ihm gegangen sind: gestorben mit Christo, auferstanden
mit Ihm. Als Israel in dem Lande sein Lager
aufschlug, erbebten die Könige der Kananiter; „ihr Herz
zerschmolz, und es war kein Mut mehr in ihnen vor den
Kindern Israel". (Kap. 5, 1.) So hat auch die Kirche
nur dann Macht über den Feind, wenn sie in den himmlischen
Oertern ihren Lagerplatz hat. Und wie mit der
Kirche in ihrer Gesamtheit, so ist es mit den einzelnen
Gläubigen. Welch eine Gnade, dort zu sein, passend
gemacht zu sein für einen solchen Platz!
„In selbiger Zeit sprach Jehova zu Josua:
Mache dir Steinmesser (nach And.: scharfe Messer) und
beschneide wiederum die Kinder Israel." (V. 2.) Die in
der Wüste geborenen Israeliten waren nicht beschnitten
worden; alle Beschnittenen waren gestorben. Die Be
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schneidung bedeutete das Gericht oder das Hinwegthun des
Fleisches als völlig wertlos vor Gott, als unfähig für
den Dienst des Herrn und für den Kampf mit dem
Feinde. Sie ist „das Ausziehen des Leibes des Fleisches"
in Christo. (Kol. 2, 11.) Es mag uns auffallen, nach dem
Einzuge Israels ins Land Kanaan zu allererst von diesem
schmerzlichen Akt der Beschneidung zu hören; aber gerade
hier war die Zeit und der Platz für die scharfen Messer.
Viele lieben „das Erzeugnis des Landes" (V. 11) weit
mehr als scharfe Messer; aber diese müssen angewandt
werden, wollen wir anders wirklich die geistlichen Segnungen
des himmlischen Kanaan genießen und den Feind
besiegen. Es ist gefährlich, sich mit himmlischen Wahrheiten
zu beschäftigen, ohne die scharfen Messer des Selbst-
Berichts auf sich anzuwenden. Es führt immer zu Selbsttäuschung
und Selbsterhebung. Haben wir wirklich das
Fleisch gerichtet? Wandeln wir in dem tiefen Bewußtsein,
daß das Urteil und Gericht des Fleisches ein bleibendes
sein muß? Verabscheuen wir unser eignes altes
Ich, uns selbst? Sehen und hassen wir, als auferstanden
mit Christo und in Ihm versetzt in die himmlischen Oerter,
die Sünde, das eitle, häßliche Ich, so wie Er es
sieht und haßt? Suchen wir Besitz von dem Lande zu
ergreifen mit einem Herzen, das mit eitlem Selbstbetrug
erfüllt ist, oder thun wir es in dem Bewußtsein der
wunderbaren Gnade Gottes und in dem schonungslosen
Gericht des Fleisches? Freilich ist es von allen Christen
wahr, daß sie mit Christo gekreuzigt sind, daß „die Sünde
im Fleische" ein für allemal verurteilt worden ist. Aber
eine andere Frage ist es, ob der Glaube diese Thatsache
ergriffen hat, und ob sie dadurch zu einer bleibenden
89
praktischen Wirklichkeit für uns wird, daß das Gewissen
sie aufnimmt und auf sich anwendet. Die scharfen Messer
müssen angewandt werden; anders wird sich viel leeres,
wertloses Bekenntnis, viel eitler Schein ohne Wirklichkeit
bei uns finden.
Es ist auch sehr beachtenswert, daß der Ausgangspunkt
für jeden Dienst, für jeden siegreichen Kampf der
Ort der scharfen Messer sein muß. Israel mußte in Gilgal
lagern, von Gilgal ausziehen und stets wieder nach
Gilgal zurückkehren. Der Ort der scharfen Messer
ist der Ort der Kraft. Es ist ein wunderbarer Platz, dieses
Gilgal: in dem Lande, jenseit des Jordan, das Ich
völlig gerichtet, Christus der Gegenstand der Freude und
des Genusses, und kein Vertrauen mehr auf das Fleisch.
Ist das der Platz, mein Leser, wo du lagerst? Ist das
der Ausgangspunkt in all deinem Dienst? Ist es der Ort,
zu dem du immer wieder zurückkehrst?
Sobald Israel Gilgal verließ, kam es nach Bochim.
(Richter 2.) Damit begann ihr Abirren von Jehova
und ihr Abfallen von Seinen Geboten. So lange Josua
lebte, diente Israel Jehova. Aber „Josua starb . . .
und auch das ganze selbige Geschlecht ward versammelt zu
seinen Vätern; und ein anderes Geschlecht kam nach ihnen
auf, das Jehova nicht kannte und auch nicht daS Werk,
das Er für Israel gethan hatte. Und die Kinder Israel
verließen Jehova, den Gott ihrer Väter." (Richt. 2, 7—13.)
War es nicht gerade so im Anfang der Geschichte der
Kirche? Sobald die Apostel und ihre Zeitgenossen entschlafen
waren, drang das Verderben mit Macht herein.
Finden wir nicht auch Aehnliches zur Zeit der Reformation?
Wahrlich, alles das redet eine ernste Sprache
90
zu uns. O möchten doch alle, welche berufen sind, die
Plätze derer auszufüllen, die, wenn der Herr noch etwas
verzieht, ihren Glaubenslauf vollenden werden, — o möchten
sie alle auf ihrer Hut sein, Gilgal nicht zu verlassen!
Vergessen wir nicht die scharfen Messer der praktischen
Beschneidung. Gilgal, den Platz des Selbstgerichts, verlassen
heißt in Bochim anlangen, an der Stätte des
Weinens und der Beschämung.
Wenn wir uns jetzt zu den Briefen der Apostel
wenden und einen Vergleich ziehen, so werden wir sehen,
wie treffend die Aehnlichkeit ist. In Eph. 1 und 2 haben
wir den Jordan durchschritten und befinden uns in den
himmlischen Oertern in Christo. In dem Briefe an die
Kolosser sind wir beschnitten mit der Beschneidung Christi,
gestorben mit Ihm, begraben mit Ihm, auferstanden mit
Ihm. (Kap. 2, 11—13. 20; 3, 1.) Aber obgleich in
Christo mitversetzt in die himmlischen Oerter, sind wir
doch dem Leibe nach noch auf der Erde; und darum bedürfen
wilder scharfen Messer: „Tötet nun eure Glieder,
die auf der Erde sind .. . Jetzt leget auch ihr das alles
ab: Zorn, Wut rc." (Kol. 3, 5. 7 — 17.) Die Besitzergreifung
des Landes Kanaan und die scharfen Messer
schienen in Widerspruch mit einander zu stehen. Gerade
so ist es hier. Obgleich wir fähig gemacht sind zu dem
Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte (Kap. 1, 12),
obgleich wir vollendet sind in Ihm (Kap. 2, 10), begraben
und auferweckt mit Ihm (Kap. 2, 12; 3, 1),
eingeführt in den Himmel und berufen, mit Ihm offenbar
zu werden in Herrlichkeit (Kap. 3, 4), sind doch gerade
hier die Messer von Gilgal am Platze. Das Erste, was
wir nach allen diesen kostbaren Belehrungen hören, ist:
91
„Tötet nun eure Glieder!" Der alte Mensch
mit seinen Handlungen ist ausgezogen; er darf keinen
Raum mehr finden. „Aber jetzt leget auch ihr
das alles ab: Zorn, Wut, Bosheit, Lästerungen,
schändliches Reden aus eurem Munde. Belüget einander
nicht, da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen
ausgezogen und den neuen angezogen habt, der erneuert
wird zur Erkenntnis nach dem Bilde Dessen, der ihn erschaffen
hat." Mit andern Worten: Nachdem ihr durch
die Beschneidung des Christus den alten Menschen ausgezogen
habt, leget alles ab, tötet alles, was dem alten
angehört; und nachdem ihr, auferstanden mit Christo, den
neuen Menschen angezogen habt, ziehet alles an, was dem
neuen angehört. (Kol. 3, 8—10. 12. 13.)
„Und der Friede des Christus herrsche in euern Herzen,
zu welchem ihr auch berufen worden seid in einem Leibe,
und seid dankbar." (V. 15.) Welche Worte zu solchen,
die den Jordan durchschritten haben! Kämpfen mußten
die Israeliten, denn Kanaan war die Stätte des Kampfes.
Und kämpfen müssen auch wir; wenn auch nicht mit
Fleisch und Blut, wie jene, so doch mit den geistlichen
Mächten der Bosheit in den himmlischen Oertern; und
dazu bedürfen wir der ganzen Waffenrüstung Gottes.
Die himmlischen Oerter sind gegenwärtig der Kampfplatz
des Christen. (S. Eph. 6, 11—18.) Und so wie einst
ganz Israel über den Jordan ging, so ist auch jetzt die
ganze Kirche in die himmlischen Oerter versetzt. Nicht als
ob nur einzelne, besonders geförderte Christen mit Christo
gestorben und auferstanden wären; nein, es ist wahr von
allen. Tod und Gericht, Sünde und Schuld, alles liegt
hinter ihnen. Ach, warum sind wir so träge, so langsam
92
in der Besitzergreifung dieser gesegneten Dinge? Alles
was wir nach dem Fleische sind und je waren — alles
ist hinweggethan, alles abgewälzt jenseit des Jordan.
Alle Gläubigen sind auferstanden mit Christo; darum
heißt es auch: Der Friede des Christus herrsche in euern
Herzen, und zwar nicht nur in meinem Herzen persönlich,
nein, wir sind zu diesem Frieden berufen in einem
Leibe. Alle sind gestorben und auferstanden mit Christo,
alle durch den Heiligen Geist zu einem Leibe getauft,
und in einem Leibe berufen zu dem Frieden des
Christus.
Geliebter Leser, wo befindest du dich? Bist du noch
in der Sklaverei Aegyptens? Oder bist du durch den
Glauben an das Blut des Lammes in Sicherheit gebracht?
Hast du das Rote Meer durchschritten? Bist du von
Aegypten getrennt durch das Meer des Todes? Bist du
herausgeführt, von dieser Welt abgesondert durch den Tod
Christi? Durchschreitest du als ein Erlöster des Herrn
die Wüste, dich sehnend nach dem Himmel? Bist du
durch den Jordan gegangen und jetzt schon in dem Lande?
Bist du für dein praktisches Bewußtsein gestorben und
auferstanden mit Christo und so in das Land eingegangen?
Hast du dort dein Lager aufgeschlagen? Ach, wenn es
so ist, dann bleibe dort! Der bewußte und genossene
Besitz der Segnungen des himmlischen Kanaan giebt dem
Glauben Kraft zum Selbstgericht, und das Selbstgericht
ist der Ausgangspunkt alles wahren Dienstes.
Der Herr selbst wolle diese ernsten, aber so gesegneten
Lektionen tief in unire Herzen schreiben!
93
Die Vorbilder des 3. Buches Mose.
Von den Vorbildern im allgemeinen.
Die Vorbilder, die uns in der Schrift vorgestellt
werden, tragen verschiedene Charaktere. Die einen beziehen
sich auf irgend einen großen Grundsatz in den Wegen
Gottes, wie z. B. Sarah und Hagar, welche die beiden
Bündnisse darstellen; andere weisen hin auf den Herrn
Jesum in Seinen verschiedenen Amtsverrichtungen, als
Opfer, als Priester u. s. w.; eine dritte Klasse bildet
gewisse Handlungen Gottes vor, oder das Verhalten des
Menschen in zukünftigen Haushaltungen; eine vierte endlich
redet von irgend einem großen Werke in der Regierung
Jehovas, das noch der Zukunft Vorbehalten ist.
Obgleich es unmöglich ist, in dieser Hinsicht eine
strenge Regel aufzustellen, so kann man doch sagen, daß
das 1. Buch Mose uns die hauptsächlichsten Beispiele der
erstklassigen Vorbilder giebt, während das 3. Buch Mose
vornehmlich solche der zweiten Klasse enthält, obwohl sich
auch im 2. Buche einige bemerkenswerte Vorbilder dieser
letztem Art vorfinden. Das 4. Buch Mose enthält vornehmlich
Vorbilder der dritten Klasse; diejenigen der
vierten sind mehr zerstreut.
Für den Augenblick möchte ich nur von den Vorbildern
reden, die sich im 3. Buche Mose finden. Sie
machen eine besondere Klasse aus; ihr ganzer Wert liegt
in ihrem vorbildlichen Charakter selbst, während andere,
neben ihrer vorbildlichen Bedeutung, gleichsam auf ihrer
Oberfläche, in den Thatsachen selbst, uns reiche moralische
Belehrungen darbieten. Gerade dieser Punkt unterscheidet
die Vorbilder, von denen wir reden, von allen andern
94
und verleiht ihnen einen besonderen Charakter und eine
besondere Bedeutung, wenngleich die andern in gewissen
Beziehungen nicht weniger Interesse erwecken. Alles das,
was Christus für uns ist, wird uns in seinen Einzelheiten
vornehmlich in den Vorbildern des 3. Buches Mose vor
Augen geführt.
Die Anwendung von Vorbildern in dem Worte
Gottes ist ein Charakterzug dieser göttlichen Offenbarung,
der besonders anziehend ist und den wir nicht mit Stillschweigen
übergehen dürfen. Das was in unsern Beziehungen
zu Gott am erhabensten ist, geht in seiner Wirklichkeit
fast über unser Verständnis hinaus; ja es muß dasselbe
in sich selbst sogar notwendigerweise unendlich übersteigen.
Denn es ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, dem
Verständnis Gottes angepaßt, welcher die Wirklichkeit der
Sache selbst betrachtet und vor dem die Wirkung dieser
Wirklichkeit dargestellt werden muß, wenn sie nutzbringend
für uns sein soll. Alle diese Gegenstände unsers Glaubens,
tief und unendlich wie sie sind, — unendlich in ihrem
Werte vor Gott oder in der Darlegung der Grundsätze,
nach welchen Gott gegen uns handelt, — werden uns
sozusagen greifbar in ihren Vorbildern. Das ganze Erbarmen
und die ganze Vortrefflichkeit, die sich in der
Wirklichkeit oder in dem Gegenbilde finden, werden uns
im Einzelnen mit der Genauigkeit Dessen vor Augen gestellt,
der die Gegenstände beurteilt, so wie Sein Auge
sie sieht; und der sie uns in einer Form darstellt, die
unserm Auge angepaßt ist, in einer Weise, die unserm
Verständnis entspricht, und mit der Absicht, uns zu der
Höhe Seiner eignen Gedanken zu erheben. Christus,
wie Er ist nach dem Herzen Gottes, in all Seiner Herrlich
95
keit, das ist das Gemälde, welches Gott uns vorführt;
aber wir besitzen alle die Züge und Auslegungen des
Inhalts dieses Gemäldes in dem, was wir in Händen
halten und was uns von Dem geschenkt ist, der die große
Wirklichkeit des Bildes ausgemacht hat. — Sein Name
sei gepriesen!
Einige Bemerkungen über die Stiftshütte.
Die Errichtung der Stiftshütte ergiebt zwei ganz
verschiedene Gesichtspunkte: zunächst die Entfaltung der
Ratschlüsse Gottes in Gnade, und dann die Sünde, welche
diese Entfaltung hervorrief und notwendig machte. Der
ganze Bau der Stiftshütte entsprach dem Muster, welches
Mose auf dem Berge gegeben worden war. Sie war
ein Bild der himmlischen Dinge, und zwar bevor die Sünde
der Israeliten ihr Vorrecht auf eine unmittelbare Gemeinschaft
mit Gott zerstört hatte. Sie stellte infolge
dessen Grundsätze dar, welche ihre Erfüllung in der voll-
kommnen Hütte finden, die nicht mit Händen gemacht ist.
Indes wurde die Haushaltung der Stiftshütte nicht eher
errichtet, bis der Götzendienst des goldnen Kalbes geschehen
und der Zorn Jehovas gegen die Sünde Israels bereits
ausgebrochen war. Von dem Throne des Heiligtums her
entsprach Gott deshalb in Gnade, durch die Vermittlung
des Hohenpriesters und der Blutbesprengung, den Bedürfnissen
eines abgefallenen Volkes.
Daher kommt es auch, daß der Stiftshütte zum ersten
Male bei Gelegenheit, der Sünde des goldnen Kalbes
Erwähnung geschieht, als der Zorn Moses gegen die
thörichte Gottlosigkeit der Israeliten entbrannte, die Gott
verworfen hatten, noch ehe sie selbst durch die Vermittlung
96
des auf dem Berge weilenden Mose die Verordnungen des
Gesetzes empfangen hatten. „Mose nahm das Zelt und schlug
es sich auf außerhalb des Lagers, fern voni Lager, und
nannte es: Zelt der Zusammenkunft. Und es geschah, ein
jeder, der Jehova suchte, ging hinaus zum Zelte der Zusammenkunft,
das außerhalb, des Lagers war." (2. Mose
33, 7.) Es war ein Ort der Zusammenkunft da für Gott
und für diejenigen unter dem Volke, die Ihn suchten. In
dem Gesetz handelte es sich nicht darum, Gott zu suchen.
Es war die Mitteilung des Willens Gottes an ein bereits
gesammeltes Volk, in dessen Mitte Gott sich offenbarte
nach gewissen Erfordernissen Seiner Heiligkeit. Als
aber das Böse Eingang gefunden hatte, und das Volk, als
Körper, abgefallen war und den Bund übertreten hatte,
wurde der Ort errichtet, wo man Gott suchen mußte.
Dies geschah, ehe die Stiftshütte, errichtet nach dem auf
dem Berge gezeigten Bilde, aufgeschlagen war; aber es
ließ in treffender Weise den Grundsatz hervortreten, auf
welchem sie errichtet wurde.
Diese Beziehungen Gottes zu Seinem Volke, oder
zu dem Mittler, waren zwiefacher Art: apostolisch und
priesterlich; das heißt, Gott setzte sich in diesen beiden
Arten der Vermittlung vor, entweder dem Volke Seinen
Willen mitzuteilen, oder in Beziehung zu ihm zu stehen
hinsichtlich des Gottesdienstes, der Sünden und der Bedürfnisse
dieses Volkes. In derselben Weise ist Christus
der Apostel und Hohepriester unsers Bekenntnisses: Ausdrücke,
die auf die Umstände anspielen, von welchen wir
reden. (S. Hebr. 3, 1.) Die Gegenwart des Herrn in
der Stiflshütte, um dort Seinen Willen mitzuteilen, wird
in den Kapiteln 25 und 29 des 2. Buches Mose er-
97
vähnt. Nach der Beschreibung der Bundeslade und ihres
Zubehörs im Allerheiligsten heißt es in dem genannten
25. Kapitel: „Und lege den Deckel oben über die Lade;
ind in die Lade sollst du das Zeugnis legen, das ich dir
;eben werde. Und daselbst werde ich mit dir zusammen-
vmmen und mit dir reden von dem Deckel herab, zwischen
)en zwei Cherubim hervor, die auf der Lade des Zeugnisses
rnd, alles was^ ich dir gebieten werde an die Kinder Israel."
A. 21. 22.) Diese Worte bezogen sich allein auf den Mittler
in seinem geheimen Verkehr mit Jehova. Dann lesen
vir im 29. Kapitel: „Ein beständiges Brandopfer bei euern
Geschlechtern an dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft
vor Jehova, wo ich mit euch zusammenkommen werde,
am daselbst mit dir zu reden. Und ich werde daselbst
Zusammenkommen mit den Kindern Israel." (V. 42. 43.)
Auf diesen Grundsatz ist das 3. Buch Mose gegründet.
Gott redet in demselben nicht mehr von der Höhe des
Berges Sinai herab, sondern aus dem Innern der Stiftshütte,
wo man Ihn suchen mußte. Hier trat Er, nach
i>em Muster Seiner Herrlichkeit, aber auch nach den Bedürfnissen
derer, die Seine Gegenwart aufsuchten, mit
dem Volke in Beziehung, und zwar vermittelst eines Mittlers
und der Opfer. Am Sinai, als Er in einer erschreckenden
Herrlichkeit erschien, forderte Er Gehorsam und stellte
Bedingungen für denselben auf, auf Grund deren Er
Seine Gunst verhieß. Hier aber ist Er dem Sünder
wie dem Gläubigen zugänglich, jedoch kraft einer Vermittlung.
Die Grundlage unsers Zugangs zu Gott ist
der Gehorsam und das Opfer Christi; und das ist es,
was uns hier an erster Stelle mitgeteilt wird, wenn Gott
aus dem Innern der Stiftshütte redet.
98
Die Reihenfolge der Opfer.
Es ist vor allen Dingen nötig, die Ordnung der
Opfer zu beachten. Die Reihenfolge ihrer Anwendung
steht durchweg im Gegensatz zu derjenigen ihrer Einsetzung.
Es giebt vier große Klassen von Opfern: 1. das Brandopfer;
2. das Speisopfer; 3. das Dank- oder Friedensopfer;
4. das Opfer für die Sünde. Ich zähle sie hier
in der Reihenfolge ihrer Einsetzung auf; in ihrer Anwendung
kommen die Sündopfer immer zuerst, denn der
Mensch ist immer ein Sünder und muß mit Gott versöhnt
werden; wenn er Gott nahen will durch ein Opfer, so
muß dies stets durch die Wirksamkeit des Opfers geschehen,
das die Sünde wegnimmt, indem diese Sünde durch einen
Andern getragen worden ist. Der Herr Jesus aber, als
das große Opfer, hat nur als Sünder an unsrer Statt
behandelt werden können, weil Er sich ohne Flecken Gott
geopfert hat, indem Er selbst keine Sünde kannte. Jesus
hat sich selbst zum Opfer gestellt mit den Worten: „Ich
komme, um Deinen Willen, o Gott, zu thun"; Er gab sich
freiwillig hin, damit die Sünde auf Ihn gelegt werden und
Er so den Tod für unsre Sünden erleiden konnte. In
Seinem Werke ist Er zunächst das Brandopfer.
Ueberdies liegt, nachdem die Sünde hinweggethan ist, die
Quelle unsrer Gemeinschaft in der Vortrefflichkeit Christi,
des fleckenlosen Opfers. Um uns in diese Gemeinschaft
einzuführen, war es unbedingt nötig, daß Christus zuvor
unsre Sünden trug; deshalb kommen das Brandopfer, das
Speisopfer und das Friedensopfer zuerst, und danach kommen
die Opfer für die Sünde besonders. Diese letzteren sind
in hervorragender Weise notwendig für uns; aber sie drückten
nicht die Vollkommenheit Christi aus, denn Er wurde darin
99
als Sünder behandelt, obgleich Er zu diesem Zwecke notwendigerweise
in sich selbst vollkommen fein mußte.
Aus dem soeben Gesagten erhellt, daß es Christus
ist, den wir in diesen Opfern erblicken müssen. Es ist
der Wert der Wirkung dieses vollkommnen Opfers, den
wir unter seinen verschiedenen Formen betrachten wollen.
Wohl ist es wahr, daß auch der Christ in einem untergeordneten
Gesichtspunkt seine Darstellung darin findet;
denn er soll seinen Leib als ein lebendiges Schlachtopfer
darstellen; auch soll er durch die Früchte der christlichen
Liebe Gott Opfer des lieblichen Geruchs darbringen,
Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum. Für den
Augenblick ist es jedoch nicht unser Zweck, den Christen
darin zu betrachten, sondern Christum.
Ich habe gesagt, daß es vier große Arten von
Opfern giebt: Brandopfer, Speisopfer, Friedensopfer
und Sündopfer, eine Einteilung, die wir in Hebr. 10, 8
angedeutet finden. Allein es besteht noch ein andrer
wesentlicher Unterschied zwischen den Opfern, der sie in
zwei bestimmt unterschiedene Klassen teilt: in die Opfer
für die Sünde einerseits, und in alle die andern Darbringungen
andrerseits. Als Sündopfer waren die ersten
niemals „Feueropfer lieblichen Geruchs dem Jehova",
während die letzteren dies waren. In den ersteren trat
die Sünde augenscheinlich hervor; sie waren gleichsam mit
Sünden beladen, sie stellten die Sünde dar. Wer sie anrührte,
wurde verunreinigt; in der Ursprache giebt es sogar
nur ein Wort für Sünde und Sündopfer. Man
verbrannte diese Art von Opfern, aber nicht auf dem
Altar, mit Ausnahme des Fettes einiger von ihnen, von
denen wir später reden werden.
100
Die andern Opfer waren Feueropfer lieblichen Geruchs
dem Jehova. Sie stellen uns Christum dar, als
sich selbst ohne Flecken Gott opfernd, nicht aber Christum,
als unsre Sünden tragend und als Sünder seitens des
heiligen und gerechten Gottes behandelt.
Diese beiden Punkte sind in dem Opfer Christi sehr
bestimmt unterschieden und sehr kostbar. Gott hat Den
als Sünder behandelt, der keine Sünde kannte; aber es
ist ebenso wahr, daß Christus sich selbst durch den ewigen
Geist Gott geopfert hat ohne irgendwelchen Flecken. Diesen
letzteren Punkt wollen wir jetzt zunächst betrachten in der
Reihenfolge der Opfer, wie das 3. Buch Mose sie uns
darstellt.
(Fortsetzung folgt.)
„Du hast mir das Herz geraubt."
(Hoher. 4. 9—t l.)
„Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester,
meine Braut; du hast mir das Herz geraubt mit einem
deiner Blicke, mit einer Kette von deinem Halsschmuck.
Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine Braut;
wie viel besser ist deine Liebe als Wein, und der Duft
deiner Salben als alle Gewürze! Honigseim träufeln
deine Lippen, meine Braut; Honig und Milch ist unter
deiner Zunge, und der Duft deiner Gewänder wie der
Duft deS Libanon."
So herrlich die Aussicht von dem Gipfel des Amana,
des Senir und Hermon auch sein mochte, so wendet sich
das Auge und Herz des Bräutigams doch von ihr weg,
um die Geliebte an Seiner Seite zu bewundern. Er
101
sieht in ihr etwas, was Er sonst nirgendwo sehen kann.
Die Gefühle und die liebenden Zuneigungen Seines
Herzens strahlen von ihr auf Ihn zurück. Die Schönheiten
der Scene um Ihn her mögen Vorbilder fein von
den Dingen, welche die Menschen dieser Welt für begehrenswert
halten, aber der Bräutigam findet Seine
Wonne und Befriedigung in der Schönheit und Liebe
Seiner Braut. Er erblickt in ihr die gesegneten Früchte
Seiner eignen, unauslöschlichen Liebe, die Frucht der
Mühsal Seiner Seele, und Er sättigt sich. (Jes. 53,11.)
Kostbare Wahrheit für das Herz des Gläubigen!
Ein Mann mag eine sehr schöne Besitzung haben
und sie auch hoch schätzen, aber er kann niemals dieselben
Gefühle gegen sie hegen, wie gegen sein Weib und seine
Kinder. Sie machen einen Teil von ihm selbst aus.
Was waren alle die Freuden des Paradieses für den
ersten Adam im Vergleich mit der Freude, die er an
Eva fand? Sie war ein Teil seiner selbst; die Schöpfung
war dies nicht. Er fiel in einen tiefen Schlaf, und aus
seiner Seite wurde eine Gehilfin für ihn gebildet; und
als er aus seinem Schlafe erwachte und „die Schöne"
neben sich stehen sah, welche Jehova, Gott, in Seiner
Güte für ihn bereitet hatte, da rief er aus: „Diese ist
einmal Gebein von meinen Gebeinen und Fleisch von
meinem Fleische." Die Leere war jetzt ausgefüllt; bis
dahin hatte er nichts entdeckt, was sein Herz befriedigen
konnte. Die herrliche Schöpfung, die Schönheiten Edens
konnten nur eine Leere in seinem Herzen schaffen, bis er
die gesegnete Frucht seines vorbildlichen Todes besaß
und genoß.
Doch was in dem ersten Menschen nur vorbildlich
102
war, ist in dem zweiten Menschen, dem letzten Adam,
wirklich. Er fiel thatsächlich in einen tiefen Schlaf, den
Schlaf des Todes; und aus Seiner geöffneten Seite ist
gleichsam eine zweite Eva gebildet worden, schön und
fleckenlos in Seinen Augen, die binnen kurzem die Herrschaft
und die Freuden der neuen, erlösten Schöpfung
mit Ihm teilen soll; und dort, inmitten der Herrlichkeiten
dieser neuen Schöpfung, wird sie Seine Liebe zurückstrahlen
lassen, die stärker war als der Tod, und sich baden in
den Strahlen Seiner wolkenlosen Gunst von Ewigkeit zu
Ewigkeit. Dürfen wir uns deshalb wundern, wenn Er
mit liebender Bewunderung sie betrachtet, wie sie Ihm
ähnlich ist? Göttliche Allmacht konnte eine Welt erschaffen;
göttliche Liebe allein konnte durch Leiden und Sterben
einen verlornen Sünder erlösen. Wer kann diese Liebe
zu einem armen, wertlosen Sünder verstehen! Wäre sie
mehr der Gegenstand unsers Sinnens, so würden wir
uns weniger über die Worte des Geliebten verwundern:
„Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester,
meine Braut." Bewunderungswürdige Wahrheit! Das
Herz Christi geraubt, hingerissen! Und wodurch?
Durch die Schönheit eines aus Gnaden erretteten Sünders,
einer Person, die in Seinem kostbaren Blute gewaschen
und mit Seinen eignen herrlichen Tugenden geziert ist.
Das Kapitel, mit dem wir uns beschäftigen, enthält
in verschiedenen Beziehungen eine wunderbarere Entfaltung
der Liebe des Herrn, als wir sonst irgendwo in dem
Buche Gottes finden. Wenn es sich um Einzelheiten
handelt, giebt es nichts in der Heiligen Schrift, was dem
Hohenliede gleich käme. „Du hast mir das Herz geraubt,
meine Schwester, meine Braut." Der Herr nimmt jetzt
103
ebensowohl den Platz eines Bruders wie eines Bräutigams
ein. „Meine Schwester, meine Braut." Kostbares
Verhältnis! Glückliche Vereinigung! wohlbekannt und hochgeschätzt
von Ihm, wenn auch verhältnismäßig nur wenig
verstanden von ihr! Seine Verbindung mit dem Ueber-
rest, den Er hier Seine Schwester und Seine Braut
nennt, giebt Gelegenheit zu der vollen, herrlichen Entfaltung
Seiner Liebe, der innersten Gefühle Seines Herzens.
Inmitten der schönsten Umgebung zieht sie allein Seinen
Blick auf sich. Sie steht in lieblichem Gegensatz zu allem,
was im Himmel und auf Erden gefunden wird. Wir
lesen nirgendwo, daß die Schönheiten der Schöpfung dem
Schöpfer das Herz geraubt hätten. Dieses Geheimnis
aller Geheimnisse sollte für den Erlöser und Seine Erlösten
aufgespart bleiben.
Indes ist es nicht nur der Ueberrest, um den eS
sich hier handelt; nein, wir dürfen das Hohelied als die
Offenbarung des Herzens Christi allen Gläubigen
gegenüber betrachten. Die Liebe Christi ist vollkommen
und entfaltet sich stets in vollkommner Weise, entsprechend
dem Verhältnis, in welchem wir Ihn kennen. Die Aussprüche
Christi in dem Hohenliede lassen eine moralische
Anwendung zu, die für den Christen unaussprechlich kostbar
ist. Glücklich alle, die an einer solchen Quelle zu trinken
verstehen!
Allerdings ist es nötig, uns immer wieder daran
zu erinnern, daß die Stellung des jüdischen Ueberrestes
zu Christo, wie sie sich im Hohenliede kundgiebt, eine
andere ist als diejenige des Christen in den Briefen der
Apostel; verlieren wir diese Thatsache aus dem Auge, so
sind wir in Gefahr, das was auf Israel Bezug hat, auf
104
die Kirche anzuwenden, und umgekehrt das was die Kirche
angeht, Israel zuzuschreiben. Der Verschiedenartigkeit der
Stellung entspricht auch eine Verschiedenartigkeit der Gefühle.
Im Hohenliede suchen wir vergeblich nach jener tiefen
Ruhe und Süßigkeit einer Liebe, die einem bereits gebildeten,
gekannten und wertgeschätzten Verhältnis entspringt.
Die volle, bewußte und unerschütterliche Liebe eines Weibes,
das durch das eheliche Band mit dem Manne ihres Herzens
vereinigt ist, findet sich hier nicht. Sie ist unser Teil.
Allerdings ist die Hochzeit des Lammes noch nicht gekommen,
aber auf Grund der Offenbarungen, die uns
gegeben sind, und der Vollendung unsers Heils ist dieser
letztere Charakter der Liebe der Kirche Gottes eigentümlich.
Gott sei Lob und Dank dafür! Wir wissen, an wen wir
geglaubt haben. Wir kennen die gesegnete Wahrheit unsers
EinsseinS mit Christo, dem Auferstandenen und Verherrlichten.
„Wer dem Herrn anhängt, ist ein Geist mir Ihm."
(1. Kor. 6, 17.) Dieses Einssein mit Christo in Leben
und Stellung geht weit über das hinaus, was der
Israelit besaß. Selbst im gegenwärtigen Augenblick wissen
wir, daß wir in Christo in den himmlischen Oertern
sitzen. Und obgleich wir hienieden arme, schwache, fehlende
Geschöpfe sind, wissen wir doch, daß wir „versiegelt sind
mit dem Heiligen Geiste der Verheißung,
welcher das Unterpfand unsers Erbes ist, zur Erlösung
des erworbenen Besitzes". (Eph. 1, 13. 14.) Aber
kostbarer als alles das ist, daß wir die Größe der Liebe
Christi kennen, die dem Opfer entspricht, durch welches
Er uns in diese himmlische Stellung und ewige Verbindung
mit sich selbst gebracht hat. Daher wissen wir
auch, daß die Frage der Sünde auf immerdar vollkommen
105
geordnet ist, daß eine ewige Vergebung, eine vollkommne
Rechtfertigung unser Teil ist, und daß wir annehmlich
gemacht sind in dem Geliebten. Unsre Erlösung ist eine
vollendete Thatsache; das Verhältnis ist gebildet, wir
warten nur noch auf die Herrlichkeit — die Hochzeit des
Lammes. Wir rechnen auf Seine Verheißung: „Ja, ich
komme bald;" und: „Noch über ein gar Kleines, und
der Kommende wird kommen, und nicht verziehen." Aber
während wir auf Ihn warten, kennen und genießen wir,
wenn auch in großer Schwachheit, durch die Kraft des
Heiligen Geistes die liebenden Zuneigungen Seines Herzens,
welche diesem gesegneten und auf ewig gegründeten Verhältnis
angehören.
Israels Stellung im Hohenliede bleibt weit hinter
diesem Verhältnis der Liebe zurück. Von der Reinigung
des Gewissens ist nirgendwo die Rede; Vergebung und
Rechtfertigung werden nicht berührt. Es ist mehr eine Frage
des Herzens, ein Schaffen und Bilden der Zuneigungen
des Herzens für die Person des Geliebten. Die Kenntnis
Seiner Person und die Gewißheit des Verhältnisses zu
Ihm werden nicht in vollem Maße genossen; diese Dinge
sind es vielmehr, nach welchen das liebende Herz der
Braut so sehnlich verlangt. Der Bräutigam kennt selbstverständlich
die Beziehungen, in welchen Er zu der steht,
die Er Seine Schwester, Seine Braut nennt. Und deshalb
öffnet Er ihr Sein Herz, um sie die Vorsätze Seiner
Liebe verstehen zu lassen. Er versichert sie immer wieder
ihrer Schönheit, ihres Wertes und ihrer Kostbarkeit in
Seinen Augen; und selbst wenn sie gefehlt und Ihn und
Seine Liebe vergessen hat, begegnet Er ihr mit einer Zuneigung,
die durch nichts von dem geliebten Gegenstände
106
abgelenkt, durch nichts geschwächt werden kann. Durch diese
Kundgebungen Seiner Liebe, Seiner Zärtlichkeit und Gnade
wird ihr Herz geübt, ihre eignen Zuneigungen vertiefen
sich, der Bräutigam wird in ihren Augen erhoben über
alle andern und geschätzt als der „Ausgezeichnete vor
Zehntausenden", an welchem alles sehr köstlich ist. Ihr
Herz wird so nach und nach für Ihn gewonnen. Der
45. Psalm besingt dieses gesegnete Resultat. Der Ueber-
rest wird dort begrüßt als die „Genossen" des Königs,
und Jerusalem als „die Königin in Gold von Ophir".
Die Völker um Israel her ehren sie dann mit Geschenken
und suchen ihre Gunst. Die Königin steht in der innigsten
Beziehung zu dem Könige, sie wird eingeführt in die
Paläste von Elfenbein.
Doch kehren wir zu unserm Texte zurück.
„Du hast mir das Herz geraubt mit einem deiner
Blicke, mit einer Kette von deinem Halsschmuck." Was
der Herr mit diesen Worten sagen will, ist schwer zu entscheiden.
Vielleicht denkt Er an jede einzelne Tugend, an
jeden einzelnen geistlichen Schmuck in dem Gläubigen;
oder sollen Seine Worte der Freude Seines Herzens an
jedem einzelnen Gläubigen, wie auch an Seinem Volke
gemeinschaftlich, Ausdruck geben? Sicherlich kann niemals
der Geringste unter allen den Seinigen von Ihm übersetzen
oder mit einem andern verwechselt werden, weder
in der Zeit noch in der Ewigkeit. Wir sind geliebt als
einzelne Personen und als solche auch errettet und verherrlicht.
„Der mich geliebt und sich selbst für mich
hingegeben hat", sagt Paulus. Er redet, als wenn er
der Einzige wäre, für den Christus gestorben sei. Der
Glaube macht sich zu eigen, was die Gnade offenbart.
107
Nur in dieser Weise genießt das Herz diese Offenbarungen.
Verstehst du das, mein Leser? Es ist von größter Wichtigkeit.
Der Glaube macht die Segnung, so groß sie
auch sein mag, zu einer persönlichen Sache. Was auch
irgend die Gnade in Christo als das Teil der Kinder
offenbaren mag — der Glaube sagt: „Es ist mein."
Aber in unsrer glücklichen Heimat droben werden
wir nicht nur unserm hochgelobten Herrn persönlich bekannt
sein, sondern auch einander. Petrus scheint gar
keine Schwierigkeit gehabt zu haben, auf dem Berge der
Verklärung Mose und EliaS zu erkennen. So wird es
auch in dem Auferstehungs-Zustande sein, wo alles Vollkommenheit
ist. Paulus wird niemals für Petrus, noch
Petrus für Paulus gehalten werden, und jeder wird seine
eigne Krone und seine eigne Herrlichkeit besitzen. Kostbarer
und doch auch ernster Gedanke! Jeder Heilige wird
seine besondere Krone tragen. Alle werden dort als das
bekannt sein, was sie nach der Schätzung des Herrn sind;
und doch alle vollkommen, alle glücklich, alle in der vollen
Freude des Herrn und alle strahlend in Seinem herrlichen
Bilde, das sie in Vollkommenheit tragen werden.
„Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine
Braut!" — Würden wir mehr an die Wertschätzung
unsrer Liebe von feiten des Herrn denken, so würden wir
auch mit ungeteilterem Herzen Ihm anhangen. Liebe
erzeugt Gegenliebe. Je näher ich am Feuer sitze, desto
mehr erwärmt es mich. Je näher ich dem Herzen Christi
bin, desto mehr wird mein Herz in Liebe zu Ihm brennen.
Ich könnte gerade so gut im Winter hinausgehen und
den Schnee betrachten und meinen, dadurch erwärmt zu
werden, als an mich denken, mich betrachten und meinen,
108
dadurch meine Liebe zu Christo zu vergrößern. Wünschest
du, in deiner Liebe zu Ihm zu wachsen und Seine Liebe
zu dir mehr zu genießen? Ei, so laß dein Herz sich an
Christo ergötzen! Das Feuer, an dem ich sitze, wärmt
mich, die Speise, die ich esse, sättigt mich; und wahrlich,
du wirst in dem Kapitel, das wir mit einander betrachten,
eine reiche Erquickung finden. Sinne darüber. Erforsche
es, Wort für Wort; und denke vor allem an das Herz,
welchem jedes Wort entströmt. Dem Unglauben gelten
die Worte Christi nichts, der Glaube nährt sich von ihnen.
Aber vergiß nicht, bei deinem Sinnen dich zu dem Herzen
Dessen zu erheben, aus welchem sie hervorfließen. Erforsche
Sein Wort stets in Gemeinschaft mit Ihm. Hüte
dich, das Wort von der Person Christi zu trennen. Auf
diesem Wege wird deine Liebe sich vertiefen find deine
praktische Aehnlichkeit mit Christo wachsen.
„Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine
Braut; wie viel besser ist deine Liebe als Wein, und der
Duft deiner Salben als alle Gewürze!" Wenn solche
Kundgebungen Seiner Liebe nicht unser Herz gewinnen,
was anders könnte es thun? Kein Wein, keine irdische
Freude ist Ihm so wertvoll wie die Liebe Seiner Braut;
kein Geruch Ihm so süß wie der Duft ihrer Salben.
Die Gastfreundschaft des selbstgerechten Juden war nichts
für Ihn im Vergleich mit der Liebe der großen Sünderin,
die hinten zu Seinen Füßen stand und weinte.
(Luk. 7.) Aber solch köstliche Früchte wachsen nur in dem
Lichte Seiner Gegenwart. Pflanzen gedeihen niemals im
Dunkeln. Sie mögen einige kranke, schwache Blätter treiben,
aber Frucht und Wohlgeruch werden sich nur dann
zeigen, wenn die Pflanze des vollen himmlischen Lichtes
109
teilhaftig wird. „Ich bin das Licht der Welt", sagt der
Herr Jesus"; „wer mir nachfolgt, wird nicht in der
Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens
haben"; und: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser
bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts thun."
(Joh. 8, 12; 15, 5.)
„Honigseim träufeln deine Lippen, meine Braut." Die
Honigwabe muß erst mit geduldigem Fleiße gefüllt werden,
ehe sie träufeln kann. Der Honig muß von jeder Blume
gesammelt werden. Der Christ sollte der Biene gleichen;
aber leider gleicht er oft mehr dem Schmetterling als der
Biene. Der erstere flattert meist eine Weile über die Blume
hin und fliegt dann wieder davon, ohne ihre Süßigkeit gekostet
zu haben; die Biene aber fliegt mit emsigem Fleiß
von einer zur andern, saugt den süßen Inhalt aus und
trägt ihn heim. So füllt sich ihr Vorratshaus nach und
nach mit dem köstlichsten Honig. Das Wort muß sorgfältig
erforscht und das Herz damit erfüllt sein, soll das für die
Gelegenheit passende Wort stets unter unsrer Zunge bereit
liegen. Wenn der Herr es so bei uns findet, wird Er
erquickt und erfreut. „Honigseim träufeln deine Lippen,
meine Braut; Honig und Milch ist unter deiner Zunge,
und der Duft deiner Gewänder wie der Duft des
Libanon."
Worte sind gleich Samenkörnern; sie entwickeln sich
und tragen Frucht, mögen sie scharf und bitter, oder gelinde
und gesund sein. Wie wichtig ist es daher, auf
unsre Zunge acht zu haben! Wenn wir Unkraut säen,
können wir keinen Weizen ernten; und wenn wir Weizen
säen, werden wir nicht nötig haben, Unkraut zu ernten.
„Was ein Mensch säet, das wird er auch ernten." O
110
möchten stets gelinde, freundliche, sanfte Worte, Worte
der Wahrheit, des Glaubens und der Liebe von unsern
Lippen träufeln! Was ist reiner als Milch? was süßer
als Honig? Was ist nahrhafter als die eine, und
heilender als der andere? Das Wort sagt uns, daß
wir nicht im Fleische, sondern im Geiste sind, und hier
redet der Herr von den kostbaren Früchten des Geistes,
die Ihm so wohlgefällig sind. Ueber Seine eignen Lippen
ist „Holdseligkeit ausgegossen", und „alle Seine Kleider
sind Myrrhen, Aloe und Kassia". (Ps. 45, 2. 8.) Und
hier findet Er zu Seiner innigen Freude in Seiner geliebten
Braut die Erwiderung darauf. Aus Seiner Fülle
reicht Er „Gnade um Gnade" dar; und die Antwort
darauf ist köstlicher für Sein Herz als alles, was die
Natur hervorzubringen vermag. Und wenn dereinst die
Hügel und Thäler Kanaans, übersät von den duftendsten
Gewürzen und fließend von Milch und Honig, längst vergangen
sein werden, wird die Geliebte noch vor Ihm
stehen, in stets zunehmender Frische und duftendem Wohlgeruch,
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Entschiedenheit.
Mose traf einst eine gute und verständige Wahl, als
er der Ehre, den Reichtümern und Vergnügungen am
Hofe des Pharao den Rücken wandte, um mit seinen
Landsleuten, die von den Aegyptern in grausamer Knechtschaft
gehalten wurden, dasselbe Los zu teilen. Er wollte
lieber mit dem Volke Gottes Ungemach leiden, als die
zeitliche Ergötzung der Sünde haben; lieber ein armer
Ziegelbäcker sein mit Gott, als ein reicher, angesehener
Mann ohne Gott. Im 2. Buch Mose wird uns mitgeteilt,
in welch äußerlich mangelhafter Weise Mose seinen
Entschluß ausführte; aber in Hebr. 10 wird uns die
geheime Triebfeder seines Handelns aufgedeckt, samt den
111
Beweggründen, die ihn leiteten: „Durch Glauben
weigerte sich Mose durch Glauben verließ er
Aegypten und fürchtete nicht die Wut des Königs; denn
er hielt standhaft aus, als sähe er den Unsichtbaren."
(V. 24—28.) Durch Glauben entschloß er sich, alle
irdische Größe aufzugeben und an Stelle der Schätze
Aegyptens die Schmach Christi zu wählen. Hätte er sich
durch die sichtbaren Dinge oder durch weltliche Weisheit
leiten lassen, so würde er zu einer ganz andern Entscheidung
gekommen sein; denn der Sohn der Tochter des
Pharao zu heißen schien viel besser, viel begehrenswerter
zu sein, als zu einer Schar armer, verachteter Sklaven
zu gehören. Aber er wußte durch den Glauben, daß jene
bedauernswerten, geknechteten und gequälten Israeliten das
Volk Gottes waren, und daß Gott sie sicherlich befreien
und in das gute Land führen würde, das Er ihnen verheißen
hatte.
Deshalb zögerte er nicht lange, erwägte auch nicht
ängstlich das Für und Wider, ging nicht mit Fleisch
und Blut zu Rate, warf keine begehrlichen Blicke auf die
Schätze Aegyptens, sondern trat mit aller Entschiedenheit,
mit ganzem Herzen auf die Seite des Volkes Gottes.
Wohl mußte er noch viele lehrreiche Erfahrungen machen,
ehe Gott ihn als Befreier Seines Volkes benutzen konnte;
aber er war treu und entschieden, und Treue und Entschiedenheit
belohnt Gott immer. Und wie reich war sein
Lohn! Wäre er in Aegypten geblieben, so hätte er vielleicht
der Erste nach dem Pharao werden können; aber
indem er der Führer des Volkes Gottes wurde, kam er
in so nahe Beziehungen zu Gott, wie kein andrer Mensch
sie genoß: Gott redete mit ihm von Angesicht zu Angesicht,
„wie ein Mann mit seinem Freunde redet". Welch
ein Vorrecht!
Mein lieber christlicher Leser! Du wirst auch oft,
besonders wenn du noch jung bist, in Umstände kommen,
wo Treue und Entschiedenheit für Christum in besondrer
Weise von dir gefordert werden. Vielleicht werden dir
112
sehr vorteilhafte, begehrenswerte Anerbietungen gemacht,
die du aber nicht annehmen kannst, wenn du anders deinem
Herrn auf dem Pfade des Gehorsams und der Absonderung
folgen willst. Erinnere dich dann an Mose und tritt entschieden
auf die Seite des Herrn. Erwäge nicht lange,
sondern entscheide dich für Christum, selbst wenn es etwas
zu entbehren und aufzugeben giebt. Ach, wie oft hat der
eine oder andere Gläubige der Versuchung nachgegeben,
seinen natürlichen Neigungen Gehör geschenkt, und wie
bitter waren die Folgen! Obwohl nichts im Himmel und
auf Erden den Gläubigen aus der Hand seines guten
Hirten rauben kann, so bleibt es doch wahr: „Was irgend
ein Mensch säet, das wird er auch ernten. Denn wer
für sein eignes Fleisch säet, wird von dem Fleische Verderben
ernten." (Gal. 6, 7. 8.)
„Ach, daß ich doch nie geheiratet hätte!" rief vor
nicht langer Zeit eine junge Frau verzweiflungsvoll aus.
Sie war eine Christin und hatte trotz mancher Warnungen
einen ungläubigen Mann geheiratet, und jetzt ging sie durch
tiefe Prüfungen als die Frucht ihrer Sünde. Sie hatte
dem einfachen, klaren Gebot Gottes: „Seid nicht in einem
ungleichen Joche mit Ungläubigen!" nicht gehorcht, und
mußte nun ernten, was sie gesäet hatte. Das Eingehen
einer Verbindung mit Ungläubigen in dieser oder einer
andern Weise ist eine Schlinge, in welche mancher Gläubige
fällt. Hüte dich davor! Du kannst sicher sein, daß Satan
sich dahinter verbirgt, um dein Herz von Christo abzuwenden,
dir deinen Frieden zu rauben und dein Zeugnis
für Ihn wirkungslos zn machen. Laß uns suchen, Ihm
mit aller Treue und Entschiedenheit nachzufolgen, indem
wir alles andere nur für Schaden und Verlust achten!
Im Vergleich mit Ihm ist es wahrlich nichts anderes.
Die Vorbilder des 3. Buches Mose.
(Fortsetzung.)
Das Brandopfer.
Die erste Art Opfer, zugleich die vollständigste und
meist charakteristische der „Feueropfer lieblichen Geruchs",
ist das Brandopfer. Der Anbeter mußte sein Opfer an
den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft bringen und
es schlachten vor Jehova, zum Wohlgefallen für ihn. *) —
Was nun zunächst den Ort betrifft, wo der ganze cere-
monielle Dienst vor sich ging, so war die Stiftshütte in
drei Teile geteilt; den ersten bildete das Allerheiligste,
der innerste Teil des Zeltes, der durch einen Vorhang
von dem übrigen getrennt war. Hier befanden sich die
Bundeslade und die Cherubim der Herrlichkeit, welche den
Sühnungsdeckel oder Gnadenstuhl überschatteten, und
nichts anderes. Hier war der Thron Gottes, sowie
das Vorbild von Christo, in welchem Gott sich geoffenbart
hat, von Christo, der wahren Bundeslade und dem
wahren Gnadenstuhl.
*) Das ist der Sinn des hebräischen Wortes. Zugleich waren
die Brandopser srei willige Opfer, was bei den Opfern für die
Sünde nicht der Fall war.
Der Vorhang deutete an, wie der Apostel uns sagt,
daß der Weg ins Allerheiligste nicht geoffenbart war, so
114
lange die alte Haushaltung noch bestand. Außerhalb, unmittelbar
vor dem Vorhang, stand der goldne Räucheraltar,
von welchem man bei gewissen Gelegenheiten Weihrauch
in einem Rauchfaß nahm, um ihn innerhalb des
Vorhangs darzubringen; seinem Zweck nach gehörte er
also zum Allerheiligsten. Ferner stand außerhalb des Vorhangs,
(in dem Teile der Stiftshütte, der „das Heilige"
genannt wurde, um ihn von dem „Allerheiligsten" zu unterscheiden,)
auf der einen Seite der Schaubrottisch und auf
der andern der siebenarmige goldne Leuchter — die Schaubrote
ein Vorbild des fleischgewordenen Christus, des
wahren Brotes, in Verbindung mit und als Haupt von
den zwölf Stämmen; der Leuchter ein Bild der Vollkommenheit
*) des Geistes, als Spender des Lichtes. Die
Kirche erkennt Christum also, und der Heilige Geist wohnt
in ihr. Was sie jedoch als Kirche charakterisiert, ist die
Kenntnis eines himmlischen und verherrlichten Christus
und die Gegenwart des Heiligen Geistes in Einheit in
ihr. Hier ist es Christus in Seinen irdischen Beziehungen,
und der Heilige Geist in Seinen mannigfaltigen Macht-
Entfaltungen.
*) Die Zahl sieben ist die Zahl der Vollkommenheit, zwölf
ebenfalls, wie dies aus manchen Schriftstellen hervorgeht; sieben
deutet absolute Vollkommenheit im Guten oder Bösen an, zwölf
Vollkommenheit in einer dem Menschen anvertrauten Verwaltung.
In das Heilige ging nicht nur der Hohepriester
hinein, sondern die Priester im allgemeinen hatten hier
fortwährend Zutritt; aber auch nur sie allein. Wir wissen,
wer jetzt dort eingehen darf, und wer allein. Es sind
diejenigen, welche zu Königen und Priestern gemacht sind,
die wahren Heiligen Gottes. Nur, dürfen wir hinzufügen,
115
ist jetzt der Vorhang, welcher das Allerheiligste verbarg
und den Zugang dahin versperrte, von oben bis unten
zerrissen und darf nie wieder erneuert werden. Wir haben
durch das Blut Jesu Freimütigkeit, ins Allerheiligste einzutreten.
Der Vorhang, „das ist Sein Fleisch", ist zerrissen
worden. Wir finden in Joh. 6 nicht nur das in
dem fleischgewordenen Christus vom Himmel herniedergekommene
Brot, sondern auch Fleisch
und Blut, d. i. den gestorbenen Christus. Eins mit
Christo, treten wir jetzt ein und setzen uns im Geiste da
nieder, wo Er sich gesetzt hat. Unser Vorrecht ist, zu
aller Zeit und als solche, die ein Recht dazu haben, ins
Heiligtum einzugehen — das Heiligtum ein Bild des geschaffenen
Himmels; das Allerheiligste ein Bild dessen,
was in der Schrift „die Himmel der Himmel" genannt
wird. In gewissem Sinne, was geistliches Hinzunahen
und geistlichen Verkehr betrifft, sind jetzt, nachdem der
Vorhang zerrissen ist, Allerheiligstes und Heiliges zu Einem
geworden, obwohl Gott stets in einem für den Menschen
unnahbaren Lichte wohnt. Wir befinden uns schon jetzt,
wiewohl nur im Geiste, als Priester in den himmlischen
Oertern.
Draußen vor dem Heiligtum befand sich der Vorhof
des Zeltes der Zusammenkunft. Es war ein äußerer
Hof, umgeben von Byssus-Behängen, die an Säulen befestigt
waren. Beim Eintritt in diesen Hof begegnete
man zunächst dem Brandopferaltar; zwischen diesem und
der Stiftshütte stand das eherne Waschbecken, in welchem
die Priester sich wuschen, ehe sie zur Verrichtung ihres
Dienstes in die Stiftshütte gingen.
Es liegt auf der Hand, daß wir Gott nicht Nahen
116
können, als nur auf Grund des Opfers Christi, und daß
wir gewaschen sein müssen in dem Waschbecken der Wiedergeburt,
ehe wir im Heiligtum dienen können. *) Als
Priester bedürfen wir auch der Fußwaschung seitens des
Herrn, um unsern beständigen Dienst im Heiligtum ausüben
zu können. (S. Joh. 13.)
Auf diesem Wege hat sich Christus selbst genaht;
allerdings nicht auf Grund des Opfers eines Andern,
sondern indem Er sich selbst als ein vollkommnes Opfer
Gott darbrachte. Es giebt nichts Rührenderes, nichts
was unsrer eingehenden Betrachtung würdiger wäre, als
die Art und Weise, wie Jesus sich freiwillig Gott darstellte,
damit Gott in Ihm vollkommen verherrlicht würde.
Er litt schweigend; und dieses Schweigen war das Ergebnis
eines vollkommnen und tiefen Entschlusses, sich im
Gehorsam für die Verherrlichung Gottes aufzuopfern.
Und diesen Dienst hat Er, gepriesen sei Sein Name!
voll und ganz erfüllt, so daß der Vater jetzt in Seiner
Liebe gegen uns ruht.
Diese Hingebung an die Herrlichkeit des Vaters
*) Diese Ordnung ist auffallend. Wir würden das Waschbecken
vor den Altar gesetzt haben. Aber für den, der herzunaht,
kommt das Opfer Christi zu allererst. Der Altar ist für die Sünden,
und das ist das Erste, dessen wir bedürfen; in dem Waschbecken
sehen wir unsern Tod vorgebildet: die Anwendung des Todes auf
unsre Natur. Wir sind mit Christo gestorben. Das kommt nachher.
Den Altar finden wir in Röm- 3, 20 rc.; das Waschbecken in
Röm. 6. Der eherne Altar im Vorhof ging nicht weiter als zur
Genugthuung für die Sünden, entsprechend der Verantwortlichkeit
des Menschen, während der Sühnungsdeckel im Allerheiligsten andeutete,
was für die Gegenwart Gottes notwendig war. In dem
Werke Christi finden wir beides. Bei der Anwendung steht das
Waschbecken zwischen den beiden.
117
konnte sich auf zweierlei Art offenbaren: zunächst dadurch,
daß Er alle Kräfte und Fähigkeiten des lebenden Menschen,
(dessen Vollkommenheit aber durch den Tod und das Feuer
des Gerichts erprobt werden mußte,) Ihm widmete — das
ist es, was uns im Speisopfer dargestellt wird; und
zweitens dadurch, daß Er sich selbst, Sein Leben, der
göttlichen Herrlichkeit zum Opfer brachte — das ist es,
was wir im Brandopfer vorgebildet finden. Beide Opfer
sind grundsätzlich gleich, indem sie die gänzliche Widmung
deS menschlichen Daseins Gott gegenüber darstellen; das
eine die Widmung des lebenden, handelnden Menschen,
das andere die Hingabe des Lebens in den Tod.
Bei dem Brandopfer brachte der Opfernde das Opfertier
ganz und gar Gott dar an dem Eingang des Zeltes
der Zusammenkunft. So hat sich auch Christus dargebracht,
um den Ratschluß Gottes zu erfüllen und Ihn
zu verherrlichen. In dem Vorbilde waren das Opfer
und der Opfernde notwendigerweise unterschieden, und der
Opfernde legte seine Hände auf den Kopf des Opfertieres,
zum Zeichen daß er sich mit demselben eins machte.
Christus war beides: Er war das Opfer, und Er opferte
sich selbst. Führen wir einige Stellen an, die uns
Christum in diesem Charakter vorstellen, wie Er den Platz
dieser Opfer einnimmt. Der Heilige Geist läßt den Herrn
in Hebr. 10, 7 sagen, indem Er den 40. Psalm anführt:
„Da sprach ich: Siehe, ich komme; in der Rolle des
Buches steht von mir geschrieben. Dein Wohlgefallen zu
thun, mein Gott, ist meine Lust; und Dein Gesetz ist
im Innern meines Herzens." *)
*) Wie wir bereits früher gesehen haben, war durch die
Aufrichtung des goldenen Kalbes die Autorität Gottes verachtet
118
Christus also, der sich völlig hingiebt, um den ganzen
Willen Gottes zu thun, tritt an die Stelle der Opfer. Er
ist das Gegenbild der „Schatten der zukünftigen Güter".
Wenn Er an einer andern Stelle von Seinem Leben
spricht, so sagt Er: „Niemand nimmt es von mir, sondern
ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt es zu lassen,
und mit Füßen getreten worden. Israel hatte seinen freiwilligen
Entschluß, alles zu thun, was Jehova gesagt hatte, auf diese'Weise
gebrochen; es hatte ganz und gar gefehlt. Wie sollte nun der
Mensch Gott nahen? Das Gesetz hatte das Böse, das im Menschen
war, ans Licht gebracht. War es nun an Gott, mit denen zu
unterhandeln, welche soeben erst gefallen waren, und sie in ihrer
Bosheit anzuerkennen? Sollte Gott sich Seines Charakters entkleiden?
Wenn Er das nicht thun konnte, nicht thun durfte, so
blieb Ihm nichts anderes übrig, als in Gnade vom Himmel zu
reden. Es gab keine andere Möglichkeit mehr, mit den Menschen
auf der Erde zu verkehren. Sie hatten Den verachtet, der auf
Erden zu ihnen redete. Die Frage war also: Wie kann der Mensch
mit Gott im Himmel in Verbindung gebracht werden?
Dazu bedurfte es eines Opfers. Aber wo ein Opfer finden,
das imstande war, den Menschen von der Sünde rein zu waschen?
Es gab keinen Menschen, der imstande oder geneigt gewesen wäre,
so etwas zu thun. Das war kein Werk für einen Sünder. Da
sprach der Sohn Gottes: „Siehe, ich komme, um Deinen Willen,
o Gott, zu thun. Dein Gesetz ist im Innern meines Herzens." —
„Schlachtopfer und Speisopfer hast Du nicht gewollt, einen Leib
aber hast Du mir bereitet." Es war der Leib, in welchem Der
wohnen sollte, welcher der Gehorsam selbst war. „Ohren hast Du
mir bereitet." Und wir sehen Christum freiwillig diesen Leib
annehmen, um den Willen Gottes zu thun. Auf diese Weise besitzen
wir Jemanden, der fähig war, das Opfer zu werden; Einen,
der sich mit der Gestalt eines Knechtes bekleidet hat und den Geboten
Jehovas gehorsam geworden ist. Er hatte sowohl den Willen
als auch die Fähigkeit, dies zu thun: „Dein Gesetz ist im Innern
meines Herzens."
119
und habe Gewalt es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe
ich von meinem Vater empfangen." (Joh. 10, 18.) Das
war Gehorsam, aber ein Gehorsam, der sich in der Aufopferung
Seiner selbst kundgab; deshalb sagt Er auch im
Hinblick auf Seinen Tod: „Der Fürst der Welt kommt
und hat nichts in mir; aber auf daß die Welt erkenne,
daß ich den Vater liebe und also thue, wie mir der Vater
geboten hat." (Joh. 14, 30. 31.) So lesen wir auch in
Luk. 9, 51: „Es geschah aber, als sich die Tage Seiner
Aufnahme erfüllten, daß Er Sein Angesicht feststellte, nach
Jerusalem zu gehen." — Wie schön und voller Gnade
ist doch dieser Weg des Herrn! Er war ebenso fest entschlossen,
sich Gott zu weihen und sich zur Verherrlichung
Gottes allen Folgen dieser Widmung zu unterwerfen, wie
der Mensch leichtfertig gewesen war, sich von Gott zu
entfernen, und hartnäckig, in dieser Entfernung zu beharren.
Jesus machte sich selbst zu nichts und erniedrigte
sich bis zum Tode, damit auf diesem Wege die
Majestät und Liebe Gottes, Seine Wahrheit und Gerechtigkeit
vollkommen ans Licht gebracht werden könnten. *)
*) In der That, um Sünder in die Gegenwart Gottes einzuführen,
mußte Jesus nicht nur das Gesetz beobachten, sondern
gehorsam werden bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz. Er
hätte die Gerechtigkeit verkündigen können in der großen Versammlung
(Ps. 40, 10), aber die Menschen haßten die Gerechtigkeit; Er
hätte jede Art von Werken der Barmherzigkeit und des Segens
thun können, aber die Einen beneideten, die Anderen verspotteten
Ihn. Alle Kundgebungen der Gerechtigkeit in Jhm.waren an und
für sich von keinem Nutzen. Deshalb war es nötig, daß Er ein
Opfer wurde; Sein Blut mußte vergossen werden, sollten wir
anders Gott nahen können. Unter diesem Charakter stellt uns das
Brandopser Christum vor Augen.
120
So wurde der Mensch in der Person Christi mit Gott
versöhnt. Gott ist ebenso vollkommen in dem Menschen
verherrlicht worden, wie Er in ihm verunehrt worden war.
(Der Leser wolle beachten, daß ich nicht sage: in den
Menschen, sondern in dem Menschen.) Und das gesegnete
Resultat war nicht nur Vergebung der Sünden, sondern
Einführung in die Herrlichkeit Gottes.
Das Brandopfer mußte „ohne Fehl" sein. Die Anwendung
dieser Eigenschaft auf Christum ist zu deutlich,
um einer Erklärung zu bedürfen. Er war das Lamm
„ohne Fehl und ohne Flecken". Der Opfernde *) mußte
das Opfertier vor Jehova schlachten. Dieser Umstand
macht die Aehnlichkeit mit Christo vollständig; denn obgleich
Er offenbar nicht sich selbst töten konnte, so gab Er doch
Sein Leben freiwillig auf; niemand nahm es von Ihm,
Er ließ es freiwillig vor Jehova. Das war, in der
Ceremonie des Opfers, das Teil dessen, der das Opfer
darbrachte, und ebenso war es das Teil Christi als
Mensch. Der Mensch sah im Tode Christi nur das
Gericht des Menschen, die Macht des Kajaphas oder die
Macht der Welt. In Wirklichkeit aber, als Opfer betrachtet,
opferte Christus sich selbst vor Jehova.
*) Es heißt nicht: „Der Priester", das will sagen, es war noch
nicht des Priesters Teil. Man könnte auch übersetzen: „Man soll
es schlachten". Es handelte sich um die Aussührung des Opfers,
nicht um die Darbringung des Blutes in einer priesterlichen Weise.
Wir kommen jetzt zu dem Teil, das der Herr und
der Priester an dem Brandopfer hatten. Das Opfer
mußte dem Feuer des Altars Gottes unterworfen werden.
Es wurde in Stücke zerschnitten, gewaschen und so, entsprechend
der Reinigung des Heiligtums, dem Gericht
121
Gottes anheimgegeben; denn das Feuer, als Vorbild, bezeichnet
stets das Gericht Gottes. Was die Waschung
mit Wasser betrifft, so machte sie das Opfer vorbildlich
zu dem, was Christus Seinem Wesen nach war: rein.
Bedeutungsvoll aber ist hier, daß die Reinigung des
Opfers und die unsrige nach demselben Grundsatz und
nach demselben Maßstabe geschehen. Wir sind geheiligt
durch den Geist zum Gehorsam. Jesus kam, um den
Willen Seines Vaters Zu thun; und so hat Er, vollkommen
von Beginn Seiner Laufbahn an, an dem was
Er litt den Gehorsam gelernt. Allezeit vollkommen gehorsam,
wurde Sein Gehorsam doch auf immer schwerere
Proben gestellt, so daß Er stets an Tiefe und Vollendung
zunahm: Er lernte den Gehorsam. Derselbe war neu für
Ihn als eine göttliche Person, — für uns ist er neu, weil
wir von Natur Rebellen sind gegen Gott, — und Er
lernte ihn in seiner ganzen Ausdehnung.
UeberdieS geschieht diese Waschung mit Wasser in
unserm Falle durch das Wort, und Christus bezeugt von
sich selbst, daß der Mensch von jedem Worte lebe, das
durch den Mund Gottes ausgehe. Selbstredend besteht
notwendigerweise dieser Unterschied, daß Christus Leben
hatte in sich selbst und das Leben war (S. Joh. 1 u. 5),
während wir dieses Leben von Ihm empfangen; und
während Er selbst dem geschriebenen Worte gehorsam war,
bildeten die Worte, die von Seinen Lippen flössen, den
Ausdruck Seines Lebens und sind die Richtschnur für
das unsrige.
Untersuchen wir diesen Gegenstand noch etwas näher.
Das Wasser der Reinigung stellte auch die Macht des
Heiligen Geistes dar, wirkend durch das Wort und den
122
Willen Gottes, sowie den Beginn dieses Lebens in uns:
„Nach Seinem eignen Willen hat Er uns durch das Wort
der Wahrheit gezeugt, auf daß wir eine gewisse Erstlingsfrucht
Seiner Geschöpfe seien." (Jak. 1, 18.) „Durch
welchen Willen wir geheiligt sind." (Hebr. 10, 10.) Dieses
Werk des Geistes aber findet uns tot in Sünden und
Vergehungen. Die Befreiung muß also durch den Tod
und die Auferstehung Christi geschehen. Deshalb floß bei
Seinem Tode Wasser und Blut aus Seiner Seite hervor,
als Zeichen der reinigenden und sühnenden Kraft. Der
Tod also, und der Tod allein, reinigt uns von der Sünde
und sühnt sie. „Wer gestorben ist, ist freigesprochen von
der Sünde" (Röm. 6, 7); und das Wasser wurde auf
diese Weise das Zeichen des Todes, denn dieser allein
reinigt.
Diese Wahrheit von einer wirklichen, durch den Tod
erfolgten Reinigung war denen, die unter dem Gesetz
lebten, notwendigerweise verborgen. Sie besaßen nur die
Vorbilder davon; denn das Gesetz wandte sich an den
lebenden Menschen und forderte Gehorsam von ihm.
Der Tod Christi aber stellte die Wahrheit ans Licht, daß wir
tot waren, daß in unserm Fleische nichts Gutes wohnte,
und daß also eine Reinigung nur durch Tod und Auferstehung
erfolgen konnte. Deshalb sagt die Schrift, indem
sie auf den symbolischen Gebrauch des Wassers in
der Taufe anspielt: „Wisset ihr nicht, daß wir, so viele
auf Christum Jesum getauft worden, auf Seinen Tod
getauft worden sind?" Indes ist es klar, daß wir nicht
bei dem Tode stehen bleiben dürfen; denn gerade die
Mitteilung des Lebens Christi befähigt uns, den alten
Menschen für tot zu halten und uns selbst als bereits
123
gestorben in unsern Vergehungen und Sünden. „Wenn
Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot der
Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit
wegen." (Röm. 8, 10.) Auch wird uns gesagt: „Auch
euch, als ihr tot wäret in den Vergehungen und in der
Vorhaut eures Fleisches, hat Er mitlebendig gemacht mit
Ihm;" und: „So sind wir nun mit Ihm begraben worden
durch die Taufe auf den Tod, aus daß, gleichwie Christus
aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit
des Vaters, also auch wir in Neuheit des Lebens
wandeln sollen." (Kol. 2, 13; Röm. 6, 4.) Nur in der
Macht eines neuen Lebens sind wir fähig, uns der Sünde
für tot zu halten. Erst dann, wenn wir die Kraft des
Todes und der Auferstehung Christi verstanden haben und
wissen, daß wir in Ihm sind durch den Heiligen Geist,
können wir sagen: Ich bin mit Christo gekreuzigt; ich
bin nicht mehr im Fleische. Wir sehen also, daß diese
Reinigung, die für den Juden nur eine moralische Wirkung
war, in uns wirksam ist durch die Mitteilung des Lebens
Christi und dasjenige darstellt, was uns gemäß der Kraft
Seines Todes und Seiner Auferstehung geheiligt hat;
die Sünde als Gesetz in unsern Gliedern ist gerichtet.
Der erste Adam hat als eine lebendige Seele sich selbst
verderbt; der zweite Adam teilt als ein lebendig machender
Geist uns ein neues Leben mit.
Wenn aber die Mitteilung des Lebens Christi durch
die Versöhnung diese Wirkung in uns hervorbringt, so ist
es offenbar, daß dieses Leben in Ihm wesentlich rein war,
während in uns das Fleisch Wider den Geist gelüstet.
Jesus war, selbst dem Fleische nach, von Gott geboren.
Nichtsdestoweniger mußte Er, obgleich vollkommen rein,
124
sich der Taufe unterziehen, und zwar nicht nur der Wassertaufe,
um alle Gerechtigkeit zu erfüllen, sondern auch zur
Erprobung alles dessen, was in Ihm war, der Feuertaufe.
„Ich habe eine Taufe", sagt Er, „womit ich
getauft werden muß, und wie bin ich beengt, bis sie
vollbracht ist!"
Christus opferte sich also gänzlich Gott, um Gottes
Herrlichkeit völlig zu offenbaren und sich Seinem Gericht zu
unterwerfen. Das Feuer erprobte, was Er war. Er mußte
„mit Salz gesalzen werden". Die vollkommne Heiligkeit
Gottes, in der ganzen Gewalt Seines Gerichts, erprobte
bis aufs Aeußerste alles was in Jesu war. Der Schweiß,
der wie große Blutstropfen zur Erde fiel, das rührende
Flehen, das Er im Garten Gethsemane „mit großem
Geschrei und Thränen" emporsandte, die tiefe Seelenangst,
die Ihm am Kreuze, im Bewußtsein Seiner Gerechtigkeit,
den Schrei auspreßte: „Warum hast Du mich verlassen?"
— ein Schrei, der im Blick auf eine Erleichterung
der Bedrängnis unbeantwortet blieb — alles das zeigt
uns den Sohn Gottes völlig auf die Probe gestellt. Tiefe
rief der Tiefe; alle Wogen und Wellen Jehovas gingen
über Ihn hin. (Ps. 42, 7.) Aber so wie Er sich ganz
und gar freiwillig dieser Probe unterwarf, die bis auf
den tiefsten Grund Seiner Seele ging, ebenso hat dieses
Feuer des Gerichts, welches Seine innersten Gedanken
erprobte, nichts anderes hervorzubringen vermocht als
einen lieblichen Geruch für Gott. Es ist bemerkenswert,
daß das Wort, welches im Urtext angewandt wird, um
die Handlung des Verbrennens des Brandopfers zu bezeichnen,
dasselbe ist wie dasjenige, dessen die Schrift sich
bedient, wenn sie von dem Verbrennen des Weihrauchs
125
redet; handelt es sich dagegen um das Verbrennen des
Sündopfers, so gebraucht sie ein anderes Wort.
Wir erblicken also in dem Brandopfer Christum in
der vollkommnen Aufopferung Seiner selbst, sowie in der
Erprobung des Innersten Seiner Seele durch das Feuer
des schrecklichen Gerichts Gottes. Sein Leben, das wie
ein Brandopfer auf dem Kreuze verzehrt wurde, war „ein
Opfer lieblichen Geruchs dem Jehova", in jeder Beziehung
unendlich angenehm für Gott; da war nicht ein Gedanke,
nicht ein Wille, oder er wurde dort auf die Probe gestellt
und Sein Leben darin verzehrt. Alles wurde, ohne daß
Er anscheinend irgend eine Antwort erhalten hätte, von
Ihm aufgeopfert; alles war von Anfang bis zu Ende ein
duftender Wohlgeruch für Gott.
Als Noah sein Brandopfer darbrachte, heißt es:
„Jehova roch den lieblichen Geruch, und Jehova sprach in
Seinem Herzen: Nicht mehr will ich hinfort den Erdboden
verfluchen um des Menschen willen; denn das
Dichten des menschlichen Herzens ist böse von seiner
Jugend an." (1. Mose 8, 21.) Es hatte Gott gereut,
daß Er den Menschen gemacht hatte, und Ihn geschmerzt
in Sein Herz hinein. (1. Mose 6, 6.) Als Er nun
aber den lieblichen Geruch roch, sprach Er in Seinem
Herzen: „Ich will nicht mehr verfluchen." So hat Gott
auch ein vollkommnes und unendliches Wohlgefallen an
der freiwilligen Opferung Christi gefunden. Bei dem Brandopfer
handelt es sich durchaus nicht um die Anrechnung
der Sünde, sondern um die Vollkommenheit, Reinheit und
Ergebenheit des Opfers, die als ein lieblicher Geruch zu
Gott emporstiegen. Wohl war der Tod notwendig, denn
die Sünde war da, und es liegt auf der Hand, daß
126
Gott ohne den Tod hinsichtlich des Zustandes des Menschen
nicht hätte verherrlicht werden können. Aber es ist sehr
wichtig, das Brandopfer von den Opfern für die Sünde zu
unterscheiden. Bei den letzter» wurden die Sünden auf
das Opfer gelegt, und es trug dieselben. Das war beim
Brandopfer nicht der Fall. Christus opferte sich selbst,
Er, der keine Sünde kannte, durch den ewigen Geist, um
Gott durch Seinen vollkommnen Gehorsam und Seine
völlige Hingabe zu verherrlichen. Ich wiederhole also:
es handelt sich hier nicht um die Uebertragung der Sünden
auf das Opfer, sondern um die Vollkommenheit und Reinheit
dieses Opfers im Tode; und wir sind in der ganzen
Annehmlichkeit, in dem lieblichen Geruch desselben vor
Gott dargestellt. Welch ein kostbarer Gedanke für uns!
Wir sind annehmlich gemacht in dem Geliebten, nach der
ganzen Wonne, die Gott an dem Wohlgeruche dieses Opfers
findet. Ist Gott vollkommen in Christo, in allem was
Er ist, verherrlicht worden? In diesem Falle ist Er
auch verherrlicht, wenn Er uns annimmt. Findet Er
Seine Wonne an Christo und an jener vollkommensten
That Seiner Liebe? In diesem Falle findet Er auch
Seine Wonne an uns. Steigt jener Wohlgeruch allezeit
vor Ihm auf als ein ewiges Gedächtnis dessen, was
Seinen Augen so überaus angenehm war? Nun, dann
sind auch wir vor Ihm dargestellt gemäß der Wirksamkeit
dieses wohlgefälligen Opfers. Es handelt sich, wie bereits
gesagt, nicht nur um die Auslöschung unsrer Sünden
durch den Sühnungsakt; nein, die vollkommne Annehmlichkeit
Dessen, der jenen Akt vollzog, der süße Geruch
Seines sündlosen Opfers sind unser, sind unser Wohlgeruch
vor Gott. Die Annehmlichkeit des Opfers, ja
— 127 —
Christus selbst ist unser. Wir stehen vor Gott kraft
dieses Opfers. Wir sind eins mit Christo.
Vergessen wir jedoch nicht, daß das Opfer Christi,
als Brandopfer betrachtet, wobei es sich also nicht um das
Tragen der Sünden handelte, doch den Charakter des
Todes trug, der aus der Thatsache hervorging, daß die
Sünde vor Gott in Frage stand. Das machte die
Prüfung und das Leiden um so schrecklicher. Der Gehorsam
Christi wurde vor Gott erprobt an der Stätte
der Sünde, und Er war gehorsam bis zum Tode, nicht
in dem Sinne des Tragens und Hinwegthuns der Sünde,
obgleich das in demselben Akte geschah, sondern in der
Vollkommenheit Seiner Selbst-Aufopferung an Gott; und
zwar wurde Sein Gehorsam von Gott geprüft, indem Er
als Sünde behandelt wurde und nur ein lieblicher Geruch
für Gott war. Daher fehlt in dem Brandopfer das
sühnende Element nicht, wie es denn auch in V. 4 heißt:
„und es wird wohlgefällig für ihn sein, um Sühnung
für ihn zu thun"; und zwar ist diese Sühnung in einem
Sinne, nämlich als die Erprobung des Gehorsams und
die Verherrlichung Gottes darin, von tieferer Bedeutung
als das Tragen der Sünden.
„Seid nun Nachahmer Gottes als geliebte Kinder,
und wandelt in Liebe, gleichwie auch der Christus uns
geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Darbringung
und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden
Wohlgeruch." (Eph. 5, 1. 2.) Wer unter den Heiligen
ckennt nicht die Kraft dieser Liebe? Wenn das Werk
unsrer Erlösung einerseits auch in einem Menschen und
Lurch einen Menschen geschehen ist, so ist es doch auch
128
geschehen in der göttlichen Liebe, in der Liebe des Vaters
selbst. O wie köstlich ist es, daß Jesus in einem Leibe
gekommen ist, der Ihm zubereitet worden war, und daß
Er, in unbedingtem Gehorsam handelnd, uns ein voll-
kommnes Muster der Gerechtigkeit hinterlassen hat, indem
Er sich selbst, als ein freiwilliges Opfer, in der Fülle
der göttlichen Liebe dahingab!
Das Erste, was der, welcher Gott naht, findet, ist
also der Brandopferaltar. Dort begegnet der Sünder Gott
im Gericht, aber er begegnet auch dem Jesus, der sich
selbst aufopferte. Nicht im Heiligtum, noch im Allerheiligsten
ist Gott ein vollkommnes Opfer dargebracht
worden, sondern angesichts der Erde, obgleich erhöht von
der Erde; ein Opfer, in welchem Satan nichts finden
konnte, in welchem Gott aber alles gefunden hat, was
Er fordern mußte — ein Opfer, an dessen Vollbringung
der Mensch kein Teil haben konnte. Es war ein Werk
zwischen Gott und dem Sohne; und wenn auch die
Gläubigen allein den Wert desselben verstehen, so wurde
es nichtsdestoweniger vollbracht vor der Welt und durch
die Hände derer, die da waren. Jesus Christus wurde
vor unsern Augen gekreuzigt, indem Er der Welt ein
Zeugnis gab, welches sie ohne Entschuldigung läßt. Und
wenn es keinen andern Weg giebt, um zu Gott zu kommen
als diesen Jesus, der so dem Tode preisgegeben wurde,
was thut dann der Unglaube, wenn er Den verachtet und
verwirft, der jetzt, im Himmel thronend, der Spender
aller Segnungen ist für die, welche glauben!
Mein Leser! du kannst thätig und besorgt sein um
viele Dinge; aber es giebt nur eines, worauf Gott achtet.
Ist diese Liebe Gottes in Jesu Christo, Seinem Sohne,
129
bis jetzt nur eine inhaltsleere Geschichte für dich gewesen,
während du den Eitelkeiten, die sich dir hienieden darbieten,
mit Eifer nachgetrachtet hast? Bleibt dein Herz
kalt bei der Liebe Gottes, wie wenn die Stätte, wo einst
das Kreuz aufgerichtet wurde, ein leerer Raum in der
Welt wäre? Das natürliche Herz haßt die Rechte, welche
Gottes Liebe und Heiligkeit an uns haben; das Kreuz
aber ist das mächtige Mittel in der Hand Gottes, um
das Herz von der Liebe zur Welt zu befreien.
(Fortsetzung folgt.)
„Ein verschlossener Garten ist meine
Schwester, meine Braut."
(Hohel. 4, 12-15.)
„Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, meine
Braut, ein verschlossener Born, eine versiegelte Quelle.
Was dir entsproßt, ist ein Lustgarten von Granaten nebst
edlen Früchten, Cyperblumen nebst Narben; Narbe und
Safran, Würzrohr und Zimmet, nebst allerlei Weihrauchgehölz,
Myrrhe und Aloe nebst allen vortrefflichsten Gewürzen
; eine Gartenqnelle, ein Brunnen lebendigen Wassers,
und Bäche, die vom Libanon fließen." Einige kurze Bemerkungen
über die natürliche Lage und den Charakter
des Landes Israel werden uns sehr behilflich sein, diese
schönen und belehrenden Vergleiche zu verstehen. Das gelobte
Land liegt gleichsam im Mittelpunkt der bewohnten
Erde und war einst weit berühmt wegen seiner Schönheit
und Fruchtbarkeit. Auch ist es beachtenswert, daß die
Juden nicht zufällig sich gerade in Kanaan niedergelassen
haben, sondern daß Gott Hunderte von Jahren vor Be-
130
ginn des nationalen Bestehens Israels seine Grenzen bereits
bestimmt hatte. „Als der Höchste den Nationen das
Erbe austeilte, als Er von einander schied die Menschenkinder,
da stellte Er fest die Grenzen der Völker nach
der Zahl der Kinder Israel. Denn Jehovas Teil
ist Sein Volk, Jakob die Schnur Seines Erbteils."
(5. Mose 32, 8. 9.) Wir ersehen aus dieser höchst interessanten
Stelle, welch einen Platz Israel von alters
her in den Gedanken und Ratschlüssen Gottes eingenommen
hat. Das verhältnismäßig kleine Land ist der Schauplatz
von Ereignissen gewesen, die alle andern an Wichtigkeit
und weittragenden Folgen überragen; und es wird in der
Zukunft wieder der Schauplatz von Ereignissen werden,
auf welche Himmel und Erde warten und auf die Gottes
Wort immer wieder hindeutet. Die Verheißung, die in
Eden nur als eine Knospe erschien, wird sich in dem
gelobten Lande in ihrer voll erblühten Herrlichkeit
entfalten.
Durch Israels Untreue liegt das Land, wie wir
wissen, heute wüste. Es erweckt nichts weniger als den
Gedanken an einen Mittelpunkt der ganzen Erde. Es ist
von den Nationen zertreten worden. Aber obwohl es
lange Zeit eine Wüste, ein Land des Todesschattens gewesen
ist, wird es doch nicht immer so bleiben. Der
Herr des Landes ist gegenwärtig abwesend; Er ist in ein
„fernes Land" gezogen. Aber Er wird wiederkehren und
von Seinem Eigentum Besitz nehmen. (Luk. 19.) „Das
Land ist mein", sagt der Herr, und nach Seinen ursprünglichen
Absichten wird es zu seiner Zeit der Mittelpunkt
aller Nationen, die Herrlichkeit aller Länder und der Ruhm
aller Völker werden; und die geliebte Stadt Jerusalem
131
wird die Hauptstadt der ganzen Erde und der Mittelpunkt
des Segens werden für alle ihre Bewohner. Das königliche
Banner wird dann wieder über seinen Mauern wehen,
als das gewisse Zeichen, daß der „hochgeborne Mann",
der König der Nationen, zurückgekehrt ist.
Mose durfte vom Gipfel des Berges Pisga herab dieses
herrliche Land schauen, ehe er starb. Der Herr selbst
zeigte es Seinem Knechte. Welch eine Ehre für Mose!
Bevor er seine Augen im Tode schloß, durfte er den zukünftigen
Wohnort der Erlösten des Herrn betrachten und
seine fruchtbaren Thäler, seine schönen Berge und wasserreichen
Ebenen schauen. Er sah
Das heißersehnte Ziel, das langverheißne Land,
Deß grüne Fluren stets von Milch und Honig triefen.
Und wenn er unter der Leitung des Geistes von diesem
herrlichen Lande redet, so sagt er: „Denn Jehova, dein
Gott, bringt dich in ein gutes Land, ein Land der Wasserbäche,
Quellen und Gewässer, die in der Niederung und
im Gebirge entspringen; ein Land von Weizen und Gerste
und Weinstöcken und Feigenbäumen und Granatbäumen;
ein Land von ölreichen Olivenbäumen und Honig; ein
Land, in welchem du nicht in Dürftigkeit Brot essen wirst,
in welchem es dir an nichts mangeln wird; ein Land,
dessen Steine Eisen sind, und aus dessen Bergen du Erz
hauen wirst." (5. Mose 8, 7 — 9.)
Den reichen und mannigfaltigen Erzeugnissen des
heiligen Landes sind ohne Zweifel die Vergleichungen
unsers Textes größtenteils entnommen. Die Braut des
Herrn wird hier mit einem Garten, einem Lustgarten und
einer Quelle verglichen — so reich ist sie mit allem versehen,
was für Ihn wohlgefällig ist, so mannigfaltig ist
132
die Gnade des Heiligen Geistes in ihr wirksam. Für das
Herz ihres Herrn giebt es in ihr von dem Lieblichsten
und Köstlichsten die Fülle. „Narbe und Safran, Würzrohr
und Zimmet, nebst allerlei Weihrauchgehölz, Myrrhe
und Aloe nebst allen vortrefflichsten Gewürzen!"
Welche Worte! wie sollten wir über sie nachsinnen! Ein
Garten mit seinem herrlichen Blumenschmuck, mit seinen
zarten, wohlriechenden Pflanzen; ein Lustgarten mit
allerlei Fruchtbäumen und Ziergewächsen; eine Quelle,
die das Ganze belebt und erfrischt — wie zeigen uns
diese Vergleiche, was das Volk Gottes für Ihn sein sollte
in dieser bösen, finstern Welt! Wie ein lieblicher, duftender
Garten im Vergleich mit einer dürren, öden Wüste, so
sollte das Volk des Herrn sein im Vergleich mit den
Kindern dieser Welt. Doch wie steht es mit uns, geliebter
Leser? Offenbaren wir wirklich Frische, Wachstum
und Fruchtbarkeit in den Dingen des Herrn? Kann
Er in den Garten unsrer Herzen kommen „und die Ihm
köstliche Frucht essen"? Ihm sind alle unsre Gedanken
und Wege, all unser Thun und Lassen bekannt.
Beachten wir ferner, daß das erfreute Herz des
Bräutigams Seine Braut beschreibt als einen „verschlossenen
Garten, einen verschlossenen Born
und eine versiegelte Quelle". Sie ist alles das, und
sie ist es nur für Ihn. Ihre Augen wandern nicht
umher. Sie ist vollkommen zufrieden mit ihrem Teil in
ihrem Geliebten. Christus ist genug für sie. Er füllt
ihr ganzes Herz aus. Kein verlangender, kein einladender
Blick trifft einen Andern. „Mein Geliebter ist mein, und
ich bin Sein, der unter den Lilien weidet." Die Blüte,
die Frucht, der Wohlgeruch — alles ist für Ihn und für
133
Ihn allein. Ihr Garten ist für alle anderen verschlossen;
das königliche Siegel ist auf die Quelle des Königs gedrückt;
ihre Wasser sprudeln für Ihn allein. „Erkennet
doch, daß Jehova den Frommen für sich abgesondert
hat!" (Ps. 4, 3.) Kein Fremder darf
das anrühren, was des Königs Siegel trägt. „Doch der
feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: „Der
Herr kennt, die Sein sind"; und: „Jeder, der den Namen
des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit."
(2. Tim. 2, 19.) „Gieb mir, mein Sohn, dein
Herz", ist ein klares, deutliches Gebot. Lausche auf die
Stimme der Weisheit, meine Seele! Wenn du diesem
Gebote folgst, so kannst du kein Herz für die Welt haben.
Kein Mensch hat zwei Herzen, obgleich es leider zu Zeiten
scheint, als wenn wir zwei hätten. Laßt uns wachen und
auf unsrer Hut sein! Wenn der hochgelobte Herr mein
Herz besitzt, so habe ich keines für die Welt. Ein geteiltes
Herz kann Er nicht annehmen.
Die Worte „verschlossen" und „versiegelt" erwecken
auch den Gedanken an eine gänzliche, entschiedene Absonderung
des Gläubigen von der Welt. Gleich einem
Stück Land, das, wohl eingezäunt, bepflanzt und gepflegt,
nur für den Gebrauch des Eigentümers da ist, so ist auch
der Christ, obwohl in dieser Welt, doch nicht von der
Welt. Christus selbst sagt: „Sie sind nicht von der
Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin." Der Gläubige
ist hier als ein Diener Christi und sollte lernen,
alles für Ihn zu thun. „Alles was immer ihr thut,
im Wort oder im Werk, alles thut im Namen des
Herrn Jesu, danksagend Gott, dem Vater, durch Ihn."
(Kol. 3, 17.) Es mag sein, was es will, kleine oder
134
große Dinge, der Christ soll alles thun als einen Dienst
für seinen Herrn. Die einzige Frage für ihn ist: Wird
Christus hierdurch verherrlicht? diene ich Ihm? — Aber
ach! wie oft wird gefragt: Was ist denn Böses dabei?
und anstatt den Willen des Herrn zu thun, folgt man
seinem eignen Willen.
Der Apostel Paulus konnte sagen: „Das Leben ist
für mich Christus"; oder mit andern Worten: Zu leben
heißt für mich: Christum zu meinem Beweggrund, Christum
zu meinem Gegenstand, Christum als meine Kraft und
meinen Lohn zu haben. Das ist Absonderung von der
Welt und zugleich die Erweisung des bestmöglichen Dienstes
i n der Welt. Wenn das Auge unverrückt auf die Person
des Geliebten gerichtet bleibt, so ist das Herz von Ihm
erfüllt, der Blick klar, das Urteil gesund und der Dienst
gesegnet. Je näher wir bei der Quelle bleiben, desto
sicherer werden wir Segenskanäle für andere werden.
Wie die Quelle in der Wüste oder der Fluß in der
Ebene dem umliegenden Lande Nutzen bringt, so werden
auch wir für unsre Umgebung von Segen sein. „Wenn
jemanden dürstet", sagt Jesus, „so komme er zu mir und
trinke. Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt
hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen
Wassers fließen. Dies aber sagte Er von
dem Geiste, den die an Ihn Glaubenden empfangen
sollten." (Joh. 7, 37-39.)
Aus einem Herzen, das so mit Christo erfüllt ist
durch die Einwohnung des Heiligen Geistes, wird ein
gesegnetes Zeugnis für den auferstandenen und verherrlichten
Herrn hervorfließen; ja es sollte hervorfließen
gleich „Strömen lebendigen Wassers". Denn für dieses
135
Zeugnis ist der Gläubige seinem abwesenden Herrn gegenüber
verantwortlich. „Wer da sagt, daß er in Ihm
bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er
gewandelt hat." (1. Joh. 2, 6.) Hier betreten wir den
Boden wahrer christlicher Verantwortlichkeit. Bin ich ein
Christ, so bin ich verantwortlich, als solcher zu wandeln;
nicht damit ich einer werde, sondern weil ich einer bin,
weil ich mich durch das kostbare Blut Christi an dem
Platze der vollkommnen Gunst Gottes befinde. Bin ich
ein Kind Gottes, so sollte ich wandeln wie ein Kind; bin
ich ein Diener, wie ein Diener.
Unsrer Verantwortlichkeit als Menschen, als Kinder
des ersten Adam, ist durch unsern gepriesenen Herrn vollkommen
entsprochen worden, als Er für uns starb; und jetzt
entspringt unsere Verantwortlichkeit aus unserm neuen Verhältnis
zu Christo, dem letzten Adam, dem auferstandenen
und verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes. „Gleichwie
der Vater mich gesandt hat, sende ich auch euch." (Joh.
20, 21.) Dieser Auftrag wurde den Jüngern des
Herrn im allgemeinen, nicht nur den Aposteln, gegeben.
Und im Blick auf diese Sendung müssen wir alle am
Ende unsrer Laufbahn unserm Herrn und Meister Rechenschaft
geben. Ernste Wahrheit! „Ein jeder von uns
wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben." (Vergl.
Röm. 14, l0 —12.) Wo wird dies geschehen? Vor dem
Richterstuhl Christi, vor welchem wir einst alle offenbar
werden müssen.
Es mag hier ani Platze sein, einige Bemerkungen
über den Richterstuhl Christi einzuflechten, da manche
Seelen über diesen Gegenstand unklar und oft auch beunruhigt
sind.
136
Zunächst ist zu beachten, daß die Person des
Gläubigen nie mehr ins Gericht kommen kann. „Er ist
aus dem Tode in das Leben hinübergegangen." (Joh.
5, 24.) Er ist „von allem gerechtfertigt". Christus ist
um seiner Uebertretungen willen dahingegeben worden, und
diese sind für immer dahin; Sein Name sei gepriesen!
Er wurde um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt;
und was nun? Auferstanden mit Christo, ist der Gläubige
mit Christo verbunden in Seinem Leben und Seiner
ganzen Annehmlichkeit vor Gott. „Also ist jetzt keine
Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind."
(Vergl. Röm. 4, 25; 5, 1. 2; 8, 1.) Der Gläubige
selbst kann also nie mehr ins Gericht kommen. Ueberdies
ist er, wenn er vor dem Richterstuhl Christi erscheint,
bereits in seinem verherrlichten Leibe, dem Herrn selbst
gleichgestaltet. „Der unsern Leib der Niedrigkeit umgestalten
wird zur Gleichförmigkeit mit Seinem Leibe der
Herrlichkeit, nach der wirksamen Kraft, mit der Er vermag,
auch alle Dinge sich zu unterwerfen." (Phil. 3, 21.)
Wie weit entfernt diese herrliche Wahrheit jeden Gedanken
an ein Gerichtetwerden des Gläubigen! Er wird verherrlicht,
ehe er vor den Richterstuhl gerufen wird, und
weiß, daß er ein Miterbe Christi ist und sich in derselben
Herrlichkeit befindet wie Er.
Die Sünden und Vergehungen des Christen
können ebenfalls nicht mehr ins Gericht kommen. Christus
hat dafür bereits am Kreuze gelitten und sie durch Sein
Opfer auf immerdar hinweggethan. Ein zweites Gericht
der Sünden des Gläubigen kann nicht stattfinden. Sie
sind alle von Jesu getragen und gesühnt: „Welcher selbst
unsre Sünden an Seinem Leibe auf das Holz getragen
137
hat, auf daß wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit
leben, durch dessen Striemen ihr heil geworden
seid." (1. Petr. 2, 24.) Das Werk Christi auf dem
Kreuze, als Stellvertreter Seines Volkes, war so vollkommen,
daß .nicht die geringste Frage hinsichtlich der
Sünde ungeordnet geblieben ist. Als Er ausrief: „Es
ist vollbracht!" war jede Frage für immer und ewig
in Ordnung gebracht; und auf Grund dieses vollbrachten
Werkes begegnet die göttliche Liebe dem vornehmsten der
Sünder in all den Reichtümern der Gnade Gottes. Alle
Sünden des Gläubigen sind getilgt und vergeben; ja,
Gott will ihrer nie mehr gedenken. „Denn durch ein
Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die
geheiligt werden." (Hebr. 10.)
Allein obwohl weder die Person, noch die
Sünden und Vergehungen des Gläubigen Gegenstände
des Gerichts an jenem Tage sein können, giebt
es doch etwas, was vor den Richterstuhl Christi gebracht
werden wird; und das sind die Werke des Gläubigen
als eines Dieners Christi. Deshalb ermahnt der Apostel
uns so ernst und treu: „Daher, meine geliebten Brüder,
seid fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werke
des Herrn, da ihr wisset, daß eure Mühe nicht vergeblich
ist im Herrn". (1. Kor. 15, 58.) Nachdem er lange
bei der Auferstehung des Leibes verweilt hat, kommt er
schließlich zu dem, was man die Auferstehung der
Werke nennen könnte. „Das Werk eines jeden wird
offenbar werden, denn der Tag wird's klar machen, weil
er in Feuer geoffenbart wird." — „So urteilet nicht
etwas vor der Zeit, bis der Herr kommt, welcher auch
das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die
138
Ratschläge der Herzen offenbaren wird; und dann wird
einem jedem sein Lob werden von Gott." (1. Kor. 3. 4.)
Diese Dinge sind ernst; aber ein aufrichtiges Herz denkt
nicht mit Furcht und Schrecken an jene Offenbarwerdung
vor dem Richterstuhl Christi, sondern betrachtet sie im
Gegenteil als eines seiner größten Vorrechte. Denn dann
wird sich das Wort erfüllen: „Ich werde erkennen, wie
auch ich erkannt worden bin."
Gott ist Licht, und Gott ist Liebe; und Seine Liebe will
Seine Kinder in dem Lichte haben, wie Er selbst im Lichte
ist. „Gott ist Licht, und gar keine Finsternis ist in Ihm."
(1. Joh. 1, 5.) Unsre neue, göttliche Natur liebt das Licht
und erfreut sich darin. Die geringste Finsternis wird als
eine unerträgliche Bürde von ihr gefühlt. Im Lichte sein
heißt offenbar sein; denn das Licht macht alles offenbar.
Und wer von uns möchte wünschen, daß ein einziger
Moment in unsrer Geschichte, mit all ihren gnädigen,
liebevollen Führungen Gottes, im Dunkeln bliebe! Das
Herz schrickt vor einem solchen Gedanken zurück, trotz all
unsrer Schwachheit und Verkehrtheit. „Denn wir müssen
alle geoffenbart werden vor dem Richterstuhl des Christus,
auf daß ein jeder empfange, was er in dem Leibe gethan,
nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder BöseS."
(2. Kor. 5, 10.) Wenn einmal mein ganzer Lebenslauf
in dem Lichte Gottes geoffenbart sein wird, so werde ich
erkennen, wie ich selbst erkannt worden bin. Mein Urteil
über alles, was in diesem Leben gut oder böse war,
wird mit dem vollkommnen Urteil Gottes übereinstimmen.
Alles was ich für Christum gethan habe, als Frucht
Seiner Gnade in mir, wird von Ihm anerkannt und belohnt
werden. Was nur aus der Energie meiner Natur
139
hervorgegangen ist, wird unbelohnt bleiben. Alles was
der Geist Christi in uns hervorgebracht hat, wird in dem
Lichte des Richterstuhls, getrennt von aller menschlichen
Beimischung, in herrlichem Glanze strahlen. Mancher
selbstverleugnende Dienst, der anscheinend mit den besten
Beweggründen begonnen, aber nicht mit Mitteln ausgeführt
worden ist, welche das Wort Gottes billigt, wird
mit göttlicher Genauigkeit geprüft und zerlegt werden.
Alles Gute wird der Herr sicherlich in überströmender
Fülle belohnen; ja, selbst mancher heilige Vorsatz, der
die Verherrlichung des Herrn zum Gegenstände hatte, aber
nie zur Ausführung gebracht werden konnte, wird dort
im Lichte gesehen werden und volle Vergeltung empfangen.
Der geringste Dienst, der hienieden für Ihn gethan worden
ist, wird an jenem Tage nicht übersetzen werden. „Denn
wer irgend euch mit einem Becher Wassers tränken wird
in meinem Namen, weil ihr Christi seid, wahrlich, ich
sage euch: er wird seinen Lohn nicht verlieren." (Mark.
9, 41.) Auch wird es sich an jenem Tage zeigen, was
uns verhindert hat, mehr Gutes zu thun, trotz des
Lichtes, das wir hatten, und trotz der Gnade, die wir
genossen. Manches vermeintlich Schöne und Große wird
dort zu einem Nichts zusammenschrumpfen; manche unscheinbare
und unbeachtet gebliebene That der Liebe wird
ans Licht gezogen und in ungeahnter Weise belohnt werden.
Nichtsdestoweniger wird jeder Einzelne den ihm vom Vater
bereiteten Platz haben, und wir werden voll und ganz
erkennen, wie viel wir unserm hochgelobten Herrn verdanken.
Ja, erst dann werden wir sehen, was Er für
uns gewesen ist und was alles Er von uns zu ertragen
hatte. In dem vollen Lichte Seiner Gegenwart werden
140
wir die Liebe jenes Herzens erkennen, das sich stets über
alle unsre Unwürdigkeit erhob und sich immer wieder in
derselben Geduld, Liebe und unermüdlichen Güte offenbarte.
Und dann werden wir auch die Tausende und
aber Tausende von Fällen sehen, in welchen wir in dem
Hochmut unsrer Herzen uns selbst zu gefallen und zu erheben
suchten, anstatt in Demut dem Herrn Jesu zu
dienen, Ihn zu erheben und Ihn zu unserm Ein und
Alles zu machen.
Die langmütige, zärtliche Liebe Jesu, die uns so
viele Jahre hindurch getragen und geleitet hat, wird dann
in all ihrer Vollkommenheit von uns erkannt und verstanden
werden; und die lieblichen Erinnerungen an diese
Liebe, die an Kraft und Tiefe alles Denken übersteigt,
wird unsre Seelen mit tiefer Bewunderung und Anbetung
erfüllen und unser lautes Lob wachrufen in alle Ewigkeit.
Auch werden an jenem Tage Seine vielen wunderbaren
Eingriffe in unser Leben vor wie nach unsrer Bekehrung
nicht vergessen sein. Wir werden einen Blick
thun in die hinter uns liegenden Tage, wie wir ihn
vorher nie gethan haben, nie zu thun vermochten. Wir
werden sehen, wie oft wir unbewußt in Gefahr gestanden
haben, von Satan ins Verderben gestürzt zu werden; wie
aber unser geliebter, anbetungswürdiger Herr Seinen Arm
um uns geschlungen und uns sanft und sicher von dem
schlüpfrigen Boden, auf dem wir standen, zurückgeführt hat.
Wahrlich, wir werden mit überströmenden Herzen uns aus
der Gegenwart des Richterstuhls entfernen und wissen,
wozu die goldnen Harfen im Himmel dienen. Der Strom
der Freude, der sich gerade dort für uns erschließen wird,
wird fortfließen in immer zunehmender Fülle und Frische
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Die Vorbilder des 3. Buches Mose.
(Fortsetzung.)
Das Speisopfer.
Wir kommen jetzt zu dem Speisopfer. Dasselbe
stellt uns Christum in Seiner Menschheit dar, Seine
Gnade und Vollkommenheit als ein lebender Mensch, aber
doch als Gott geopfert. Es bestand aus feinem Mehl,
das mit Oel vermischt und mit Weihrauch belegt wurde.
Das Oel wurde in zweierlei Weise angewandt: es gab
Kuchen, gemengt mit Oel, und Fladen, gesalbt mit
Oel. (2. Mose 29, 2; 3. Mose 7, 12.) In Christo
mußte die Darbringung als Opfer bis in den Tod und
Seine Unterwerfung unter den Tod den ersten Platz haben;
denn ohne die Vollkommenheit dieses Gehorsams, selbst
bis zum Tode, hätte nichts angenommen werden können.
Da aber dieser Gehorsam von Anfang an vollkommen
war, (denn Christus kam, um den Willen Seines Vaters
zu thun,) so war Sein ganzes Leben als Mensch vollkommen
und annehmlich vor Gott, ein Wohlgeruch unter der
Prüfung Gottes. Abel wurde auf Grund des Blutes
angenommen; Kain, der als ein natürlicher Mensch nur
die Frucht seiner Arbeit und Mühe opferte, wurde verworfen.
Alles was unsre natürlichen Herzen Gott darbringen
können, ist nichts als „Opfer der Thoren"; es
142
geht hervor aus der Härte dieser Herzen, die weder unser!
Zustand, noch unser Verderben und unsre Entfernung von
Gott anerkennen. In der That, welch eine Herzens-
härtigkeit zeigt sich in Kain! Aus dem Garten Eden
vertrieben und den Folgen der Sünde unterworfen, tritt
er vor Gott hin mit Opfern, die der Preis einer als
Strafe auferlegten Arbeit und des auf die Sünde folgenden
Fluches waren, ganz so als wenn gar nichts geschehen
wäre. Es war der Gipfelpunkt der Verhärtung
und Verblendung des Herzens.
Die erste Handlung Adams bestand darin, seinen
eignen Willen zu thun und durch seinen Ungehorsam sich
und seine ganze Nachkommenschaft ins Elend zu stürzen.
Christus dagegen ist in diese Welt des Elends eingetreten,
indem Er sich aus Liebe hingab, den Willen des Vaters
zu thun. Er kam hernieder und machte sich selbst zu
nichts, um, koste es was es wolle, Gott zu verherrlichen.
Er war in dieser Welt der gehorsame, unterwürfige Mensch,
dessen Wille nur darin bestand, den Willen Seines Vaters
zu thun — die erste große Handlung und zu gleicher Zeit
die Quelle alles menschlichen Gehorsams und der Verherrlichung
Gottes durch denselben. Dieser Gehorsamswille
und diese Hingebung an die Verherrlichung Seines Vaters
verlieh allem, was Er that, einen lieblichen Geruch. Alle
Seine Werke strömten diesen Wohlgeruch aus. Man kann
das Evangelium Johannes, in welchem die Person des Herrn,
das was Er war, in besonderer Weise uns entgegenstrahlt,
unmöglich lesen, ohne bei jeder Gelegenheit diesem Wohlgeruch
des Gehorsams, der Liebe und der völligen Selbstverleugnung
zu begegnen. Daher kommt es auch, daß
gerade dieses Evangelium das Herz so sehr anzieht und
143
Zugleich den Unglauben abstößt. Es ist nicht eine Geschichte
; es ist Christus selbst, den man hier sieht, sowie
die Bosheit des Menschen, die sich einen Weg erzwingt
durch die heilige Hülle, mit welcher die Liebe Seine Herrlichkeit
umgeben hatte, und die den mit Niedrigkeit umkleideten
Jesus nötigt, ans Acht zu treten und diese
Herrlichkeit zu offenbaren. Es ist dieses göttliche Wesen,
das im Geiste der Sanftmut durch eine Welt ging, die
Ihn verwarf; und selbst dann wenn Er genötigt ist, sich
zu zeigen, dient es doch nur dazu, Seiner freiwilligen, nie
wankenden Selbsterniedrigung ihre ganze Kraft und Schönheit
zu verleihen, sogar in den Fällen, wo Er gezwungen
ist, Seine Göttlichkeit zu bekennen. Er war allerdings
der „Ich bin" des Alten Testaments, aber jetzt in der
Erniedrigung und einsamen Stellung des vollkommensten
und demütigsten Gehorsams. Da war kein geheimes Verlangen
in Ihm, inmitten Seiner Erniedrigung einen Platz
behaupten zu wollen. Sein Herz kannte keinen andern
Wunsch, als Seinen Vater zu verherrlichen. Der „Ich
bin" war da, aber in der Vollkommenheit des menschlichen
Gehorsams. Das ist es, was überall zum Vorschein
kommt. Tritt der Versucher an Ihn heran, so ist Seine
beständige Antwort: „Es steht geschrieben!" — „Es
steht geschrieben: Nicht vom Brote allein soll der Mensch
leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund
Gottes ausgeht." (Matth. 4, 4.) Zu Johannes dem
Täufer sagt Er: „Laß es jetzt so sein; denn also gebührt
es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen"; und zu Petrus
bei einer andern Gelegenheit: „Demnach sind die Söhne
frei . . . aber gieb ihnen für mich und dich."
(Matth. 3, 15; 17, 26. 27.)
144
Soweit das Geschichtliche; im Evangelium Johannes,
wo, wie bereits bemerkt, die Person Christi selbst mehr
hervortritt, redet Er von diesem Gehorsam in einer noch
unmittelbareren Weise: „Dieses Gebot habe ich von meinem
Vater empfangen . . . , und ich weiß, daß Sein Gebot
ewiges Leben ist." — „Ich thue, wie mir der Vater geboten
hat." — „Der Sohn kann nichts von sich selbst
thun, außer was Er den Vater thun sieht." — „Ich
habe die Gebote meines Vaters gehalten, und bleibe in
Seiner Liebe." — „Wenn jemand am Tage wandelt, stößt
er nicht an." Manche der angeführten Worte wurden
bei Gelegenheiten gesprochen, wo das fleißige Glaubensauge
durch die heilige Erniedrigung des Heilandes hindurch
Seine Gottheit erblickt — Gott, den Sohn, dessen Schönheit
nur umso herrlicher strahlt, weil Er sich also verbirgt;
gerade so wie die Sonne, welche das menschliche Auge
nicht fest anzuschauen vermag, die Kraft ihrer Strahlen
darin zeigt, daß sie durch die Wolken hindurch ein völliges
Licht giebt. Die Wolken verhüllen und mildern die
Strahlen. Obgleich Gott sich erniedrigt, ist Er doch
nichtsdestoweniger Gott. Stets ist Er es, der dies thut.
„Er konnte nicht verborgen sein."
Dieser unbedingte Gehorsam verbreitete einen duftenden
Wohlgeruch über alles, was Christus that. Er erschien
stets wie ein Gesandter. Er suchte die Herrlichkeit
des Vaters, der Ihn gesandt hatte. Er errettete einen
jeden, der zu Ihm kam, weil Er nicht gekommen war,
um Seinen eignen Willen zu thun, sondern den Willen
Dessen, der Ihn gesandt hatte; und da die Sünder nicht
zu Ihm kommen konnten, es sei denn daß der Vater sie
zog, so war ihr Kommen gleichsam die Ermächtigung für
145
Ihn, sie zu erretten, denn Er mußte unbedingt den Willen
des Vaters thun. Welch ein Geist des Gehorsams tritt
uns hier entgegen! Wer sind die, die Er errettet? Alle
diejenigen, welche der Vater Ihm, dem allezeit Seinem
Willen unterworfenen Diener, giebt. Verheißt Er ihnen
die Herrlichkeit? „Es steht nicht bei mir", sagt Er, „sie
zu vergeben, sondern ist für die, welchen sie von meinem
Vater bereitet ist." — Er muß auch belohnen nach Seines
Vaters Willen; Er selbst ist nichts, aber Er muß alles
ausführen, was dem Vater gefällt Ihm zu gebieten.
Dennoch, wer hätte dies thun können, als nur Er, der
die Macht und zugleich den Willen hatte, alles zu thun,
was der Vater gethan haben wollte? Die unendliche
Größe des Werkes, die Fähigkeit, ein solches Werk zu
erfüllen, und die Macht, alles zu thun, was irgend der
Vater wollte, gingen Hand in Hand mit einem Gehorsam,
der keinen andern Willen kannte, als den Willen eines
Andern zu thun. Dennoch war Christus ein einfacher,
demütiger, niedriggesinnter Mensch.
Sehen wir jetzt, wie diese Menschheit für das in
Rede stehende Werk paßte. Das Speisopfer Gottes, von
der Frucht der Erde genommen, bestand aus dem feinsten
Mehl. Alles was die menschliche Natur an Reinem und
Lieblichem in all ihrem Elend besaß, fand sich in seiner
ganzen Vortrefflichkeit in Jesu, der von der Sünde abgesondert,
aber all den Trübsalen unterworfen war, welche
die Sünde nach sich gezogen hat. In Ihm gab eS keine
Unebenheit, keine besonders hervorstechende Eigenschaft, die
dazu angethan gewesen wäre, ihm einen bestimmten Charakter
aufzuprägen. Er war, obgleich verachtet und von
den Menschen verworfen, die Vollkommenheit der mensch
146
lichen Natur. Man fand in Ihm in vollkommner Weise
das feine Gefühl, die Festigkeit, die Entschiedenheit (letztere
auch in Verbindung mit dem Grundsatz des Gehorsams),
die Erhabenheit, die Sanftmut und Demut, welche dieser
Natur angehören.
In einem Paulus finde ich Thatkraft und rastlosen
Eifer; in einem Petrus glühende Zuneigungen des Herzens;
in einem Johannes eine zarte Emviindsamkeit, verbunden
mit einem keine Schranken kennenden Verlangen,
die Rechte Dessen zu verteidigen, den er liebte. Aber die
genannten Eigenschaften waren in diesen Männern vorherrschend
und charakterisierten sie. Paulus bereute
es nicht, seinen ersten Brief an die Korinther geschrieben
zu haben, obgleich es ihn gereut hatte. (2. Kor. 7, 8.)
Er hatte keine Ruhe in seinem Geiste, weil er Titus,
seinen Bruder, nicht fand; er zog fort nach Macedonien,
obgleich der Herr ihm eine Thür in Troas aufgethan
hatte. (2. Kor. 2, 13.) Er wußte nicht, als er vor dem
Synedrium stand, daß es der Hohepriester war. (Apostgsch.
23, 5.) Er war gezwungen, sich zu rühmen. (2. Kor.
12, 11.) Bei Petrus, dem treuen und eifrigen Manne,
in welchem Gott so mächtig wirkte für das Apostelamt
der Beschneidung, gab sich Menschenfurcht kund. (Gal. 2,
8. 12.) Und Johannes, der in seinem Eifer die Rechte
und die Herrlichkeit Jesu verteidigen wollte, wußte nicht,
weß Geistes er war, und wollte sich der Verherrlichung
Gottes widersetzen, weil der, welcher für sie eintrat, nicht
mit ihnen wandelte. (Luk. 9, 49—56.) Solche waren
Paulus, Petrus und Johannes — Männer, die Säulen
zu sein schienen.
Aber in dem Menschen Jesus finden wir nichts von
147
dieser Unebenheit. In seinem Charakter giebt es nichts Hervorstechendes,
weil in Seiner Menschheit alles Gott vollkommen
unterworfen war. Jeder Zug Seines Charakters hatte
seinen Platz, trat ans Licht und handelte zu seiner Zeit,
und verschwand dann wieder. Gott wurde verherrlicht,
und alles stand in völliger Harmonie. Wenn Ihm Sanftmut
geziemte, so war Er sanftmütig; wenn Zorn am Platze
war, wer hätte dann der überwältigenden Kraft Seiner
Verweise widerstehen können? War Gnade nötig, so zeigte
Er sich voll Mitgefühl gegen den verkommensten Sünder,
ohne sich im Geringsten durch das herzlose, stolze Wesen
eines kalten Pharisäers beeinflussen zu lassen, dem es nur
darum ging zu erforschen, wer Jesus war. (Vergl. Luk. 7.)
Als die Stunde des Gerichts gekommen war, konnten die
Thränen derer, die Ihn beweinten, Ihm keine andern
Worte entlocken als: „Weinet nicht über mich, sondern
weinet über euch selbst und über eure Kinder" — Worte,
die ein tiefes Mitgefühl, aber zugleich auch eine völlige
Unterwerfung unter das verdiente Gericht Gottes ausdrückten.
Das dürre Holz bereitete sich seine Verbrennung
selbst zu. Voller Zärtlichkeit gegen Seine Mutter, vertraute
Er sie, nachdem Er Sein Werk am Kreuze vollbracht
hatte, der liebenden Sorge dessen an, der so zu
sagen Sein Freund gewesen war und an Seiner Brust
gelegen hatte; aber Er war taub gegen ihre Worte und
Bitten, so lange Er mit dem Dienste Gottes beschäftigt war.
Alles befand sich an seinem richtigen Platze, mochte Er vor
Seinem öffentlichen Auftreten in dieser Welt zeigen, daß
Er Gott war, oder (als Mensch und unter Gesetz geboren)
der Mutter, die Ihn trug, und Joseph unterwürfig sein.
Man sah ferner in Ihm eine Ruhe, welche Seine Gegner
148
außer Fassung brachte; und mit dieser moralischen Kraft,
welche die Gegner bisweilen niederschmetterte, vermischte
sich eine Sanftmut, die alle Herzen anzog, welche noch
nicht durch einen vorsätzlichen Widerstand verhärtet waren.
Wenn es sich darum handelte, zwischen Bösem und Gutem
zu unterscheiden, war Er wie eine scharfgeschliffene Schneide.
In dieser letzteren Hinsicht thaten der Charakter und die
Person Jesu moralisch das, was die Macht des Heiligen
Geistes später vollführte, indem sie das Böse und das
Gute zwang, sich in einem offnen Bekenntnis zu offenbaren.
Abgesehen von der Bersöhnung, wurde ein gewaltiges
Werk von Dem vollbracht, der, nach dem äußern
Ergebnis zu urteilen, „sich umsonst abmühte". (Jes. 49.)
Ueberall da, wo ein Ohr war, um zu hören, redete die
Stimme Gottes mittelst dieses Charakters des Menschen
Jesus zu den Herzen und Gewissen Seiner Schafe. Er
ging durch die Thür ein, und der Thürhüter that Ihm
auf, und die Schafe hörten Seine Stimme. Die voll-
kommne Menschheit Jesu, die sich in allen Seinen Wegen
kundgab und nach dem Willen Gottes in die Herzen drang,
richtete alles, was ihr im Menschen begegnete, bis auf den
Grund der Seele.
Doch wir haben uns von dem eigentlichen Gegenstand
unsrer Betrachtung entfernt. Mit einem Worte denn:
die Menschheit Christi war vollkommen, völlig Gott unterworfen
; alles entsprach Seinem Willen und stand deshalb
notwendigerweise im Einklang unter einander. Die Hand,
welche die Saiten berührte, fand sie alle wohl gestimmt.
Alles entsprach hier den Gedanken Gottes, dessen Ratschlüsse
der Gnade, der Heiligkeit und Güte, und gleichwohl
des Gerichts hinsichtlich des Bösen, dessen Segens
149
und Barmherzigkeitsfülle — eine süße Melodie für jedes
ermüdete Ohr — ihren Ausdruck in Christo fanden, und
in Ihm allein. Jedes Element, jede Fähigkeit Seiner
menschlichen Natur gehorchte dem Antrieb, den ihm der
göttliche Wille gab, hörte dann auf zu wirken und zog
sich in eine Ruhe zurück, in welcher das Ich keinen Raum
fand. So war Christus in Seiner Menschheit. Obwohl
fest und entschieden, wenn die Gelegenheit es erforderte,
war doch die Sanftmut dasjenige, was Ihn charakterisierte,
weil Er in der Gegenwart Gottes, Seines Gottes, war;
und Er war dies alles inmitten des Bösen. Man hörte
Seine Stimme nicht auf den Straßen; denn die Freude
kann da in lauteren Tönen hervorbrechen, wo alles den
Ruf wiederhallen läßt: „Preis sei Seinem Namen und
Seiner Herrlichkeit!"
Doch dieses Freisein der menschlichen Natur unsers
Herrn von jedem Fehler war mit noch tieferen und wichtigeren
Quellen verbunden, die uns in unserm Vorbilde
in zweierlei Weise, negativ und positiv, vorgestellt werden.
Wenn jede Fähigkeit dieser Natur also dem göttlichen
Antrieb gehorchte und ihm nur als Werkzeug diente, so
liegt es auf der Hand, daß der Wille richtig sein, daß
der Geist und der Grundsatz des Gehorsams die Quelle
desselben sein mußte; denn gerade die Thätigkeit eines
unabhängigen Willens ist der Grundsatz der Sünde.
Christus hatte das Recht, einen unabhängigen Willen zu
besitzen: „Der Sohn macht lebendig, welche Er will;"
aber Er kam, um den Willen Seines Vaters zu thun.
Sein Wille war, zu gehorchen; deshalb war es ein voll-
kommner und sündloser Wille.
In dem Worte Gottes ist der Sauerteig stets ein
150
Sinnbild des Verderbens: „Der Sauerteig der Bosheit
und Schlechtigkeit". Deshalb gab es in dem Kuchen, den
man Gott zum lieblichen Geruch opferte, keinen Sauerteig;
alles, worin sich Sauerteig befand, konnte Jehova nicht
zum lieblichen Geruch dargebracht werden. Wir sehen dies
deutlich in dem Falle, wo gesäuerte Kuchen dargebracht
werden mußten; es war verboten, sie als ein Opfer lieblichen
Geruchs, als ein Feueropfer darzubringen. Es gab
zwei Fälle, in welchen die Kuchen mit Sauerteig gebacken
werden durften; der eine dieser beiden, der wichtigste und
bezeichnendste, findet sich in dem Kapitel, das wir betrachten,
und genügt, um den Grundsatz, mit dem wir
uns beschäftigen, klar zu stellen.
Wenn die Erstlinge dargebracht wurden, fügte man
ihnen zwei mit Sauerteig gebackene Brote bei, aber nicht
als ein Opfer lieblichen Geruchs. Man opferte auch
Brandopfer und Speisopfer, und diese zum lieblichen Geruch
; nicht aber das Opfer der Erstlinge. (Vergl. 3. Mose
2, 11. 12 und 23, 15—21.) Und was stellten diese
Erstlinge dar? — die Kirche, geheiligt durch den Heiligen
Geist. Denn dieses Fest der Erstlinge oder der Erstlingsfrüchte
war das wohlbekannte Vorbild des Pfingstfestes,
es war thatsächlich das Pfingstfest. „Wir^sind", sagt der
Apostel Jakobus, „eine gewisse Erstlingsfrucht Seiner
Geschöpfe." In 3. Mose 23, 10—14 sehen wir, daß
am Auferstehungstage Christi eine Garbe der Erstlinge
der Ernte dargebracht wurde, Kornähren, die weder ausgeschlagen
noch geschroten waren. Hier konnte offenbar
von Sauerteig keine Rede sein: Jesus ist auferstanden,
ohne die Verwesung gesehen zu haben. Auch begleitete
diese Darbringung der Erstlingsgarbe kein^ Sündopfer;
151
wenn man aber die mit Sauerteig gebackenen Brote
darbrachte, welche die durch den Heiligen Geist geheiligte
Kirche darstellten, deren Glieder aber noch eine verdorbene
Natur besitzen, opferte man zu gleicher Zeit ein Opfer
für die Sünde. (3. Mose 23, 17. 19.) Denn das Opfer
Christi ist diesem Sauerteig unsrer verderbten Natur begegnet,
die zwar durch die Thätigkeit des Heiligen Geistes
überwunden wird, aber nicht aufhört zu existieren. Diese
verdorbene Natur konnte in der Erprobung durch das
Gericht Gottes nicht von lieblichem Geruch sein, und deshalb
auch nicht als ein Feueropfer lieblichen Geruchs vor
Jehova erscheinen; mittelst des Opfers Christi aber, das
dem Bösen begegnet ist und eine Sühnung desselben zuwege
gebracht hat, konnte sie Gott dargebracht werden.
Deshalb wird nicht nur gesagt, daß Christus sich für
unsre Sünden hingegeben hat, sondern auch: „Das dem
Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war,
that Gott, indem Er, Seinen eignen Sohn in Gleichheit
des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die
Sünde im Fleische verurteilte." (Röm. 8, 3.) Gott
hat die Sünde im Fleische gerichtet, und zwar indem
Christus Sühnung dafür that, indem Er das Gericht,
das die Sünde verdiente, auf sich nahm und für uns zur
Sünde gemacht wurde; damit starb Er zugleich der Sünde,
so daß wir das Recht und die Pflicht haben, uns der
Sünde für tot zu halten. Es ist wichtig für ein beunruhigtes,
aber zartes und treues Gewissen, sich daran
zu erinnern, daß Christus nicht nur für unsre Sünden,
sondern auch für unsre Sünde gestorben ist; denn die
in uns wohnende Sünde beunruhigt ein treues Gewissen
weit mehr als viele vergangene Sünden.
152
Die Brote also, welche die Kirche darstellten, wurden
gesäuert gebacken und konnten nicht als ein Opfer lieblichen
Geruchs dargebracht werden; das Speisopfer dagegen,
welches Christum vorstellte, war ohne Sauerteig, „ein Feueropfer
lieblichen Geruchs dem Jehova". Die Feuerprobe
des Gerichts Gottes fand in Christo einen vollkommnen
Willen; in Ihm gab es nichts Böses, keine Spur von
einem Geiste der Unabhängigkeit. „Dein Wille geschehe!"
das war es, was die menschliche Natur des Heilandes
charakterisierte, in welchem die Fülle der Gottheit leibhaftig
wohnte, der aber gleichwohl der Mensch Jesus, das Opfer
Gottes war.
Beiläufig möchte ich bemerken, daß wir bei den Dankoder
Friedensopfern ein weiteres Beispiel von diesem
Gegensatz finden. Bei diesen Opfern hatte Christus Sein
Teil, und der Mensch ebenfalls. Deshalb gab es ungesäuerte
Kuchen und gesäuerte Brote. (S. 3. Mose
7, 12. 13.) Die letzteren, welche den Anteil der Kirche
an dem Opfer Christi darstellen, führten notwendigerweise
den Menschen ein; darum war der Sauerteig da, dieses
stete Sinnbild des Bösen, das sich in uns vorfindet. Die
Kirche ist zur Heiligkeit berufen; das Leben Christi in
uns ist „Heiligkeit dem Herrn". Aber es bleibt immer
wahr, daß in uns, das ist in unserm Fleische, nichts
Gutes wohnt.
(Fortsetzung folgt.)
153
„Wache auf, Nordwind, und komme,
Südwind!"
(Hohel. 4, 46; 5, 1—5.)
„Wache auf, Nordwind, und komme, Südwind;
durchwehe meinen Garten, laß träufeln seine Wohlgerüche!"
Das Wort „Wind" wird in der Schrift wiederholt gebraucht
mit Bezug auf den Heiligen Geist; und dieser
Vers hier scheint ein Gebet zu enthalten, daß der Geist
Gottes in Seinen verschiedenen Weisen in den Herzen
des Volkes Gottes wirken möge. „Durchwehe meinen
Garten, laß träufeln seine Wohlgerüche!" In dem Weinberge
des Herrn giebt es „vortreffliche Gewürze", allein
etwas ist nötig, um sie zum Ausströmen ihres Wohlgeruchs
zu bringen. Der Herr ist gerade in Seinem Garten
umhergegangen und hat die herrlichen Gewächse darin
betrachtet und sie mit Namen genannt. (V. 12—15.)
Er kennt jede Pflanze Seines Gartens ganz genau;
und als sie gepflanzt wurde, welch reiche Sorgfalt ist ihr
zu teil geworden, und welch reiche Frücht sollte hervorkommen!
Sie sind alle von Seiner Rechten gepflanzt,
„damit sie genannt werden Terebinthen der Gerechtigkeit,
eine Pflanzung Jehovas, zu Seiner Verherrlichung".
(Ps. 80, 15; Jes. 61, 3.) Aber zuweilen kommt eine
todesähnliche Stille über die ganze Pflanzung, von welcher
alt und jung angesteckt wird. Die wohlriechenden Zweige
und Gewächse lassen trauernd ihre Spitzen hängen; sie
geben sich dem Wehen des Geistes nicht hin, so daß der
balsamische Duft nicht gelöst noch von dem Winde weitergetragen
werden kann. „Wache auf, Nordwind, und
komme, Südwind!" ist dann der Ruf des treuen, ge
154
duldigen Gärtners, „durchwehe meinen Garten". Ein
scharfer, kühler Nordwind oder ein liebliches, erquickendes
Lüstchen aus dem Süden mag dazu dienen, das Volk des
Herrn aus einem Zustande betrübender Nachlässigkeit und
Trägheit aufzuwecken. Aber wie köstlich ist der Gedanke!
der Besitzer des Gartens, der jede Pflanze in ihm genau
kennt, hat sowohl den fächelnden Südwind wie den stürmischen
Nord in Seiner Hand. Und Er läßt allen Seinen
zarten, kostbaren Pflanzen gerade das richtige Maß von
dem einen wie von dem andern zukommen.
„Noch über ein Kleines", und sie alle werden in
das lieblichere Klima des Paradieses droben verpflanzt
werden. Dort wird der durchdringende Nordwind der
Trübsal und Züchtigung nicht länger nötig sein. In
jenen wolkenlosen Regionen ewigen Friedens wird nichts
mehr das Blatt ausdörren, die Knospe knicken, die Blüte
welken machen oder die Frucht am Wachstum verhindern.
Genug, mehr als genug haben wir davon gesehen in dieser
unsrer kalten Welt. O komm, du herrlicher, glücklicher
Tag, der uns auf ewig dieser Wüste entführen wird, wo
Drangsale und Kümmernisse oft kommen wie ein Wirbelwind,
als sollte die schwache Pflanze mit Stamm und
Wurzeln umgerissen werden; wo Schmerz und Trauer oft
das Herz erfüllen und Scham das Angesicht bedeckt,
weil wir in dem Guten so fruchtleer und in dem Bösen
so fruchtbar gewesen sind! Dann, ja dann wird alles
Böse für immer hinter uns liegen; kein Kummer, kein
Krebs, kein Wurm mehr ewiglich! Gewurzelt in dem
reinen Boden des Himmels und unaufhörlich den Tau
der göttlichen Liebe trinkend, werden wir blühen und
Früchte tragen zur unaussprechlichen Freude des Vater
155
Herzens und zur Verherrlichung unsers anbetungswürdigen
Herrn.
Herr, gieb, daß wir uns alle Deiner Pflege willig
hingeben, und daß unsre Herzen Deinen Geist wirken
lassen, damit in unserm Leben sich die Frucht und der
Wohlgeruch zeigen, die Dir so köstlich sind! — O möchten
wir alle stets fähig sein zu sagen: „Mein Geliebter
komme in Seinen Garten und esse die Ihm
köstliche Frucht!" Nur wenige Worte spricht die
Braut in diesem herrlichen Kapitel; aber es sind schöne,
gesegnete Worte. „Mein Geliebter." Sie fühlt sich
daheim, sie ist glücklich in Seiner Gegenwart. Er, Er
selbst ist ihr Teil. Sie weiß es, und sie genießt es. Er
ist ihr geliebter Herr und Heiland. „Mein Geliebter",
sagt sie; aber wenn sie von dem Garten spricht, so nennt
sie ihn „Seinen Garten", und von der Frucht sagt sie:
„die Ihm köstliche Frucht". Das ist der richtige Boden,
wie wir anderswo lesen: „Mein Geliebter hatte einen
Weinberg auf einem fetten Hügel. Und Er grub ihn um
und säuberte ihn von Steinen und bepflanzte ihn mit
Edelreben; und Er baute einen Turm in seine Mitte und
hieb auch eine Kelter darin aus." Und wenn Er von
der Sorge spricht, die Er diesem Weinberg, der so unfruchtbar
für Ihn war, hat angedeihen lassen, sagt Er:
„Ich, Jehova, behüte ihn, bewässere ihn alle Augenblicke;
daß nichts ihn Heimsuche, behüte ich ihn Tag und Nacht."
(Jes. 5, 1. 2; 27, 3.)
In Joh. 15 spricht der Herr von sich als dem
„wahren Weinstock" und von Seinem Volke als den
„Reben" und von Seinem Vater als dem „Weingärtner".
Welch eine wunderbare Sache! Der Vater blickt hernieder
156
vom Himmel und sieht auf dieser Erde Seinen geliebten
Sohn Frucht bringen zu Seiner Verherrlichung vermittelst
der vielen Reben, die in Ihm bleiben. Denn nur durch
den reichen Saft, der den Reben aus dem Weinstock zufließt,
bringen sie Frucht. Welch ein lieblicher Anblick
für das Auge des Vaters! Und welch eine Freude für
Sein Herz, wenn die Reben, die so in lebendiger Weise
mit Seinem Geliebten verbunden sind, „erfüllt sind mit
der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum
ist, zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes"! (Phil. 1,11.)
„Hierin wird mein Vater verherrlicht, daß ihr viel Frucht
bringet." (Joh. 15, 8.)
Kaum hat die geliebte Sulammith ihren Herrn eingeladen,
in Seinen Garten zu kommen und von dessen
köstlichen Früchten zu essen, als Er antwortet: „Ich bin
gekommen." Er sagt nicht: „Ich will kommen", sondern
: „Ich bin gekommen." Schon während sie Ihn einladet,
ist Er gegenwärtig. Sein Herz ist stets bereit, auf
den Ruf Seiner Geliebten zu hören und ihn zu beantworten.
Glückliche Braut, ja, glückliches Volk, das sich
in solch einer Lage befindet! Der König der Könige und
der Herr der Herren wartet auf unsern Ruf und ist bereit,
sofort zu antworten! Die Früchte des Geistes sind
stets wohlgefällig für Ihn; und hier findet Er sie in
reicher Fülle, und Er nimmt mit tiefer Freude Platz an
dem Mahle, das die Liebe Ihm bereitet hat.
„Ich bin in meinen Garten gekommen, meine Schwester,
meine Braut, habe meine Myrrhe gepflückt samt meinem
Balsam, habe meine Wabe gegessen samt meinem Honig,
meinen Wein getrunken samt meiner Milch. Esset, Freunde;
trinket und berauschet euch, Geliebte!" (Kap. 5, 1.) Diese
157
verschiedenen Gewürze, Speisen rc. mögen wohl ein bildlicher
Ausdruck sein von den Wirkungen des Geistes
Gottes in der Seele mittelst der Wahrheit. Vielleicht
fließen Thränen, bittrer als Myrrhe, aus unsern Augen
in dem tiefen Gefühl vergangner Sünden, verlorner Tage,
versäumter Gelegenheiten für die Verherrlichung nnserS
Herrn; aber sie sind süßer als Honig und wohlriechender
als Balsam für das Herz Christi. Der Herr findet
mancherlei köstliche Frucht in Seinem Volke; und mit
allem, was von dem Geiste ist, hat Er volle Gemeinschaft,
es gereicht zu Seiner innigen Freude. „Ich habe gesammelt
... ich habe gegessen ... ich habe getrunken."
Er nimmt gleichsam von allem. In dem geförderten
Christen mag Er etwas finden, was an die Kraft des
Weines erinnert, in dem Kindlein in Christo die süße,
liebliche Milch. — Was hast d u für deinen Herrn, meine
Seele? Was kann Er von dir einsammeln? was kann
Er essen, was kann Er trinken von dem Deinigen? Was
ist lieblicher als Demut und Einfalt? Was ist ehrender
für den Herrn als ein Geist völliger Abhängigkeit von
Ihm? Was erfreut Sein Herz mehr als ein täglich
wachsendes Verlangen, Ihm zu dienen und Gott zu verherrlichen?
Viele werden teilnehmen an dem königlichen Mahle,
von dem in unserm Verse die Rede ist. Zahlreich, sehr
zahlreich sind die „Freunde" des Bräutigams; und alle
werden an dem Tage Seiner Herrlichkeit in Seine
Freude eingehen. Wunderbarer, lang ersehnter Tag
himmlischer und irdischer Herrlichkeit! Alle Herzen werden
jene freudenvolle Einladung hören und durch sie bewegt
werden: „Esset, Freunde; trinket und berauschet euch,
158
Geliebte!" Die „natürlichen Zweige", die so lange aus
dem Stamme der Verheißung ausgebrochen waren, werden,
wie der Apostel sagt, wieder eingepfropft werden. (Röm. 11.)
An jenem Tage, dem Tage der Wiederherstellung Israels,
„wird Jakob Wurzel schlagen, Israel blühen und knospen;
und sie werden mit Früchten füllen die Fläche des Erdkreises."
(Jes. 27, 6.) Welch ein Fest wird dann durch
das wiederhergestellte Israel allen Völkern der Erde bereitet
werden! Die Fläche des Erdkreises wird mit
Früchten gefüllt sein. „Und Jehova der Heerscharen
wird auf diesem Berge allen Völkern ein Mahl von Fettspeisen
bereiten, ein Mahl von Hefenweinen, von markigen
Fettspeisen, geläuterten Hefenweinen." (Jes. 25, 6.) Und
wiederum: „Und es wird geschehen an jenem Tage, da
werde ich erhören, spricht Jehova: ich werde den Himmel
erhören, und dieser wird die Erde erhören; und die Erde
wird erhören das Korn und den Most und das Oel; und
sie, sie werden Jisreel erhören. Und ich will sie mir säen
in dem Lande." (Hos. 2, 21—23.)
Aus dem Neuen Testament wissen wir, daß an jenem
Tage „der Himmel" im Besitz Christi und Seiner verherrlichten
Heiligen sein wird. Jehova „wird den Himmel
erhören, und dieser wird die Erde erhören". Christus, in
welchem dann alle Dinge im Himmel und auf Erden zusammengebracht
sein werden, wird Derjenige sein, an welchen
von der Erde aus sich alles Flehen richten wird, und durch
Ihn und Seine verherrlichten Heiligen werden jene Segnungen
der Erde zugeführt werden. „Und die Erde wird
erhören das Korn und den Most und das Oel." Keine Armut,
keine Not wird dann irgendwo herrschen. Die Stimme
der Klage wird nicht mehr gehört werden auf den Straßen.
159
Das allgemeine Seufzen der Schöpfung wird verstummt
sein; statt dessen werden Lob- und Dankeslieder allerwärts
ertönen. „Und sie, sie werden Jisreel erhören." Jisreel
bedeutet: den Gott säet. Deshalb folgt auch unmittelbar
darauf: „Ich will sie (Israel) mir säen in dem Lande."
So wird eine ununterbrochene Kette von Segnungen
bestehen, von dem Throne Jehovas, der Quelle von allem,
herab bis zu dem Genuß aller Segnungen dieses Lebens
seitens der Menschenkinder; und der Platz, den das wiederhergestellte
Israel in dieser wunderbaren Kette einnimmt,
ist der Platz des Samens Gottes, gesäet von Jehova
und für Ihn in dem Lande und mit Früchten füllend die
Fläche des Erdkreises. Jehova — der Himmel, im Besitz
Christi und der verherrlichten Kirche stehend — das wiederhergestellte
Israel oder Jisreel, der Same Gottes hienieden
— eine allgemeine Segnung auf der ganzen Erde, ein
Ueberfluß an Korn, Wein und Oel — Krieg und Gewaltthat
für immer dahin — welch eine Kette von Segnungen!
„Und die Herrlichkeit Jehovas wird sich offenbaren,
und alles Fleisch mit einander wird sie sehen."
(Jes. 40, 5.) Preis und Ehre sei Ihm, der solch wunderbare
Dinge thut!
Laß uns hier noch einen Augenblick still stehen, mein
Leser, und über den Kreis des Segens nachsinnen, der unS
hier vorgestellt wird! Laß uns auch vorwärts blicken zu
dem glückseligen Tage hin, an welchem Er, der so lange
abwesend war, wiederkehren und zu Seinem auf Ihn
harrenden Volke sagen wird: „Ich bin gekommen —
ich bin in meinen Garten gekommen, meine Schwester,
meine Braut." Dann werden die den Vätern gemachten
Verheißungen ihren Kindern erfüllt werden, nach dem
160
Worte des Herrn. Christus und die verherrlichten Heiligen
droben, das wiederhergestellte Israel in dem gelobten Lande
hienieden, und um Israel her alle die Völker der Erde,
mit einander verbunden durch diese herrliche Kette allgemeinen
Segens! Welch ein weiter Kreis von „Freunden"
! Welch ein Fest der Liebe! Und welch ein freudiger
Willkommensgruß aus dem Herzen Dessen, der „Herr
über alles" ist: „Esset, Freunde; trinket und berauschet
euch, Geliebte!"
„Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! mein
Geliebter! er klopft: Thue mir auf, meine Schwester,
meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! Denn
mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der
Nacht." (V. 2.) — In diesem traurigen Bekenntnis der
Braut begegnen wir einer Erfahrung, durch welche viele
Gläubige gehen, und die unsre eingehende Betrachtung
verdient.
Der weitaus größte Teil der Christen ist viel mehr
; mit sich und seinen wechselnden Gefühlen beschäftigt, als
mit dem Worte Gottes; und dies ist eine fruchtbare Quelle
endloser Beunruhigungen und Verlegenheiten für die Seele.
Wie oft geschieht es, daß Gläubige, wenn sie eine Veränderung
der Gefühle in sich bemerken, daraus sofort den
Schluß ziehen, daß Christus nicht mehr derselbe für sie
sei, der Er einst war. Sie beurteilen den Herrn nach
ihren Gefühlen, anstatt an Ihn zu glauben nach Seinem
Worte. Sie blicken auf sich, anstatt auf Christum, und
lassen sich leiten durch Gefühle, anstatt durch die unveränderliche
Wahrheit Gottes.
Vor wenigen Stunden noch, wenn wir der Ordnung
161
in unserm Liede folgen dürfen, stand die Braut in der
vollen Freude der Gegenwart ihres Herrn. Sie war froh
und glücklich, gleich einer gewissen Klasse von Gläubigen,
so lange der volle Strom eines freudenreichen Beisammenseins
fließt. Nachdem aber das Mahl beendet ist und
die Gäste sich entfernt haben, begiebt sie sich zur Ruhe.
Und ach! bald, sehr bald kommen Gefühle über sie, die
sie tief beunruhigen. „Ich schlief, aber mein Herz wachte."
Sie ist ruhelos, fühlt sich unbehaglich und unglücklich.
Ihr Herz sehnt sich nach Christo, aber sie ist außer
stände, sich aufzuraffen. Welch ein trauriger Zustand,
wenn Jesus an der Thür steht und klopft! Aber es
ist gar kein ungewöhnlicher Fall. Ein Gläubiger mag
im Großen und Ganzen noch recht stehen; aber wenn er
in einen schläfrigen Zustand verfällt, so werden geistliche
Pflichten eine Bürde für ihn, und sie werden entweder
ganz vernachlässigt oder doch nicht mit freudigem Herzen
erfüllt. Das ist ein betrübender Seelenzustand. „Ich
schlief, aber mein Herz wachte." Wir thun wohl, die
beiden Seiten dieses „aber" zu beachten. Die Braut
ist weder im Schlafe, noch ist sie wach. Auf der einen
Seite ist bei ihr ein schlummerndes Gewissen, auf der
andern ein wachendes Herz. Deshalb kann sie keine Ruhe
finden. Und genau so ist es, wenn wir sorglos werden
im Wick auf die Dinge des Herrn. Aber welch ein betrübendes
Bild von Tausenden und aber Tausenden, die
fröhlich und glücklich im Herrn sein sollten, stets bereit
für alles, was es im Dienste für Christum und für unsterbliche
Seelen zu thun giebt!
Wenden wir uns jetzt zu der lieblichen Seite dieser
belehrenden Scene. Hat der Herr sich verändert, weil
162
die Braut sich verändert hat? Der Unglaube würde sofort
bereit sein, zu sagen: Ja; und was würde die Folge
sein? Unwürdige Gedanken über Christum und endlose
Zweifel und Befürchtungen. Wenn unsre Gedanken uns
leiten, so sind die Worte Christi wertlos. Ist es denn
wirklich so, daß die Kälte und Gleichgültigkeit der Braut
Ihn nicht im Geringsten gegen sie verändert haben? Die
Liebe Christi zu Seiner Braut verändert sich keinen Augenblick,
trotz ihrer Unbeständigkeit und ihrer mannigfachen
Rückschritte. Und wahrlich, keine bessere Antwort könnte
auf jene Frage gegeben werden als die Worte der schläfrigen
Braut selbst. Trotz ihrer Schläfrigkeit erkennt sie
Sein Klopfen und unterscheidet Seine Stimme; und immer
noch sagt sie: „Mein Geliebter!" In ihrem Innern giebt
es ein Leben, das stets auf Seine Stimme antworten
muß, trotz all der Fehler, die sie macht. „Horch! mein
Geliebter!" sagt sie. „Er klopft: thue mir auf, meine
Schwester, meine Freundin, meine Vollkommene! denn
mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der
Nacht". Hier haben wir, geliebter Leser, den armen, stets
veränderlichen Gläubigen vor uns, und ihm gegenüber
unsern teuren, unveränderlichen Herrn. Was denkst du?
Sollen die thörichten Einbildungen unsrer Herzen in einem
solchen Falle unser Führer sein hinsichtlich der Gedanken
Christi, oder Gottes untrügliches Wort? Was könnte
klarer und bestimmter sein, als das Wort, mit dem wir
uns beschäftigen? Solltest du deshalb je berufen werden,
mit zurückgegangenen, aber beunruhigten Seelen zu verkehren,
möchte dann dein Verhalten, möchten deine Worte die
Gesinnung Christi ausstrahlen, wie sie sich hier kundgiebt!
Voll der geduldigsten, rührendsten Liebe sind die
163
Worte, die der Bräutigam an Seine schwache und irrende
Braut richtet. Anstatt sich durch ihren traurigen Seelenzustand
beeinflussen zu lassen und ihr Vorwürfe zu machen
wegen ihrer Undankbarkeit und Gleichgültigkeit gegen Ihn,
redet Er sie zärtlicher an, als bei irgend einer früheren
Gelegenheit. „Thue mir auf", sagt Er, mir, deinem
Messias, deinem Geliebten. Ich bin Jesus; warum solltest
du die Thür vor mir verschließen? „Thue mir auf, meine
Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Voll-
kommne". Nie vorher hat Er sie Seine „Vollkommne"
genannt. Dieser Ausdruck Seiner bewunderungswürdigen
Gnade war für den Tag ihrer Schwachheit aufgespart
geblieben. Und nie vorher hatte Er von dem „Tau" und
den „Tropfen der Nacht" gesprochen, die jetzt auf Seinem
Pfade hingebender, selbstverleugnender Liebe auf Ihn gefallen
waren. Nichts kann Seine Liebe von ihrem Gegenstände
und Ziele abwenden. Aber ach! Sein liebevoller
Ruf macht nur wenig Eindruck auf das schlafbeschwerte
Gewissen der Braut.
Giebt es hier irgend etwas, das einer Veränderung
in der Liebe Christi zu Seiner Braut gleichsähe?
Wenn es etwas giebt, so ist es dies, daß Er Seine Liebe
jetzt nur umso völliger offenbart und sie um so zärtlicher
anredet. Redet Er nicht in einer Weise zu ihr, die ganz
und gar dazu angethan ist, das Herz zu schmelzen? Er
spricht gerade so, als wenn es eine große Gunstbezeugung
für Ihn wäre, wenn sie Ihn unter ihr Dach kommen
ließe; oder wie ein müder Wanderer, der in einer finsteren
und stürmischen Nacht vom rechten Wege abgekommen
ist und nun um Unterkunft bittet. Auch ist es sehr bemerkenswert,
daß Er nie vorher sie in so vielen zärtlichen
164
Ausdrücken angeredet hat: „Thue mir auf, meine Schwester,
meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene." —
Das also ist die Liebe Christi, und zwar Seine Liebe zu
einer Irrenden, träge Gewordenen. Laß sie uns wohl betrachten,
mein Leser. Es giebt nur ein Herz, das sich niemals
verändert. O wie sollten wir dieses Herz werthalten,
diesem Herzen vertrauen, auf dieses Herz rechnen! wie
sollten wir stets diesem unveränderlichen Herzen der vollkommensten
Liebe nahe bleiben! Aber ach! welche Herzen
haben wir! All dieser langmütigen, bewunderungswürdigen
Liebe begegnet die schlummernde Braut mit Gleichgültigkeit
und beantwortet sie mit den nichtigsten Entschuldigungen.
„Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es
wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie
sollte ich sie wieder beschmutzen?" (V. 3.) Ach, ach! wie
unempfindlich fist die Tochter Zion geworden gegenüber
den Ansprüchen ihres Messias, ihres gnädigen Herrn!
Welch eine verhärtende, alles Gefühl ertötende Sache ist
doch die Sünde! „Erkenne und siehe, daß es schlimm und
bitter ist, daß du Jehova, deinen Gott, verlässest." (Jer.
2, 19.) Wenn wir uns einmal aus der Gegenwart des
Herrn entfernt haben, wer kann dann sagen, wie weit wir
von Ihm abirren oder auf wie viele Nebenwege wir geraten
mögen! Schon der Gedanke an ein solches Verhalten
ist erschreckend. Und je mehr wir unsre Brüder
lieben und je geistlicher unser Urteil ist über jenes Uebel,
desto größer wird auch unser Schmerz sein über eine
Seele, die ihrem Herrn den Rücken wendet. Welcher
Diener deS Herrn, dem das Wohl der Seelen und die
Herrlichkeit seines Herrn am Herzen liegt, hat nicht schon
im Stillen geweint über den abnehmenden Eifer und die
165
immer mehr hinsterbende Energie eines einst ernsten, hingebenden
Gläubigen? Das Herz des Hirten war so
glücklich, so dankbar, so hoffnungsfreudig, als er die liebliche
Frische der Seele für Jesum bemerkte. Immer eine
der Ersten bei den Zusammmenkünften der Gläubigen,
das Gesicht strahlend vor Freude, wenn von Jesu die
Rede war, — so war es einst; jedes Wort über Christum
drang wie Freudenöl in ihr Innerstes, und wenn sie aus
der Versammlung heimkehrte, so war es nur, um im
Stillen über das Gehörte weiter nachzusinnen und mit
dem Herrn in der Einsamkeit Gemeinschaft zu machen.
Und jetzt? Ach, ein jeder, der einmal den Schmerz
gefühlt hat, eine solch glückliche Seele irregeleitet zu sehen,
weiß was es ist. Wie das grüne, frische Blatt des
Sommers nach einer Zeit großer Hitze dürr und schlaff
herabhängt, wie wenn ein heißes Eisen darüber gegangen
wäre, so ist es auch mit der Seele, die durch irgend
eine List des Feindes vom rechten Pfade abgelenkt worden
ist. Ihre ganze Erscheinung und ihr ganzes Wesen
haben sich verändert. Die Versammlungen werden nur
noch selten besucht, und wenn sie kommt, empfängt sie
nur wenig oder gar nichts. Das Antlitz hat seinen glücklichen,
freudigen Ausdruck verloren; der Friede Gottes
leuchtet nicht mehr aus ihm heraus, das Auge strahlt
nicht mehr in dem alten Glanze. Die irrende Seele selbst
meint, alles andere habe sich verändert; ach, sie lernt so
schwer, daß die Veränderung sich in ihr selbst vollzogen
hat. Schließlich ärgert sie sich vielleicht an irgend einer
geringfügigen Sache und — verläßt die Gemeinschaft der
Gläubigen. Ihr Platz ist jetzt leer; und wohin ist sie
gegangen? Ach, in den meisten Fällen kann der Herr
166
allein diese Frage beantworten. Nicht daß uns das „Wohin"
gleichgültig sein sollte. Sicherlich nicht; aber der
Herr allein vermag den Spuren der abgeirrten Seele
zu folgen. Sein nie schlummerndes Auge begleitet sie
überallhin, und das Herz, das einst um ihrer Sünden
willen so unsäglich litt, kann nie, nie aufhören, für sie
Sorge zu tragen. In der Weisheit Seiner Liebe mag
Er wohl erlauben, daß der Abgeirrte die Bitterkeit seiner
selbsterwählten Wege schmeckt, aber Er hat stets Mittel
und Wege, die Seele zur Buße zu leiten und sie in
Seine Gemeinschaft zurückzuführen.
„Mein Geliebter streckte Seine Hand durch die
Oeffnung (das Guckloch der Thür), und mein Inneres
ward Seinetwegen erregt." (V. 4.) Gott sei Dank!
die Braut kommt zur Besinnung, sie wacht auf aus ihrem
Schlummer. Die Hand des Herrn selbst hat sie aufgeweckt,
und sie antwortet auf Seine Liebe. Wohl ist die
Antwort noch schwach, aber sie ist doch wahr und wirklich.
Das Herz ist für Ihn erregt. Sie hat nie aufgehört,
Ihn „ihren Geliebten" zu nennen. Liebe für
den Herrn war da trotz vielen Fehlens. Wenn aber das
zarte, gnädige Klopfen der Liebe des Heilandes unbeachtet
bleibt, so wendet Er andere Mittel an. Er kennt
den Zustand des Herzens und weiß, was es gegen Ihn
in Wallung bringen wird. „Wird Gott das nicht erforschen?
denn Er kennt die Geheimnisse des Herzens."
(Ps. 44, 21.) Zuweilen erreicht Er durch ganz unerwartete
Mittel das Gewissen; und indem das Licht in
uns eindringt, entdecken wir, wo wir sind und was wir
sind. Die Gnade triumphiert. Die Seele sucht wieder
die Gegenwart des Herrn und das Glück, das in Ihm
167
allein zu finden ist. Dennoch mag eine Zeit vergehen,
bis sie von ihrem Falle ganz wiederhergestellt ist. Es
mag viel Schmerz, Beugung und Demütigung geben, ehe
sie in Seiner Gegenwart wieder wahrhaft zur Ruhe
kommt. Verwirrt und beunruhigt, wie einer, der eben
aus tiefem Schlafe erwacht, laufen wir vielleicht hin und
her, und suchen den Herrn da, wo Er nie gesagt hat,
daß Er gefunden werden könne; das Heiligtum, nicht „die
Stadt", ist der Ort Seiner gesegneten Gegenwart.
„Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen, und
meine Hände troffen von Myrrhe, und meine Finger von
fließender (d. h. von selbst entquellender, köstlichster)
Myrrhe an dem Griffe des Riegels." (V. 5.) Giebt es,
geliebter Leser, etwas derartiges wie süße Thränen neben
denbittern? und können beide zu derselben Zeit fließen?
Was ist bitterer für den Geschmack als Myrrhe? Was
angenehmer für den Geruch als wohlriechende Myrrhe?
„Meine Hände troffen von Myrrhe, und meine Finger
von fließender Myrrhe an dem Griffe des Riegels." *) Bestimmt
und wirklich ist die Antwort, welche die Braut
jetzt auf die ausharrende Liebe ihres Bräutigams giebt.
„Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen." Sie
*) Die Geschichte berichtet uns von einer morgenländischen
Sitte, welche viel zur Erläuterung des oben gebrauchten Bildes
beitragen mag. Wenn nämlich eine Geliebte die Anträge ihres Liebhabers
beharrlich zurückweist, so besucht dieser in der Nacht das
Haus ihres Vaters oder das Haus, in welchem die Geliebte wohnt.
Rund um die Thür des Hauses hängt er Blumengewinde auf und
bestreut die Schwelle ebenfalls mit wohlriechenden Blumen. Ferner
bestreicht er die Riegel und Handgriffe der Thür mit duftenden
Salben. Die ganze Handlung soll der Familie des Mädchens beweisen,
daß seine Liebe, obgleich sie zurückgewiesen wird, echt ist.
168
erholt sich von ihrer geistlichen Trägheit. Das Gefühl
über ihre Sünde, daß sie die Thür nicht öffnete, als Er
klopfte, ist Bitterkeit für ihre Seele; zugleich aber ist
es vermischt mit den Gefühlen inniger Zuneigung zu
Dem, den sie vernachlässigt hat. Als sie die Thür erreicht,
an welcher Er so lange gestanden hat, findet sie
alles erfüllt von dem Wohlgeruch Seiner Gegenwart;
sie faßt den Griff des Riegels, und ihre Hände triefen
von Myrrhe und ihre Finger von fließender Myrrhe.
Nachdem sie so aufgewacht und zu einem Bewußtsein
dessen gekommen ist, was sie gethan hat, erfüllen
tiefer Schmerz und bittere Reue, vermischt mit bewundernder
Liebe zu ihrem guten und gnädigen Herrn, ihre Seele
und überwältigen sie völlig. Es geht ihr wie einem, der
nach schmerzlichen und traurigen Irrwegen sich endlich
wieder an den Schauplatz früherer geistlicher Freuden
zurückwagt. Der wohlbekannte Raum, der Anblick so
vieler bekannter Gesichter, der Ton von Stimmen, die nie
ganz vergessen waren und jetzt wieder ein lautes Echo
in dem gebeugten Herzen wachrufen — alles, alles ergreift
die Seele mit unwiderstehlicher Gewalt und erfüllt
sie mit tiefer Bewegung. Alles erinnert an so viele vergangene
Tage wahren, reinen Glückes und seliger Freude.
Und indem das Herz wieder anfängt, zu der Liebe Jesu
Vertrauen zu fassen, redet das Gewissen mit immer
lauterer Stimme, und im tiefsten Innern werden Seufzer
wach wie die folgenden: „O Herr Jesu, ich schäme mich
und erröie tief vor Dir. Elend und unglücklich war ich
alle die Tage, die ich fern von Dir umherirrte. O wie
undankbar bin ich gewesen! Wie habe ich Deinen heiligen
Namen verunehrt! An Dir, an Dir allein habe ich gesündigt!
— Herr, kannst Du mir vergeben? Ist es möglich,
Herr, nach all meiner Thorheit, Verkehrtheit und Sünde?
- Ach, Herr, laß mir wiederkehren die Freude Deines
Heils! Herr, meine Seele hängt an Dir!"
Die Vorbilder des 3. Buches Mose.
Das Speisopfer.
(Fortsetzung.)
Dies führt uns zu einem andern großen Grundsatz,
den das Speisopfer uns oor Augen stellt. Der
Kuchen mußte mit Oel gemengt werden. „Was aus
dem Fleische geboren ist, ist Fleisch"; und da wir aus
dem Fleische geboren sind, so sind wir in unS selbst naturgemäß
nur Fleisch, verderbt und abgefallen, „aus dem
Willen des Fleisches geboren". Obgleich wir aus dem
Geiste geboren wurden, als wir im Glauben zu Gott
kamen, ist doch dadurch unsre Natur nicht verändert, nicht
aufgehoben worden. Wohl können wir durch den Heiligen
Geist, der in uns wirkt, von der Thätigkeit des Fleisches
befreit werden und seine Regungen unterdrücken, aber die
Natur bleibt unverändert. Das Fleisch in Paulus war
ebenso geneigt, sich zu überheben, nachdem er im dritten
Himmel gewesen war, wie zur Zeit da er „mit Gewalt
und Vollmacht von den Hohenpriestern nach Damaskus
reiste", um, wenn möglich, den Namen Christi von der Erde
auszurotten. Ich sage nicht, daß diese Neigung des
Fleisches in beiden Fällen dieselbe Kraft hatte; aber sie
war im ersten Falle ebenso schlecht oder noch schlechter,
weil sie sich angesichts viel höherer und besserer Dinge
offenbarte.
170
Aber der Wille des Fleisches hatte bei der Geburt
Christi nicht den geringsten Anteil. Seine menschliche
Natur war ebensosehr ein Ausfluß des göttlichen Willens,
wie die Gegenwart der göttlichen Natur auf dieser Erde.
Indem Maria sich einfältigen Auges und reinen Herzens
in heiligem Gehorsam unter diesen Willen beugte, offenbarte
sie in rührender Weise die Unterwürfigkeit ihres
Herzens und ihrer Vernunft gegenüber der Offenbarung
Gottes. „Siehe, die Magd des Herrn", sagt sie; „es
geschehe mir nach deinem Worte." Die menschliche Natur
Christi war frei von der Sünde, indem sie von dem
Heiligen Geiste empfangen war. Er kannte keine Sünde.
Das heilige Wesen, welches von der Jungfrau geboren
werden sollte, sollte Gottes Sohn genannt werden. Er war
wirklich und wahrhaftig ein Mensch, von Maria geboren,
aber Er war zugleich ein Mensch, von Gott geboren. In
Uebereinstimmung damit finden wir diesen Titel: „Sohn
Gottes", in drei verschiedenen Weisen auf Christum angewandt.
1. Er ist der Sohn Gottes, der Schöpfer;
so hören wir von Ihm in den Briefen an die Kolosser
und an die Hebräer, sowie an vielen andern Stellen,
die von Ihm als dem vom Vater gesandten Sohne reden.
2. Er ist Sohn Gottes als geboren in dieser Welt.
3. Er ist Sohn Gottes als auferstanden aus den
Toten — „als Sohn Gottes in Kraft erwiesen durch
Toten-Auferstehung". (Röm. 1, 4.)
Der Kuchen *) wurde mit Oel gemengt. So ent-
*) Das Speisopfer wurde in verschiedenen Formen darge-
bracht, aber alle stellten die beiden oben berührten Grundsätze ans
Licht. Zunächst haben wir die große allgemeine Wahrheit: „seine
Opsergabe soll Feinmehl sein, und er soll Oel darauf gießen und
171
lehnte die menschliche Natur Christi ihren Charakter dem
Heiligen Geiste, dessen bekanntes Sinnbild immer wieder
das Oel ist. Aber Reinheit ist nicht Kraft; deshalb
wird die Uebertragung der geistlichen Kraft, die durch die
menschliche Natur Jesu wirkte, unter einer andern Form
dargestellt: die Fladen mußten mit Oel gesalbt werden.
Dementsprechend steht geschrieben, daß „Gott Jesum von
Nazareth mit Heiligem Geiste und mit Kraft gesalbt
habe, der umherging, wohlthuend und heilend alle, die
von dem Teufel überwältigt waren". (Apstgsch. 10, 38.)
Nicht als ob Jesu irgend etwas gemangelt hätte. Denn
als Gott hätte Er alles thun können; aber Er hatte sich
freiwillig zu nichts gemacht und war gekommen, um zu
gehorchen. Daher trat Er auch nicht eher öffentlich auf,
bis Er berufen und gesalbt war, obgleich Seine Unterredung
mit den Schriftgelehrten im Tempel von Anfang
an Seine Beziehungen zum Vater darthat.
Weihrauch darauf legen"; es gab Ofengebäck, Kuchen, gemengt mit
Oel, und Fladen, gesalbt mit Oel, — alle selbstredend ungesäuert.
Wurde ein Speisopfer in der Pfanne dargebracht, so mußte es
Feinmehl sein, gemengt mit Oel; wenn im Napfe, Feinmehl mit
Oel. So kam in allen Formen, in welchen Christus als Mensch
betrachtet werden konnte, die Abwesenheit der Sünde zum Ausdruck,
sowie die Bildung Seiner menschlichen Natur in der Kraft des
Heiligen Geistes und Seine Salbung mit dem Geiste. Betrachten
wir Seine menschliche Natur als solche in sich selbst, so ist Oel
daraus gegossen. Sehen wir sie bis auss Aeußerste erprobt, so
kommt nichts als Reinheit und die Gnade des Geistes in ihr zum
Vorschein. Betrachten wir sie in ihrem wesentlichen, inneren
Charakter oder in ihrem äußern Verhalten, so offenbart sich in
jedem einzelnen Teile dieser vollkommnen und durch die Kraft des
Geistes gebildeten Natur völlige Abwesenheit der Sünde und die
Macht des Heiligen Geistes.
172
In dieser Hinsicht giebt es in unsrer Stellung eine
gewisse Aehnlichkeit. Aus Gott geboren oder mit dem
Heiligen Geiste versiegelt und gesalbt zu sein sind zwei
verschiedene Dinge. Der Pfingsttag, der Hauptmann Kornelius,
die Gläubigen in Samaria, welchen die Apostel die
Hände auslegten, damit sie den Heiligen Geist empfangen
möchten, beweisen die Wahrheit des Gesagten, neben
manchen andern Stellen, die sich auf diesen Gegenstand
beziehen. So sagt die Schrift z. B.: „Weil ihr Söhne
seid, so hat Gott den Geist Seines Sohnes in unsre
Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!" (Gal. 4, 6.)
Und: „In welchem ihr auch, nachdem ihr geglaubt habt,
versiegelt worden seid mit dem Heiligen Geiste der Verheißung,
welcher das Unterpfand unsers Erbes ist, zur
Erlösung des erworbenen Besitzes." (Eph. 1, 13. 14.)
Ferner lesen wir im 7. Kapitel des Evangeliums Johannes:
„Dies aber sagte Er von dem Geiste, welchen die an
Ihn Glaubenden empfangen sollten."
Der Heilige Geist kann durch die Mitteilung einer
neuen Natur in einer Seele heilige Wünsche und die
Liebe zu Jesu hervorgebracht haben, ohne daß die Seele
selbst das Bewußtsein ihrer Befreiung besitzt, oder daß
sie Kraft und die Freude der Gegenwart Gottes in der
Erkenntnis des vollbrachten Werkes Christi empfangen
hat. — Was den Herrn Jesum betrifft, so wissen wir,
daß die Erfüllung jenes Vorbildes, die Salbung mit
dem Heiligen Geiste, stattfand, nachdem Er von Johannes
getauft worden war. (In dieser Taufe stellte sich Der,
welcher keine Sünde kannte, mit Seinem Volke, damals
dem Ueberreft Israels, der unter dem Einfluß der Gnade
den Pfad des Glaubens wandelte, auf einen Boden;
173
durch Sein Kommen zu Johannes gab Er kund, daß Er
mit den Seinigen sein wolle auf dem ganzen Pfade
jener Gnade mit all seinen Prüfungen und Kümmernissen.)
Er, der Sündlose, wurde mit dem Heiligen Geiste
gesalbt, indem dieser in leiblicher Gestalt, wie eine Taube,
aus dem Himmel herniederkam und auf Ihm blieb; dann
wurde Er durch den Geist in den Kampf für uns geführt,
aus welchem Er durch die Kraft des Geistes als
Sieger hervorging. Ich sage: „als Sieger durch die
Kraft des Geistes"; denn wenn Jesus die Angriffe Satans
einfach durch Seine göttliche Macht abgeschlagen hätte, so
wäre selbstverständlich zunächst von einem Kampfe überhaupt
keine Rede gewesen; und zweitens läge für uns
darin weder ein Beispiel noch eine Ermunterung. Aber
der Herr trieb den Feind zurück durch einen Grundsatz,
der Tag für Tag uns als Pflicht obliegt. Dieser Grundsatz
heißt: Gehorsam; und zwar ist es ein einsichtsvoller
Gehorsam, der sich des Wortes Gottes bedient und den
Feind, sobald er sich als solcher offenbart, mit Unwillen
zurückweist. Wenn Ehristus Seine Laufbahn antrat mit
der Freude und dem Zeugnis, die einem Sohne gebühren,
so begann Er eine Laufbahn des Kampfes und des Gehorsams;
Er hatte den Starken zu binden, und Er hat
ihn gebunden. — Gerade so verhält es sich mit uns.
Wir besitzen Freude, Befreiung, Liebe, überströmenden
Frieden, den Geist der Sohnschaft und stehen in dem
Bewußtsein, daß wir dem Vater annehmlich gemacht sind.
So treten wir die christliche Laufbahn an; gleichwohl bedeutet
diese Laufbahn Kampf und Gehorsam. Hören
wir auf zu gehorchen, so hören wir auf zu siegen. Satan
bemühte sich, diese beiden Dinge in Jesu zu trennen.
174
Er sagte: „Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich, daß
diese Steine Brote werden" — d. h. gebrauche deine
Macht, handle nach deinem eignen Willen. Die Antwort
Jesu lautet ihrem Sinne nach: Ich bin hier, um zu gehorchen;
ich bin hier als ein Knecht, und ich habe kein
Gebot empfangen, die Steine zu Brot zu machen; es
steht geschrieben: „Nicht von Brot allein soll der Mensch
leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund
Gottes ausgeht." Ich verharre in meinem Stande der
Abhängigkeit.
Das war Kraft, aber eine Kraft, die in einem
Stande der Abhängigkeit und des Gehorsams angewandt
wurde. Adam konnte nur in einer einzigen Sache ungehorsam
sein, und er war ungehorsam; Er aber, der die
Macht hatte, alles zu thun, bediente sich Seiner Macht
nur, um noch vollkommner zu dienen und sich noch völliger
zu unterwerfen. Wie schön ist das Gemälde, welches die
Wege des Herrn uns darbieten! und das inmitten der
Mühsale und der Folgen des Ungehorsams des Menschen
— Folgen, denen Er sich (die Sünde ausgenommen)
unterzog wegen der Natur, die Er angenommen hatte.
„Denn es geziemte Ihm, um deswillen alle Dinge und
durch den alle Dinge sind, (indem Er den Zustand sah,
in welchem wir uns befinden,) indem Er viele Söhne zur
Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch
Leiden vollkommen zu machen." (Hebr. 2, 10.)
Jesus kämpfte also in der Kraft des Heiligen Geistes,
und Er gehorchte in der Kraft des Heiligen Geistes. In
derselben Kraft trieb Er Teufel aus und trug unsre
Schwachheiten. Ebenso opferte Er sich in der Kraft des
Heiligen Geistes ohne Flecken Gott; aber das ist mehr
175
das Brandopfer. In allem, was Er that, und in allem,
was Er nicht that, handelte Er durch die Energie des
Geistes Gottes. Er ist unser Vorbild, welchem wir mit
gemischten Kräften folgen, indem das, was vom Geiste
ist, sich vermengt mit unsrer natürlichen Kraft; aber zugleich
folgen wir Ihm mit einer Kraft, die uns, wenn
es Sein Wille ist, befähigt, nicht nur die Werke zu thun,
die Er gethan hat, sondern sogar noch größere. Es heißt
nicht, daß wir vollkommner sein könnten als Er, sondern
daß wir größere Werke zu thun vermögen. Während
Seines Wandels hienieden war Er absolut vollkommen im
Gehorsam; aber gerade aus diesem Grunde that Er, und
konnte Er in moralischem Sinne vieles nicht thun, was
Er jetzt thun und durch Seine Apostel und Seine Knechte
vollbringen lassen kann. Denn zur Rechten Gottes erhöht,
sollte Er, selbst als Mensch, Macht offenbaren, und
nicht Gehorsam. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer
an mich glaubt, der wird auch die Werke thun, die ich
thue, und wird größere als diese thun, weil ich zum Vater
gehe." (Joh. 14, 12.) Das versetzt uns in die Stellung
von Dienern; denn wir sind durch die Kraft des Heiligen
Geistes Diener Christi. „Es sind Verschiedenheiten von
Diensten, und derselbe Herr." (1. Kor. 12, 5.)
Die Apostel thaten deshalb größere Werke, welche
aber, was ihren persönlichen Wandel betrifft, mit Unvollkommenheiten
aller Art vermischt waren. Mit wem z. B.
stritt der Herr, obwohl Er immer Recht hatte? Vor wem
offenbarte Er Menschenfurcht? Wann bereute Er etwas,
das Er gethan hatte, wie Paulus, der nachher sogar anerkennen
mußte, daß kein Grund zur Reue vorgelegen
habe. Nein! obgleich sich nach der Erhöhung des Herrn
176
zur Rechten Gottes, wie Er es verheißen hatte, eine
größere Kraft offenbaren mochte, so entfaltete sich diese
doch in Gefäßen, deren Schwachheit zur Genüge bewies,
daß alle Ehre nur Gott zukam, und deren Gehorsam im
Kampf mit einem widerspenstigen Willen, der in ihnen war,
ausgeübt wurde. Hierin liegt der große Unterschied. Jesus
hatte niemals einen Dorn im Fleische nötig, um Ihn
vor Ueberhebung zu schützen. — Hochgelobter Herr! Du
redetest, was Du wußtest, und zeugtest von dem, was
Du gesehen hattest; aber um dies thun zu können, hast
Du Dich zu nichts machen, Dich selbst erniedrigen und
die Gestalt eines Knechtes annehmen müssen, auf daß
w i r dadurch erhöht würden! — Die Höhe, das Bewußtsein
der Höhe, von welcher Er herabgestiegen war, die
Vollkommenheit Seines Willens, in dem Knechtsstande,
den Er angenommen hatte, zu gehorchen, machten jede Erhöhung
für Ihn unnötig. Dennoch blickte Er hin auf die
„vor ihm liegende Freude" und wurde nicht beschämt;
denn Er erniedrigte sich eben bis zu diesem Punkte, daß
Er sich über die in Aussicht stehende Belohnung freute.
Und Er ist hoch erhoben worden. „Lieblich an Geruch
sind Deine Salben, ein ausgegossenes Salböl ist Dein
Name." (Hohel. 1, 3.) In dem Speisopfer gab es neben
dem Feinmehl und Oel auch Weihrauch, den Wohlgeruch
all der Tugenden Christi. Wie oft begegnet es
uns, daß wir die Gnaden oder Tugenden, die wir besitzen,
den Menschen zur Annahme darbieten! Das Resultat
davon ist, daß das Fleisch oft für Gnade gehalten oder
wenigstens mit ihr vermengt wird, indem die Dinge nach
dem Urteil des Menschen beurteilt werden; in Jesu aber
wurden alle Gnaden oder Tugenden Gott dargeboten.
177
Allerdings hätte der Mensch diese Gnaden sehen können
oder sehen sollen, wenn der Wohlgeruch des Weihrauchs
sich rund um ihn her verbreitete, obwohl er ausschließlich
als Opfer für Jehova verbrannt wurde. Aber wie wenige
giebt es, die so ihre Liebe Gott darbringen und Gott in
ihre Liebe einführen, indem sie alles, was sie für Ihresgleichen
thun, einzig und allein im Blick auf Gott thun,
so daß sie nicht müde werden, obgleich sie vielleicht, je
mehr sie Liebe beweisen, um so weniger geliebt werden;
denn sie thun alles aus Liebe zu Gott und um Seinetwillen.
Insoweit sich diese Gesinnung bei uns findet, ist
das, was wir thun, ein Wohlgeruch für Jehova. Aber
das ist schwierig; und um so handeln zu können, müssen
wir sehr nahe bei Gott sein.
In Christo erblicken wir ein vollkommenes Beispiel
von dem, was wir soeben gesagt haben. Je treuer Er
war, desto mehr wurde Er verachtet, desto mehr wurde
Ihm widersprochen. Je mehr Er Seine Sanftmut und
Demut offenbarte, desto geringer wurde Er geachtet. Aber
alles das brachte in Seinem Thun nicht die geringste
Veränderung hervor, weil Er alles, was Er that, einzig
und allein im Blick auf Gott that. Mochte Er mit der
Volksmenge verkehren, oder unter Seinen Jüngern sein, oder
endlich vor Seinen ungerechten Richtern stehen — allezeit
war Sein Verhalten vollkommen; denn in allen Umständen
und Lagen handelte Er nur im Blick auf Gott. Der
Weihrauch Seines Dienstes, Seines Herzens und Seiner
Zuneigungen stieg immer und überall zu Gott empor.
Und wo gäbe es einen reicheren und süßer duftenden
Weihrauch, als in dem Leben Jesu? Jehova roch einen
lieblichen Geruch, und anstatt des Fluches, der gerechter
178
weise auf uns lastete, kam in Jesu der Segen Gottes
auf den Menschen. — Dieser Weihrauch wurde also dem
Kuchen des Speisopfers beigegeben; denn er war thatsächlich
eine Frucht, die in dem Leben Jesu durch den
Geist hervorgebracht wurde, ein Ausdruck Seiner Natur.
Aber in allen Fällen stieg dieser Weihrauch empor. Mit
der Fürbitte und Verwendung Jesu für uns verhält es
sich ebenso; denn sie war eine Frucht Seiner heiligen
Liebe. Die Gebete Jesu, der Ausdruck Seiner heiligen
Abhängigkeit, waren unendlich angenehm vor Gott und
von mächtiger Wirkung; sie waren alle vor Ihm ein
lieblicher Geruch, wie Weihrauch: „das Haus wurde von
dem Geruch der Salbe erfüllt".
Verboten war bei den Opfern außer dem Sauerteig
noch etwas anderes: der Honig, d. h. alles das, was
dem Geschmack des natürlichen Menschen besonders angenehm
ist, wie z. B. die Zuneigungen derer, welche wir nach dem
Fleische lieben, die angenehmen Beziehungen zu Unsersgleichen
und ähnliche Dinge. Nicht als ob diese Dinge
in sich selbst böse wären: „Hast du Honig gefunden, so
iß dein Genüge, damit du seiner nicht satt werdest",
sagt der Weise. (Spr. 25, 16.) Als Jonathan ein
wenig Honig gekostet hatte, den er am Tage des Kampfes,
als er in der Kraft des Glaubens für Israel stritt, im
Walde fand, da wurden seine Augen hell. (1. Sam. 14.)
Aber nie durfte Honig als ein Feueropfer dem Jehova
geräuchert werden. Derselbe Herr, der in der schrecklichen
Angst des Kreuzes, als alles vollbracht war, zu Seiner
Mutter sagen konnte: „Weib, siehe, dein Sohn!" und
zu dem Jünger: „Siehe, deine Mutter!" konnte auch
während der Zeit Seines Dienstes sagen: „Weib, was
179
habe ich mit dir zu schaffen?" Er war ein Fremdling
den Söhnen Seiner eigenen Mutter, gleich Levi (in dem
Segen Moses, des Mannes Gottes), der als ein Opfer
von feiten des Volkes Israel vor Jehova dargestellt wurde:
„Der von seinem Vater und von seiner Mutter sprach:
Ich sehe ihn nicht, und der seine Brüder nicht kannte,
und von seinen Söhnen nichts wußte; denn sie haben
dein Wort beobachtet, und deinen Bund bewahrten sie."
(Vergl. 4. Mose 8, 11; 5. Mose 33, 9.)
Es bleibt noch eine Bemerkung übrig. In dem
Brandopfer wurde alles vor Jehova verbrannt, denn Christus
hat sich selbst ganz und gar Gott geopfert. Die menschliche
Natur Christi aber ist die Speise der Priester Gottes.
Aaron und seine Söhne mußten den Teil des Speisopfers
essen, der nicht auf dem Altar geräuchert wurde. Christus
ist das wahre Brot, das aus dem Himmel herniedergekommen
ist, um der Welt das Leben zu geben, damit
wir, die Priester und Könige, durch den Glauben von
diesem Brote essen und nicht sterben möchten. Das Speisopfer
war etwas „Hochheiliges", wovon Aaron und seine
Söhne allein essen durften; — und wer darf sich heute
von Christo nähren, wenn nicht die, welche, geheiligt durch
den Heiligen Geist, das Leben des Glaubens leben und
sich von der Speise des Glaubens nähren? Ist Christus
nicht die Speise unsrer gottgeweihten Seelen, Er, der uns
allezeit Gott weiht? Kosten unsre Seelen nicht in dem
Heiligen, der sanftmütig und von Herzen demütig war
— in Ihm, der als das Licht der menschlichen Vollkommenheit
und der göttlichen Gnade leuchtete inmitten
eines verderbten Geschlechts — kosten unsre Seelen nicht
in Ihm das was nährt, erquickt und heiligt? Fühlen
180
wir nicht, was es bedeutet, Gott dargebracht zu sein, indem
wir, mittelst des Mitgefühls des Geistes Jesu in
uns, Sein Leben hienieden verfolgen, was es war Gott
und Menschen gegenüber? Als ein Beispiel für uns trägt
Er das Gepräge eines Menschen, der gänzlich für Gott
lebt; Er zieht uns sich nach, indem Er selbst die Kraft
ist, die uns auf dem Wege fortschreiten läßt, den Er zurückgelegt
hat, und an welchem wir unsre Freude und
Wonne finden. Werden unsre Herzen nicht an Jesum
gefesselt, wenn wir so mit Freuden über das nachsinnen,
was Er auf Erden war? Werden wir Ihm nicht ähnlicher?
Ja, wir bewundern Ihn, wir werden gedemütigt und
durch die Gnade in Sein Bild verwandelt. Indem Er
die Quelle des neuen Lebens in uns ist, wird das Beispiel,
das Er uns von der Vollkommenheit dieses Lebens
giebt, zu dem Mittel, es in uns zu entfalten und zu
kräftigen. Denn wer könnte stolz sein in der Gemeinschaft
des demütigen Jesus? Demütig wie Er ist, würde Er
uns, wie jemand richtig bemerkt hat, lehren, den letzten
Platz einzunehmen, wenn Er ihn selbst noch nicht eingenommen
hätte. Anbetungswürdiger Herr! möchten wir
doch wenigstens näher bei Dir, in Dir verborgen sein!
Wie unermeßlich groß ist doch die Gnade, die uns in
diese innige Gemeinschaft mit dem Herrn eingeführt hat!
die uns zu Priestern gemacht hat, damit wir an dem
teilnehmen möchten, was die Wonne Gottes, unsers Vaters,
ausmacht, an dem, was Ihm als ein Feueropfer lieblichen
Geruchs dargebracht worden ist und was den Tisch Gottes
bedeckt! Dies ist uns als unser ewiges und unveränderliches
Teil durch einen Bund besiegelt. Deshalb durfte
das Salz des Bundes unsers Gottes bei keinem Opfer
181
fehlen; es stellte die Festigkeit, die Dauerhaftigkeit und
bewahrende Kraft dessen dar, was göttlich war, obgleich
es für uns vielleicht nicht immer lieblich und angenehm
ist; es war das Siegel von feiten Gottes, um zu bezeugen,
daß jener liebliche Geruch nicht vorübergehend,
und daß das Wohlgefallen nicht nur ein augenblickliches,
sondern ein ewig dauerndes war. Denn alles was von
dem Menschen ist, vergeht; alles was von Gott ist, besteht
ewiglich. Das Leben, die Liebe, die Natur und die
Gnade sind bleibend. Diese heilige, absondernde Kraft,
die uns vor Verderbnis bewahrt, ist von Gott und teilt
die Beständigkeit der göttlichen Natur. Wir sind mit Ihm
verbunden, nicht mittelst unsers eignen Willens, sondern
nach der Festigkeit der göttlichen Gnade. Diese Gnade
ist thätig in uns, ist rein und heiligend — aber es ist
Gnade. Wir sind mit Gott verbunden durch die Kraft des
göttlichen Willens, durch die Unverbrüchlichkeit der göttlichen
Verheißung; aber diese Kraft und diese Treue sind
diejenigen Gottes, nicht die unsrigen. Sie sind gegründet
auf das Opfer Christi, durch welches der Bund Gottes
uns besiegelt und untrüglich sicher gemacht worden ist;
anders würde Christus nicht geehrt sein. Es ist der Bund
Gottes, fest geworden durch zwei unveränderliche Dinge,
wobei es unmöglich ist, daß Gott lügen sollte. (Hebr. 6.)
Sauerteig und Honig, die Sinnbilder der Sünde
und unsrer natürlichen Zuneigungen, dürfen also dem
Opfer Gottes nicht beigegeben werden; aber die Kraft
Seiner Gnade, (die das Böse nicht schont, aber das Gute
sicher stellt,) ist da, um uns zu dem unfehlbaren Genuß
der Früchte und Wirkungen dieses Opfers zu befähigen.
Das Salz machte nicht das Opfer aus, aber es durfte
182
bei keinem Opfer fehlen. Es konnte in der That nicht
fehlen bei dem, was von Gott war. Wir müssen uns
daran erinnern, daß der wesentliche und unterscheidende
Charakter des Speisopfers, wie des Brandopfers, der
war, daß es Gott dargebracht wurde. Das konnte von
Adam nicht gesagt werden. In seinem Stande der Unschuld
erfreute er sich Gottes; er dankte Ihm dafür, oder
hätte es wenigstens thun sollen; aber es gab in seinem
Falle nur Freude oder Genuß und Dankbarkeit, er
konnte sich nicht selbst Gott als Opfer darbringen.
Das aber war das Wesen des Lebens Christi. Es
wurde Gott dargebracht, und deshalb war es abgesondert,
ganz und gar abgesondert von allem, was es umgab.
Christus war heilig, nicht nur unschuldig; denn Unschuld
ist das Nichtvorhandeusein des Bösen, die Unkenntnis über
das Böse, nicht aber die Absonderung von dem Bösen.
Gott ist heilig; Er kennt das Gute und das Böse, aber
Er ist unendlich über das Böse erhaben, völlig von ihm
abgesondert. Christus war heilig, ich wiederhole es, nicht
nur unschuldig, sondern heilig; Sein Wille war ganz
und gar Gott geweiht. Er war abgesondert von dem
Bösen und lebte in der Kraft des Heiligen Geistes.
Die wesentlichen Bestandteile des Speisopfers waren
also Feinmehl, Oel und Weihrauch, die Sinnbilder der
menschlichen Natur, des Heiligen Geistes und des Wohlgeruchs
der Gnade. Sauerteig und Honig waren ausgeschlossen.
Was die Art der Zubereitung betrifft, so mengte
man den Kuchen mit Oel und salbte ihn mit Oel.
Ueberdies durfte bei keinem Opfer das Salz des Bundes
Gottes fehlen. Letzteres wird hier deshalb besonders erwähnt,
weil man hätte denken können, daß bei dem, was die
183
«Gnade der menschlichen Natur Christi betraf, was den
Menschen anging, (einen Menschen, der sich selbst Gott
opferte, nicht im Tode, sondern im Leben,) das Salz,
diese göttliche, erhaltende Kraft, hätte fehlen können; oder
mit andern Worten, daß es sich hier nur um die Handlung
eines Menschen als solchen handle. — Noch einmal denn:
das Wesentliche beim Speisopfer war dies, daß eS auf
dem Altar Gottes geopfert, daß es zum lieblichen Geruch
verbrannt und aus den drei obengenannten Dingen her-
gestellt werden mußte, aus Feinmehl, Oel und Weihrauch.
(Fortsetzung folgt.)
„Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet
vor Zehntausenden."
(Hohel. 5, 6—10.)
„Ich öffnete meinem Geliebten; aber mein Geliebter
hatte sich umgewandt, war weitergegangen. Ich war außer
mir, während er redete. Ich suchte ihn und fand ihn nicht;
ich rief ihn, und er antwortete mir nicht." (V. 6.)
Wie einst Joseph auf allerlei Weise die Herzen seiner
Brüder zu üben suchte, weil sie sich so schwer gegen ihn
verschuldet hatten, so wird am Ende der Tage der wahre
Joseph die Herzen Seiner Brüder, der Juden, zu üben
suchen wegen ihres Zustandes vor Gott. Aber Joseph
liebte seine Brüder deshalb nicht weniger, weil er sie
durch eine solch ernste Uebung und Sichtung gehen ließ.
Sein Herz war voll der innigsten Liebe, und sobald der
richtige Augenblick gekommen war, machte es sich Luft in
Ausdrücken der stärksten Zuneigungen. Welch eine Er
184
quickung war es für ihn, als die Schleusen sich öffneir
konnten und die so lange zurückgehaltene Liebe frei ausströmen
durfte! Aehnlich wird es mit dem Herrn und
dem jüdischen Ueberrest in den letzten Tagen sein. Kurz
vor der Erscheinung des Herrn in Macht und Herrlichkeit
zu ihrer völligen Befreiung, kurz vor der vollen Offenbarung
Seiner Liebe als ihr Messias, werden die gläubigen
Juden ähnliche Uebungen durchmachen wie die Brüder
Josephs.
Aber so treffend die Ähnlichkeit ist zwischen den
Erfahrungen der Braut hier und dem, was zwischen Joseph
und seinen Brüdern vorging, oder was dereinst zwischen
Christo und dem Ueberrest Vorgehen wird, so verkehrt
und unrichtig wird das Bild, wenn man es auf die
Kirche oder die Versammlung Gottes anwenden will. Die
vielverbreitete Meinung, daß Christus sich zuweilen vow
dem Gläubigen abwende oder Sein Angesicht vor
ihm verberge, um ihn auf die Probe zu stellen, findet
keinerlei Unterlage in den Briefen. Bei dem Juden, der
unter dem Gesetz stand, war selbstredend alles anders:
Gott wohnte in dichter Finsternis, der Weg ins Allerheiligste
war noch nicht geoffenbart, das vollkommene
Opfer noch nicht gebracht; das Gewissen des Israeliten
war noch nicht vollkommen gemacht, und deshalb genoß
er keinen ungetrübten Frieden. Bezüglich des Christen
hat sich die ganze Sachlage verändert; denn „die Finsternis
vergeht, und das wahrhaftige Licht leuchtet schon".
(1. Joh. 2, 8.) Wir sind „annehmlich gemacht in dem
Geliebten". Unsre Sünden sind, nach dem Urteil Gottes,
alle und für immer hinweggethan durch das eine Opfer
Christi. Als das gerechte Gericht Gottes über die Sünde
185
am Kreuze seinen Ausdruck gefunden hatte, zerriß der
Vorhang im Tempel, und der Weg ins Allerheiligste
wurde geöffnet. Wir, tot in Sünden, und Christus, gestorben
für die Sünde, sind miteinander lebendig gemacht
worden; wir sind mit Ihm auferweckt und in Ihm mitversetzt
in die himmlischen Oerter, indem Gott alle unsre
Uebertretungen vergeben hat. Zwischen Gott und Christo
in der Herrlichkeit kann es keinen Vorhang geben; und
da wir in Christo sind, vollkommen gemacht vor dem
Angesicht Gottes, so kann auch zwischen uns und Gott
kein Vorhang sein. Ueberdies ist der Heilige Geist
herniedergekommen als der Zeuge und die Kraft unsers
gegenwärtigen Einsseins mit dem auferstandenen
und verherrlichten Christus; und Er giebt uns
durch Sein Wohnen in uns den bewußten Genuß unsers
Platzes und unsers Teiles mit Christo in der Gegenwart
Gottes. Schon der Gedanke, daß Christus Sein Angesicht
vor denen verbergen könne, die mit Ihm und wie
Er in dem vollen Lichte Gottes sind, ist der ganzen
Belehrung der Heiligen Schrift über die Kirche Gottes
durchaus fremd. Leider ist es wahr, nur zu wahr,
daß wir vergessen können, wie reich wir in Christo Jesu
gesegnet sind; wir können vergessen, daß wir mit Ihm,
dem aus den Toten Auferstandenen und gen Himmel Gefahrenen,
verbunden sind, daß Sein Leben unser Leben
ist, und daß Seine Freude auch unsre Freude sein sollte;
und wenn wir diese Dinge vergessen, so mag es wohl
sein, daß wir uns von Ihm entfernen und gegen Ihn
sündigen. Und keine Sünde könnte so hassenswürdig für
Gott sein als die Sünde eines Christen, und zwar gerade
deshalb, weil er so nahe zu Gott gebracht ist. Ach, wenn
186
wir sündigen, so müssen wir uns von Christo entfernt
haben; keiner von uns könnte in Seiner Gegenwart
sündigen. Denn in dieser Gegenwart ist die Sünde
auch uns aufs Tiefste verhaßt, und wir haben Gewalt
über sie.
Wenn der Heilige Geist von diesem Gegenstände
spricht, so ist Seine Weise höchst zurückhaltend; Er giebt
bloß die Möglichkeit zu, daß ein Christ sündigen
könne. „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß
ihr nicht sündiget; und wenn jemand gesündigt hat",
— oder mit andern Worten: wenn es einmal Vorkommen
sollte, (was Gott verhüten wolle,) daß einer
von euch sündigte, — „wir haben einen Sachwalter bei dem
Vater, Jesum Christum, den Gerechten. Und Er ist die
Sühnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die
unsern, sondern auch für die ganze Welt." (1. Joh. 2,1. 2.)
Es ist also eine göttliche Vorsorge getroffen für alle Bedürfnisse
unsers Pilgerpfades hienieden. Die Sachwalterschaft
Christi, gegründet auf die Gerechtigkeit Gottes und
auf eine vollbrachte Versöhnung, sichert uns die Reinigung
von alledem, womit wir uns auf unserm Wege verunreinigen
können, und erhält uns tadellos vor dem Angesicht
Gottes. Wie völlig steht dieser gesegneten Wahrheit
die oben erwähnte Meinung entgegen, daß Gott zuweilen
Sein Angesicht hinter einer Wolke verberge, um den
Glauben und die Liebe Seiner Kinder auf die Probe zu
stellen! Wir mögen jene kostbare Wahrheit nicht kennen
oder durch Mangel an Treue sie nicht genießen, aber die
Wahrheit Gottes bleibt unveränderlich dieselbe; und die
Stellung der Kirche vor Ihm in Christo ist ebenso unerschütterlich
wie die Wahrheit, die sie uns offenbart.
187
Wenn wir uns jetzt von der Kirche zu Israel wenden,
so muß uns sogleich der bestimmte Gegensatz zwischen
beiden auffallen. Obwohl „zur Zeit des Endes" der
Ueberrest den Messias erwarten und mit aufrichtiger Liebe
nach Ihm ausschauen wird, so steht er doch noch unter
dem Gesetz und muß den Druck desselben fühlen. Gleich
dem Totschläger in alten Zeiten werden die Israeliten
gleichsam so lange in der Zufluchtsstadt bleiben müssen,
bis eine Aenderung des Priestertums eintritt. (Vergl.
4. Mose 35.) Die Erscheinung ihres gesalbten Herrn,
in der Ausübung Seines Melchisedek-Priestertums, wird
das große Gegenbild jener alten Verordnung ausmachen.
Eine Aenderung des Priestertums durch den Tod brachte
den in den Zufluchtsstädteu eingeschlossenen Totschlägern
Befreiung und die Erlaubnis zur Rückkehr in ihr Land.
„Nach dem Tode des Hohenpriesters darf der Totschläger
zurückkehren in das Land seines Eigentums." (V. 28.)
Israel wird in den letzten Tagen, kurz vor der Erscheinung
des Herrn, durch ein tiefes Sichtungswerk gehen
unter dem Gesetz; viele Schriftstellen beweisen dies klar
und deutlich. Das ernste Gericht Gottes über ihre Sünde
der Blutschuld muß gefühlt und von ihrem Gewissen anerkannt
werden. Und wenn endlich der Herr erscheint,
so wird dieses gesegnete, obwohl ernste und schmerzliche
Werk noch vertieft werden, aber dann nicht mehr unter
Gesetz, sondern unter Gnade. „Und ich werde über das
Haus Davids und über die Bewohner von Jerusalem den
Geist der Gnade und des Flehens ausgießen; und sie
werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und
werden über Ihn wehklagen gleich der Wehklage über den
Eingebornen, und bitterlich über Ihn leidtragen, wie man
188
bitterlich über den Erstgebornen leidträgt." (Lies sorgfältig
Sach. 12, auch 13 und 14.)
Von welch ergreifender Schönheit ist diese Wirklichkeit
und Glut der Liebe, welche der hochgelobte Herr in
den Herzen der Seinigen, selbst inmitten all ihrer Leiden
und Drangsale, Hervorrufen wird und die uns hier im
Hohenliede so lebendig und wahr entgegentritt! Wie innig
sehnt sich das Herz der Braut nach ihrem Geliebten! Das
ist in der That der Charakter des Hohenliedes. Während
die Psalmen uns mehr mit den Uebungen des Gewissens
in dem Ueberrest bekannt machen, teilt uns das Hohelied
vornehmlich die Gefühle und Zuneigungen des Herzens
mit. Diese Seite ist auch in der vorliegenden Stelle vorherrschend,
und wahrlich, es ist eine liebliche Seite. Wir
begegnen hier den Kundgebungen der Bräutigams-Liebe
Jesu und andrerseits dem lieblichen und rührenden Widerschein
dieser Liebe in dem Herzen der Braut. „Ich war
außer mir, während er redete", sagt sie. Sie konnte
Ihn hören, aber nicht sehen, und ihr Herz entfiel ihr;
sie hatte Ihn in einer bösen Stunde vernachlässigt, und
Er hatte sich, da Er ja noch auf dem Boden der Gerechtigkeit
stand, entfernt und war weitergegangen. Allein
Er liebte sie deshalb nicht weniger, wenn Er auch so
handeln mutzte. Ja, wenn sie das Verbergen Seines
Antlitzes so tief fühlte, Er fühlte es noch unendlich tiefer.
Nie brannte das Herz Josephs in solch heißer Liebe zu
seinen Brüdern, als zur Zeit, da Er sich vor ihnen verstellen
und verbergen mußte. Und ein Größerer als Joseph
ist hier! „Jesus Christus, derselbe gestern und heute und
in Ewigkeit." Beachte es wohl, geliebter Leser; es heißt
nicht: Gott ist derselbe gestern und heute und in Ewig
189
keit, obwohl Er das sicherlich ist; sondern es handelt sich
nm „Jesum Christum", unsern Heiland und Bräutigam.
Von Ihm sagt der Heilige Geist, daß Er sich
niemals verändere. O möchten wir deshalb lernen, mehr
uns Ihn zu vertrauen und niemals an Seiner Liebe zu
zweifeln, wenn auch die Umstände sich gestalten, wie sie
wollen! Seine Liebe ist unveränderlich, Seine Gnade
kann uns nie, nie fehlen.
Die jetzt folgende Scene ist eine schmerzliche. Die
Braut hat ihre Gemeinschaft mit dem Geliebten verloren,
und alles ist deshalb in Verwirrung. Gerade die Kraft
und die Glut ihrer Liebe bringen sie in alle möglichen
Verlegenheiten und Kümmernisse. Sie setzt sich gleichsam
den Schmähungen der bloßen Bekenner drinnen aus,
sowie der rohen Behandlung der Welt draußen. Was
ihre Wege betrifft, so ist alles für den Augenblick in Unordnung;
aber ihr Herz ist im allgemeinen an seinem
rechten Platz und schlägt aufrichtig für ihren Herrn. „Ich
beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten
findet, was sollt ihr ihm berichten? daß ich
krank bin vor Liebe." (V. 8.) O wie wenige von
uns können sagen: „Ich bin krank vor Liebe!" Wie
selten setzen wir uns durch die Glut unsrer Zuneigungen
für Jesum der Verfolgung und dem Spott der Welt aus!
Möchten wir mehr von jener Gemeinschaft kennen, die das
Herz brennend macht und unsre Lippen öffnet zu einem
treuen, lebendigen Zeugnis für unsern abwesenden Herrn!
„Was ist dein Geliebter vor einem andern Geliebten,
du Schönste unter den Frauen? was ist dein Geliebter
vor einem andern Geliebten, daß du uns also beschwörest?"
<V. 9.) Was könnte dem Herzen angenehmer sein, was
190
es mehr zu Lob und Dank stimmen, als das Bewußtsein^
daß wir für den, den wir am meisten lieben, schöner
sind als alles andere? Sind wir versichert, daß das die
Gedanken des Herrn über uns sind, so kann unsre Seele
in süßem Frieden ruhen; wir verlangen dann nichts mehr.
Wie erfreut es auch das Herz, wenn andere, die mit
Neid und Eifersucht erfüllt sein könnten, von uns und
zu uns reden, wie Er selbst es thut! Höheres kann es
wahrlich nicht geben.
Und so wird es binnen Kurzem sein mit der Tochter
Zion, der schönen Braut des wahren Salomo. Wenn
sie unter ihrem Messias in die vollen Segnungen des
Reiches eingeführt und von Ihm selbst hochgeehrt sein
wird, dann werden alle mit Freuden ihr zurufen: „Du
Schönste unter den Frauen". Die „Töchter Jerusalems"
stellen hier wohl die Städte Judas vor, die an dem
Tage der zukünftigen Herrlichkeit einen niedrigeren Platz
haben werden als Jerusalem, obgleich sie sich in demselben
Kreis des Segens befinden. Jerusalem und die Juden
werden dann den Ehrenplatz auf dieser Erde einuehmen,
und alle Nationen werden ihre Gunst suchen und sich
unter den Schutz ihrer Flügel begeben. „So spricht
Jehova der Heerscharen: In jenen Tagen, da werden zehn
Männer aus allerlei Sprachen der Nationen ergreifen,
ja, sie werden ergreifen den Rockzipfel eines jüdischen
Mannes und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn
wir haben gehört, daß Gott mit euch ist." (Sach. 8, 23.)
Das ist offenbar noch zukünftig. Aber der Geist der
Prophezeiung geht noch weiter, wenn Er von der Wiederherstellung
der Kinder Zions spricht, indem Er sagt:
„Und Könige werden deine Wärter sein, und ihre Fürstinnen.
191
deine Ammen; sie werden sich vor dir niederwerfen, das
Antlitz zur Erde, und den Staub deiner Füße lecken.
Und du wirst erkennen, daß ich Jehova bin: die auf
mich harren, werden nicht beschämt werden." (Jes. 49, 23.)
Welch ein Wechsel für die Juden, wenn dies stattfinden
wird! Welch eine gesegnete Veränderung für das
so lange zu Boden getretene Volk! Wie wunderbar ist
die Geschichte dieses Volkes, wenn wir seine Vergangenheit,
seine Gegenwart und Zukunft mit einander vergleichen!
„Gehet hin, schnelle Boten, zu der Nation,
die weithin geschleppt und gerupft ist, zu dem Volke,
wunderbar seitdem es ist und hinfort, der Nation von
Vorschrift auf Vorschrift und von Zertretung, deren Land
Ströme beraubt haben." (Jes. 18, 2.) So war es einst;
aber in welch gesegneter Weise wird am Ende alles verändert
sein! Unter dem Bilde einer Braut, eines Gegenstandes
der Liebe, der Bewunderung und der Freude, ist
wieder und wieder in der Schrift von dem Ueberrest
Judas die Rede. Der hochgelobte Herr selbst, der Ueberrest
aus den anderen Stämmen Israels, samt den Nationen
um sie her, werden mit einander ihre unvergleichliche Schönheit
bewundern. An jenem Tage wird das ganze Volk,
die zwei und die zehn Stämme, in sein Land zurückgeführt
werden, und zwar jeder Stamm in sein eignes Los.
Auf die Frage der Töchter Jerusalems: „Was ist
dein Geliebter vor einem andern Geliebten, daß du uns
also beschwörest?" antwortet die Braut sofort mit einer
langen Beschreibung ihres Geliebten. Mit einer Schärfe
und Genauigkeit entwirft sie ein Bild von Ihm, die nur
aus einer unvermischten, tiefen Liebe hervorgehen können.
Ihre Gefühle und Zuneigungen sind mit doppelter Stärke
192
erwacht gerade um der Vorwürfe willen, die sie sich machen
muß. Ihre Erinnerung an Ihn ist umso lebhafter, weil sie
Ihn vernachlässigt hat, und alle ihre Gefühle sind tief erregt,
weil sie Ihn nicht findet. In diesem Gemütszustände
beschreibt sie Ihn den Töchtern Jerusalems von Kopf bis
zu Fuß. O wären wir doch auch allezeit bereit, in demselben
Augenblick, da sich die Gelegenheit dazu darbietet,
von Jesu zu reden! Die Braut bedurfte keiner Zeit zum
Nachsinnen. Erfreut über die Gelegenheit, von Ihm zu
erzählen, ist alles, was sie bedarf, ein hörendes Ohr und
ein glaubendes Herz. Wie in anderen Tagen bei dem
Weibe am Jakobsbrunnen, fließt auch ihr Herz über. Ihre
Liebe nimmt gerade durch die Enttäuschung, die sie erfährt,
einen leidenschaftlichen Charakter an. Es erleichtert ihr
Herz, von Ihm reden zu können. Liebe ist die beste Gabe
eines Evangelisten, Liebe zu dem Heilande und Liebe zu
verlornen Sündern. Und wenn diese Liebe sich zu einer
leidenschaftlichen Höhe erhebt, wird der Mund beredt. Er
beschreibt mit wahrhaft glühender Beredsamkeit die Schönheiten
des Herrn. Laß uns mit nichts Geringerem zufrieden
sein, mein lieber Leser. Liebe zu Jesu, Liebe zu
den Sündern ist gut, aber ein wahrer Evangelist bedarf
mehr als das. Trachte darnach, daß dein Herz von
wahrem Liebes feuer durchdrungen sei. Bist du ein Evangelist?
Bringe dann alles, was dich in deinem Werke
behindern will, auf dem Altar gänzlicher Widmung und
Hingebung zum Opfer. Bedenke, daß Evangelium-Ver-
kündigen nicht Lehren ist, und Lehren nicht Evangelium-
Verkündigen. Es handelt sich um Leben oder Tod, um
ewige, unaussprechliche Segnung oder ewiges, unsagbares
Weh. Denke au die ernste Zukunft und schreie zu Gott,
193
daß nicht eine Seele ungesegnet und unberührt von dir
weggehe I
O sprich von Ihm, von Seiner Liebe,
Die all Erkennen übersteigt;
Von Ihm, der von des Vaters Throne
Zu Sündern sich herabgeneigt;
Der kam, vom Tode zu erretten.
Uns zu besrei'n aus Satans Ketten!
Ja, sprich von Jesu, von der Gnade,
Die allen, allen Hilfe bot;
Von Seinem Leben, Seinem Wirken,
Von Seinem Leiden, Seinem Tod;
Und Seine Thaten, Seine Worte
Verkünde laut an jedem Orte!
„Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet
vor Zehntausenden." (V. 10.) Damit
beginnt die Braut die Beschreibung ihres Geliebten. Von
David wird, ohne Zweifel im Blick auf seine jugendliche
Kraft und Schönheit, gesagt: „Er war rötlich und von
gutem Ansehen". Aber in der Beschreibung, die hier
von dem wahren David gegeben wird, mag der Geist
der Prophezeiung wohl an die fleckenlose Reinheit Seiner
Person und an den Charakter Seines Opfers erinnern
wollen. „Weiß und rot" sind bedeutungsvolle Worte.
Es ist die Freude des Heiligen Geistes, uns immer wieder,
sei es in Vorbildern oder in Gleichnissen, die Schönheit
der Person Christi und den Wert Seines Opfers vor
Augen zu stellen. „Könnt ihr mir etwas nennen, das
weißer ist als Schnee?" fragte einmal ein Sonntagsschulhalter
seine jungen Schüler und Schülerinnen. „Eine
Seele, die im Blute Jesu gewaschen ist", antwortete ein
kleines Mädchen; und sie hatte Recht. Aber wenn ein
194
Brand, der aus dem Feuer gerissen ist, der durch die
Sünde geschwärzt und gleichsam schon dem Feuer des
Gerichts verfallen war, weißer gewaschen werden kann
als Schnee, so weiß wie das Licht des Himmels kraft
des kostbaren Blutes Christi, was muß dann, so mögen
wir wohl fragen, die Reinheit und Heiligkeit Dessen sein,
der durch Sein Blutvergießen ein so wunderbares Werk
möglich gemacht hat? Ja fürwahr, schon eine einzige errettete
Seele beweist die herrliche Wirkung dieses Opfers.
Aber was werden wir sagen, wenn wir bald im Himmel
Myriaden über Myriaden von erlösten Seelen sehen
werden, die das ewig neue Lied singen: „Dem, der uns
liebt und uns von unsern Sünden gewaschen hat in Seinem
Blute und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern
Seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und
die Macht in die Zeitalter der Zeitalter! Amen."
Geliebter Leser! was wir dann sehen werden mit
unsern Augen, das sollten wir jetzt glauben mit unsern
Herzen. Laß uns deshalb sinnen über die kostbaren Worte:
„Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet vor Zehntausenden."
Was ist so weiß, so rein, so heilig wie die
hochgelobte Person des SohneS deS Menschen, wie Jehova-
Jesus, die Wurzel und das Geschlecht Davids? was so
rot wie das Blut, das auf Golgathas Höhen aus Seinen
Wunden floß? Wer wäre so würdig, das Haupt aller
himmlischen Heerscharen zu sein, wie Er, der Anführer
unsrer Seligkeit?
So Jesum zu kennen, ist gegenwärtiges Heil,
bedeutet Frieden und Glück. Zu wissen, daß meine
Sünden ausgelöscht, ja für immer ausgelöscht sind
durch Sein kostbares Blut, bedeutet vollkommne Segnung.
195
Sie existieren jetzt nicht mehr vor Gott, dem Richter über
die Sünde. Ich habe Vergebung aller meiner Sünden;
ich weiß es, daß ich sie habe, denn Gott sagt es; aber
zu wissen, daß meine Sünden nicht nur vergeben, sondern
auch ausgelöscht sind, ist ein noch weiter gehender
Gedanke. Wie ein Stein in die Tiefe des Meeres versinkt,
um nie wieder gesehen zu werden, so sind die Sünden
des Gläubigen alle begraben in den tiefen Wassern
der Vergessenheit Gottes, um nie wieder zum Vorschein
zu kommen. Und Gott ist durch das Werk Seines geliebten
Sohnes so völlig verherrlicht worden, daß Er jetzt
nicht nur Seine Gnade, sondern auch Seine Gerechtigkeit
erweist, wenn Er alle segnet, die an Jesum glauben. Er
kann jetzt Seine Liebe darin befriedigen, daß Er dem
vornehmsten Sünder, der sich vor dem Namen des einst
verachteten, aber jetzt hoch erhobenen Menschensohnes beugt,
in Gnaden begegnet.
Gedanken.
Gottes Heiligkeit ist ebenso schnell in der Verwerfung
alles „fremden Feuers" (3. Mose 10), wie Seine Gnade
bereit ist, den schwächsten Dank eines aufrichtigen Herzens
anzunehmen. Er muß Sein gerechtes Gericht ergehen
lassen über alle falsche Anbetung, aber Er wird niemals
„das geknickte Rohr zerbrechen, noch den glimmenden Docht
auslöschen". (Jes. 42, 3.)
Wenn wir versäumen, im Verborgenen persönlich mit
Gott Gemeinschaft zu machen, so wird unser Dienst unfruchtbar
sein und unser Kampf in Niederlage endigen.
196
Die Gemeinschaft eines Christen ist gleich einer zarten,
empfindlichen Pflanze; sie wird leicht gestört durch die
rauhen Einflüsse einer bösen Welt. Sie wächst und entfaltet
sich in dem Licht und der Luft des Himmels, aber
sie muß sich fest verschließen vor den erkältenden und ausdörrenden
Winden der Zeit und der Vernunft. — Wenn
unsre Herzen aufrichtig wünschen, die göttliche Gegenwart
zu genießen, wird es uns nicht schwer fallen, die Dinge
zu erkennen, die uns jene unaussprechliche Segnung zu
rauben drohen.
Droben ist Ruh'.
Pilger nur sind wir hier,
Sehnsuchtsvoll eilen wir
Der Heimat zu.
Geht's auch auf rauher Bahn,
Geht es doch himmelan;
Darum getrost voran!
Droben ist Ruh'.
Trifft uns hier Spott und Hohn,
Herrlicher Gnadenlohn
Winket uns zn.
Kronen der Herrlichkeit,
Ewige Seligkeit
Liegen uns dort bereit;
Droben ist Ruh'.
Wenn auch die Feinde dräun,
Jesus will bei uns sein,
Decket uns zu.
Führt uns durch Sturmgebraus
Sicher ins Vaterhaus;
Bald geh'n wir ein und aus
In fel'ger Ruh'.
Bald, ja bald schaun wir Ihn,
Sinken anbetend hin,
Jauchzen Ihm zu.
Sehn Ihn von Angesicht
Jubeln im Himmelslicht;
Ewig nichts mehr gebricht!
Droben ist Ruh'.
Die Vorbilder des 3. Buches Mose.
(Fortsetzung.)
Das Dank- oder Friedensopfer.
Wir kommen jetzt zu dem Dank- oder Friedensopfer.
Dasselbe ist das Vorbild der Gemeinschaft der Heiligen
mit Gott, gemäß der Wirksamkeit des Opfers, sowie ihrer
Gemeinschaft mit dem Priester, der es für uns dargebracht
hat, undsunt der ganzen Kirche Gottes. Das Friedensopfer
kommt nach denjenigen Opfern, welche uns den
Herrn Jesum in Seiner Dahingabe in den Tod (Brandopfer),
und in Seiner Dahingabe und Gnade im Leben,
aber bis zum Tode und zur Feuerprobe (Speisopfer) darstellen
; wir sollen dadurch verstehen, daß die Gemeinschaft
mit Gott einzig und allein auf die vollkommne Annehmlichkeit
und den Wohlgeruch dieses Opfers gegründet ist,
und zwar nicht nur weil das Opfer nötig war, sondern
weil Gott Seine Wonne daran fand.
Ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß,
wenn ein Sünder Gott nahen wollte, das Sündopfer zuerst
kam; denn die Sünde muß getragen und hinweggethan
fein, soll anders der Sünder fähig sein vor Gott hinzutreten.
War er aber so gereinigt und rein, so nahte er
kraft des Wohlgeruchs der Opfergabe Gottes, d. h. kraft
der vollkommnen Annehmlichkeit Christi, welcher, keine
198
Sünde kennend, sich in einer Welt der Sünde Gott geweiht
hat, um Ihn vollkommen zu verherrlichen. Er gab
Sein Leben hin, damit auch alles das, was Gott im
Gericht war, verherrlicht werden möchte, und zwar durch
den Menschen in der Person Christi, und damit so eine
unendliche Gunst auf diejenigen käme, welche durch Ihn
Gott nahen würden. „Darum liebt mich der Vater, weil
ich mein Leben lasse, auf daß ich es wiedernehme."
(Joh. 10, 17.) Der Herr sagt hier nicht: „weil ich mein
Leben für die Versammlung lasse", — das wäre
eher das Sündopfer, — sondern Er redet von der Kostbarkeit
Seines Werkes und dem Seiner That innewohnenden
Wert; denn in dieser That hat der Mensch
(Christus) alle Vollkommenheit erfüllt. Die ganze Wahrheit
und Liebe Gottes, samt Seiner Gerechtigkeit wider
die Sünde, wurden in dem Menschen, in Jesu Christo,
vollkommen verherrlicht. „Jetzt ist der Sohn des Menschen
verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in Ihm." (Joh.
13, 31.) „Denn sintemal durch einen Menschen
der Tod kam, so auch durch einen Menschen die
Auferstehung der Toten." (1. Kor. 15, 21.) Das
Böse, welches Satan hervorgerufen hat, ist weit mehr
als wieder gut gemacht worden, und zwar auf demselben
Schauplatz, wo er das Verderben eingeführt hatte, und
durch dasselbe Werkzeug, durch welches er es einführtc:
durch den Menschen. Wenn Gott einerseits im Menschen
und durch den Menschen verunehrt worden ist, so ist Er
andrerseits in gewissem Sinne (in der Person Jesu) des
Menschen Schuldner geworden im Blick auf Seine höchste
und ausgezeichnetste Verherrlichung. Denn ist auch alles
in einer Hinsicht nur ein freies Geschenk Gottes an uns,
199
so ist es doch zugleich der Mensch gewordene Christus,
der das Werk vollbracht hat. Alles was Christus war,
und alles was Er gethan hat, war Gott unendlich angenehm;
und hier finden wir die Grundlage für unsre
Gemeinschaft, nicht aber im Sündopfer. Daher folgt auch
das Friedensopfer unmittelbar auf das Brandopfer und
SpeiSopfer, obwohl, wie schon bemerkt, das Sündopfer in
erster Linie steht, sobald es sich um die Anwendung des
Opfers auf den Menschen handelt.
Das erste, was beim Friedensopfer geschehen mußte,
war die Darstellung und das Schlachten des Opfers an
der Thür des Zeltes der Zusammenkunft, sowie das
Sprengen des Blutes; mit andern Worten das, was die
Grundlage jedes tierischen Opfers ausmacht. Der, welcher
das Opfer darbrachte, machte sich eins mit demselben, indem
er seine Hände auf den Kopf des Opfertieres legte. *)
Hernach wurde alles Fett, ganz besonders das der innern
Teile, auf dem Brandopferaltar vor Jehova verbrannt.
Das Blut und das Fett zu essen war verboten. Das Blut
war das Leben und gehörte notwendigerweise Gott; denn
das Leben kam in einer besondern Weise von Ihm. Das
Fett wird in der Schrift häufig als Sinnbild gebraucht.
So lesen wir z. B.: „Ihr Herz ist dick geworden wie
Fett." „Da ward Jeschurun fett und schlug aus." „Ihr
fettes Herz (Eig. ihr Fett) verschließen sie, mit ihrem
Munde reden sie stolz." (Ps. 119, 70; 5. Mose 32, 15;
Pf. 17, 10.) Das Fett ist das Sinnbild der Energie und
*) Eine Ausnahme von dieser Regel bildeten das Sündopfer
am großen Versöhnungstage und die rote Kuh. (3. Mose 16;
4. Mose 19.) Allein diese Ausnahmen bestätigen nur den großen
Grundsatz oder dienen zur Klarstellung einzelner Teile desselben.
200
Kraft des Willens, des Innern des menschlichen Herzens.
Wenn daher Christus Seiner gänzlichen Entäußerung und
Erniedrigung Ausdruck geben will, so sagt Er: „Alle
meine Gebeine könnte ich zählen", und in Ps. 102, i>:
„Ob der Stimme meines Seufzens klebt mein Gebein an
meinem Fleische."
In Jesu war indes alles, was an Energie und
Kraft in der Natur vorhanden war, Sein ganzes Inneres,
ein Brandopfer für Gott, das völlig als ein Opfer lieblichen
Geruchs Gott dargebracht wurde. Es war Gottes
Anteil an dem Opfer, „eine Speise des Feueropfers dem
Jehova". Jehova fand Seine Wonne daran; Seine Seele
ruhte darin, denn es war etwas sehr Gutes: gut inmitten
des Bösen, gut wegen der Energie der Hingabe an Ihn,
gut wegen deS vollkommnen Gehorsams. Wenn das Auge
Gottes, gleich der Taube Noahs, über diese Erde hinblickte,
konnte es auf nichts mit Wohlgefallen ruhen, bis Jesus
auf sie Herabstieg; auf Ihn konnte das Vaterauge mit
Wonne blicken. Welches auch die Ratschlüsse des Himmels
sein mochten, so blieb er doch, was den Ausdruck seines
Wohlgefallens betraf, so lange verschlossen, bis Jesus auf
die Erde kam, Er, der zweite Mensch, der Vollkommne, der
Heilige, der da kam, um sich Gott zu opfern, um Seinen
Willen zu thun. In demselben Augenblick, da Jesus sich
anschickte, Seinen öffentlichen Dienst anzutreten, öffnete
sich der Himmel; der Heilige Geist kam hernieder, um auf
Ihm, dem einzigen Ort, wo Er hienieden eine Ruhestätte
finden konnte, zu bleiben, und die Stimme des Vaters,
die jetzt nichts mehr zurückzuhalten vermochte, bezeugte vom
Himmel her: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem
ich Wohlgefallen gefunden habe." Sollte dieser Gegen
201
stand, welcher zu groß, zu kostbar war, als daß der
Himmel und die Liebe des Vaters hätten schweigen können,
irgend etwas von seiner Vortrefflichkeit und seinem Wohlgeruch
in einer Welt der Sünde einbüßen? Weit entfernt
davon! Im Gegenteil sollte gerade hier Seine ganze
Kostbarkeit erprobt und erwiesen werden.
Wenn Jesus durch das, was Er litt, den Gehorsam
lernte, so war es wahr von Ihm, daß jede Regung Seines
Herzens Gott geweiht war. Er wandelte in der
Gemeinschaft Seines Vaters und ehrte Ihn in allem, im
Leben und im Tode. Jehova fand an Ihm Seine beständige
Wonne, und am allermeisten dann, als Er Sein
Leben ließ; da offenbarte sich „die Speise des Opfers".
So viel über den großen Grundsatz des Friedensopfers;
aber dann wird uns der Anteil gezeigt, den unsre Seelen
an diesem allem haben. Das Fett wurde als ein Brandopfer
aus dem Altar verbrannt, zum Ausdruck dessen, daß
jene Widmung Christi für Gott völlig erprobt worden ist
und sich bis zum Aeußersten als vollkommen erwiesen hat.
— Aus dem „Gesetz" des Friedensopfers (Kap. 7) ersehen
wir, daß der Nest des Opfertieres gegessen werden
mußte. Die Brust war für Aaron und seine Söhne,
welche vorbildlich die ganze Kirche oder Versammlung Gottes
darstellten; der rechte Schenkel war für den Priester, der
die Sprengung des Blutes vollzog, ein besonderes Vorbild
von Christo als opferndem Priester droben; was von dem
Tiere übrigblieb, wurde von dem gegessen, der es darbrachte,
und von seinen Geladenen. Auf diese Weise bestand
eine Einsmachung und Gemeinschaft mit der Herrlichkeit
und dem Wohlgefallen, ja mit der Wonne Dessen,
welchem das Opfer dargebracht wurde; ferner mit dem
202
Priestertum und dem Altar, den Werkzeugen und Mitteln
zur Darbringung des Opfers.
Ein ähnliches Verfahren gab es auch unter den
Heiden; daher die Beweisführung des Apostels hinsichtlich
deS den Götzen Geopferten in 1. Kor. 10. Wenn er in
dieser Stelle vom Abendmahle des Herrn redet, dessen
Bedeutung mit dem uns beschäftigenden Vorbilde in inniger
Verbindung steht, so sagt er: „Sehet auf Israel nach
dem Fleische; sind nicht die, welche die Schlachtopfer essen,
in Gemeinschaft mit dem Altar?" (V. 18.) Dieser Grundsatz
war so wahr, daß in der Wüste, (wo dies ausführbar
war,) niemand das Fleisch irgend eines Tieres
essen durfte, es sei denn daß er es vorher als Gabe vor
das Zelt der Zusammenkunft gebracht hatte. Eine ähnliche,
zur Aufrechthaltung des Grundsatzes notwendige
Verordnung wurde im Lande Kanaan gegeben. Was uns
Christen betrifft, so sollten wir im Namen des Herrn Jesu
essen, indem wir unsre Opfer des Lobes, d. i. die Frucht
der Lippen, die Seinen Namen bekennen, darbringen und
auf diese Weise alles, woran wir teilhaben, wie auch uns
selbst Gott weihen, in Gemeinschaft mit dem Geber und
mit Demjenigen, der uns in dem Genuß des uns Gegebenen
erhält. Indes handelt es sich in unserm Kapitel
um ein Opfer im eigentlichen Sinne.
So ist denn die Darbringung Christi als Brandopfer
Gott höchst angenehm; Er findet Seine Wonne daran;
Seine Seele erfreut und erquickt sich an diesem duftenden
Wohlgeruch. Die Anbeter nun, welche gleichsam vor dem
Herrn, an Seinem Tische Platz nehmen, nahen sich auch
kraft dieses vollkommnen Opfers und nähren sich von
demselben; sie haben vollkommene Gemeinschaft mit Gott
203
an derselben Freude über das Opfer Jesu, ja au Jesu
selbst, der sich also geopfert hat; sie besitzen mit Gott
denselben Gegenstand der Freude, sie genießen eine gemeinsame
gesegnete Freude an dem herrlichen Erlösungswerke,
welches Jesus vollbracht hat. Gleichwie Eltern sich
gemeinschaftlich an ihren Kindern erfreuen, eine Freude,
die noch durch das gegenseitige Interesse an ihnen erhöht
wird, haben auch die Anbeter, welche mit dem Geiste
erfüllt und durch Christum erkauft sind, die nämlichen
Gefühle, wie der Vater, hinsichtlich der Kostbarkeit Christi.
Sie erfreuen sich mit Gott an der Vortrefflichkeit dieses
vollkommnen Opfers. Und sollte der Priester, der alles
dieses zuwege gebracht hat, allein ausgeschlossen sein von
dieser Freude? Nein; auch Er hat Seinen Teil daran.
Er, der das Opfer dargebracht hat, nimmt mit teil an
der Freude der Erlösung; und die ganze Versammlung
soll teil daran nehmen.
Jesus findet also als Priester Sein Wohlgefallen
an der Freude dieser Gemeinschaft, die Er selbst zwischen
Gott und Seinem Volke (den Anbetern) zuwege gebracht
hat und deren Gegenstand Er ist. Denn worin besteht
die Freude eines Erlösers, wenn nicht in der Freude, in der
Gemeinschaft und dem Glück seiner Erlösten? — Das
ist also der wahre Gottesdienst der Heiligen. Er besteht
darin, daß man sich gemeinsam in Gott freut, kraft der
Erlösung und der Dahingabe Jesu; daß man dieselben
Gefühle mit Gott teilt, indem man sich mit Ihm an der
Kostbarkeit des reinen, fleckenlosen Lammes erfreut, das
sich selbst aufgeopfert, das uns erkauft, versöhnt und in
diese Gemeinschaft eingeführt hat, und uns nun auch die
Zuversicht giebt, daß die Freude, die wir genießen, die
204
Freude Jesu selbst ist, des Urhebers und Mitteilers
derselben.
Diese Freude der Anbetung gehört notwendigerweise
der Gesamtheit der Erkauften an, als in den himmlischen
Oertern betrachtet, mögen sie uns nun schon vorangegangen
sein, oder noch hienieden im Leibe wallen. Denn Aaron
und seine Söhne mußten auch ihren Anteil haben; und
sie sind stets das Vorbild der Versammlung Gottes, als
ein Ganzes, ein Körper betrachtet, dessen Glieder allesamt
das Recht haben, in die himmlischen Oerter einzugehen
und Weihrauch darzubringen, da sie zu Priestern
Gottes gemacht sind. Denn die Stiftshütte mit allen
ihren Verordnungen war das Muster der himmlischen
Dinge, und diejenigen, welche die Kirche oder Versammlung
Gottes ausmachen, bilden auch die Gesamtheit, die Körperschaft
der himmlischen Priester Gottes. Jeder wahre
Gottesdienst kann deshalb nicht von der ganzen Körperschaft
der wahren Gläubigen getrennt werden. Ich kann
nicht in Wirklichkeit mit meinem Opfer der Hütte Gottes
nahen, ohne daselbst auch die Priester der Hütte zu finden.
Ohne den Hohenpriester ist alles eitel; denn was haben
wir ohne Jesum? Ihn aber kann ich nicht finden, als
nur in Verbindung mit Seinem Leibe, Seinem geoffenbarten
Volke. Gott hat überdies Seine Priester, und ich kann
nur auf dem von Ihm vorgeschriebenen Wege nahen, in
Verbindung mit und in Anerkennung von allen denen,
die der Hut Seines Hauses warten, d. i. der ganzen
Körperschaft derer, die in Christo geheiligt sind. Alles was
nicht mit diesem Geiste in Uebereinstimmung ist, steht im
Widerspruch mit der Verordnung Gottes und ist kein wahres,
der Einsetzung Gottes entsprechendes Friedensopfer.
205
Es bleibt uns noch übrig, auf einige andere Einzelheiten
einzugehen. Zunächst konnten nur diejenigen, welche rein
waren, an dem Opfermahle teilnehmen. Wir wissen, daß
heute die moralische Reinigung an die Stelle der cere-
moniellen getreten ist: „Ihr seid schon rein um des
Wortes willen, das ich zu euch geredet habe." (Joh.
15, 3.) „Gott machte keinen Unterschied zwischen uns
und ihnen, indem Er durch den Glauben ihre Herzen
reinigte." (Apstgsch. 15, 9.) Damals waren es die Israeliten,
welche teil hatten an den Friedensopfern; und
wenn ein Israelit unrein war durch irgend etwas, was
ihn nach dem Gesetz Gottes verunreinigte, so konnte er,
so lange seine Verunreinigung dauerte, nicht von dem
Opfer essen. So sind es heute auch nur die Christen,
(deren Herzen durch den Glauben gereinigt sind, indem
sie das Wort mit Freuden ausgenommen haben,) welche
wirklich vor Gott anbeten und an der Gemeinschaft der
Heiligen teilnehmen können; ist das Herz verunreinigt,
so ist die Gemeinschaft unterbrochen. Niemand, der offenbar
verunreinigt ist, hat das Recht, an dem Gottesdienst
und der Gemeinschaft der Versammlung Gottes teilzunehmen.
Der Leser wolle beachten, daß „kein Israelit
sein" oder „nicht rein sein" zwei ganz verschiedene Dinge
waren. Wer kein Israelit war, hatte niemals an den
Friedensopfern teil; nie durfte er sich dem Zelte der
Zusammenkunft nahen. „Nicht rein sein" bewies aber
nicht, daß jemand kein Israelit war (im Gegenteil, die
Zucht, von der wir reden, fand nur auf Israeliten ihre
Anwendung); aber die Verunreinigung machte ihn unfähig,
sich mit denen, die rein waren, an den Vorrechten der
Gemeinschaft zu beteiligen, weil die Friedensopfer, obwohl
206
die Anbeter teil daran hatten, dem Herrn gehörten.
(Kap. 7, 20. 21.) Wer unrein war, sah sich dieses
Anrechts beraubt. — Die wahren Anbeter nun müssen
„den Vater in Geist und Wahrheit anbeten; denn auch
der Vater sucht solche als Seine Anbeter." (Joh. 4, 23.)
Wenn aber der Geist es ist, der die Anbetung und die
Gemeinschaft bewirkt, so ist es klar, daß nur diejenigen
daran teilnehmen können, welche den Geist Christi besitzen
und Ihn nicht betrübt haben; denn durch die Befleckung
der Sünde wird die Gemeinschaft, die durch den Geist
ist, unmöglich gemacht.
Es gab allerdings in Verbindung mit dem Friedensopfer
eine Verordnung, die dem eben Gesagten zn widersprechen
scheint, in Wirklichkeit aber den Gegenstand nur
um so schärfer beleuchtet. Man mußte nämlich mit den
Gaben, welche dieses Opfer begleiteten, gesäuerte
Brote darbringeu. (Kap. 7, 13.) Denn wenn auch das,
was unrein ist oder vielmehr was als solches erkannt
werden kann, fern bleiben muß, so giebt es doch immer
eine Beimischung von Bösem in unsrer Anbetung. Der
Sauerteig ist da, denn der Mensch kann nicht ohne
Sauerteig sein. Es mag verhältnismäßig wenig vorhanden
sein, wie es der Fall sein wird, wenn der Geist nicht
betrübt ist; aber wo irgend der Mensch ist, da ist auch
Sauerteig. — Neben den gesäuerten Broten gab es auch
ungesäuerte Kuchen; denn Christus ist da, und der Geist
Christi ist in uns, in welchen sich Sauerteig vorfindet,
weil wir Menschen sind.
Mit jener gottesdienstlichen Handlung war dann noch
eine andere wichtige Anordnung verknüpft. War nämlich
das Friedensopfer ein Gelübde oder eine freiwillige Gabe,
207
so durfte das Fleisch des Opfertieres noch am zweiten
Tage, nachdem man das Fett, die Speise Jehovas, verbrannt
hatte, gegessen werden. Handelte es sich dagegen
um ein Dankopfer, so mußte das Fleisch an demselben
Tage gegessen werden, an welchem man das Opfer darbrachte:
„er soll nichts davon liegen lassen bis an den
Morgen". Hierdurch wurden die Reinheit der Anbeter
und die Darbringung des Fettes vor Gott enge mit einander
verbunden. So ist es denn auch unmöglich, wahre
geistliche Anbetung und wahre Gemeinschaft von der vollkommnen
Dahingabe Christi an Gott zu trennen. Sobald
wir diese aus dem Auge verlieren, sobald unsre
Anbetung sich von dem Opfer trennt, von der Wirksamkeit
desselben und von dem Bewußtsein, wie vollkommen wohlgefällig
Jesus vor dem Vater ist, wird er fleischlich; er
wird zu einer Form oder dient nur zur Befriedigung des
Fleisches. Wenn das Friedensopfer nicht in Verbindung
mit der Darbringung des Fettes gegessen wurde, so war
es ein bloß fleischliches Fest, oder eine bloße Form des
Gottesdienstes, welche nichts mit dem Gegenstände der
Wonne und des Wohlgefallens GotteS gemein hatte; eine
solche Handlung war nicht nur nicht wohlgefällig vor
Gott, sondern geradezu gottlos.
Wenn uns der Heilige Geist zu einer wahren geistlichen
Anbetung anleitet, so führt Er uns in die Gemeinschaft
mit Gott, in die Gegenwart Gottes ein; und dann
wird ganz naturgemäß der unendliche Wert, welchen das
Opfer Seines Sohnes für Gott hat, unserm Geiste gegenwärtig.
Wir nehmen teil an der Wertschätzung dieses
Opfers; sie bildet einen unzertrennlichen und unerläßlichen
Teil unsrer Gemeinschaft und unsers Gottes
208
dienstes. Wir können unmöglich in der Gegenwart und
Gemeinschaft Gottes sein, ohne dieses Opfer dort
zu finden. Es ist ja die Grundlage unsrer Annahme bei
Gott und unsrer Gemeinschaft mit Ihm. Verlieren wir
das aus dem Auge, so wird unser Gottesdienst fleischlich,
die Gebete werden zu einer bloßen Form, zu dem was
man zuweilen eine „Gebetsgabe" nennen hört; und was
könnte betrübender sein als das? Anstatt durch die Salbung
des Heiligen Geistes der Ausdruck der Gemeinschaft
zu sein und unsre Bedürfnisse und Wünsche kundzugeben,
bestehen die Gebete aus einer fließenden Aufzählung bekannter
Wahrheiten und Grundsätze. Das Singen der
Lieder wird zu einer bloßen Befriedigung für das Ohr;
man erfreut sich an der lieblichen Melodie und schwelgt
in den schönen Worten. Alles wird zu einer äußern
Form. Anstatt die Gemeinschaft im Geiste zu sein, ist
es das Fleisch in einer neuen Form; und ich brauche
kaum zu sagen, daß das durchaus böse ist. Einen solchen
Gottesdienst kann der Geist Gottes nicht anerkennen; er
ist nicht im Geist und in der Wahrheit, sondern wird zu
einer Sünde.
Es gab, wie schon angedeutet, einen Unterschied in
dem Werte der verschiedenen Arten des Friedensopfers:
war es ein Gelübde, so konnte es noch am zweiten Tage
gegessen werden; war es ein Dankopfer, nur am Tage
seiner Darbringung. Dies stellt uns im Vorbilde zwei
verschiedene Stufen geistlicher Kraft dar. Wenn unser
Gottesdienst das Ergebnis einer einfältigen und ungeheuchelten
Ergebenheit ist, so kann er länger andauern
und annehmlich sein, weil wir, mit dem Geiste erfüllt, in
wahrer Gemeinschaft dastehen; der Wohlgeruch unsers
209
Opfers bleibt auf diese Weise länger vor Gott erhalten,
welcher an der Freude Seines Volkes teilnimmt. Denn
die Kraft des Geistes erhält, in der Gemeinschaft, Seine
eigne Freude in den Seinigen vor Gott annehmlich. Ist
dagegen die Anbetung die natürliche Folge schon empfangener
Segnungen, so ist sie Gott wohl auch annehmlich,
(denn wir sind Ihm stets Dank schuldig,) aber sie
ist nicht die Frucht derselben Energie der Gemeinschaft.
Die Danksagung wird Gott ohne Zweifel in Seiner Gemeinschaft
dargebracht, aber mit der Danksagung hört
auch die Gemeinschaft auf.
Auch ist zu beachten, daß wir beim Gottesdienst im
Geiste anfangen und im Fleische vollenden können. Wenn
ich z. B. länger singe, als der Geist es bewirkt, was nur
zu häufig geschieht, so wird mein Singen, das im Anfang
eine wahre Herzensmelodie zur Ehre des Herrn war, in
angenehmen Gedanken und Empfindungen, in bloßer Musik,
d. h. also im Fleische endigen. Diesen Wechsel wird die
geistliche Seele, der einsichtsvolle Anbeter alsbald empfinden.
Durch einen solch fleischlichen Gottesdienst wird die Seele
immer geschwächt und gewöhnt sich gar schnell an einen
Formendienst und an geistliche Schwäche; und dann wird
sehr bald durch die Macht des Feindes das Böse inmitten
der Anbeter eindringen. Möge uns der Herr nahe bei
sich erhalten, damit wir in Seiner Gegenwart alles beurteilen;
denn außerhalb derselben sind wir zu jedem geistlichen
Urteil unfähig.
Der Ausdruck in Kap. 7, 20: „das für Jehova
ist", ist unsrer ernsten Beachtung wert. Der Gottesdienst,
das was bei demselben in unsern Herzen vorgeht, ist für
Gott; es gehört nicht uns, sondern dem Herrn. Der
210
Herr hat es zu unsrer Freude in unsre Herzen gelegt,
damit wir teil haben möchten an dem Opfer Christi, an
Seiner eignen Freude an Christo. Sobald wir den Gottesdienst
uns zueignen, entweihen wir ihn. Deshalb mußte
das von dem Opfertier Uebriggebliebene mit Feuer verbrannt
werden; und aus demselben Grunde durfte nichts
Unreines sich daran beteiligen. Eben deshalb war
es auch nötig, das Fleisch in Verbindung mit dem Verbrennen
des Fettes für Jehova zu essen, damit es wirklich
Christus in uns sei, und mithin eine wahre Gemeinschaft
mit Gott, die Darbringung Christi (von dem unsre
Seelen sich nähren) vor Gott.
Vergessen wir nie, daß unser ganzer Gottesdienst
Gott gehört, daß er der Ausdruck der Vortrefflichkeit
Christi in uns ist, und dementsprechend unsre Freude
vor Gott, durch einen und denselben Geist. Christus im
Vater, wir in Ihm und Er in uns, das ist die wunderbare
Kette der Vereinigung, welche ebensowohl in der
Gnade wie in der Herrlichkeit besteht. Unser Gottesdienst
ist der Ausdruck und Ausfluß dessen, was unsre Herzen
durch Christum erfüllt und erfreut. So sagt denn auch
der Herr, wenn Er in dieser Hinsicht in unsrer Mitte
Seinen Dienst verrichtet: „Verkündigen will ich deinen
Namen meinen Brüdern," — „inmitten der Versammlung
will ich dich loben." (Ps. 22, 22; Hebr. 2, 12.) Möchten
unsre Stimmen und unsre Herzen hierin nur immer
unserm himmlischen Führer folgen! Wahrlich, Er wird
unsre Lobgesänge richtig anleiten und so, wie es dem
Vater wohlgefällt. Und wie wird das Ohr des Vaters
aufmerken, wenn Er diese für Ihn so kostbare Stimme
uns leiten hört! Welch eine vollkommene und tiefe Er
211
kenntnis dessen, was vor Gott wohlannehmlich ist, muß
Derjenige haben, welcher in dem Erlösungswerke alles
nach den Gedanken Gottes ausgeführt hat! Der Sinn
Christi ist der Ausdruck von alledem, was dem Vater
angenehm ist; und Er unterweist uns in diesen Dingen,
damit wir, obwohl schwach und unvollkommen, ebenso
wohlgefällig seien wie Er. „Wir haben Christi Sinn."
„Die Frucht der Lippen" (Hebr. 13, 15; Hof. 14, 2)
ist der Ausdruck desselben Geistes, durch welchen wir
„unsre Leiber als lebendiges, heiliges und Gott wohlge-,
fälliges Schlachtopfer darstellen", indem wir prüfen, was
„der gute, wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes
ist". Das ist unser Gottesdienst, das unser Dienst;
denn unser Dienst sollte in gewisser Hinsicht unser Gottesdienst
sein.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß unter
den Anweisungen bezüglich des Friedensopfers sich auch
das Gebot findet, weder von dem Fett noch von dem
Blut zu essen: dieses Gebot hat hier offenbar deshalb
eine Stelle gefunden, weil von den Friedensopfern ein
großer Teil durch die Anbeter gegessen wurde. Die Bedeutung
desselben erhellt aus dem bereits Gesagten zur
Genüge: das Leben und die inneren Kräfte des Herzens
gehörten ganz und gar Gott. Das Leben gehörte Gott
und mußte Ihm geweiht werden. Einem anderen Geschöpf das
Leben zu nehmen, war ein Hochverrat, begangen an den
Rechten Gottes. Gerade so war es mit dem Fett; indem
dasselbe nicht gewöhnliche Funktionen (wie die Bewegungen
eines Gliedes oder dergleichen, sondern die Energie deS
ganzen innern Menschen) kennzeichnete, gehörte es ausschließlich
Gott. Christus allein hat sich so Gott geweiht,
212
weil Er allein Gott alles das geopfert hat, was Ihm
gebührte; und deshalb stellt auch das Verbrennen des
Fettes bei diesen und andern Opfern Seine Selbstaufopferung
als einen lieblichen Geruch für Gott dar. Aber
es ist nicht weniger wahr, daß alles Gott gehörte und
noch gehört; der Mensch konnte es sich nicht zu seinem
Gebrauch aneignen. Nur in dem Falle, wo ein Tier
von selbst starb oder zerrissen wurde, konnte man sich des
Fettes bedienen. So oft aber ein Mensch einem Tiere
mit Absicht das Leben nahm, mußte er die Rechte Gottes
anerkennen, und seinen Willen dem Willen Gottes unterordnen
als Dem, der allein Ansprüche an dieses Leben
besaß.
(Schluß folgt.)
„Alles an Ihm ist lieblich."
(Hohel. 5, 10—16.)
Nachdem die Braut den Töchtern Jerusalems zunächst
in allgemeiner Weise betreffs ihres Geliebten geantwortet
hat, beginnt sie jetzt Ihn genauer zu beschreiben. Geleitet
durch den Geist Gottes, ist es ihre Freude, bei den
mannigfaltigen Vortrefflichkeiten und Herrlichkeiten Seiner
Person zu verweilen, und sie thut dies unter dem Bilde
menschlicher Eigenschaften und Züge. Laßt uns bei der
Betrachtung derselben uns hüten, ihre geheimnisvolle Bedeutung
über die Grenzen der Schrift hinaus erforschen
zu wollen. Der Ort, auf welchem wir stehen, ist heiliges
Land. (Vergl. 2. Mose 3, 5.) Obgleich der Herr einst
Seinem Knechte Mose nicht verbot, dem brennenden Dornbusch
zu nahen, sagte Er ihm doch deutlich, daß es nur
213
mit unbeschuhten Füßen geschehen dürfe. Möchte deshalb
unser Auge gesalbt und unser Herz in einer anbetenden
Stellung sein, wenn wir über den herrlichen König Zions
nachsinnen!
Im 4. Kapitel zählt der Bräutigam, bei der Beschreibung
der Schönheiten der Braut, sieben Züge auf.
Wenn die Braut hier ein Bild von ihrem Geliebten entwirft,
kommt sie bis zu zehn. Die bedeutungsvollen
Zahlen drei und sieben finden sich so in Ihm vereinigt.
Werfen wir jetzt einen kurzen Blick auf jeden
einzelnen derselben.
„Sein Haupt ist gediegenes, feines Gold." Durch
dieses gediegene, feine Gold mag zunächst eine erhabene
Majestät angedeutet sein, wie in Dan. 2, 38: „Du
bist das Haupt von Gold". Dann aber wird das Gold
in der Schrift oft als das Bild göttlicher Gerechtigkeit
angewandt, in Verbindung mit der Person Jesu,
wie z. B. in Jes. 11, 5 und Offbg. 1, 13. Auch lesen
wir von diesem selben Jesus: „Siehe, ein König wird
regieren in Gerechtigkeit; und die Fürsten, sie werden
nach Recht herrschen." (Jes. 32, 1.)
„Seine Locken sind herabwallend (oder gewellt),
schwarz wie der Rabe." Die wallenden schwarzen Locken
des Bräutigams stehen hier offenbar im Gegensatz zu dem
langen schönen Haar der Braut, das Er mit einer Herde
Ziegen vergleicht, die an den Abhängen des Gebirges
Gilead lagern. Während das lange Haar des Weibes,
obwohl ihr zur Zierde und zum Schmuck gegeben, ein
Zeichen ihrer Schwachheit und Unterwürfigkeit ist, deutet
die Fülle rabenschwarzer Locken bei dem Bräutigam jedenfalls
auf jugendliche Kraft und Frische hin. Von Ephraim
214
heißt es in Hos. 7, 9: „Fremde haben seine Kraft verzehrt,
und er weiß es nicht; auch ist graues Haar auf
sein Haupt gesprengt, und er weiß es nicht." Aber an
dem Herrn und Könige Ephraims werden nimmermehr
Zeichen der abnehmenden Kraft gesehen werden. Er ist
derselbe gestern und heute und in Ewigkeit. — Manche
denken auch, daß „das gediegene, feine Gold" auf die
Gottheit Christi hindeute, während sie in den „wallenden
Locken" eine Anspielung auf Seine Menschheit erblicken.
Wie dem auch sei, jedenfalls ist dem Herzen des Gläubigen
keine Wahrheit köstlicher als die Vereinigung der vollkommenen
Menschheit unsers hochgelobten Heilandes
mit Seiner ewigen Gottheit. Er ist „der Christus, welcher
über alles ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit." (Vergl.
Röm. 9, 5 und Kol. 1, 15 — 19.)
„Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen,
badend in Milch, eingefaßte Steine." (V. 12.) In
Offbg. 5, 6 sagt Johannes von dem Lamme, das er inmitten
des Thrones sieht, daß es „sieben Augen habe,
welche die sieben Geister Gottes sind, die gesandt sind
über die ganze Erde". Die Zahl sieben bedeutet bekanntlich
göttliche Fülle und Vollkommenheit, und die
sieben Augen bezeichnen hier eine vollkommene, göttliche
Einsicht. „Denn Jehovas Augen durchlaufen die ganze
Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz
ungeteilt auf Ihn gerichtet ist." (2. Chron. 16, 9.) Der
Gläubige hat nichts zu fürchten von dem durchdringenden
Blick dieses Auges von siebenfältigem Glanze; für ihn
ist es sanft, freundlich und lieblich wie die Augen von
„Tauben an Wasserbächen". — Wie schön ist es auch,
die Richtung zu sehen, in welcher dieses Auge blickt!
215
„Mein Auge auf dich richtend will ich dir raten."
(Ps. 32, 8.) Was ist so ausdrucksvoll wie das Auge!
und welch ein Auge ist das Auge des Geliebten für die
Seinigen! Sanft wie Taubenaugen, hell und klar wie
in Wasser gebadet, weiß wie Milch, glänzend wie Edelsteine!
„Seine Wangen sind wie Beete von Würzkraut, Anhöhen
von duftenden Pflanzen." (V. 13.) Blühende Schönheit,
Wohlgeruch und Lieblichkeit werden durch diese Vergleiche
vorgestellt. Welch ein Unterschied zwischen den vergangenen
Tagen demütiger Niedrigkeit, in welcher Jesus hienieden
wandelte, und den kommenden Tagen wunderbarer Herrlichkeit!
Die Tochter Zion hat in ihrer Blindheit Ihn
einst verachtet und verworfen, gerade weil Er in solch
niedriger Gestalt in ihrer Mitte erschien und sich dem
Willen des Menschen unterwarf, welcher Feindschaft ist
gegen Gott. Ach! sie sahen Ihn an, und da war kein
Ansehen, daß sie Seiner begehrt hätten. Sein Aussehen
war entstellt, mehr als irgend eines Mannes, und Seine
Gestalt, mehr als der Menschenkinder. Er selbst sagt
durch den Mund des Propheten Jesaja: „Ich bot meinen
Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden,
mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und
Speichel." (Vergl. Jes. 50, 6; 52, 14; 53, 2. 3.) Und
im Propheten Micha lesen wir: „Mit dem Stabe schlagen
sie den Richter Israels auf den Backen." (Kap. 4, 14.)
Aber wegen all dieser Feindschaft und Grausamkeit wird
die Tochter Zion dereinst herzlich betrübt sein. Die Decke
wird dann von ihrem Herzen weggenommen werden. Wie
sie einst von dem Angesicht Moses verschwand, wenn er
sich der Stiftshütte zuwandte, so wird sie von den Herzen
der Israeliten verschwinden, wenn sie Den anschauen werden,
216
in welchen sie gestochen haben. Und anstatt zu sagen: „Er
hatte kein Ansehen, daß wir Seiner begehrt hätten",
wird es von Ihm heißen: „Alles an Ihm ist lieblich".
Die einst geschlagenen, verspieenen Wangen werden dann
dem Herzen des Volkes wie „Beete von Würzkraut",
wie „Anhöhen von duftenden Pflanzen" erscheinen. O
was wird die Gnade, die anbetungswürdige Gnade Gottes
bewirken! Welche Triumphe wird Seine erlösende, vergebende
Liebe feiern! — O Herr, beschleunige diesen herrlichen,
glückseligen Tag tausendjähriger Freude!
„Seine Lippen (sind) Lilien, träufelnd von fließender
Myrrhe." Wir werden bei diesem Vergleich wohl an die
wunderschöne rote Lilie des Ostens zu denken haben; allein
der Gläubige kennt auch die Wahrheit jenes gesegneten
Wortes: „Holdseligkeit ist ausgegossen über deine Lippen".
(Ps. 45, 2.) Sie träufeln von fließender, süßduftender
Myrrhe. Die Lippen Jesu, und sie allein, können der
beunruhigten Seele Frieden zusprechen. Wahrer Friede
wird nicht eher gekannt und genossen, bis man Ihm, und
Ihm allein, Sein Ohr geschenkt hat. Der Herr selbst
sagt durch den Propheten: „Der Herr, Jehova, hat mir
eine Zunge der Belehrten gegeben, damit ich wisse, den
Müden durch ein Wort aufzurichten"; und: „Neiget euer
Ohr und kommet zu mir; höret, und eure Seele wird
leben." (Jes. 50, 4; 55, 3.)
„Seine Hände (sind) goldene Rollen, mit Topasen
besetzt." (V. 14.) Bei diesem Bilde richten sich die Gedanken
unwillkürlich auf die Werke dieser mächtigen, herrlichen
Hände, auf ihr Wirken in der Schöpfung, in der
Vorsehung und in der Erlösung. Das Gold und die
Edelsteine deuten wohl auf die Schönheit, Gerechtigkeit,
217
Dauerhaftigkeit und Vollkommenheit dieser Werke hin.
„Die Thaten Seiner Hände sind Wahrheit und Recht,
zuverlässig sind alle Seine Vorschriften, festgestellt auf
immer, auf ewig, ausgeführt in Wahrheit und Geradheit."
(Ps. 111, 7. 8.) Und der Glaube kann jetzt von diesen
mächtigen Händen, in der Sprache der geliebten Su-
lammith, sagen: „Seine Linke ist unter meinem Haupte,
und Seine Rechte umfaßt mich." Glückselig, dreimal
glückselig alle, die in diesen ewigen Armen der Liebe ruhen!
Ihre Wohnung ist der Gott der Urzeit, und unter ihnen
sind ewige Arme. (5. Mose 33, 27.) „Die Liebe hört
nimmer auf."
„Sein Leib (ist) ein Kunstwerk von Elfenbein, bedeckt
mit Saphiren." Der Leib umschließt die inneren
Teile des Menschen, die Eingeweide, das Herz rc., so
daß wir hier vielleicht an die tiefen und zärtlichen Gefühle
des Herrn für die Seinigen denken dürfen. „Wie Wachs
ist geworden mein Herz, es ist zerschmolzen inmitten
meiner Eingeweide." (Ps. 22, 14.) Die blaue Farbe des
Saphirs erweckt den Gedanken an den himmlischen Charakter
Seiner Gefühle. „Und sie sahen den Gott Israels;
und unter Seinen Füßen war es wie ein Werk von
durchsichtigem Saphir und wie der Himmel selbst an
Klarheit." (2. Mose 24, 10.) Rein und weiß wie das
Elfenbein, hoch und herrlich wie der Himmel, so ist das
Mitgefühl, das Erbarmen und die Liebe unsers hochgelobten
Herrn. Darum ermahnt der Apostel die Philipper:
„Wenn es nun irgend eine Ermunterung giebt in Christo,
wenn irgend einen Trost der Liebe, wenn irgend eine
Gemeinschaft des Geistes, wenn irgend innerliche Gefühle
und Erbarmungen, so erfüllet meine Freude, daß ihr
218
einerlei gesinnt seid, dieselbe Liebe habend, einmütig,
eines Sinnes." (Phil. 2, 1. 2.)
„Seine Schenkel (sind) Säulen von weißem Marmor,
gegründet auf Untersätze von feinem Golde." (V. 15.)
Unter diesem Bilde wird in der Schrift gewöhnlich der
Wandel dargestellt. „Alle Pfade Jehovas sind Güte
und Wahrheit." (Ps. 25, 10.) In den „Säulen von
weißem Marmor" erblicken wir wohl die Stärke, die Beständigkeit
und Dauerhaftigkeit aller Regierungswege des
Herrn, während die „Untersätze von feinem Golde" andeuten,
daß göttliche Gerechtigkeit alle diese Wege
charakterisiert. Göttliche Gerechtigkeit, allmächtige Kraft
und Pfade der „Güte und Wahrheit" sind die Kennzeichen
des großen Königs von Zion. „Dein Thron, o Gott, ist
in die Zeitalter der Zeitalter, und ein Scepter der Aufrichtigkeit
ist das Scepter Deines Reiches. Du hast Gerechtigkeit
geliebt und Gesetzlosigkeit gehaßt; darum hat
Gott, Dein Gott, Dich gesalbt mit Oel des Frohlockens
über Deine Genossen." (Hebr. 1, 8. 9.) „Und in den
Tagen dieser Könige wird der Gott des Himmels ein
Königreich aufrichten, welches ewiglich nicht zerstört, und
dessen Herrschaft keinem andern Volke überlassen werden
wird; es wird alle jene Königreiche zermalmen und vernichten,
selbst aber ewiglich bestehen." (Dan. 2, 44.)
„Seine Gestalt (ist) wie der Libanon, auserlesen wie
die Gedern." Nachdem die Braut ihren Geliebten von
Kopf bis zu Fuß beschrieben hat, redet sie jetzt von Seiner
ganzen Erscheinung, von der Gesamtheit aller jener herrlichen
Züge; und diese Gestalt ist wie der Libanon, auserlesen
wie die Cedern. Dieses Bild schildert offenbar
Seine Majestät als der Messias. Die gewaltigen,
219
himmelanstrebenden Cedern des Libanon sind in der Schrift
das ständige Symbol von Erhabenheit, Macht und Größe.
Glänzend wie feines, gediegenes Gold, geschmückt mit jeder
Schönheit und Tugend, duftend wie die schönsten Blumen
und reichsten Gewürze, herrlich und majestätisch gleich den
Cedern des Libanon — so ist die Person ihres Geliebten.
„Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit." (V. 16.) Da
die Lippen bereits genannt sind, so muß durch diesen
Vergleich noch auf etwas anderes als die bloßen Worte
des Herrn hingedeutet werden. Vielleicht bezieht er sich
mehr auf die Ausdrücke der Gnade und Freundlichkeit
Jesu, auf Seine vertrauten Mitteilungen, auf die innigen
Kundgebungen Seiner Liebe und Freundschaft. Die Braut
hat schon oft Seine Gnade geschmeckt; deshalb kann sie
aus Erfahrung sagen: „Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit."
Die Güte und Freundlichkeit, mit welcher Er ihr
begegnet, selbst wenn sie gefehlt hat, ist genug, um in
ihrem Herzen einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck von
der Süßigkeit Seiner Gnade zurückzulassen. „Wenn ihr
anders", sagt der Apostel, „geschmeckt habt, daß der Herr
gütig ist". — Andere Ausleger denken, daß der süße,
liebliche Klang der Stimme des Herrn hier gemeint sei.
Die Braut schließt die Beschreibung ihres Geliebten
mit den Worten: „Alles an Ihm ist lieblich. — Das
ist mein Geliebter, und das mein Freund, ihr Töchter
Jerusalems l" Die Worte fehlen ihr. Nicht daß sie
müde wäre, von Ihm zu reden; aber sie ist unfähig, alles
zu sagen, was Er ist. Darum endigt sie mit den alles
umfassenden Worten: „Alles an Ihm ist lieblich." Es
ist, als wenn sie sagen wollte: Alle nur denkbare Lieblichkeit
ist in Ihm; alles was die Seele wünschen und
220
begehren kann, findet sich in Ihm; alle Schönheit gehört
Ihm an. In Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit
samt allen Tugenden der Menschheit. Er ist lieblich in
Seiner Erniedrigung und lieblich in Seiner Erhabenheit;
ja, alles an Ihm ist lieblich.
Und ist nicht der letzte Ton dieses herrlichen Liedes
der schönste und vollste von allen? „Das ist mein
Geliebter, und das mein Freund!" Manche mögen
sagen: Welch eine Beschreibung ist dies! Aber du,
meine Seele, sage: Welch ein Schluß ist dies! „Das
ist mein Geliebter, mein Freund." Er, Er
selbst ist mein! Die Braut verweilt mit tiefer Freude
bei Seinen Eigenschaften; aber ihre Wonne erreicht den
Gipfelpunkt, wenn sie sagen kann: „Er, in dem alle diese
herrlichen Eigenschaften sich finden, ist mein! Deshalb
sind auch alle Seine Eigenschaften mein." — Throne,
Kronen, Scepter, Königreiche, Herrlichkeit und Segnung
— alles ist Sein, und des Gläubigen in Ihm. Doch so
herrlich diese Dinge auch sein mögen, sie sind doch nicht
Er. WaS wären sie alle wert ohne die Person des Geliebten?
„Was wär' der Himmel ohne Dich und alle
Herrlichkeit?" Ohne Ihn wären alle jene Dinge, so
herrlich sie sind, für die Liebe des erneuerten Herzens ein
Hohn; gleich der Braut, deren Herz öde und leer sein
würde, gebrochen auf der Schwelle ihrer neuen Heimat,
wenn sie sähe, daß der, auf dessen Liebe sie rechnete, sie
verließe und einer Andern nachginge. Das neue, hübsch
eingerichtete Haus bliebe ja zurück; aber ach! das Herz
des Geliebten, gerade das, wonach sie sich sehnte, ist
anderswo. Der Anblick der Räume, in welchen sie mit
dem Manne ihrer Wahl so glücklich zu sein hoffte, er
221
weckt nichts als Gefühle der bittersten Enttäuschung
in ihr. Alles erinnert sie nur an ihr Elend und ihr
Verlassensein. Ihr Glück ist dahin, für immer dahin!
So ist es nicht selten mit der Liebe auf dieser armen
Erde. Wie manches liebende und vertrauende Herz ist so
gebrochen und unglücklich gemacht worden durch die Herzlosigkeit
dessen, dem es vertraute! Aber so ist nicht die
Liebe des Himmels; Gott sei ewig Lob und Dank!
Glückselig alle, die ihr Vertrauen auf Jesum setzen! Es
ist schon der Himmel auf Erden, Ihn zu kennen, Seine
Liebe, Seine unergründliche, unveränderliche Liebe zu
kennen und zu genießen. Diese Liebe besteht nicht in
Worten allein, sondern in That und in Wahrheit; nicht
in einem förmlichen, kühlen Gelöbnis, von dem das Herz
nichts weiß, sondern in dem ewigen Bunde Seiner Gnade,
besiegelt durch Sein eignes kostbares Blut. — Und was
wird es erst sein, meine Seele, wenn du diese Liebe in
ihrer Fülle erkennen wirst, wenn das Stückwerk aufhören
und das Vollkommene gekommen sein wird! wenn du
Ihn, deinen Geliebten, sehen wirst, wie Er ist!
Keine Thränen mehr.
„Ich werde über Jerusalem frohlocken und über
mein Volk mich freuen; und die Stimme des
Weinens und die Stimme des Wehgefchreies wird
nicht mehr darin gehört werden." (Jes. 65, 1!l.)
Wie Viele betrübte, leidende Kinder hat unser himmlischer
Vater! Wie viele Stimmen des Weinens und der
Wehklage dringen Tag für Tag in Sein Ohr, während
die Seinen ihren oft so dornenvollen Pfad dem Himmel
222
Zu wandeln! — Wir hören nicht gern unsre Kinder
weinen und klagen. Wir wischen gern die Thränen von
ihren Augen. Welch eine Freude wird es darum für unsern
Vater im Himmel sein, wenn diese Zeit des Leidens für
die Seinen zu einem Abschluß gebracht werden kann, wenn
„die Wolken nicht mehr wiederkehren nach dem Regen",
wenn keine Thräne mehr blinken wird in den Augen der
erlösten Schar, die um den Thron des Lammes versammelt
stehen wird! „Ewige Freude wird über ihrem Haupte
sein; sie werden Wonne und Freude erlangen, und Kummer
und Seufzen werden entfliehen". (Jes. 35, 10.)
Unser hochgelobter Herr, dessen Herz einst von Mitgefühl
bewegt war, als Er an Rains Thoren der ihres
Sohnes beraubten Witwe zurief: „Weine nicht!" wird
dann jede Ursache des Schmerzes und des Kummers von
den Seinigen fern halten. Dieselbe Hand, welche damals
die Tragbahre anrührte, wird alle Thränen von ihren
Augen abwischen. Das wird der Tag der Freude Seines
Herzens sein; er wird aufhören „zu wirken", und die
ewige Sabbathsruhe wird beginnen.
Du Kind Gottes! ist dein Weg steil, die Nacht
finster, dein Kreuz schwer? O ermatte nicht; verliere den
Mut nicht, als begegne dir etwas Außergewöhnliches,
„etwas Fremdes"! (1. Petr. 4, 12.) Da sind viele mit
dir auf dem Wege, kämpfend mit Sturm und Ungewitter,
obwohl es dir scheinen mag, als wärest du ganz allein.
Der Weg, auf dem du wandelst, ist der königliche Weg,
der von Zions Pilgrimen begangen wird. Es ist derselbe
Weg, auf welchem einst auch unser geliebter Herr ging
und Sein Kreuz trug in einer dunkleren Stunde, als sie
dir jemals begegnen wird. Sei getrost! Harre aus; der
223
Morgen naht! „Am Abend kehrt Weinen ein, und am
Morgen ist Jubel da." (Ps. 30, 5.)
Ein andrer Schreiber sagt: „Jede Prüfung, die Gott
uns schickt, ist ein Beweis Seines Vertrauens auf uns."
Sollten wir nns nicht eines solchen Vertrauens würdig
erweisen? Sollten wir nicht gutes Mutes sein inmitten
aller Glaubensproben? Es ist eine Ehre, zu der edlen
Schar derer zu gehören, die das Vertrauen Gottes besitzen
— zu der himmlischen Familie der Streiter Gottes,
zu der Wolke von Zeugen. „Auf Dich vertrauten unsre
Väter; sie vertrauten, und Du errettetest sie. Zu Dir
schrieen sie und wurden errettet; sie vertrauten auf Dich
und wurden nicht beschämt." (Ps. 22, 4. 5.) Durch ein
solches Vertrauen wird ein liebliches Band zwischen der
Seele und dem Herrn gebildet. „Jehova ist gütig, Er
ist eine Feste am Tage der Drangsal; und Er kennt
die, welche auf Ihn vertrauen." (Nahum 1, 7.)
Wir sind nicht berufen, um Prüfungen zu bitten;
aber ebenso wenig sollten wir bitten, von ihnen befreit
zu werden. Was wir erflehen sollten, ist, daß uns Gnade
geschenkt werde, um in Uebereinstimmung mit Gottes
Willen zu wandeln, Ihm unterworfen zu sein und Ihn
zu verherrlichen, sei es daß Er gebe, sei eS daß
Er nehme. Wir können dies nicht in Leichtfertigkeit
thun. Es wird uns stets ernste Herzensübungen kosten,
und nicht selten wird tiefe Bestürzung in unsrer Seele
sein. Denn diese göttlichen Heimsuchungen sind gerade
darauf berechnet, unsre Herzen zu treffen und uns unserm
erhabenen Vorbilde gleichförmiger zu machen.
Von den Thränen unsrer Kinder können wir jedoch
noch etwas anderes lernen. Wir wünschen, daß unsre Lieblinge
224
Zu uns kommen und uns ihr Leid klagen. Eine Mutter
würde sich sicherlich sehr enttäuscht fühlen, wenn ihr Kind
sein Herz an einer anderen Brust ausschüttete als an der
ihrigen. So ist auch der wahre Ruheort für ein blutendes
Herz an der Brust Jesu, an dem Herzen, das einst so
unendlich für uns gelitten hat, das mit uns fühlt, wie
kein anderes Herz fühlen kann, das einst durch den Hohn
und die Feindschaft der Menschen gebrochen worden ist.
Durch alle Seine Bemühungen mit uns, durch den scharfen
Nord- wie durch den sanften Südwind, will Er ja nur
unsre Herzen dem Seinigen näher bringen.
In der Schrift finden wir eine Maria, die allezeit
zu Jesu Füßen anzutreffen ist: zu Jesu Füßen, um zu
lernen (Luk. 10, 39); zu Jesu Füßen, um getröstet zu
werden (Joh. 11, 32); zu Jesu Füßen, um zu dienen.
(Joh. 12, 3.) Maria hatte „das gute Teil erwählt",
sie hatte die geheime Quelle aller Kostbarkeit entdeckt. In
Betrübnis, Schmerz und Trauer, aber auch in Freude,
Genuß und Seligkeit war Jesus ihr alles; Er gab ihrem
Herzen in allem volle Befriedigung.
Ist unser Auge auf Ihn gerichtet, unser Herz mit
Ihm verbunden, so wird uns keine Mühe zu groß, keine
Prüfung zu schwer, kein Pfad zu steil sein. Mag auch
das Herz bluten und das Auge thränen, wir sind getrosten
Mutes; wir lachen unter Thränen. Ja, obwohl mancher
Seufzer unsrer Brust entsteigen wird, setzen wir doch
unsern Weg mit Freuden fort, bis wir den seligen Ort
unsrer Bestimmung erreichen, das himmlische Jerusalem,
wo der Tod nicht mehr sein wird, noch Trauer noch Geschrei,
und wo wir Ihn von Angesicht zu Angesicht sehen
werden, der durch Seine Leiden und Seinen Tod uns
Leben und Glückseligkeit erworben hat!
Harr' aus, du müder Pilger I Harr' aus! die Wüstenreise
Bald ist das Ziel erreicht; Kürzt täglich, stündlich ab;
Des ew'gen Morgens Röte Auf sel'gen Friedensauen
Sich schon am Himmel zeigt. Ruht bald der Wanderstab.
Die Vorbilder des 3. Buches Mose.
(Schluß.)
Das Sünd- und Schuldopfer.
Die Sünd- und Schuldopfer waren, wie bereits bemerkt,
keine Opfer „lieblichen Geruchs". Ihrem Grund-
fatz nach sind sie einander ähnlich, in ihrem Charakter
und ihren Einzelheiten aber von einander verschieden. Wir
werden von diesem Unterschiede noch reden. Zunächst jedoch
ist ein sehr wichtiger Grundsatz zu beachten. In den
Opfern, die wir bisher betrachtet haben, den Opfern
lieblichen Geruchs, sahen wir den Opfernden einsgemacht
mit dem Opfer; diese Einsmachung fand ihren Ausdruck
in dem Auflegen der Hände des Anbeters auf den Kopf
des OpfertiereS. Der Opfernde — sei es nun Christus
selbst, oder ein Mensch, der durch den Geist Christi geleitet
und so mit Ihm vor Gott einsgemacht wurde — kam
freiwillig und fand sich auf diese Weise, als Anbeter, mit
der Annehmlichkeit seines Opfers, das Gott vollkommen
angenehm war, einsgemacht.
Bei dem Sündopfer begegnen wir zwar auch demselben
Grundsatz der Einsmachung mit dem Opfer vermittelst
des Händeauflegens; allein der Opfernde nahte
sich nicht als Anbeter, sondern als Sünder; nicht
als rein, um sich der Gemeinschaft mit Gott zu erfreuen,
sondern als schuldig und befleckt. Und statt daß der
Opfernde mit der Annehmlichkeit des vor Gott wohlgefälligen
Opfers einsgemacht worden wäre, (obgleich das
226
nachher auch wahr wurde,) wurde das Opfertier mit seiner
Sünde und Befleckung einsgemacht; es wurde an seiner
Statt zur Sünde gemacht und dementsprechend behandelt.
Dies war voll und ganz der Fall, wenn es sich einfach
um ein Sündopfer handelte. Ich habe oben hinzugefügt:
„obgleich das nachher auch wahr wurde", weil bei mehreren
Sündopfern ein gewisser Teil des Opferdienstes sie mit der
Annahme Christi, des vor Gott stets Wohlgefälligen, eins-
machte — eine Annahme, welche in Ihm, der in Seiner
Person den Wert und die Kraft aller Opfer vereinigte,
nie völlig aus dem Auge verloren werden konnte.
Die Unterscheidung zwischen der Einsmachung deS
Opfers mit der Sünde des Schuldigen und der Einsmachung
des Anbeters mit dem vor Gott angenehmen
Opfer läßt sehr klar den Unterschied zwischen den Opfern
überhaupt hervortreten und zeigt uns auch die beiden
Seiten des Werkes Christi.
Ich komme jetzt zu den Einzelheiten. Es gab vier
gewöhnliche Klassen von Sünd- und Schuldopfern, und
außerdem zwei äußerst wichtige besondere Opfer, von denen
wir später reden werden. Die erste Klasse umfaßte die
Sünden, welche das natürliche Gewissen verletzten (Kap. 4);
die zweite (bis zum 13. Verse des 5. Kapitels) diejenigen
Dinge, welche infolge der Satzungen Jehovas zur Sünde
wurden, wie z. B. Verunreinigungen, durch welche ein
Anbeter unfähig wurde, Gott zu nahen, und andere Dinge.
Diese Klasse hatte einen gemischten Charakter; es wird
gesprochen von Sünd- und Schuld opfern. Die dritte
Klasse (vom 14.—19. Verse des 5. Kapitels) begriff die
Vergehen in sich, welche an den dem Herrn geheiligten
Dingen begangen wurden; die vierte endlich (Kap. 5,
227
21—26) Vergehungen gegen den Nächsten durch Vertrauensbruch
und dergleichen. — Den beiden andern bemerkenswerten
Beispielen von einem Sündopfer begegnen
wir am großen Versöhnungstage (3. Mose 16) und in
dem Opfer der roten Kuh (4. Mose 19); sie erfordern
eine besondere Betrachtung.
Die das Opfer begleitenden Umstände waren ganz
einfach. Es liegt auf der Hand, daß, wenn das gesamte
Volk oder der Hohepriester gesündigt hatte, jede Gemeinschaft
mit Gott unterbrochen war. Es handelte sich dann
nicht nur um die Wiederherstellung einer einzelnen Person,
sondern um die Wiederherstellung der Gemeinschaft zwischen
Gott und dem ganzen Volke. Auch stand nicht die Bildung
einer Beziehung, eines Verhältnisses zu Gott in Frage —
das geschah am großen Versöhnungstage —, sondern es
handelte sich um die Wiederanknüpfung einer unterbrochenen
Gemeinschaft. Deshalb wurde das Blut siebenmal vor
dem Vorhang gesprengt, um so eine vollkommne Wiederherstellung
jener Gemeinschaft zu vermitteln; ebenso that
man das Blut an die Hörner des goldnen Rauchaltars.
Im Falle einer persönlichen Sünde war diese Gemeinschaft
im allgemeinen nicht unterbrochen, sondern nur der
Einzelne, der die Sünde beging, verlor den Genuß der
Gemeinschaft. Das Blut wurde deshalb nicht an den
Altar des wohlriechenden Rauchwerks (im Heiligtum) gesprengt,
wohin nur der Priester nahen konnte, sondern an
den Brandopferaltar (im Vorhof), wo der einzelne Israelit
Zutritt hatte. Die Wirkung des Sündopfers Christi ist
notwendig für jede Sünde, wie es denn auch ein für
allemal für jede Sünde vollbracht worden ist; aber die
Gemeinschaft des Körpers oder der Gesamtheit der Anbeter
228
wird durch die Sünde des Einzelnen, obwohl beeinträchtigt,
so doch nicht unterbrochen. Sobald jedoch die Sünde bekannt
ist, muß Sühnung für den geschehen, der sie begangen
hat. Wir wissen, daß der Herr zuweilen die ganze Versammlung
straft, wenn die Sünde eines Einzelnen verborgen
bleibt; so sagt Er z. B. in dem Falle Achans: „Israel
hat gesündigt"; aber sobald die Sünde bekannt war, wurde
Achan allein bestraft, und der Segen kehrte auf die Gemeinde
zurück, wenn auch unter viel größeren Schwierigkeiten
als vorher. Thatsache ist, daß der Herr, der in
der Kirche die allgemeine Regierung mit dem Gericht über
den Einzelnen zu vereinigen weiß, wenn im allgemeinen
Treue vorhanden ist, das Böse, welches bei einer einzelnen
Person sich findet, offenbar macht oder es nicht erlaubt
(was noch viel besser ist); und daß Er andrerseits die
Sünde des Einzelnen benutzen kann, um den ganzen Körper
zu züchtigen. Es scheint mir sogar, daß in dem angeführten
Falle, obgleich die Veranlassung zur Züchtigung
in der Sünde AchanS ans Licht trat, Israel doch Vertrauen
auf einen fleischlichen Arm gezeigt hatte; und Gott
hielt es für gut, Israel zu züchtigen, um ihm die Eitelkeit
dieses Vertrauens vor Augen zu stellen, gerade so wie die
Kraft Jehovas sich vor Jericho als völlig hinreichend geoffenbart
hatte, um den Feind zu besiegen.
Doch wie dem auch sei, jedenfalls geht aus den Einzelheiten
dieser Opfer für die Sünde klar hervor, daß Gott
stets Kenntnis von der Sünde nimmt; Er kann sie vergeben,
aber Er kann sie nicht übersehen. Eine Sünde, die dem
Menschen selbst verborgen ist, ist deshalb nicht verborgen
vor Gott; denn aus welchem andern Grunde bleibt sie dem
Schuldigen verborgen, als nur deshalb, weil sein geistliches
229
Verständnis durch die Sünde und durch die Nachlässigkeit,
welche eine Folge der Sünde ist, verdunkelt wird? Gott
richtet die Sünde nicht dem gemäß, was dem Menschen geziemt,
sondern was Ihm geziemt. Jehova wohnte in der
Mitte Israels, und deshalb mußte Israel gerichtet werden
nach dem, was der Gegenwart Gottes geziemte. Unsre
Vorrechte sind stets der Maßstab unsrer Verantwortlichkeit.
Die Menschen lassen in ihre Gesellschaft nur solche zu, die
sie dafür würdig erachten; sie gestatten keinem schlechten,
verdorbenen Menschen den Zutritt, indem sie dessen Bosheit
entschuldigen und zudecken; und sie thun dies, weil eS
ihren Gewohnheiten und ihrem Stande entspricht, so zu
handeln. Sollte nun Gott allein Seine Gegenwart dadurch
entweihen müssen, daß Er anders handelt? Sollte all
das Böse, in welches der Mensch durch seine Verderbtheit
gebracht werden kann, allein in der Gegenwart Gottes
Entschuldigung und Billigung finden? Nein; wenn Gott
uns glücklich machen will in Seiner Gegenwart, so muß
Er notwendigerweise das Böse richten, ja, alles Böse, und
zwar gemäß der Heiligkeit Seiner Gegenwart, d. h. Er
muß es völlig von dieser Gegenwart ausschließen. Wenn
die geistliche Thorheit, welche eine Folge der Sünde ist,
uns unfähig macht, das Böse in uns zu entdecken, ist das
dann ein Grund für Gott, es auch zu übersehen? Muß
Er blind werden, weil die Sünde uns blind gemacht hat?
Soll Er sich selbst entehren, soll Er andere unglücklich
und jede heilige Freude, selbst in Seiner Gegenwart, unmöglich
machen, um so das Böse ungestraft hingehen
lassen zu können? — Unmöglich! Nein, jede Sünde
wird gerichtet. Gott übersieht nichts, und das Böse, so
völlig es uns auch verborgen sein mag, ist böse vor Ihm.
230
„Alles ist bloß und aufgedeckt vor den Augen Dessen, mit
dem wir es zu thun haben." Gott kann Mitleid mit uns
haben; Er kann uns durch Seinen Geist erleuchten; Er kann
einen Weg bereiten, auf welchem der größte Sünder sich
Ihm mit Freimütigkeit zu nahen vermag; aber alles das
verändert nicht im Geringsten Sein Urteil über das Böse.
„Und der Priester soll Sühnung für ihn thun für sein
Vergehen, das er begangen hat, ohne es zu wissen; und
es wird ihm vergeben werden. Es ist ein Schuldopfer;
er hat sich gewißlich verschuldet an Jehova." (Kap. 5,
18. 19.)
Es bleibt mir noch übrig, auf einige Verschiedenheiten
in dem Einzelheiten der Sündopfer aufmerksam zu
machen, die von großem Interesse sind.
Die Leiber der Opfertiere, welche für die Sünde des
ganzen Volkes oder des Hohenpriesters (was auf dasselbe
hinauSlief, denn in beiden Fällen war die Gemeinschaft
des gesamten Volkes unterbrochen) dargebracht wurden,
diese Leiber wurden außerhalb des Lagers ganz und gar
verbrannt, jedoch nicht als ein Feueropfer lieblichen Geruchs;
denn das Opfer war zur Sünde gemacht und als
ein verunreinigter Körper außerhalb des Lagers gebracht
worden. Das Opfer an und für sich war ohne Fehl;
aber nachdem der Schuldige seine Sünden auf dessen
Kopf bekannt hatte, wurde es als mit diesen Sünden beladen,
von Gott zur Sünde gemacht, betrachtet und
außerhalb des Lagers gebracht. So hat auch Jesus
(wie der Apostel es ausdrückt) außerhalb des Thores gelitten,
um durch Sein eignes Blut das Volk zu heiligen.
(Hebr. 13, 12.) — Diese Verbrennung außerhalb des
Lagers fand immer statt, wenn das Blut für die Sünde
231
ins Heiligtum gebracht wurde. Eines der Opfer — die
rote Kuh (4. Mose 19), bezüglich deren ich hier nicht in
Einzelheiten eingehen will — wurde ganz und gar als
Sünde betrachtet, getötet und, nachdem ein Teil des
Blutes an der Thür des Zeltes der Zusammenkunft gesprengt
worden war, vollständig, mit Fett und Blut,
außerhalb des Lagers verbrannt.
Bei den drei andern Opfern, die das ganze Volk
angingen, wurden die Leiber, wie bemerkt, auch außerhalb
des Lagers verbrannt, aber die Verbindung mit der vollkommnen
Annehmlichkeit Christi als Dessen, der sich selbst
zum Opfer dargebracht hat, wurde durch das Verbrennen
des Fettes auf dem Brandopferaltar aufrecht erhalten;
zugleich erkennen wir in dieser letzteren Handlung, auf
welche Weise Er für uns zur Sünde gemacht worden ist:
nämlich als Derjenige, welcher keine Sünde kannte, und dessen
Natur und innerste Gedanken Gott vollkommen wohlgefällig
waren und Sein Gericht ertragen konnten. Aber obgleich
das Fett auf dem Altar verbrannt wurde, um jene Verbindung
und die Einheit des Opfers Christi aufrecht zu
erhalten, so wird es dennoch, um den allgemeinen Charakter
und den Zweck dieser Verschiedenheit zu wahren,
nicht ein lieblicher Geruch sür Jehova genannt.
Indes besteht ein Unterschied zwischen dem einen der
drei eben genannten Sündopfer, dem Opfer des großen
Versöhnungstages, und den beiden andern in 3. Mose 4
erwähnten. Am großen Versöhnungstage wurde das Blut
ins Allerheiligste, innerhalb des Vorhangs gebracht; denn
das Opfer dieses Tages bildete die Grundlage aller andern
Opfer, die Grundlage aller Beziehungen zwischen Gott und
dem Volke Israel; es setzte Gott in den Stand, inmitten
232
des Volkes zu wohnen und die andern Opfer anzunehmen.
Die Wirkung dieses Opfers erstreckte sich auf ein ganzes
Jahr, — für uns währt sie ewig, wie der Apostel dies
im Hebräerbrief beweist, — und auf dasselbe war der
ganze Verkehr Gottes mit Israel gegründet. Deshalb
wurde das Blut auf den Gnadenstuhl gesprengt, um dort
immerdar vor den Augen Dessen zu sein, der auf diesem
Throne der Gnade und der Heiligkeit Seinen Sitz hatte.
Kraft dieses Opfers konnte Gott inmitten des Volkes
wohnen, so gleichgültig, undankbar und widerspenstig es
auch war. — Gerade so ist es mit der Wirkung des
Blutes Christi; dieses Blut ist für immer auf dem
Gnadenstuhl als die Grundlage der Beziehungen zwischen
Gott und uns.
Die andern Opfer hatten den Zweck, die Gemeinschaft
derer, welche durch die Gnade in jene Beziehungen zu
Gott eingetreten waren, aufrecht zu erhalten und wiederherzustellen.
Deshalb wurde in 3. Mose 4, 1—21 ein
Teil des Blutes auf den Altar des wohlriechenden Rauchwerks
gesprengt, (der das Symbol der Ausübung dieser
Gemeinschaft war,) und das übrige Blut wurde, wie gewöhnlich
bei den Opfern, am Fuße des Brandopferaltars
(der Stätte des angenommenen Opfers) ausgegossen. Der
Leib des Opfertieres wurdeMne wir gesehen haben, verbrannt.
Was die Opfer für die Sünde und Schuld eines
Einzelnen betrifft, so litt, wie gesagt, die Gemeinschaft der
Gesamtheit nicht unmittelbar darunter; aber der Einzelne
wurde des Genusses derselben beraubt. Deshalb war der
Altar des wohlriechenden Rauchwerks nicht verunreinigt oder
so zu sagen nicht zur Benutzung unbrauchbar gemacht; im
Gegenteil, er wurde fortwährend benutzt. Das Blut dieser
233
letzteren Opfer wurde deshalb an die Hörner des Brandopferaltars
gethan, wo her einzelne Israelit Zutritt hatte.
Dort naht jede Seele durch Christum und auf Grund der
Wirksamkeit des ein für allemal vollbrachten Opfers
Christi; und so, kraft dieses Opfers, angenehm gemacht,
genießt sie all den Segen und alle die Vorrechte, in deren
Genuß und Besitz die Kirche als Ganzes fortwährend steht.
Es ist jedoch noch eine andere Sache bei diesen Opfern
für die persönliche Sünde zu beachten. Der Priester, welcher
daS Blut darbrachte, aß das Opfertier. Es bestand also
eine völlige Einheit zwischen dem Priester und dem Opfer,
welches die Sünde des Opfernden darstellte. Der Priester
hatte die Sünde nicht begangen; im Gegenteil, er that
Sühnung dafür mittelst des Blutes, das er sprengte.
Nichtsdestoweniger machte er sich völlig mit der Sünde des
Schuldigen eins. So hat auch Christus, indem Er uns
einen vollkommnen Trost bereitete, ohne die Sünde gekannt
zu haben, Sühnung gethan für die Sünde und sich
mit allen unsern Sünden einsgemacht. Wie bei den
Friedensopfern der Anbeter einsgemacht wurde mit der
Annehmlichkeit des Opfers, dessen Fett auf dem Altar
verbrannt wurde, gerade so machte sich hier der Priester
eins mit der Sünde dessen, der das Opfer darbrachte;
diese Sünde verlor und verzehrte sich gleichsam in ihm.
Der Sünder nahte sich, indem er seine Sünden bekannte
und sich demütigte; aber was seine Schuld und das Gericht
über seine Sünde betraf, so war es der Priester,
der sich damit belud, so daß (da die Versöhnung geschehen
war) die Sünde nicht bis vor den Richterstuhl Gottes
kam und die Beziehungen zwischen Gott und dem Schuldigen
in keiner Weise antastete. Seine Anbetung wurde
234
erneuert in der Kraft der Annehmlichkeit Christi, unsers
wahren Priesters. Die Sünde, welche die Gemeinschaft
unterbrochen hatte, wurde gänzlich weggenommen, oder
diente nur dazu, in einem in den Staub niedergebeugten
und angesichts der Güte Gottes tief gedemütigten Herzen
die Beziehung und Gemeinschaft zu erneuern, welche sich
auf eine Güte gründeten, die dem Herzen auf diese Weise
unendlich kostbarer geworden war; zugleich wurde das
Bewußtsein der Reichtümer und der Sicherheit jener Vermittlung
erneuert, welche Christus auf immerdar für uns
zuwege gebracht hat, nicht um die Gedanken Gottes gegen
uns zu verändern, sondern um unsre gegenwärtige Gemeinschaft
und unsern Genuß dieser Gemeinschaft zu
sichern (ungeachtet unsers Elends und unsrer Fehler) in der
Gegenwart, der Herrlichkeit und der Liebe Dessen, der sich
nie verändert.
Schließlich möchte ich noch auf einige interessante
Umstände aufmerksam machen. Es ist bemerkenswert, daß
nichts so sehr den Charakter der Heiligkeit und einer
gänzlichen Absonderung für Gott trug wie das Sündopfer.
Bei den andern Opfern begegnen wir einer vollkommnen
Annehmlichkeit, einem lieblichen Geruch und in einzelnen
Fällen, vermengt damit, unsern gesäuerten Broten; aber
alles trug sich so zu sagen zu in der naturgemäßen Freude,
welche Gott an dem fand, was vollkommen und ausgezeichnet
war. Bei den Sündopfern hingegen war es ausdrücklich
geboten, daß das Opfer ganz ohne Fehl sein
mußte. Alle möglichen Vorkehrungen waren getroffen, um
die unverletzliche Heiligkeit desselben darzuthun. (Kap. 6,
18—21.) In dem ganzen Werke Jesu giebt es nichts,
was so sehr Seine thatsächliche Heiligkeit, Seine vollkommne
235
und gänzliche Absonderung für Gott kennzeichnet, als die
Thatsache, daß Er unsre Sünden getragen hat. Nur
Derjenige, welcher nie eine Sünde gekannt hatte, konnte
zur Sünde gemacht werden; und gerade die Thatsache,
daß Er die Sünde trug, beweist die völligste Absonderung
für Gott, die nur zu erdenken ist, ja die unser Denkvermögen
völlig übersteigt. Christus konnte sagen: „Jetzt ist
der Sohn des Menschen verherrlicht, und Gott ist verherrlicht
in Ihm." Er hatte sich ganz und gar, mochte
es kosten was es wollte, der Verherrlichung Gottes geweiht;
und Gott konnte auch nichts Geringeres annehmen,
denn Er mußte gerade so verherrlicht werden, wie Er
verunehrt worden war. Als Sündopfer betrachtet, ist
Christus also in besondrer Weise heilig, wie Er denn
auch jetzt, kraft dieses Opfers als Priester vor Gott
stehend und uns vertretend, „heilig, abgesondert von den
Sündern und höher als die Himmel geworden ist". (Hebr.
7, 26.) Nichtsdestoweniger ist Er so wahrhaftig zur Sünde
gemacht worden, daß derjenige, welcher den Bock Asasel in
die Wüste führte (3. Mose 16), und der, welcher die Asche
der roten Kuh sammelte oder das Wasser der Reinigung
auf jemanden sprengte (4. Mose 19), unrein war bis zum
Abend und seine Kleider waschen und sein Fleisch im Wasser
baden mußte, ehe er wieder ins Lager kommen durfte. Auf
diese Weise treten uns jene beiden großen Wahrheiten hinsichtlich
des Sündopfers Christi deutlich und klar in den
vorbildlichen Opfern vor Augen. Denn einerseits können wir
uns keinen größeren Beweis der gänzlichen Absonderung
Christi für Gott vorstellen als die Thatsache, daß Er sich
selbst zum Sündopfer dargebracht hat; und andrerseits,
wenn Er die Sünde nicht wirklich in ihrer ganzen Aus
236
dehnung getragen, wenn der Fluch nicht wirklich Ihn getroffen
hätte, so hätte Er nicht wirklich die Sünde vor
Gott hinwegnehmen können.
Ewig sei der heilige Name Dessen gepriesen, der dies
gethan hat! und Gott gebe uns, daß wir immer besser
die Vollkommenheit Christi in der Vollbringung des Erlösungswerkes
kennen und verstehen lernen möchten!
„Wohin ist dein Geliebter gegangen?"
(Hohel. 6, 1—10.)
„Wohin ist dein Geliebter gegangen, du Schönste
unter den Frauen? wohin hat dein Geliebter sich gewendet?
und wir wollen ihn mit dir suchen." (V. 1.) Gesegnet
und mannigfaltig sind die Resultate, die aus einer hingebenden
Beschäftigung der Seele mit Christo hervorgehen.
Sich selbst aus den Augen z» verlieren und Ihn zum
Gegenstände zu haben, ist der erste Segen; und wahrlich,
es ist ein großer Segen! Was kann Gläubige, die in
einen niedrigen, dürren Seelenzustand geraten sind, am
raschesten und wirksamsten aus demselben befreien? Die
Beschäftigung mit Christo für sich selbst und das Reden
von Ihm mit Andern. Die Erfahrung der Braut erläutert
diese Wahrheit in treffender Weise. Ihr anfänglicher
Fehler bestand ohne Zweifel darin, daß sie begann,
an sich selbst zu denken und um sich selbst besorgt zu sein.
Selbstbeschäftigung führt stets zur Selbstgenügsamkeit. „Ich
habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es wieder an-
zieheu? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie
wieder beschmutzen?" (Kap. 5, 3.) Sobald aber von den
237
Töchtern Jerusalems der Vorzug ihres Geliebten vor
andern Geliebten in Zweifel gezogen wird, kommt sie
wieder dahin, an Ihn allein zu denken und von Ihm
allein zu reden; und indem sie das thut, wird zunächst
ihre eigne Seele wiederhergestellt, und dann erreicht sie
einen Grad der Gemeinschaft, von welchem sie früher
keine Vorstellung hatte. Ferner redet sie mit solcher Liebe
von der fleckenlosen Schönheit ihres Herrn, daß die Töchter
Jerusalems durch die Herrlichkeit Seiner Person angezogen
werden und begehren, Ihn zu sehen und kennen zu lernen.
Doch das Zeugnis der Braut für Christum trägt
noch eine andere Frucht, die wir nicht unbeachtet lassen
dürfen. Die Töchter Jerusalems ziehen den ganz natürlichen
Schluß, daß der Bräutigam Seine Braut verlassen
haben müsse, nicht aber daß sie Ihn verlassen habe. Da
sie die Braut in solch glühenden Ausdrücken von Ihm
reden hören, können sie sich gar nicht vorstellen, daß sie
selbst sich jemals aus Seiner Nähe habe entfernen können.
War Er so herrlich, so von ihr geliebt, bewundert und
geschätzt — wie konnte dann ihr Auge sich von Ihm abwenden?
wie konnte ihr Herz aufhören, sich Seiner zu
erfreuen? wie konnte sie jemals Seiner müde werden?
Sie fragen deshalb: „Wohin ist dein Geliebter gegangen,
du Schönste unter den Frauen? wohin hat dein Geliebter
sich gewendet?" und sie bieten sich an, Ihn mit ihr zu
suchen. Welch ein scharfer, schneidender Vorwurf lag in
diesem Anerbieten für die Braut! und wie tief muß ihr
jetzt so empfindsames Herz ihn gefühlt haben! Indem sie
von der Schönheit ihres Herrn geredet hatte, hatte sie sich
selbst ihr Urteil gesprochen. So ist es immer. Wenn das
Herz außer Gemeinschaft mit Christo ist, so scheint alles
238
gegen uns zu sein, und unsre Wege zu verurteilen. Ist
die Seele aber wiederhergestellt, so dient alles nur dazu,
unsre Demütigung zu vertiefen und den Grad unsrer
Gemeinschaft zu erhöhen. Das Herz, das eben erst von
dem Lobe des Geliebten übergeströmt ist, frohlockt jetzt in
Ihm. Das Auge der Braut ruht auf Ihm; sie weiß,
wo Er ist und was Er thut. Seliger Augenblick! Alles
ist Licht und Freude. Jetzt kann s i e ihren Gefährtinnen
sagen, wo Er zu finden ist.
„Mein Geliebter ist in seinen Garten hinabgegangen,
zu den Würzkrautbeeten, um in den Gärten zu weiden und
Lilien zu pflücken." (V. 2.) Welch eine liebliche Scene im
Vergleich mit Kap. 5, 7! Dort lasen wir: „Es fanden mich
die Wächter, die in der Stadt umhergehen: sie schlugen
mich, verwundeten mich; die Wächter der Mauern nahmen
mir meinen Schleier weg." Das ist der Unterschied
zwischen einem Wandel in Gemeinschaft mit Jesu und
einem Umherwandern in der Welt. Die Braut hat die
Stadt verlassen und ist jetzt auf dem ländlichen Schauplatz
mit ihrem Geliebten, tritt ein in die Gedanken Seines
Herzens und bewundert die Werke Seiner Hände. Unser
Vers beschreibt eine Scene glücklicher Gemeinschaft. Der
Herr findet Seine Wonne an Seinem Volke; Er ist in
Seinem Garten und pflückt Lilien. „Wie eine Lilie inmitten
der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der
Töchter." (Kap. 2, 2.) Die Braut geht ein in die Gedanken
ihres Herrn über Sein Volk im allgemeinen und
über sich selbst insonderheit. Das ist Gemeinschaft, und
zwar eine innige, gesegnete Gemeinschaft. Ihr Auge ist
einfältig, und das Licht des Himmels erfüllt ihre Seele.
Jetzt ruft sie aus:
239
„Ich bin meines Geliebten; und mein Geliebter ist
mein, der unter den Lilien weidet." (V. 3.) Das ist
eine liebliche Melodie, ein erhabenes Lied; aber der Glaube
kann es singen. Es ist die Sprache einer Seele, die sich
selbst aus den Augen verloren hat. „Ich bin meines
Geliebten." Es ist eine wahre Herzensbeschäftigung mit
Christo, ein Eingehen in Seine Gedanken, Seine Liebe,
Gnade und Freude, anstatt mit den eignen Gedanken und
Gefühlen, mit dem eignen Glauben und Dienst beschäftigt
zu sein. Das Auge, das Herz, die Gedanken, die Lippen
— alles ist voll von Christo und mit Ihm beschäftigt.
In Kap. 2, 16 sagt die Braut: „Mein Geliebter ist
mein, und ich bin Sein." Dort steht die Freude, Christum
zu besitzen, im Vordergründe: Er ist mein. Hier
aber ist es die tiefere Freude, Christo anzugehören!
ich bin Sein. Beide Arten von Freude sind gesegnet,
aber die letztere bekundet einen göttlichen Fortschritt.
Wir verstehen sehr wohl, daß eine Seele, die aus
ihrem Sündenschlafe aufgewacht ist und dann die Wahrheit
im Glauben aufnimmt, voller Freude ausruft: „Ich glaube
jetzt an Jesum; ich weiß, daß ich an Ihn glaube; ich
weiß, daß Er am Kreuze für mich gestorben ist; Er hat
Sein Blut für mich vergossen, und jetzt kann ich Ihm völlig
vertrauen." Wer wollte sich auch nicht mit einer Seele
freuen, die, aus der Finsternis in das wunderbare Licht
Gottes gebracht, von der schweren Last ihrer Sünden,
von Zweifeln und Befürchtungen aller Art befreit, den
Siegesruf ertönen läßt: „Jesus ist mein!" Es ist alles,
was man für den Augenblick erwarten kann, und sicher,
es ist etwas Großes und überaus Herrliches! — Hernach
aber, wenn die Seele ruhiger geworden ist, wenn der
240
erste Freudenrausch sich gelegt hat, erwarten wir mit
Recht etwas anderes. Nicht daß jene Freude über den
Besitz Jesu sich vermindern sollte. Keineswegs! aber wir
erwarten Fortschritte in der Seele, oder mit andern
Worten, wir erwarten, daß sie von der Erkenntnis der
Wahrheit bezüglich ihrer eignen Errettung fortschreite zur
Erkenntnis der Quelle aller ihrer Segnungen. Sie sollte
sich fragen: Woher kommt das neue Leben, das ich besitze?
Wo ist Seine Quelle? Woher alle diese Gnade und
Güte gegen mich, ein solch sündiges, verdammungswürdiges
Geschöpf? Wer hat den Pulsschlag des ewigen Lebens
in meiner einst toten Seele erweckt? Wenn die Seele auf
diese Weise nach und nach lernt, daß das ewige Leben
und jede Segnung nur die Frucht der Liebe Gottes in
Christo gegen sie ist, so wird sie zu Jesu selbst hingezogen,
an Seine Person gefesselt und mit Seiner vollkommnen
Liebe beschäftigt. Das Auge wendet sich von
dem eignen Ich ab auf Jesum hin. Alle Furcht verschwindet,
denn die Furcht hat Pein. „Gott hat uns
ewiges Leben gegeben, und dieses Leben ist in Seinem
Sohne." — „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, daß die
Stunde kommt und ist jetzt, da dieToten dieStimme
des SohnesGotteS hören werden, und die sie
gehört haben, werden leben." (1. Joh. 5, 11;
Joh. 5, 25.) So wird die Seele in die innigste Verbindung
mit dem Sohne des lebendigen Gottes droben
gebracht; und indem sie lernt, daß alle Quellen ihres
Segens dort sind, erhebt sie sich bis zu Ihm. „Ich bin
meines Geliebten, und mein Geliebter ist mein", wird der
wahrheitsgetreue Ausdruck ihres bewundernden Glaubens.
241
„Du bist schön, meine Freundin, wie Tirza, lieblich
wie Jerusalem, furchtbar wie Kriegsscharen (eig. befahnte
Scharen)." (V. 4.) Welch ein Gruß ist das! Bedenke
ihn wohl, mein Leser! Willst du das Herz Jesu kennen
lernen, Seine geduldige Liebe, Seine unermüdliche Freundlichkeit,
Seine unerschöpfliche Güte, so verweile hier einen
Augenblick und sinne über jene Worte nach! Sicher ist es
von hohem Interesse, der Bedeutung der hier gebrauchten
Vergleiche: Tirza, Jerusalem und Kriegsscharen, nachzn-
forschen; aber siehe zu, daß die Beschäftigung mit diesen
Dingen deine Gedanken nicht von der Person des Herrn
Jesu ablenke. Ich bezweifle nicht, daß jene Vergleiche der
unmittelbare Ausdruck Seiner Liebe sind; aber wenn dem so
ist, dann laß sie dir zu Strömen dienen, die dich zu ihrer
Quelle zurückführen. Verweile nicht zu lange bei dem
Strome; die Quelle ist besser. Die Wirkung jedes wahren
Dienstes am Worte ist die, daß die Seele in unmittelbare
Berührung mit der Person Christi gebracht wird. Der
Wunsch des Feindes und die Wirkung jeder falschen Lehre
geht dahin, etwas zwischen die Seele und Christum zu
stellen. Tirza ist nicht mehr; Jerusalem ist niedergetreten,
und Judas Banner ist seit langer Zeit zusammengerollt;
aber das Herz, das einst Seine Freude an diesen bedeutungsvollen
Symbolen fand, ist unveränderlich dasselbe
geblieben. Suche darum vor allem andern das Herz Jesu
kennen zu lernen. „Dies aber ist das ewige Leben, daß
sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt
hast, Jesum Christum, erkennen." (Joh. 17, 3.) Gottes
Liebe in Christo gegen den Sünder zu kennen ist das
Beste, das ich je kennen lernen kann; denn dann kenne
ich den ewig sprudelnden Born, die Urquelle alles Segens.
242
Wie oft mag Christus selbst aus dem Auge verloren
sein, obwohl die Seele mit der Wahrheit beschäftigt
ist! Wache gegen diese Gefahr, meine Seele, und sei auf
deiner Hut!
Kehren wir jetzt zu dem Gruße des Herrn zurück.
„Du bist schön, meine Freundin, wie Tirza, lieblich wie
Jerusalem, furchtbar wie Kriegsscharen." Beachten wir,
daß dies die ersten Worte sind, die der Herr nach ihrem
traurigen Abirren an Seine Braut richtet. Seine Lippen
haben holdselige Worte für ihre wiederhergestellte Seele:
„Du bist schön, meine Freundin." Fürwahr, das ist
Jesus selbst! Wer könnte Seine Liebe beschreiben? Sind
wir in dieser Atmosphäre zu Hause, mein lieber Leser?
Stehen wir nicht mit staunender Bewunderung einer solchen
Liebe gegenüber? O laß uns Ihn betrachten, der so redet,
und vor Seinem erfreuten Herzen die von ihren Irrwegen
zurückgekehrte Braut sehen! Laß uns suchen, die anbetungswürdige
Gnade unsers Herrn Jesu Christi besser
zu verstehen!
Wie lauteten Seine letzten Worte an Seine träge,
schlaftrunkene Braut? „Thue mir auf, meine Schwester,
meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! denn
mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen
der Nacht." Nichts könnte zärtlicher und rührender sein
als diese Worte; aber sie blieben in jenem Augenblick
völlig unbeachtet von ihr. Infolge dessen geriet sie für
eine Zeit in einen betrübenden Zustand. Aber jetzt finden
wir sie völlig wiederhergestellt und glücklich. Sie hat wieder
volles Vertrauen zu der Liebe ihres Herrn. „Ich bin
meines Geliebten, und mein Geliebter ist mein", so lautet
die freudige Sprache ihrer Seele. Wird Er denn gar
243
nichts mit ihr reden über ihre Verirrung und ihre thörichte
Handlungsweise? Wird Er nicht wenigstens in Seinem
Benehmen etwas kühl gegen sie sein, damit sie vor Ihm
beschämt dastehe? Ach nein; denn Er sieht, daß sie ihr
Thun aufrichtig bereut. Der Herr vergiebt nicht nur,
sondern Er vergißt auch alle unsre Vergehungen, wenn
wir sie bereuen. Er kommt jeder bußfertigen Seele mit
dem vollen Ausdruck Seiner Gnade entgegen. Sobald die
Seele ihren wahren Platz vor Ihm einnimmt, kennt Er
keinen Rückhalt mehr, sondern öffnet ihr bereitwilligst den
reichen Schatz Seiner Liebe. Betrachten wir z. B. das
kananäische Weib. (Matth. 15.) Kaum hat sie den Platz
einer armen, Fluch und Tod verdienenden Heidin eingenommen,
als auch schon der volle Segensstrom aus Seinem
Herzen ihr zufließt. Er preist selbst ihren Glauben mit
den stärksten Ausdrücken: „O Weib, dein Glaube ist groß;
dir geschehe, wie du willst." Er hält nichts zurück; sie
wird gesegnet nach dem ganzen Begehr ihres Herzens.
Betrachten wir auch die große Sünderin zu den Füßen
Jesu im Hause Simons und den verlornen Sohn in den
Armen des Vaters.
„Du bist schön, meine Freundin." Nicht ein klagendes
oder vorwurfsvolles Wort kommt über die Lippen
des Bräutigams; nicht die leiseste Frage an die Braut,
wo sie inzwischen gewesen sei oder was sie gethan habe.
Seine Liebe ist vollkommen, und Seine Gnade ist gleich
der Nachsicht Seiner Liebe. Der Herr will gnädig
sein entsprechend der Liebe Seines Herzens. Er sagt,
daß die Braut schön sei wie Tirza, lieblich wie Jerusalem.
Tirza bedeutet „Lieblichkeit, Anmut". Es war die Residenzstadt
der Könige von Israel, ehe Samaria gebaut wurde.
244
so wie Jerusalem der Wohnsitz der Könige von Judäa
war. Jerusalem ist, wie wir wissen, in der Schrift bekannt
wegen seiner mannigfaltigen Herrlichkeit. Es heißt
von ihr: „Schön ragt empor, eine Freude der ganzen
Erde, der Berg Zion, an der Nordseite, die Stadt des
großen Königs. Gott ist bekannt in ihren Palästen als
eine hohe Feste." (Pf. 48, 2. 3.) Tirza war, wie bemerkt,
die Hauptstadt der zehn abtrünnigen Stämme; aber die
beiden Königreiche, Israel und Juda, werden in den Tagen
der zukünftigen Herrlichkeit wieder unter einem Haupte
vereinigt und nie wieder getrennt werden. Was uns hier
in bildlicher Weise vorgestellt wird, lehren die Propheten
in den deutlichsten Ausdrücken. „So spricht der Herr,
Jehova: Siehe, ich werde die Kinder Israel aus den
Nationen herausholen, wohin sie gezogen sind, und ich
werde sie von ringsumher sammeln und sie in ihr Land
bringen. Und ich werde sie zu einer Nation machen im
Lande, auf den Bergen Israels, und sie werden allesamt
einen König zum König haben; und sie sollen nicht
mehr zu zwei Nationen werden, und sollen sich fortan nicht
mehr in zwei Königreiche teilen." (Hes. 37, 21. 22.)
Wenn so die zwölf wiedervereinigten Stämme ihren
Messias zum König haben werden, dann wird die Herrlichkeit
des Volkes groß sein. Es wird „furchtbar sein
wie Kriegsscharen". Dieser Vergleich erweckt nicht den
Gedanken des Erschreckenden, sondern des Ueber-
wältigenden, Ehrfurchtgebietenden, gleich einer
glänzenden Kriegerschar, die mit wehenden Fahnen dahinzieht.
Der König erkennt an, daß die Herrlichkeit Seines
geliebten, so in eins vereinigten Volkes Ihn überwältige.
„Wende deine Augen von mir ab, denn sie überwältigen
245
mich." Das ist wahrlich wunderbar; wer könnte es verstehen?
Um es nur ein wenig verstehen zu können, müssen
wir Jesum selbst kennen. Kein Herz kann so auf die
Segnung und Freude anderer eingehen wie das Seinige.
Es erleichtert gleichsam Sein Herz, wenn Er den Bedürftigen
segnen kann. In den Tagen Seines Fleisches
machte Er eine weite Reise, um einer gefallenen Tochter
Samarias oder einer armen Heidin aus, den Gegenden
von Tyrus und Sidon zu begegnen und sie zu segnen.
Freude ist in Seinem Herzen, Freude im ganzen Himmel,
wenn e i n Sünder Buße thut. Aber was wird erst Seine
Freude sein, wenn das Haus Davids und die Bewohner
von Jerusalem sich mit Weinen und Klagen zu Ihm
wenden werden; wenn die lange verlornen Stämme auf
dem Schauplatz erscheinen und Ihn als ihren wahren
Messias anerkennen werden; wenn jedes Auge auf Ihn
gerichtet sein und jedes Herz von Seinem Lobe überfließen
wird; wenn von Jerusalem, als dem großen Mittelpunkt,
Segen ausfließen wird zu allen Völkern der Erde hin!
Dann wird das 53. Kapitel des Propheten Jesaja
den Inhalt des Gesanges Israels und den Ausdruck seiner
weinenden Freude bilden: „Um unsrer Uebertretungen
willen war Er verwundet, um unsrer Missethaten willen
zerschlagen. Die Strafe zu unserm Frieden lag auf Ihm,
und durch Seine Striemen ist uns Heilung geworden.
Wir alle irrten wie Schafe, wir wandten uns, ein jeder
auf seinen Weg, und Jehova hat Ihn treffen lassen unser
aller Ungerechtigkeit." Ihr Jerusalem wird dann das
Jerusalem der Ratschlüsse Gottes, und nicht des Stolzes
und der Gewaltthat des Menschen sein. Von Bergen
umgeben, mit Mauern, Wällen und Türmen wohl ver
246
sehen, wird es die Freude der ganzen Erde ausmachen.
(Ps. 48.) „Und der Name der Stadt soll von nun an
heißen: Jehova daselbst." (Hes. 48, 35.) Alles wird
dann nach den Gedanken des Messias seinen Gang gehen.
Satan wird in dem Abgrunde eingeschlossen sein, der
Fluch von der Erde entfernt, die Macht des Bösen zu
Boden geworfen, und der wahre Salomo wird als König
regieren. Welch eine Wirkung die Abwesenheit Satans
und die Gegenwart Christi in Macht und Herrlichkeit
auf die ganze Schöpfung ausüben wird, wer könnte es
ermessen!
„Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den
Abhängen des Gilead lagern; deine Zähne sind wie eine
Herde Mutterschafe, die aus der Schwemme heraufkommen,
welche allzumal Zwillinge gebären, und keines unter ihnen
ist unfruchtbar; wie ein Schnittstück einer Granate ist
deine Schläfe hinter deinem Schleier." (V. 5—7.) Denselben
Ausdrücken sind wir bereits im 4. Kapitel begegnet,
und doch wissen wir, daß die Schrift keine eitlen Wiederholungen
macht. Warum denn hier diese Wiederholung?
Seitdem der Bräutigam jene Ausdrücke im 4. Kapitel an
Seine Braut gerichtet hat, ist sie in der Irre umhergegangen
und dann wieder zurückgekehrt. Indem Er nun
hier dasselbe wiederholt, was Er ihr einst gesagt hat,
versichert Er sie, daß ihre Schönheit in Seinen Augen
unverletzt sei. Obgleich Er nichts davon sagt, daß sie für
eine Zeit sich von Ihm abgewandt habe, müssen diese
Ausdrücke Seiner unveränderten Bewunderung jetzt einen
viel tieferen Eindruck auf ihr Herz machen als vordem.
Ihr Wert wird siebenfach vermehrt durch die Umstände,
inmitten derer sie wiederholt werden.
247
„Sechzig sind der Königinnen und achtzig der Kebs-
weiber, und Jungfrauen ohne Zahl." (V. 8.) Dieser
Vers bezieht sich, wie ich nicht zweifle, auf die Zeit des
tausendjährigen Reiches. Er folgt auf die Vereinigung
der beiden Nationen. Die Städte Judas und die Völker
der Erde füllen den ganzen Schauplatz der Herrlichkeit
aus, aber Jerusalem hat den ersten Platz. Diese
Wahrheit, die in der ganzen Schrift hervortritt, findet
ihren vollsten und rührendsten Ausdruck im nächsten Verse:
„Eine ist meine Taube, meine Vollkommene; sie ist
die Einzige ihrer Mutter, sie ist die Auserkorene
ihrer Gebärerin. Töchter sahen sie und priesen sie glücklich,
Königinnen und Kebsweiber, und sie rühmten sie."
(V. 9.) Welch einen Platz hat sie in Seinem Herzen!
Sie ist in Seinen Augen die Auserkorene, mit der sich
nichts vergleichen läßt. Es giebt viele andere Jungfrauen,
aber Seine Liebe sieht keine andere als sie. „Eine ist
meine Taube, meine Vollkommene; sie ist die Einzige
ihrer Mutter." Bei früheren Gelegenheiten hat Er von
ihren Eigenschaften gesprochen und ihre Schönheit beschrieben;
aber jetzt redet Er von ihr selbst und von
dem, was sie ist für Ihn. „Sie ist die Auserkorene
ihrer Gebärerin." Die ganze Nation wird hier in einem
mütterlichen Charakter betrachtet, der Stamm Juda
in einem bräutlichen. — Das also ist die Bräutigamsliebe
Jesu, und so wird es mit dem gottesfürchtigen
Ueberrest Judas sein in den letzten Tagen; ja, so ist es
jetzt schon im Geiste mit uns. Trinke, meine Seele,
trinke mit vollen Zügen aus dieser Quelle der Bräutigamsliebe
deines Herrn! Sie ist tief, unerschöpflich, und sie ist dem
Glauben geöffnet bis zur Feier des Hochzeitstages droben.
248
Es gab eine Zeit, in welcher die Tochter Zion in
dem Stolz und der Verkehrtheit ihres Herzens Seine Liebe
von sich wies. Trotzdem blieb diese Liebe die gleiche,
aber sie zeigte sich in den Thränen, die Er über ihre
Blindheit vergoß. Von Ihm verlassen, fiel sie dann ihren
grausamen Feinden zur Beute, die sie in schrecklichster
Weise mißhandelten. Doch Sein Auge der Liebe folgte
ihr auf allen ihren Jrrgängen. Nichts konnte Sein Herz
verändern; und als die Zeit gekommen war, besuchte Er
sie. Er sand sie in der Stellung einer armen, ausgestoßenen,
sonnenverbrannten Sklavin, einer Hüterin der
Weinberge anderer. Sein Herz entbrannte gegen sie. In
Seiner Liebe und in Seinem Mitgefühl war es Ihm,
als „habe sie von der Hand Jehovas Zwiefältiges empfangen
für alle ihre Sünden". Und nun ist „ihre Mühsal vollendet,
ihre Schuld abgetragen", und sie tröstet sich in
ihrem gnädigen und vergebenden Herrn. (Jes. 40, 2.)
Aber Seine Liebe ruht nicht — gesegnete Wahrheit! —
bis Er alle Wünsche Seines Herzens im Blick auf sie
befriedigt hat, bis sie als die schöne, herrliche Braut des
wahren Salomo auf Seinem königlichen Throne in Zion
sitzt. Und nicht nur, ich wiederhole es, ist sie der Gegenstand
der Wonne des Königs, sondern auch der Gegenstand
allgemeiner Bewunderung. „Töchter sahen sie und priesen
sie glücklich, Königinnen und Kebsweiber, und sie rühmten
sie." — „Und die Tochter Tyrus (ein Vorbild der Heiden),
die Reichen des Volkes (od. der Völker), werden deine
Gunst suchen mit Geschenken." (Ps. 45.) Die Braut
strahlt die Herrlichkeit und Schönheit des Königs zurück,
und alle Nationen bewundern Seine Anmut in ihr.
„Wer ist sie, die da hervorglänzt wie die Morgen
249
röte, schön wie der Mond, rein wie die Sonne, furchtbar
wie Kriegsscharen?" (V. 10.) Dieser Vers scheint die
Sprache der Bewunderer des Bräutigams zu sein und
lautet gleich einem den Gesang begleitenden Chor. Alle
sind einig in dem Preise der Braut. Die trübe Nacht ist
vorüber, der Helle Morgen bricht an. „Wer ist sie, die da
hervorglänzt wie die Morgenröte?" Sie taucht gleichsam
auf aus der Finsternis der langen, langen Nacht,
durch die sie gegangen ist; alles dahinten lassend, tritt sie
hervor in der Frische und Schönheit des Morgens, und
bald wird sie in mittäglichem Glanze dastehen, übergossen
von den Strahlen der „Sonne der Gerechtigkeit".
Zur Darstellung der zukünftigen Würde und Herrlichkeit
Israels benutzt der Heilige Geist häufig die
Himmelskörper: Sonne, Mond und Sterne. Schon der
Traum Josephs zeigt uns dies im Vorbilde. In der
Familie Jakobs erblicken wir das ganze Volk. (1. Mose 37.)
In Offbg. 12 sehen wir den Stamm Juda, aus welchem
unser Herr kam, mit derselben Herrlichkeit bekleidet. Das
Bild ist „ein Weib, bekleidet mit der Sonne, der Mond
unter ihren Füßen und auf ihrem Haupte eine Krone
von zwölf Sternen". Die Herrlichkeit der zwölf Stämme
erscheint hier vereinigt in dem einen königlichen Stamme. —
Auch der Gedanke der Beständigkeit und Festigkeit
wird durch jene Himmelslichter verwesentlicht. „Einmal
habe ich geschworen bei meiner Heiligkeit: wenn ich dem
David lüge! Sein Same wird ewig sein, und sein Thron
wie die Sonne vor mir; ewiglich wird er feststehen wie
der Mond; und der Zeuge in den Wolken ist treu."
(Ps. 89, 35 — 37.)
Welch eine Veränderung für die lange verachteten.
250
niedergetretenen Israeliten! Mit Bewunderung betrachten
die Töchter, die Königinnen und Kebsweiber den königlichen
Stamm, die Braut Juda, „die da hervorglänzt
wie die Morgenröte, schön wie der Mond, rein wie die
Sonne, furchtbar wie Kriegsscharen". Bekleidet mit Licht,
Herrlichkeit und Würde, wird sie, als die herrliche
Braut des königlichen Sohnes Davids, zu dem großen
Anziehungspunkt der Erde und zum Gegenstand der allgemeinen
Bewunderung.
Sei mir gegrüßt, du seliger Morgen! die Finsternis
ist vergangen, „die Sonne der Gerechtigkeit geht auf mit
Heilung in ihren Flügeln". Ihre Strahlen vergolden
die dunklen Berge des heiligen Landes und füllen seine
Thäler mit Licht und Wonne. Aller Herzen frohlocken:
Hosanna dem Sohne Davids! die Verheißung ist erfüllt.
— «Stehe auf, leuchte! denn dein Licht ist gekommen,
und die Herrlichkeit Jehovas ist über dir aufgegangen ...
Und Nationen wandeln zu deinem Lichte hin, und Könige
zu dem Glanze deines Aufgangs." (Jes. 60, 1. 3.)
Gedanken.
Es ist ein armseliges Ding, wenn ein Christ unausgesetzt
beschäftigt ist, andern geistliche Speise zu bringen,
während er selbst dem Hungertode nahe ist.
Welch ein Glück ist es, daß wir ein Vater herz
haben, zu dem wir kommen und auf daS wir vertrauen
dürfen! Wir brauchen nicht den Mut sinken zu lassen,
so lange über der Schatzkammer unsers Vaters die Ueber-
schrift steht: „Er giebt größere Gnade." Seine
Gnade ist ohne Grenzen, unendlich und unerschöpflich.
251
Wenn Tage der Prüfung dein Teil sind, dann verweile
viel in der Gegenwart Dessen, der ein Gott alles
Trostes ist, und der nicht über Vermögen versucht werden
läßt; und du wirst erfahren, wie selbst die von Ihm gesandte
Trübsal in Seiner Hand ein Mittel ist, um dich
Sein stets in Liebe thätiges, mitfühlendes Herz kennen zu
lehren, und wie du ebensosehr Ursache hast, Ihm für die
bösen, wie für die guten Tage zu danken. — Sind
aber Tage der Ruhe dein Teil, dann verweile erst recht
in der Nähe des Herrn. In solchen Tagen ist Gefahr
im Verzüge; denn wenn der Weg des Christen glatt und
eben ist, wie leicht schleichen sich dann Trägheit und
Gleichgültigkeit ein, und wie schnell gewinnen die Dinge
dieser Welt neuen Reiz für Auge und Herz!
Es ist besser, in neunundneunzig von hundert Fällen
getäuscht zu werden, als ein einziges Mal Herz und Hand
vor einem würdigen Gegenstand zu verschließen. Unser
himmlischer Vater läßt Seine Sonne scheinen über Böse
und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Derselbe Sonnenstrahl, der das Herz des treuen Dieners
Christi erfreut, erhellt auch den Pfad des gottlosen Sünders;
und derselbe Regenschauer, der auf den Acker des wahren
Gläubigen fällt, tränkt auch die Furchen des ungläubigen
Lästerers.
„Was machet ihr dem Weibe Mühe? denn sie hat
ein gutes Werk an mir gethan." (Matth. 29, 10.)
Welch ein scharfer Verweis für die Jünger, und welch
eine liebliche Anerkennung des Dienstes der Maria!
„Ein gutes Werk an mir" — das charakterisierte
252
ihre That und zeichnete sie vor allen andern aus. Es
mag sein, daß jemand eifrig das Evangelium predigt, daß
er alle seine Habe den Armen giebt, daß er selbst auf
der höchsten Stufe der Sittlichkeit und äußern Religiosität
steht, und doch hat er vielleicht noch nie etwas gethan,
wovon Christus sagen könnte: „Es war ein gutes Werk
an mir". — Maria kannte nur einen Zweck, vor
ihren Augen stand nur eine Person, und dieser Zweck
und diese Person war Jesus. Darum hat ihr die Hand
des Herrn auch ein Denkmal errichtet, das nie und nimmer
vergehen wird. Kaiser- und Königreiche sind erstanden,
haben geblüht und sind wieder in Vergessenheit geraten.
Denkmäler sind errichtet worden zur Erinnerung an die
Thaten großer Männer, und diese Denkmäler sind wieder
zu Staub geworden. Aber die That jenes unbekannten
Weibes in Bethanien lebt fort und wird fortleben in
Ewigkeit. — Der Herr gebe uns Gnade, ihr nachzuahmen!
Wie hat's die Seele doch so gut!
Wie hat's die Seele doch so gut,
Die sich dem Herrn ergiebt,
Die nichts mehr will und nichts mehr thut,
Als daß sie Jesum liebt!
Still wandelt sie an Seiner Hand,
Ein selig Kind des Lichts,
Das Antlitz hin zu Ihm gewandt,
Und scheut und fürchtet nichts.
Sie ziehet mutig ihre Bahn,
Mit Ihm wird nichts zu schwer;
Durch Kampf und Leid geht's himmelan,
Sie weiß, Er liebt so sehr!
Die Berufung Rebekkas.
(1. Mose 24.)
Im 22. Kapitel des 1. Buches Mose haben wir in
der Opferung Isaaks das bekannte Vorbild von der Aufopferung
des Sohnes Gottes. Wir hören dort, daß
Gott sich selbst ein Lamm zum Brandopfer ausersehen
werde. Isaak wurde im Bilde geopfert und im Bilde
aus den Toten wieder empfangen. So hat auch Gott
Seines eignen Sohnes nicht geschont. Christus mutzte
erhöht werden, und wir dürfen hinzufügen: Er ist am
Kreuze erhöht worden, das Versöhnungswerk ist vollbracht.
Christus ist gestorben, und Gott hat Seinen Sohn aus
den Toten wieder empfangen. Wie einst, nach jener ernsten
Scene auf dem Berge Morija, der lebende Isaak mit
seinem Vater nach Kanaan zurückkehrte, so ist jetzt der
auferstandene Christus zu Seinem Vater zurückgekehrt, und
lebt heute droben zur Rechten Gottes. Bei diesem Punkte
beginnt die Unterweisung des 24. Kapitels unsers Buches.
Sarah, die Mutter Isaaks, war, wie uns im
23. Kapitel erzählt wird, inzwischen gestorben. So ist
auch Israel, aus welchem dem Fleische nach unser Herr
gekommen ist, für die gegenwärtige Zeit beiseite gesetzt,
und damit erhebt sich die Frage: Was sind die Gedanken
und Ratschlüsse Gottes für den Zeitabschnitt, in welchem
wir leben? Christus hat sich als das große Sündopfer
254
dargestellt. Gott hat Ihn aus den Toten auferweckt.
Israel ist als Volk für den Augenblick vom Schauplatz
verschwunden, und alle dieses Volk angehenden Ratschlüsse
Gottes sind gleichsam aufgeschoben. Seine wunderbare
prophetische Geschichte harrt noch ihrer Erfüllung. Was
also bringt Gott heute in Ausführung?
Unser Kapitel giebt in vorbildlicher Weise Antwort
auf diese Frage. Drei Personen erscheinen vor unsern
Blicken, die das Werk des Vaters, des Sohnes und des
Heiligen Geistes bildlich darstellen; und zwar verfolgen
alle einen Zweck, ein Ziel. Zwei Personen sind in
Kanaan, und eine wird nach Syrien geschickt. Abraham,
der Vater, sendet den Verwalter seines Hauses und seiner
Habe von Kanaan nach Mesopotamien, um dort für Isaak,
den Sohn, (der im Bilde aus den Toten auferstanden war
und sich jetzt in Kanaan befand,) eine Braut zu suchen
und nach Kanaan zu bringen.
Nichts könnte die Ratschlüsse Gottes schöner versinnbildlichen.
Wie Abraham seinen Knecht sandte, so
hat Gott den Heiligen Geist gesandt; Er ist jetzt hienieden,
eine lebendige Person auf dieser Erde, gerade so wirklich
wie es einst der Knecht Abrahams in Syrien war. Die
Absicht Abrahams in der Sendung seines Knechtes war,
für seinen Sohn ein Weib zu holen; die Absicht Gottes
in der Sendung des Heiligen Geistes ist, jenen einen
Leib zu bilden, von welchem der Apostel Paulus so viel
redet, die Braut des Lammes, des geliebten Sohnes
Gottes. Der Knecht kam, um die von Gott für Isaak
bestimmte Braut ausfindig zu machen und nach Kanaan
zu geleiten. „Die du deinem Knechte, dem Isaak, bestimmt
hast" (V. 14), sagt Elieser; und dies erinnert
255
uns an den herrlichen Ausspruch des Apostels in Eph. 1:
„wie Er uns auserwählt hat in. Ihm vor Grundlegung
der Welt"; oder an die lieblichen Worte des Herrn Jesu
in Joh. 6: „Alles was mir der Vater giebt, wird zu
mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht
hinauswerfen".
Und was von der Kirche in ihrer Gesamtheit wahr
ist, ist auch wahr von jedem einzelnen Gläubigen insonderheit.
Wie wenig kannte Rebekka von den göttlichen
Ratschlüssen betreffs ihrer Person und von ihrem unmittelbaren
Interesse an dem was vorging, als sie mit dem
Kruge auf ihrer Schulter zum Brunnen kam! Elieser
bittet sie um einen Trunk Wasser. Sie entspricht sofort
dieser Bitte, läßt ihren Krug eilend hernieder, tränkt den
Fremdling und beginnt dann auch den Kamelen zu schöpfen.
„Und der Mann sah ihr staunend zu, schweigend, um zu
wissen, ob Jehova Glück gegeben habe zu seinem Wege
oder nicht." (V. 21.) Welch eine liebliche Scene!
Gerade so werden diejenigen, welche Gott Seinem Sohne
gegeben hat, willig gemacht, zu Ihm zu kommen.
Beachten wir, was der Knecht jetzt zunächst thut.
„Und es geschah, als die Kamele genug getrunken hatten,
da nahm der Mann einen goldnen Ring (eig. Nasenring),
ein halber Sekel sein Gewicht, und zwei Spangen an
ihre Arme, zehn Sekel Gold ihr Gewicht." JesuS hat
von dem verheißenen Sachwalter gesagt: „Er wird nicht
aus sich selbst reden ... Er wird mich verherrlichen,
denn von dem Meinen wird Er empfangen und euch
verkündigen." (Joh. 16, 13.14.) Der Knecht Abrahams
nennt nicht ein einziges Mal seinen eignen Namen. Er
nimmt die goldnen Kleinode, die der Vater für die Braut
256
seines Sohnes gesandt hat, und giebt sie ihr. Er selbst
sagt nachher: „Ich legte den Ring an ihre Nase und die
Spangen an ihre Arme." (V. 47.) O mit welcher Wonne
legt der Heilige Geist das herrliche Kleinod, die Gerechtigkeit
Gottes selbst, gleichsam an die Stirn aller derer,
welche glauben! Welch eine unaussprechliche Gnade: die
Sünde nicht zugerechnet! die Gerechtigkeit zugerechnet!
Jesus, unsrer Uebertretungen wegen dahingegeben, unsrer
Rechtfertigung wegen auserweckt! Welch ein Kleinod!
Christus, uns geworden zur „Weisheit von Gott und
Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung"! Gott ist
gerecht, und Er rechtfertigt alle, die an Jesum glauben.
Welch eine Gabe! Gerechtigkeit ohne Werke! — Trägst du
dieses Kleinod schon an deiner Stirn, mein lieber Leser?
Ist der auferstandene Christus deine Gerechtigkeit? Bist
du in Ihm, dem Geliebten, annehmlich gemacht vor Gott?
Dann giebt es keine Verdammnis mehr für dich; nur
Gerechtigkeit, Friede und Freude.
Und nun die beiden Spangen an den Armen der
Braut — deuten sie nicht hin auf die Unveränderlichkeit
in jener Stellung der Gerechtigkeit, auf die Unverbrüchlichkeit
jenes Bandes, das die Liebe Gottes geknüpft hat?
Wie schön ist der Weg, auf welchem der Geist Gottes
eine Seele zu Christo bringt! Er nimmt von den kostbaren
Dingen Christi und giebt sie ihr. Er ist der
Erste, der handelt; und wahrlich, herrliche Juwele sind
Seine Gabe: ewige Gerechtigkeit, ewige Liebe. Das war
der Ausgangspunkt bei Rebekka; und siehe da, sofort
war Raum in ihrem Hause für die Kamele und die
Männer. Aehnlich ist es mit einer Seele, welche die
Kostbarkeit Christi kennen lernt: in ihrem Herzen ist Raum
257
für den Gesandten Gottes, ja, Raum für den Sohn Gottes
selbst. Mit Laban war es anders. In seinem Falle
ist er zunächst der Handelnde. Als er die Kleinode an
der Nase und den Armen seiner Schwester erblickte, suchte
er durch sein Thun Gleiches zu erwerben. Er sprach:
„Komm herein, Gesegneter Jehovas! warum stehst du
draußen? Denn ich habe das Haus aufgeräumt, und
Raum ist für die Kamele." — Wie viele gleichen diesem
Manne! Sie wollen sich, wie er, die Kleinode der Gnade
verdienen. Sie meinen sich vorbereiten zu können auf
den Empfang des Sohnes Gottes. Sie wollen das Haus
aufräumen, kehren und schmücken. Ach! eine solche Gesinnung
ist dem stolzen Herzen des Menschen nur zu
natürlich. Sie kennt nichts von dem göttlichen Grundsatz
der Gnade, nach welchem die Kleinode zuerst kommen als
eine freie, unverdiente Gabe für den verlornen, ohnmächtigen
Sünder,.der fern von Gott ist.
Doch der Knecht Abrahams hat noch andere herrliche
Gaben in Bereitschaft für die Braut des Sohnes
seines Herrn. Sobald er seine Botschaft an den Vater
und Bruder Rebekkas ausgerichtet und eine bejahende
Antwort erhalten hatte, „zog er hervor silberne Geräte und
goldene Geräte und Kleider und gab sie Rebekka". (V. 53.)
Ja, alles das kam zuerst. War es nicht gerade so bei
dem verlornen Sohne? Sobald der Sohn seine Sünde
bekennt und sich selbst verurteilt, hören wir den Vater
sagen: „Bringet das beste Kleid her und ziehet es ihm
an, und thut einen Ring an seine Hand und Sandalen
an seine Füße." So besuchte einst die Gnade ein götzendienerisches
Weib in Mesopotamien, und so kommt heute
die Gnade Gottes dem umkehrenden, bußfertigen Sünder
258
entgegen. Sie fordert nichts, sie giebt nur. Aber
ach! was hat es den Herrn der Herrlichkeit gekostet, um
uns so mit dem besten Kleide bekleiden zu können! „Den,
der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht,
auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm."
(2. Kor. 5, 21.)
Bist du ganz gewiß, mein lieber Leser, daß Gott
dir durch Seinen Geist schon so begegnet ist? Hast du
diese reinen, kostbaren Kleinode schon von Ihm empfangen?
Hast du sie erhalten ohne Geld und ohne Kaufpreis?
Rebekka kaufte sie nicht; sie verdiente sie nicht; sie verhandelte
auch nicht mit dem Knechte Abrahams über die
Bedingungen, unter welchen sie sie empfangen könnte.
Nein, er gab, und sie nahm; alles war ein unbedingtes
Gnadengeschenk. Ringe und Armspangen, kostbare Geräte
und Kleider — sie empfing alles ohne Geld und ohne
Kaufpreis. Gerade so ist es mit dem Gläubigen. Die
Gnade sucht ihn, die Gnade bekleidet und schmückt ihn,
und die Gnade macht ihn fähig für den bevorzugten Platz,
den er haben soll zur Seite des Herrn vom Himmel.
Kannst du sagen, mein Leser, daß Gott der Vater dich
so durch und in Seinem Sohne fähig gemacht hat für
das Erbteil der Heiligen in dem Lichte?
Nachdem Rebekka jene reichen Geschenke empfangen
hat, tritt die Frage an sie heran: „Willst du mit diesem
Manne gehen?" Ihre Antwort lautet klar und bestimmt.
„Und sie antwortete: Ich will gehen." Wie viel war
in dieser Entscheidung eingeschlossen! Sie mußte alles
verlassen, was ihr bis dahin teuer gewesen war: das Haus
ihres Vaters, ihre Verwandtschaft, ihre Heimat samt ihrer
götzendienerischen Religion. Sie mußte sich ganz und gar
259
der Leitung des Knechtes Abrahams anvertrauen. Sie
war der einzige Gegenstand, den er in Mesopotamien suchte.
„Und Rebekka machte sich auf und ihre Dirnen, und sie
ritten auf den Kamelen und folgten dem Manne; und der
Knecht nahm Rebekka und zog hin." (V. 61.) Der Natur
gefiel dieser kurze, bestimmte Entschluß keineswegs; sie
hätte die rasche Abreise gern verhindert. „Und ihr Bruder
und ihre Mutter sprachen: Laß die Dirne einige Tage
oder zehn bei uns bleiben, darnach magst du ziehen."
Aber Elieser besteht darauf, sofort zu seinem Herrn
zurückzukehren, und Rebekka ist völlig bereit, mit ihm
zu gehen.
Mein lieber Mitpilger! wie lautet dein Entschluß?
Sagst du auch: „Ich will gehen"? Oder möchtest
du lieber noch einige Tage mit der Welt und ihren Dingen,
mit der Natur und ihren Einflüssen in Verbindung bleiben?
Vor Rebekka lag eine lange Reise durch die Wüste; aber
am Ende derselben war Isaak. Jede Stunde, ja jeder
Schritt entfernte sie weiter von Mesopotamien, aber brachte
sie auch näher zu Isaak. Gerade so ist der Pfad des
Christen. Wie Abraham seinen Knecht aussandte, um
Rebekka aus dem fernen Lande ihrer neuen Heimat zuzuführen,
gerade so hat Gott den Heiligen Geist herniedergesandt,
um den Gläubigen durch die Wüste in seine ewige
Heimat droben zu geleiten. Rebekka folgte willig dem
Manne, bis zu dem Augenblick, da sie ihre Augen aufhob
und Isaak sich entgegenkommen sah. Und heute gilt für
den Schreiber und Leser dieser Zeilen die ernste Frage:
Machen wir es auch so? Folgen wir unserm himmlischen
Führer mit festem Tritt, indem wir unser Auge unverrückt
auf unser herrliches Ziel gerichtet halten? Lautet der Ent
260
schluß unsrer Herzen: Ich will gehen, koste es was
es wolle?
Abraham sandte seinen Knecht nicht nach Mesopotamien,
um die Bewohner des Landes zu veranlassen,
ihren Götzendienst aufzugeben und eine bessere Religion
anzunehmen, auch nicht, um ihre Sitten zu verfeinern oder
ihre Gesinnung zu veredlen. Auch sagte Rebekka nicht:
„Ich möchte doch bei meinen Freunden und Verwandten
bleiben und, wie bisher, an ihren Vergnügungen und Genüssen
teilnehmen. Warum kann Isaak nicht nach Syrien
kommen und seine Wohnung bei uns aufschlagen? Welch
einen Vorzug hat Kanaan vor Mesopotamien?" Nein, sie
sagte einfach und bestimmt: „Ich will gehen". Sie überlegte
nicht, sie besann sich nicht; ihr Entschluß standfest.
Sie wandte sich ab von den stummen Götzen Syriens und
folgte dem Rufe nach Kanaan. Eine neue Macht zog ihre
Seele unwiderstehlich an wie ein starker Magnet.
Sie ist in dieser Hinsicht ein schönes Vorbild von
der Kirche oder Versammlung Gottes, wie diese im Neuen
Testament gesehen wird. Die gläubigen Thessalonicher z. B.
„hatten sich von den Götzenbildern zu Gott bekehrt, dem
lebendigen und wahren Gott zu dienen und Seinen Sohn
aus den Himmeln zu erwarten." (t. Thess. 1, 9. 10.)
Die Jungfrauen gingen aus, dem Bräutigam entgegen.
(Matth. 25.) Aber ach! in welch trauriger Weise hat
sich alles verändert! wie sind sie alle eingeschlafen, und wie
lange hat der Schlaf gewährt! Die Kirche hat beinahe
ganz vergessen, daß ihr Herr verheißen hat, vom Himmel
wiederzukommen, um sie ins Vaterhaus zu führen. Der
Heilige Geist ist zwar gekommen, und Er bleibt bei und
in uns bis zum Ende hin; aber verhältnismäßig wie
261
wenige haben ein Verständnis darüber, daß Sein Zweck
ist, die Braut ihrem Herrn entgegenzuführen, wie einst
Abrahams Knecht Rebekka aus dem fernen Lande nach
Kanaan holte!
„Und Rebekka machte sich auf und ihre Dirnen, und
sie ritten auf den Kamelen und folgten dem Manne;
und der Knecht nahm Rebekka und zog hin . . . Und
Isaak ging aus, zu sinnen auf dem Felde beim Anbruch
des Abends; und er hob seine Augen auf und sah, und
siehe, Kamele kamen." (V. 61. 63.) Wie sehr wir
auch den Augenblick vergessen mögen, an welchem wir
dem Herrn begegnen werden, so denkt Sein Herz der
Liebe doch unaufhörlich daran. Wie unbegreiflich ist es,
daß wir Ihn vergessen können! Hebe deine Augen auf,
mein Leser, und sieh im Glauben jenen Heiligen und
Hochgelobten droben in der Herrlichkeit, wie Er über uns
sinnt und an uns denkt! Welch eine Scene wird es
sein, wenn Er kommen und die Millionen von Erlösten
sehen wird, die Ihm entgegengerückt werden in die Luft!
„Und Rebekka hob ihre Augen auf und sah Isaak." Kostbare,
gesegnete Hoffnung! Auch wir werden einmal —
und wer weiß, wie bald! — unsre Augen aufheben und
Jesum sehen und dann für immer bei unserm Herrn sein.
Wie Isaak in Kanaan eine Wohnstätte für seine Braut
bereitet hatte, so hat Jesus eine Stätte für uns bereitet
im Vaterhause droben. Der Heilige Geist wird die in
Christo Jesu vor Grundlegung der Welt auserwählte
Braut ihrem Herrn entgegenführen; und wie der Knecht
Abrahams einst Rebekka dem Isaak darstellte, so wird
der Heilige Geist, der einzige Führer der Kirche heute,
die himmlische Braut Christo darstellen.
262
Darum, wie treffend und wahr ist das Vorbild in
allen seinen Einzelheiten! Isaak wurde auf dem Altar
geopfert; so ist Christus, unser großes Sündopfer, auf
dem Kreuze geopfert worden. Isaak wurde im Bilde aus
den Toten empfangen. Jesus wurde in Wirklichkeit aus
den Toten auferweckt, zu unsrer Rechtfertigung, und dann
zur Rechten der Majestät in der Höhe von Gott empfangen.
Drei Personen vereinigten sich zu demselben Zweck, eine
Braut für den auferstandenen Isaak zu finden. So sandte
der Vater den Heiligen Geist, um aus dieser Welt heraus
eine Braut für Christum zu sammeln. Der goldene Ring
und die goldenen Armspangen wurden Rebekka angelegt;
so ist keine Verdammnis mehr für den Gläubigen, die
Gerechtigkeit Gottes ist ihm zugerechnet, und keine Scheidung
von der Liebe Gottes in Christo mehr möglich!
Silberne und goldene Geräte und Kleider wurden der
Braut geschenkt; so werden die Herrlichkeiten der Person
Christi durch den Geist vor unsern Blicken entfaltet.
Vollendet in Christo — welch ein Kleid! Fähig gemacht
zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Lichte — welch
ein Kleinod! Und alles das ist unser, unser auf immer
und ewig; das sichere Teil eines jeden Kindes Gottes.
Glaubst du an den Sohn Gottes, mein Leser, so ist alles
dein, unwiderruflich dein.
Und dann kommt der Prüfstein für die Verantwortlichkeit
des Glaubens, der durch die Liebe wirkt:
„Willst du mit diesem Manne gehen? — Ich will gehen."
Ja, es giebt Einen, den wir lieben, obgleich wir Ihn
nicht gesehen haben. Rebekka zog aus in völliger und
alleiniger Abhängigkeit von der Leitung des Knechtes
Abrahams. So hat es auch die Kirche im Anfang ge
263
macht; ach, wäre sie nur dabei geblieben! Der Heilige
Geist ist der einzige Führer, der den Weg kennt und uns
sicher der Heimat zuführen kann.
Nun, wenn es die Absicht Gottes des Vaters ist, in
dieser Periode des Christentums aus der Welt die erlöste
Braut Christi zu sammeln, und wenn die Regierung dieser
Erde durch den Messias ganz und gar zukünftig ist, wie
das Wort Gottes es deutlich bezeugt, ist dann nicht jeder
Zug dieses göttlichen Gemäldes von der heutigen Christenheit
fast ins Gegenteil verkehrt worden? Wo finden wir,
selbst bei den Gläubigen unsrer Tage, jenes eifrige, aufrichtige
Trachten nach wahrer Heiligkeit? Kann man im
allgemeinen von ihnen sagen, daß sie der Welt den Rücken
gekehrt und das Antlitz Christo zugewandt haben, um Ihn
aus den Himmeln zu erwarten? Hat nicht vielmehr eine
große Zahl dem Kommen des Herrn den Rücken und der
Welt das Antlitz zugekehrt, vielfach unter dem Vorwande,
diese Welt zu verbessern, die doch Christum verworfen hat
und Ihn heute noch verwirft? Das Herz hängt an der
Welt; es kann sich nicht losreißen und fragt: „Was kann
es denn schaden, an ihren unschuldigen Freuden teilzunehmen
? Sollten wir nicht gerade mit ihr in Verbindung
bleiben, um als ein Salz in ihr zu dienen und dem fortschreitenden
Verderben zu steuern?" O wie ränkevoll ist
das arme menschliche Herz! Der Herr sagt: „Gehet aus
aus ihrer Mitte und sondert euch ab, und rühret Unreines
nicht an, und ich werde euch aufnehmen." Das Herz
sagt: „Bleibe in ihrer Mitte und sondere dich nicht ab;
es würde dir nur Ungelegenheiten bereiten und anderen zum
Aergernis dienen." So wird das Gebot des Herrn umgangen
und das Gewissen mit allerlei Scheingründen be
264
ruhigt. Doch was sagt der Herr? „Wer meine Gebote
hat und sie hält, der ist es, der mich liebt." (Joh.
14, 21.) Darum „wache auf, der du schläfst, und stehe
auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten I"
(Eph. 5, 14.)
Wäre Rebekka auf ihrer Reise zu einem Punkte gekommen,
wo der richtige Weg schwer zu erkennen gewesen
wäre, und hätten zwanzig Männer dagestanden und ihr
zwanzig verschiedene Richtungen angegeben, was würde sie
gethan haben? Würde sie nicht einfach dem Knechte und
Führer, den ihr Abraham gesandt hatte, gefolgt sein?
Und du, mein Leser? Vielleicht bist du auch au
einem solchen Kreuzwege angekommen. Was willst du
thun? Den verwirrenden Ratschlägen der Menschen Gehör
geben, oder mit einem Herzen, das sich unwiderstehlich
zu Christo hingezogen fühlt, dich der einzig sichern Leitung
des Heiligen Geistes überlassen, des himmlischen Boten,
den der Vater dir gesandt hat, um dich sicher ans Ziel
zu bringen? Und wie kannst du die Leitung des Geistes
erkennen? In dem Worte der Wahrheit, in welchem Er
alles niedergelegt hat, was wir für unsern Pilgerpfad
bedürfen. O möchtest du es machen wie Rebekka! Dann
wird dein Rücken der Welt zugekehrt und dein Antlitz nach
oben gerichtet sein; mit aufgehobenen Augen wirst du
Ihn erwarten, der in einem Nu, in einem Augenblick,
dich verwandeln und entrücken wird, damit du dann bei
Ihm seiest auf immerdar.
265
„In den Nußgarten ging ich hinab."
(Hohel. 6, 11—13.)
„In den Nußgarten ging ich hinab, um zu besehen
die jungen Triebe des Thales, um zu sehen, ob der Weinstock
ausgeschlagen wäre, ob die Granaten blühten. Unbewußt
setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen
meines willigen Volkes." (V. 11. 12.) Wie selten geschieht
es, daß der Weingärtner von der Fülle und Reife
der Früchte seines Weinberges überrascht dasteht! Enttäuschung,
nicht aber Genugthuung, muß er nur zu oft
als die Frucht seiner Mühe einernten. Und wir dürfen
wohl sagen, daß es von jeher so gewesen ist mit Israel,
dem Weinberge des Herrn. Doch hier ist es anders.
Alles ist verändert, und in der lieblichsten Weise verändert.
Die Gnade strahlt in herrlichem Glanze, der Glaube triumphiert,
der Herr trägt den Sieg davon, und Sein Volk
blickt und rechnet auf Ihn, auf Ihn allein. Alles ist
reif in Juda für die Herrlichkeit.
Gesegneter Tag! Der Herr erblickt jetzt in Seinem
Volke die reifen Früchte Seiner Gnade. Sein Herz frohlockt,
ja es wird von dem Anblick ganz überwältigt. Es
handelt sich nicht länger um die Wüste und Seine Verbindung
mit dem Volke dort, sondern ein fruchtbarer
Garten steht vor unsern Blicken mit den jungen Trieben
des Thales, mit grünenden Reben und blühenden Granaten.
Diese Früchte Seiner reichen, langmütigen Gnade bewegen
den Herrn tief. Seine Liebe zieht Ihn hin zu Seinem
jetzt so völlig veränderten und willigen Volke. „Unbewußt
setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen meines Wil
266
ligen Volkes." (Vergl. Ps. 110, 3.) Wie wunderbar ist
es, das Herz(des Herrn so bewegt, so hingerissen zu sehen
durch die Bereitwilligkeit Seines Volkes, Ihn aufzunehmen!
Wahrlich, diese Seite der Liebe unsers Herrn erfordert
unsre tiefe, eingehende Betrachtung. Welch ein Gedanke,
daß der Herr des Himmels und der Erde durch Herzen,
die nach Ihm verlangen, so völlig hingerissen und mit
tiefster Freude erfüllt werden kann! Möchte doch jede bußfertige,
aber ängstlich zweifelnde Seele dies hören und
glauben! Wenn einmal die Tochter Zion die Füße ihres
Herrn mit ihren Thränen benetzen wird, dann wird Er
sich von allem andern abwenden und eilend sie trösten.
Die Fülle.Seines Herzens wird zu ihr ausströmen, und
Vergebung, Heil und Frieden werden ihr ewiges Teil sein.
Im Neuen Testaments begegnen wir manchem ähnlichen
Beispiel von derDereitwiÜigkeii unsers Herrn, dem
schuldigen Sünder in Gnade zu begegnen. Gott hat von
jeher so gehandelt; aber im Neuen Testament tritt uns
die persönliche Liebe und Gnade Christi lebendiger entgegen.
Nichts erfreut Sein Heilandsherz mehr, als einem
armen, verlornen Sünder Gnade zu erweisen und ihn zu
erretten. Wandte Er sich nicht um in dem Drängen und
Schieben der Volksmenge, um die Eine zu sehen, welche
den Saum Seines Kleides angerührt hatte? Sie hätte
sich ebenso still und unbeobachtet wieder entfernen können,
wie sie gekommen war; aber Seine Liebe wäre damit
nicht befriedigt gewesen. Sie mußte ans Licht kommen,
und der ganze Vorgang mußte zu ewigem Gedächtnis ausgezeichnet
werden. Niemand war so tief an dem, was
geschehen war, interessiert wie Er selbst. Das Weib hatte
im Glauben gleichsam die innersten Quellen Seines Herzens
267
ungerührt, und die Kraft, die in Ihm war, floß zu ihr
aus. Doch der Herr wünschte sie selbst zu sehen und aus
ihrem eignen Munde zu hören, was sie erfahren hatte;
und dann rief Er ihr die lieblichen Worte zu: „Tochter,
dein Glaube hat dich geheilt; gehe hin in Frieden und
fei gesund von deiner Plage." (Mark. 5.)
Gerade so erfreut und innerlich bewegt war Er durch
den Schrei um Erbarmen aus dem Munde des blinden
Bettlers. (Luk. 18.) Er befand sich auf einer wichtigen
Reise, und eine große Volksmenge begleitete Ihn. Soll nun
der ganze Zug still stehen, weil ein armer Bettler um Hilfe
ruft? Nein, die Vorangehenden bedrohen ihn, und gebieten
ihm zu schweigen. Aber was thut der Sohn Davids?
Sobald der Ruf Sein Ohr erreicht, steht Er still. Er
geht keinen Schritt weiter. „Jesus aber stand still und
hieß ihn zu sich führen. Als er aber sich näherte, fragte
Er ihn und sprach: Was willst du, daß ich dir
thun soll?" Welch ein Anblick! Ein armer, blinder
Bettler, geleitet von mitleidiger Hand, und Jesus, auf
ihn wartend! „Was willst du, daß ich dir thun soll?"
Der Herr beeilt sich nicht, Sein Werk zu vollenden; Er
zögert gleichsam, weil Ihn der ganze Vorgang so herzlich
erfreut. Seine Seele ist tief bewegt; Er allein kannte den
wunderbaren Ausgang der Sache. Aber welch eine Stellung
für den armen, bedauernswürdigen Mann vor Ihm! Was
würdest du vom Herrn erbeten haben, mein Leser, wenn d u
so vor Ihm gestanden hättest? Ist es nicht gerade so, als
wenn der Herr gesagt hätte: „Bitte nur, um was du
willst; ich stehe bereit, dir zu dienen und deiner Bitte zu
willfahren"? Der Bettler bittet nur um das, was er so
schmerzlich entbehrte, um sein natürliches Augenlicht. „Er
268
sprach: Herr, daß ich sehend werde!" Und der Herr?
Er entspricht seiner Bitte nicht nur, sondern giebt ihm
tausendmal mehr. „Und Jesus sprach zu ihm: Sei
sehend! dein Glaube hat dich geheilt (od. gerettet)." Der
Ausgang dieser Scene ist überaus herrlich. Der Geheilte
folgt Jesu im Glauben nach und verherrlicht Gott; „und
das ganze Volk, das es sah, gab Gott Lob". Der ganze
Vorgang ist ein schönes Bild von der Zeit des tausendjährigen
Reiches.
Doch von allem, was uns im Neuen Testament berichtet
wird, ähnelt die Geschichte von dem verlornen Sohne
wohl am meisten der Scene hier im Hohenliede. Die
reuevolle Umkehr des Sohnes treibt den Vater in Eile
zu ihm hin. Er läuft seinem Sohne entgegen. „Als
er aber noch ferne war, sah ihn sein Vater und ward
innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um seinen Hals
und küßte ihn sehr." Die Liebe des Vaterherzens und der
Wunsch des Sohnes, zu ihm zurückzukehren, kommen einander
auf halbem Wege entgegen; und der Vater leitet den
Sohn mit bewegtem Herzen der glücklichen Heimat zu.
Aehnlich wird es mit dem Bräutigam am Ende der
Tage sein. Der tiefe Schmerz, die göttliche Betrübnis
Seines Volkes in jener Zeit, besonders derer aus dem
Stamme Juda, und ihr ernstes Verlangen nach der Ankunft
des Messias wird Seine Liebe in Thätigkeit setzen
und Ihn veranlassen, Sein Kommen zu beschleunigen.
„Unbewußt setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen
meines willigen Volkes." Und indem Er die Leitung
Seines Volkes übernimmt, wie ein Wagenlenker diejenige
des Wagens, wird Er ihre völlige Befreiung bewirken
und sie in Eile zu Herrlichkeit und Triumph führen.
269
„Kehre um, kehre um, Sulammith; kehre um, kehre
um, daß wir dich anschauen! — Was möget ihr an der
Sulammith schauen? — wie den Reigen von Machanaim
(od. von zwei Heeren)". (V. 13.) Die Jungfrauen stimmen
jetzt wieder voll Bewunderung in den Chor ein.
Sie wünschen, mehr von der Schönheit, Vollkommenheit
und Herrlichkeit der Braut zu sehen. Sie ergeht sich mit
dem Könige im Nußgarten. Kostbares Vorrecht! Die
Jungfrauen nennen sie mit einem neuen Namen: „Kehre
um, kehre um, Sulammith!" Sulammith ist die weibliche
Form des Namens Salomo. Das ist bedeutungsvoll.
Die Vereinigung ist geschehen; die lange unterbrochenen
Beziehungen sind wiederhergestellt; die Gnade
hat ein vollkommnes Werk in der Braut gethan. Der
Herr kann sich ihr jetzt völlig offenbaren, und sie wirft
die Strahlen Seiner Herrlichkeit ungetrübt zurück: „sie ist
schön wie der Mond, rein wie die Sonne". Sie steht
in der wolkenlosen Gunst des Königs und besitzt und genießt
Seine ganze Liebe. Wahrlich, darin kann das Herz
vollkommen und ewig ruhen. Nichts könnte höher und
gesegneter sein. Ruhst auch du in dieser Liebe, meine
Seele? in der bewußten und tiefempfundenen Liebe deines
Geliebten? Er hat sich dir geoffenbart, sich selbst dir
geschenkt; was könnte Er mehr thun? Im Himmel kann
es keinen solchen Ausdruck Seiner Liebe geben, wie er
hier auf Erden in dem Kreuze ans Licht getreten ist.
Das Blut, das auf Golgathas Höhen vergossen wurde,
bildet den vollkommnen Ruheort für das Gewissen; die
Liebe, die sich dort geoffenbart hat, den vollkommnen
Ruheort für das Herz. Und alles das ist jetzt dein.
„Glaube nur!"
270
Noch andere Jungfrauen fallen jetzt, wie es scheint,
in den Chor ein und fragen: „Was möget ihr an der
Sulammith schauen?" Die sofortige Antwort lautet:
„Wie den Reigen von Machanaim, od. von zwei Heeren".
Tirza, die Schöne, und Jerusalem, die Liebliche, werden
vereint in ihr gesehen werden. Einige Ausleger haben
gemeint, daß der Geist hier an den beständigen Kampf
zwischen dem alten und dem neuen Leben in dem
Gläubigen denke; aber wir halten dies für einen Irrtum.
Der Ausdruck deutet keineswegs auf Kampf und Streit,
sondern vielmehr auf Frieden und Freude, Einheit und
Herrlichkeit hin. Dürfen wir hier nicht eher an die Wiedervereinigung
des lange getrennten Hauses Jakobs unter dem
Scepter des Friedensfürsteu denken? Juda und Israel sind
nicht länger zwei Nationen, die mit einander streiten, sondern
sie erscheinen hier aufs innigste mit einander verbunden.
Wie der Reigen von Machanaim, so werden sie hier durch
die liebende, friedliche (Sulammith bedeutet „die Friedliche")
Braut des wahren Salomo dargestellt. Diese Vereinigung
wird sich im Beginn des tausendjährigen Reiches, der Herrschaft
des Friedens, vollziehen. „Und der Neid Ephraims
wird weichen, und die Bedränger JudaS werden ausgerottet
werden. Ephraim wird Juda nicht beneiden, und
Juda wird Ephraim nicht bedrängen." (Jes. 11, 13.)
Der König von Salem regiert, die zwölf Stämme sind
wieder vereinigt, die Völker ihnen unterworfen — alles
ist Friede und Segnung. Die Kriegstrompete hängt unbenutzt
in der Halle, die Schwerter sind zu Pflugscharen,
die Speere zu Winzermessern umgeschmiedet, und die
Völker werden die Kriegskunst nicht einmal mehr lernen.
(Jes. 2, 4.)
271
Doch abgesehen von der bildlichen Darstellung in
unserm Kapitel, möchte ich fragen: „Ist es ein schriftgemäßer
Gedanke, daß der christliche Kampf zwischen dem
alten und dem neuen Leben geführt werde?" Sicherlich
nicht. Der Kampf geht vor sich zwischen dem Fleisch
und dem Geist. „Das Fleisch gelüstet wider den
Geist, der Geist aber wider das Fleisch." (Gal. 5, 17.)
Es heißt nicht: „Das alte Leben gelüstet wider das neue,
und das neue wider das alte." Wo dieser Gedanke festgehalten
wird, muß die Erkenntnis über das Kreuz und
das an ihm vollbrachte Werk sehr mangelhaft sein. Der
Apostel belehrt uns in Röm. 6, 1 — 11 in klarer, bestimmter
Weise, daß unser alter Mensch mit Christo gekreuzigt
worden ist, „auf daß der Leib der Sünde abgethan
sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen". Hieraus
geht unzweideutig hervor, daß in Gottes Augen, und
jetzt auch für den Glauben, unsre alte Natur
am Kreuze zu ihrem Ende gekommen ist.
Welch ein Trost für unsre Herzen! Wir wissen selbstverständlich,
aus eigner schmerzlicher Erfahrung, daß die
alte Natur, die wir haben, noch existirt; und weiter, daß
sich diese alte Natur, wenn wir nicht unaufhörlich über
sie wachen und sie schonungslos verurteilen, sich als eine
Quelle endloser Beunruhigung, sowohl für uns als auch
für andere, erweisen wird. Man kann sagen, daß das
praktische Christentum aus zwei Dingen besteht: 1. aus
der Ernährung des neuen Lebens durch die Beschäftigung
mit Christo, und 2. aus der Verurteilung des alten Lebens,
auf welches Gott in feierlich-ernster Weise am Kreuze das
Todesurteil geschrieben hat. Indes möchte gefragt werden:
„Wie kann man denn gegen die Regungen dieser alten
272
Statur wachen und sie richten?" Der Apostel beantwortet
diese Frage mit den Worten: „Ich sage aber: Wandelt
im Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches
nicht vollbringen." Wir haben keine Kraft
gegen die Natur, als nur im Heiligen Geiste und in der
durch den Glauben festgehaltenen und verwirklichten Thatsache,
daß das Fleisch nach Gottes Gedanken gekreuzigt
und für immer abgethan ist. Gepriesen sei der Name
Dessen, der das Kreuz für uns erduldet hat! Dort ist
unser alter Mensch mitgekreuzigt worden; dort wurde
er gleichsam ans Holz genagelt, dort wurde für immer
ein Ende mit ihm gemacht. An uns ist es, diese Thatsache
im Glauben zu erfassen und in der Kraft und
Freiheit, welche der Glaube an diese Wahrheit verleiht,
zu wandeln.
Bist du in das volle Verständnis dieser Grundwahrheit
eingegangen, mein lieber Leser? Dann weißt
du auch zu deinem ewigen Troste, daß von dem Augenblick
an, da wir durch den Glauben an Christum Leben
empfangen haben, unsre verdorbene Natur in der Schrift
als tot betrachtet und behandelt wird. „Ihr seid gestorben",
sagt die Schrift; aber das ist, Gott sei Dank,
nicht alles; wir lesen weiter: „und euer Leben ist verborgen
mit dem Christus in Gott". (Kol. 3, 3.) Wie
sicher, wie wohl geborgen ist also jeder wahre Gläubige:
„mit dem Christus in Gott!" Könnte unsre alte Natur
oder irgend etwas, das zu ihr gehört, in Gott verborgen
sein? Nein, nein! Alles was von uns ist, ist vergangen,
für immer dahin; alles was von Christo ist, bleibt — bleibt
in all seiner unveränderlichen Vollkommenheit an dem besten
Platz im ganzen Himmel, in Gott selbst. Durch das Kreuz
273
werden wir loS von allem, was von uns ist; in der
Auferstehung werden wir in den Besitz alles dessen einge-
sührt, was von Christo ist. In der neuen Schöpfung
wird nimmer das kleinste Teilchen von der alten gefunden
werden.
Der Apostel giebt uns im Galaterbrief eine eingehende
Belehrung über diese Wahrheit. „Ich bin mit
Christo gekreuzigt", sagt er; „und nicht mehr lebe ich,
sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im
Fleische, lebe ich durch Glauben." Paulus redet hier in
einer Hinsicht von sich als tot, als gestorben, in einer
andern als lebend. Wie ist das zu verstehen? Nur
durch den Glauben. Das alte „Ich", der alte Paulus,
ist gestorben, mit Christo gekreuzigt; das neue „Ich" ist
sein neues Leben, Christus in ihm. Das erste behandelt
er als tot, als sür immer abgethan; das zweite als sein
einziges Leben jetzt, nachdem er geglaubt hat. „Christus
lebt in mir". Die praktische Wirkung dieser Wahrheit,
wenn sie im Glauben ausgenommen wird, ist unermeßlich.
Das eigne, böse, verderbte Ich, welches
für den natürlichen Menschen bei all seinem Thun
Anfang, Mittel und Ende bildet, ist für den Glauben
hinweggethan, und Christus ist an die Stelle desselben
getreten. „Zu leben ist für mich Christus"; das heißt:
ich habe Christum zum Anfang, Mittel und Ende, zu
meinem einzigen Gegenstand und Zweck. Wir wissen wohl,
daß Paulus sein natürliches Leben hienieden, das Leben,
welches er stets als Mensch besessen hatte, nach wie vor
behielt; allein das Leben, in welchem er lebte, war ein
ganz und gar neues — Christus lebte in ihm. „Was
ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben,
274
durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich
selbst für mich hingegeben hat."
Alles dieses ist dem Grundsatz nach heute ebenso
wahr von jedem Gläubigen, wie einst von dem Apostel,
obgleich es sich in uns nicht so deutlich offenbaren mag.
Aber vergessen wir nicht: „Zunächst muß der Glaube an
die Wahrheit vorhanden sein, ehe ein Leben in der Kraft,
welche dieser Glaube verleiht, erwartet werden kann.
Indes steht deutlich geschrieben: „Die des Christus sind,
haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften unb
Lüsten." (Gal. 5, 24.) Beachten wir eS Wohl! Es
heißt nicht: sie kreuzigen es, sondern sie haben es
gekreuzigt. Und von wem wird das gesagt? Von weit
geförderten Christen, von Männern und Vätern in Christo?
Nein, es heißt einfach: „Die des Christus sind". Es ist
ebenso wahr von dem Kindlein, wie von dem Jüngling
oder dem Vater in Christo. Was war eS, das der
Kreuzigung an dem Fluchholze bedurfte ? War es etwas,
das Christo angehörte? Nein, es war das alte, böse
„Ich", das ans Kreuz genagelt und in Christo hinweggethan
werden mußte. Und daß dies geschehen ist, dafür
sei Sein heiliger Name ewiglich gepriesen!
Gott gebe allen Seinen teuer erkauften Kindern
Gnade, sich diese Wahrheit im Glauben zuzueignen, zu
wandeln in der Freiheit und Kraft des Heiligen Geistes,
und stets beschäftigt zu sein mit dem auserstandenen und
verherrlichten Christus!
275
Abraham und der König von Sodom.
(1. Mose 14.)
Abraham hatte einen großen Sieg davongetragen.
Mit einem kleinen Heere hatte er fünf kananitische Könige
überwunden. Es war ihm geglückt, Lot und dessen Hausgesinde
aus der Hand dieser Könige zu befreien. Im
Triumph kehrte er aus dem Kampfe zurück. Der König
von Sodom, dessen Volk ebenfalls durch den Sieg Abrahams
befreit worden war, kam ihm voll Freude und
Dankbarkeit entgegen. Sicher, das war ein glücklicher
Tag in dem Leben Abrahams. Der Herr hatte ihm
geholfen und seine Feinde in seine Hand gegeben; er hatte
alle Ursache, sich zu freuen.
In solchen Umständen vergißt die Seele sehr leicht
ihre Abhängigkeit von Gott. In der Freude des errungenen
Sieges beachtet man wenig die eigene Schwachheit
und die Notwendigkeit einer fortdauernden Bewahrung
von feiten Gottes. Man kennt zwar diese Notwendigkeit,
aber man vergißt sie, weil man zu sehr von dem Siege
erfüllt ist, den man über den Feind errungen hat. Und
der Teufel, der dieses sehr gut weiß, benutzt die Gelegenheit,
um die Seele in Versuchung zu führen.
Wir sehen dies bei Abraham. Kaum ist der eine
Kampf vorüber, so steht der andere schon vor der Thür;
und der zweite Kampf war gefährlicher als der erste.
Der König von Sodom nähert sich Abraham, um ihm die
Beute anzubieten. Satan hatte die Fäden der Versuchung
fein gesponnen. Denn wem gehörte die Beute von Rechtswegen?
Selbstverständlich dem Sieger. Nach menschlichem
Urteil wäre es also ganz in der Ordnung gewesen, wenn
276 —
Abraham die Beute für sich behalten hätte. Doch die Gedanken
Gottes sind andere als die Gedanken des Menschen.
Nicht von Sodom aus durften dem Patriarchen seine Reichtümer
zuströmen, sondern von Jehova, seinem Herrn.
Die Schätze Sodoms waren für ihn unrein; und mochte
Lot auch einen Ehrenplatz in Sodom einnehmen, so wollte
Abraham sich doch fern halten von der gottlosen Stadt
und von allem, was ihr angehörte. Um dies in einem
solchen Augenblick festzuhalten, dazu war Gnade und göttliches
Licht nötig. Doch Abraham wandelte mit dem
Herrn; und darum ermangelte er auch nicht des Lichts
und wurde in der Versuchung gestärkt.
Melchisedek, „ein Priester Gottes, des Höchsten",
kam Abraham entgegen, brachte Brot und Wein heraus
und segnete Abraham mit den Worten: „Gesegnet sei
Abram von Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde
besitzt!" (V. 18. 19.) Gott selbst sandte Seinen Priester,
um Abraham mit diesen herrlichen Worten anzureden.
Bis dahin hatte Abraham Gott wohl als den Allmächtigen
gekannt; aber als der Höchste, der Himmel und Erde
besitzt, war Er ihm noch nicht geoffenbart worden. Aber
hier offenbart sich Gott Seinem Knechte unter diesem
Namen, um ihn gegen die bevorstehende Versuchung zu
stärken. Der Höchste, der Himmel und Erde besitzt, konnte
sicher Abraham reich machen, ohne der Schätze Sodoms zu
bedürfen. Und Abraham verstand die Stimme des Herrn.
Denn als der König von Sodom einige Augenblicke später
sich näherte, um ihm die Beute anzubieten, antwortete er:
„Ich hebe meine Hand auf zu Jehova, zu Gott, dem
Höchsten, der Himmel und Erde besitzt: Wenn vom Faden
bis zum Schuhriemen, ja, wenn ich nehme von allem, was
277
dein ist . . .! auf daß du nicht sagest: Ich habe Abram
reich gemacht." Wie schön und beachtenswert ist das!
Melchisedek hatte ihn hingewiesen auf den höchsten Gott,
der Himmel und Erde besitzt; und Abraham hatte so gut
die Absicht des Herrn verstanden, daß er augenblicklich
von der empfangenen Unterweisung Gebrauch machte und
in gläubigem Vertrauen das verführerische Anerbieten
des Königs von Sodom ausschlug. „Mein Auge ist
auf den höchsten Gott gerichtet, der Himmel und Erde
besitzt," so sagt er gleichsam; „darum habe ich von
dir, König von Sodom, nichts nötig. Ich will nicht durch
dich, sondern durch diesen höchsten Gott reich gemacht
werden. Er besitzt Himmel und Erde, und deshalb erwarte
ich von Ihm allein jede Segnung." — Was konnte
der Teufel thun einer solchen Sprache gegenüber? Er
mußte sich beschämt zurückziehen. Abraham hatte einen
zweiten und noch viel herrlicheren Sieg davongetragen.
Der Herr war Seinem Knechte in Gnaden entgegengekommen
und hatte sich ihm in einer Weise geoffenbart,
daß Abraham der Versuchung zu widerstehen vermochte.
Und so handelt der Herr noch immer. Er ist und
bleibt treu bis in alle Ewigkeit. Er weiß, was wir bedürfen;
Er kennt unsre Kämpfe und Versuchungen und
unsre ganze Schwachheit. Und wenn wir in Seiner Gemeinschaft
wandeln, so kommt Er auch uns entgegen und
stärkt uns. Wären wir nur mehr in Seiner Nähe, so
würden wir sicher auch mehr Seine Stimme vernehmen.
Seine Unterstützung erfahren und nicht so oft straucheln
und in der Versuchung unterliegen. Die Umstände um
uns her sind selten ein richtiger Maßstab und Führer.
Wir sehen dies bei Abraham. Die Beute kam ihm von
278
Rechtswegen zu, und der König von Sodom bot sie ihm
an. Aber dennoch verweigerte er die Annahme, weil er
sich nicht durch die Umstände leiten ließ, sondern seinen
Blick auf Jehova, den höchsten Gott, gerichtet hielt. Sein
Auge war einfältig, und darum war sein ganzer Leib
licht. O möchten wir von ihm lernen, in inniger Gemeinschaft
mit unserm treuen und reichen Herrn zu wandeln!
Er wird es nie an Unterweisung, Belehrung und Ermunterung
mangeln lassen, noch auch jemals unser Vertrauen,
so schwach es sein mag, täuschen. Und wir? Wir
werden, von Ihm belehrt, den rechten Weg wandeln, Fortschritte
machen in der Erkenntnis unsers Gottes und
Vaters, der Himmel und Erde besitzt und uns mit unaussprechlicher
Liebe liebt; wir werden Seinen guten und
heiligen Willen zu unterscheiden vermögen und uns nicht
vom Teufel Übervorteilen und fangen lassen.
Im Lichte des Richterstuhls.
Der Apostel wandelte stets in dem Lichte des kommenden
Tages, und so sollten wir es thun. Die Wirkung,
welche der Gedanke an den Richterstuhl Christi auf ihn
ausübte, war eine dreifache: „Da wir nun den Schrecken
des Herrn kennen, so überreden wir die Menschen, Gott aber
sind wir offenbar geworden; ich hoffe aber auch in euern
Gewissen offenbar geworden zu sein." (2. Kor. 5, 11.)
1. Durch das Bewußtsein, wie schrecklich es für einen
Sünder sein muß, in seinen Sünden vor Gott zu
erscheinen, fühlte sich Paulus angetrieben, das Evangelium
mit großem Ernst zu verkündigen. „Wir überreden die
279
Menschen." Er sucht andere zu warnen und ihnen immer
wieder den Ernst ihrer Lage und die unaussprechliche Wichtigkeit
des Heils ihrer Seele ans Herz zu legen. Was muß
es auch sein für einen Ungläubigen, vor jenem Richterstuhl
zu stehen und dort wegen seiner Verwerfung Christi zur
Rechenschaft gezogen zu werden! Wo ist der Prediger des
Evangeliums, der nicht durch eine solche Erwägung zu
tiefem Ernst und anhaltendem Eifer angespornt würde!
2. Der Apostel war bereits in dem Lichte, schon
offenbar vor Gott. „Gott aber sind wir offenbar geworden."
Der Richterstuhl erweckte nicht Furcht und
Schrecken in seinem Herzen, wohl aber leitete er ihn an
zu einem treuen, aufrichtigen Wandel vor Gott und zu
einem hingebenden Dienst in Seinem Werke.
3. Indem Paulus als ein Mann Gottes und ein
Diener Christi im Lichte wandelte, vollführte er seinen
Dienst mit aller Gewissenhaftigkeit. Er übte sich, allezeit
ein gutes Gewissen zu haben vor Gott und Menschen;
und so empfahl er sich den Gewissen derer, unter welchen
er arbeitete. „Ich hoffe aber auch in euern Gewissen
offenbar geworden zu sein." — O möchten diese gesegneten
Resultate sich auch in uns zeigen, geliebter Leser, zum
Preise Gottes und zu unserm eignen Heil und Segen!
Gedanken.
Der Gläubige ist vollkommen in Christo; aber in
sich selbst ist und bleibt er ein schwaches Geschöpf, stets
geneigt, zu straucheln und zu fallen. Welch ein unaussprechlicher
Segen ist es daher für ihn, zur Rechten der
Majestät in den Himmeln Einen zu haben, der alle seine
280
Angelegenheiten für ihn ordnen kann; Einen, der ihn
stets aufrecht erhält durch die Rechte Seiner Gerechtigkeit;
Einen, der ihn nie lassen wird, und der imstande ist, ihn
völlig, bis ans Ende hin, zu erretten; Einen, der derselbe
ist „gestern und heute und in Ewigkeit"; Einen, der ihn
durch alle Schwierigkeiten und Gefahren, die ihn umringen,
triumphierend hindurchführen und bringen wird
an das herrliche Ziel!
Keine Seele, welche beten kann, darf sagen: „Von
meiner Seite kann nichts für das Werk des Herrn geschehen;
ich kann nichts für den Dienst des Evangeliums
thun." Es ist wahr, dieses Werk erfordert Männer in
Christo, und nicht Kindlein. Allein jeder Gläubige, auch
der jüngste und schwächste, kann da, wo der Herr ihn
hingestellt hat, durch Wort und Wandel für Ihn zeugen
und so vielleicht viel zur Förderung Seines Werkes beitragen;
und ein jeder kann den Herrn der Ernte bitten,
Arbeiter in Seine Ernte auszusenden nnd die, welche Er
ausgesandt hat, zu bewahren und zu segnen. Und wenn
dies in Einfalt und Treue geschieht, sollte der Herr dann
nicht antworten? Ach, gäbe es nur mehr treue, anhaltende
Beter und Beterinnen! Wahrlich, wir würden
gesegnete Erfolge davon sehen!
Um für Gott nach außen hin thätig sein zu können,
müssen wir viel mit Ihm in der Stille verkehren. Ein
Mensch, der immer in Thätigkeit ist, thut leicht zu viel.
„Die Nacht ist weit vorgerückt, und der
Tag ist nahe".
(Röm. 13, 12.)
„Wir besitzen das prophetische Wort befestigt,
auf welches zu achten ihr wohlthut,
(als auf eine Lampe, welche leuchtet an einem
dunklen Ort,) bis der Tag anbreche und der
Morgenstern aufgehe in euern Herzen." (2.
Petr. 1, 19.)
Der böse Knecht sagt in seinem Herzen: „Mein Herr
verzieht zu kommen!" und die Kinder dieser Welt sagen:
„Friede und Sicherheit!" (Matth. 24, 48; 1. Thess. 5, 3.)
Der Apostel aber ruft den Gläubigen in Rom, und damit
uns allen, zu: „Die Nacht ist weit vorgerückt, und der
Tag ist nahe". Er thut dies, damit „wir vom Schlafe
aufwachen sollen", „damit wir nicht schlafen wie die übrigen,
sondern wachen und nüchtern seien". (Röm. 13, 11.
12; 1. Thess. 5, 6.) Allzuleicht kann bei dem Gläubigen
die Erwartung des Herrn ihre lebendige Frische einbüßen,
und sobald dies geschieht, steht sein praktischer
Zustand nicht mehr auf der Höbe seiner Berufung. Er
mag sich vielleicht noch längere Zeck von offenbar Bösem
fern halten, auch noch eine gewisse Hingebung für den
Dienst des Herrn an den Tag legen, aber die wahre
Triebfeder, die ihn bis dahin leitete, ist nicht mehr vor-
282
Handen. Man vergleiche nur 1. Thess. 1, 3 mit Offbg. 2, 2.
Die Versammlung zu Ephesus hatte Werke, Arbeit und
Ausharren, gleich derjenigen zu Thessalonich; aber die
Beweggründe, welche diese leiteten: Glaube, Liebe und
Hoffnung, suchen wir bei jener umsonst. Die Frische ihres
Glaubens war mit dem Verlassen der „ersten Liebe" verschwunden
; zugleich war die lebendige Erwartung des Herrn
verloren gegangen. Hierin liegt sicher für uns eine ernste
Mahnung zur Wachsamkeit, und es ist wohl der Mühe
wert, den Ursachen einer solchen Erschlaffung ein wenig
nachzuforschen.
Ohne Zweifel liegt eine der Hauptursachen in dem
Mangel an inniger Gemeinschaft mit dem Herrn. Denn
in dem Maße wie die Person Christi ihren Wert für
uns verliert, verliert auch alles andere seinen Wert, was
uns durch Ihn und in Ihm geschenkt ist. Es ist gleichsam,
als habe man den Schlüssel verloren, der uns die
Schatzkammern des Hauses Gottes aufzuschließen vermag.
Der Heilige Geist kann nicht ungetrübt in uns wohnen
und wirken, wenn nicht Christus den ersten Platz in unS
hat, den zu verherrlichen Er gekommen ist. Ebenso wenig
werden wir das Wort Gottes mit wirklichem Nutzen für
unsre Herzen lesen. Denn Der, welcher der große Mittelpunkt
und Gegenstand desselben ist, hat Seinen Wert für
uns verloren. Wir verfehlen so bei der Erforschung der
Schriften die wahren Gedanken und Absichten Gottes, wie
einst die Schriftgelehrten, von denen eS heißt: „Ihr erforschet
die Schriften, denn ihr meinet, in ihnen ewiges
Leben zu haben, und sie sind es, die von mir zeugen;
und ihr wollt nicht zu mir kommen, auf daß ihr Leben
habet". (Joh. 5, 39. 40.) Ach! man bleibt in einem
283
solchen Falle beim bloßen Forschen stehen; man bereichert
vielleicht seine Erkenntnis, aber das Herz bleibt dürre und
fruchtleer. Nur wer den Herrn wirklich lieb hat, liest
und erforscht Sein Wort mit wahrem Nutzen für sein
Herz; und nicht allein das, er hält und verwirklicht es
auch, wie geschrieben steht: „Wer meine Gebote hat und
sie hält, der ist es, der mich liebt; wer aber mich
liebt, wird von meinem Vater geliebt werden; und ich werde
ihn lieben und mich selbst ihm offenbar machen"; und:
„Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten."
(Joh. 14, 21. 23.)
Indes kann der Mangel an inniger Gemeinschaft mit
dem Herrn (und es wird in den meisten Fällen so sein)
auch mit der Vernachlässigung des Wortes Gottes,
besonders des prophetischen Wortes, in Verbindung
stehen; und dann ist Erschlaffung erst recht unausbleiblich.
Denn eben durch dieses Wort werden wir aufmerksam
gemacht auf die nahe Ankunft des Herrn und Seines glorreichen
Tages. Wie könnten wir bereit sein, wie wissen,
was die Zukunft uns bringen wird, wenn das prophetische
Wort uns nicht darüber belehrte? Wird dieses Wort vernachlässigt,
so tappen wir im Finstern umher und sind
unbestimmten Ideen und willkürlichen Meinungen preisgegeben,
die meist nichts anders als bittere Enttäuschungen
im Gefolge haben. Viele sind auf diesem Wege nicht nur
in ihrer Hoffnung geschwächt worden, sondern sogar in die
Schlingen des Unglaubens geraten.
Vielen Gläubigen unsrer Tage liegt der Gedanke an
den Tod viel näher, als an das Kommen des Herrn zur
Aufnahme der Seinigen. Indem sie behaupten, daß die
Gläubigen der ersten Zeit den Herrn vergeblich erwartet
284
hätten, ziehen sie den Schluß, daß auch jetzt diese Erwartung
vergeblich sei. Aber dieser Schluß beruht nur
auf ihrer mangelhaften Bekanntschaft mit dem prophetischen
Wort. Würden sie dieses besser kennen und verstehen, so
würden sie auch wissen, daß der Herr wirklich nahe ist,
und daß wir in unsern Tagen allen Grund haben, Ihn
zu erwarten. Ach, wenn sie nur die Ermahnung des
Apostels beachten wollten: „Wir besitzen das prophetische
Wort befestigt, aus welches zu achten ihr wohl-
thut, als auf eine Lampe, welche leuchtet an einem
dunklen Ort"!
Dieses Wort enthüllt uns die Ratschlüsse Gottes betreffs
der Zukunft, sowie Seine Wege, die zur Erfüllung
jener Ratschlüsse führen, und läßt uns in klarer, unzweideutiger
Weise erkennen, daß das Ende nahe ist. Ja
mehr als das l Es vergegenwärtigt uns auch die kommenden
Dinge, so daß sie für den treuen und einsichtsvollen Gläubigen
der Ausgangspunkt seines praktischen Verhaltens
werden. Sein Herz lebt in diesen Dingen, ist glücklich
darin, wie der Apostel sagt: „Glückselig, der da liest unb
die da hören die Worte der Weissagung und bewahren,
was in ihr geschrieben ist, denn die Zeit ist nahe!"
(Offbg. 1, 3.) Der Tag ist schon angebrochen und der
Morgenstern aufgegangen in seinem Herzen. Er wandelt
bereits „wie am Tage" (Röm. 13, 13), und sieht den
Morgenstern in seinem herrlichen Glanze (Offbg. 22, 16);
das heißt, er kennt den Herrn Jesum in diesem lieblichen
Charakter, in welchem Er zur Aufnahme Seiner Braut
erscheinen wird vor dem Anbruch des Tages.
Die Herrlichkeit Christi wird an jenem Tage auf
der ganzen Erde geoffenbart sein. Der Name unsers
285
anbetungswürdigen Herrn wird dann nicht mehr verachtet
und verunehrt werden wie heute; nein, jedes Knie wird
sich vor Ihm beugen, und jede Zunge bekennen, daß Er
Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters. (Phil.
2, 10. 11.) Aber, wie gesagt, nur der, in welchem der
Glaube wirksam ist, wandelt wie am Tage; er ist ein
Sohn des Tages. Für den Glauben ist Christus jetzt
schon Herr und Mittelpunkt aller Herrlichkeit, während die
Welt, versunken in die Nacht der Sünde und des Unglaubens,
Ihn noch verwirft. Aber mehr noch: Der
Glaube kennt auch die Liebe und die Zuneigungen Christi
zu Seiner Braut, gemäß deren Er sie zur Miterbin und
Mitgenossin Seiner Herrlichkeit gemacht hat. Er weiß,
daß dies alles bald geoffenbart werden wird; und seine
Erwartung ist sicher und gewiß, weil sie sich nicht auf
menschliche Spekulationen, sondern auf das feste, unwandelbare
prophetische Wort stützt. Nicht als ob dieses
uns den Augenblick, Tag und Stunde der Erfüllung
dieser Dinge kundthue; diese sind dem Herrn allein bekannt.
Aber es sagt uns, daß jener Augenblick nahe ist;
und das genügt dem Glauben, um sich bereit zu halten.
Das prophetische Wort bezeugt uns, daß wir nicht
nur am Ende der Zeitalter stehen, sondern daß wir sogar
in den letzten Tagen der Christenheit angekommen sind.
Zur näheren Erklärung und Begründung dieser Behauptung
wollen wir versuchen, eine, wenn auch nur kurze, gedrängte
Uebersicht der Wege Gottes mit Israel und der Kirche zu
geben, wie sie in der Schrift prophetisch dargestellt sind.
Bezüglich dieser Wege mit Israel lesen wir im Propheten
Daniel: „Siebenzig Wochen *) sind über dein Volk und
d. h. Jahrwochen, Zeiträume von je sieben Jahren.
286
über deine heilige Stadt bestimmt, um den Abfall zum
Abschluß zu bringen und den Sünden ein Ende zu
machen, und die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige
Gerechtigkeit einznführen, und Gesicht und Propheten zu
versiegeln, und ein Allerheiligstes zu salben. So wisse
denn und verstehe: Vom Ausgehen des Wortes, Jerusalem
wiederherzustellen und zu bauen, bis auf den Messias,
den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen.
Straßen und Gräben werden wiederhergestellt und gebaut
werden, und zwar in Drangsal der Zeiten. Und nach den
zweiundsechzig Wochen wird der Messias weggethan werden
und nichts haben. Und das Volk des kommenden Fürsten
wird die Stadt und das Heiligtum zerstören, und das
Ende davon wird durch die überströmende Flut sein; und
bis ans Ende: Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen.
Und er wird einen festen Bund mit den Vielen schließen
für eine Woche; und zur Hälfte der Woche wird er
Schlachtopfer und Speisopfer aufhören lassen. Und auf
Flügeln der Greuel wird ein Verwüster kommen, und
zwar bis Vernichtung und Festbeschlossenes über das Verwüstete
ausgegossen werden." (Dan. 9, 24—27.)
Wir haben die ganze Stelle zum besseren Verständnis
des Lesers angeführt. Sie redet von einem Zeitraum,
dessen Anfang und Ende genau bestimmt sind, und nach
dessen Ablauf Israel und seine heilige Stadt (Jerusalem)
endgültig wiederhergestellt, die ihm gegebenen Verheißungen
erfüllt, und die Juden selbst (d. h. der treue Ueberrest)
unter dem Szepter ihres Messias völlig glücklich sein
werden. Er ist in drei Teile zerlegt: sieben Wochen,
zweiundsechzig Wochen und eine Woche, und beginnt mit
dem Ausgang des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen
287
und zu bauen. Dieses Wort oder dieser Befehl erging
im zwanzigsten Jahre Arthasasthas, des Königs von Persien.
(Neh. 2.) Von da „bis auf den Messias, den Fürsten,
sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen". Die
sieben Wochen werden besonders erwähnt, weil während
ihrer Dauer (nach der Rückkehr des jüdischen Volkes aus
der babylonischen Gefangenschaft) Jerusalem wieder aufgebaut
wurde, „und zwar in Drangsal der Zeiten". (Vergl.
das Buch Nehemia.)
„Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der
Messias weggethan werden und nichts haben". Aus diesen
Worten geht klar hervor, daß bei dem Tode Christi
neunundsechzig (sieben und zweiundsechzig) Wochen abgelaufen
waren, und daß folglich nur noch eine Woche,
die siebenzigste, bis zur endgültigen Wiederherstellung
Israels und der heiligen Stadt übrigblieb. Das Ende
oder, mit andern Worten, die Vollendung des Zeitalters
stand also schon zur Zeit des Herrn vor der Thür. Und
in Uebereinstimmung damit verkündigten Johannes, sowie
der Herr selbst und Seine Jünger dem Volke, daß das
Reich der Himmel nahe gekommen sei und daß sie Buße
thun sollten, widrigenfalls ein schreckliches Gericht sie
treffen würde. Die Axt war schon an die Wurzel der
Bäume gelegt. (Matth. 3, 2. 10-12; 4, 17; 10, 7.)
Ach, wir wissen, daß Israel dem Rufe zur Buße
nicht gefolgt ist, sondern seinen Messias verworfen hat.
Er ist „weggethan" worden, und damit hat der Lauf der
Ereignisse eine jähe Unterbrechung erfahren. Die letzte
Woche mit ihren ernsten Ereignissen — dem Aufstehen
des falschen Christus (auch „der Gesetzlose" oder „der Antichrist"
genannt), dem Bunde, den „der kommende Fürst", das
288
Haupt des wiedererstehenden römischen Reiches, mit den
abtrünnigen Juden schließen wird, den Leiden des treuen
Ueberrestes in jenen Tagen u. s. w. — ist noch nicht gekommen
; sie muß der Erscheinung Christi in Herrlichkeit vorangehen.
Hierauf bezieht sich denn auch die Frage der Jünger
gelegentlich der Unterweisungen des Herrn über die Zerstörung
des Tempels: „Sage uns, wann wird dieses
geschehen, und welches ist das Zeichen deiner Ankunft und
der Vollendung des Zeitalters?" Als Antwort auf diese
Frage schildert der Herr die Ereignisse der letzten Jahrwoche
Daniels. (Siehe Matth. 10 und 24.)
Israel hat also die Stunde seiner Heimsuchung nicht
erkannt. Anstatt Christum im Glauben anzunehmen und
so die Erfüllung der Gnadenwege Gottes mit Seinem
irdischen Volke möglich zu machen, hat es den Sohn
Gottes ans Kreuz geschlagen, und ist infolge dessen bis
heute in der Zerstreuung, und sein Land liegt wüste. Der
Lauf der Ereignisse ist, wie gesagt, plötzlich unterbrochen
worden, und eine bis dahin verborgen gebliebene, gänzlich
neue Sache ist ans Licht getreten: die Sammlung der
Kirche. Diese, nach den ewigen Ratschlüssen Gottes
auserwählt und bestimmt, die Miterbin Christi zu sein,
soll aus der Welt herausgenommen und mit ihrem himmlischen
Haupte vereinigt werden, ehe der Herr sichtbarlich
erscheint, um Gericht zu halten und Seine Herrschaft anzutreten.
Zusammengesetzt aus allen denen, welche an
Jesum gläubig geworden waren, wurde am Pfingsttage
der Heilige Geist über sie ausgegossen. Ihr galten auch
die Abschiedsworte des Herrn am Abend vor Seinem
Leiden: „In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen;
wenn es nicht so wäre, würde ich es euch gesagt
289
haben; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten.
Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so
komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, auf
daß, wo ich bin, auch ihr seiet." (Joh. 14, 2. 3.)
Infolge dieser Verheißung und der späteren Mitteilungen
durch den Apostel Paulus erwarteten die Gläubigen
beständig das Kommen des Herrn zu ihrer Aufnahme,
und sie zweifelten nicht daran, daß dieses Ereignis bei
ihren Lebzeiten stattfinden würde. Der Apostel sagt ganz
bestimmt: „Denn noch über ein gar Kleines, und der
Kommende wird kommen und nicht verziehen". Und
wiederum: „Denn dieses sagen wir euch im Worte des
Herrn, daß wir, die Lebenden, die übrigbleiben bis zur
Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen
werden. Denn der Herr selbst wird mit gebietendem
Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der
Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die
Toten in Christo werden zuerst auferstehen; darnach werden
wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich
mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen
in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn
sein." (Hebr. 10, 37; 1. Thess. 4, 15 — 17.) Irrten
diese Gläubigen nun, indem sie Jesum also erwarteten?
Gewiß nicht. Sie handelten genau nach den Gedanken
des Herrn, der ihnen verheißen hatte, wiederzukommen
und sie zu sich zu nehmen.
Wenn wir indes die zuletzt angeführten Stellen mit
den Worten vergleichen, die der Apostel gelegentlich seines
Abschieds an die Nettesten von Ephesus richtete, so gewahren
wir eine auffällige Veränderung. Er erwähnt bei
jener Gelegenheit das Kommen des Herrn mit keiner Silbe,
290
sondern spricht von seinem Abscheiden, und stellt den Ael-
testen zugleich den zunehmenden Verfall der Kirche in
Aussicht. „Denn ich weiß dieses, daß nach meinem Abschiede
verderbliche Wölfe zu euch hereinkommen werden,
die der Herde nicht schonen. Und aus euch selbst werden
Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die
Jünger abzuziehen hinter sich her." (Apstgsch. 20, 29. 30.)
Ebenso spricht er in seinem zweiten Briefe an Timotheus
nicht von dem Kommen des Herrn, sondern vielmehr von
dem fortschreitenden Verderben in der Christenheit. Diese
Veränderung in dem Verhalten des Apostels hatte sicher
ihren Grund in dem veränderten Zustand der Mrche und
der daraus hervorgehenden Veränderung der Wege des
Herrn mit ihr. Die Kirche hatte aufgehört, ihren Herrn
zu erwarten: „Als aber der Bräutigam verzog, wurden
sie alle schläfrig und schliefen ein." (Matth. 25, 5.) Und
der Apostel sah durch die Unterweisung des Geistes Gottes
im voraus, was kommen würde — eine längere Periode
des Verfalls der Kirche, und die daraus hervorgehenden
schweren Zeiten, welche die Treue und das Ausharren
der wahren Gläubigen auf die Probe stellen sollten.
Diese traurige Periode wird uns in den sieben Sendschreiben
an die Gemeinden in Kleinasien prophetisch dargestellt,
und zwar als eine Zeit geduldigen Wartens seitens
des Herrn auf die Buße der Kirche. Die vier ersten
Sendschreiben entrollen, um uns kurz zu fassen, vor unsern
Blicken das Gesamtbild der Kirche von den Tagen der
Apostel bis zur Zeit der Reformation, charakterisiert durch
die Zustände der Versammlungen zu Ephesus, Smyrna,
Pergamus und Thyatira. (Siehe Offbg. 2.) Gleich im
Anfang hören wir, daß die Kirche ihre „erste Liebe"
291
verließ, und der Herr ermahnt sie zur Buße. (Vers 4. 5.)
Um ihre Liebe von neuem zu wecken, läßt Er sie durch
tiefe Drangsale gehen. (Vers 10 *). Dieselben dienten
zu ihrer Läuterung und Belebung; sobald sie aber nachließen,
verschlimmerte sich ihr Zustand mehr als je, indem
sie sich weiter und weiter von Ihm entfernte, sich mit der
Welt verband und dort ihren Wohnplatz nahm, wie einst
Lot in Sodom. (Vers 13.) Trotzdem giebt der Herr
sie nicht auf, sondern ermahnt sie in göttlicher Geduld
von neuem zur Buße. (Vers 16.) Doch anstatt dieser
Ermahnung Gehör zu geben, verlor sie ihre Berufung
gänzlich aus den Augen, indem sie nicht nur in der Welt
wohnte, sondern sich dort auch eine Stellung der
Autorität anmaßte, gerade so wie wir Lot am Ende seiner
Geschichte im Thore Sodoms finden. (Vers 20; ** )
1. Mose 19, 1.) Erst jetzt bricht der Herr Seine Beziehungen
mit der Kirche als solcher ab, indem Er sagt:
„Ich gab ihr Zeit, auf daß sie Buße thue, und sie will
nicht Buße thun von ihrer Hurerei." (Vers21.)
Und Er kündigt ihr und ihren Buhlen, sofern sie nicht
Buße thun wollen, das Gericht an: „Siehe, ich werfe
sie in ein Bett und die, welche mit ihr Ehebruch treiben,
in große Drangsal, wenn sie nicht Buße thun von ihren
Werken. Und ihre Kinder werde ich mit Tod töten, und
alle Versammlungen werden erkennen, daß ich es bin,
der Nieren und Herzen erforscht; und ich werde euch einem
jeden geben nach euern Werken." (Vers 22. 23.)
*) Dieser Vers enthält eine Anspielung auf die grausamen
Verfolgungen, welche die Kirche unter den römischen Kaisern erduldet
hat.
**) Eine Anspielung auf die Anmaßungen des Papsttums.
292
Das ist das Ende der Wege des Herrn mit der
Kirche im allgemeinen. Er hatte ihr Zeit gegeben lange
Jahrhunderte hindurch, hatte gewartet auf ihre Umkehr,
aber alle Seine Langmut und Geduld, Seine Mahnungen
und Züchtigungen vermochten sie nicht zu ihrem ersten
Zustand zurückzuführen. Selbst die Reformation, obwohl
sie unverkennbar in der Macht des Geistes Gottes ausgeführt
wurde, vermochte nichts an dem Zustand der Kirche
zu ändern. Der Herr hat sie hingegeben, das Maß ihrer
Sünden voll zu machen, und sie wird als „Babylon, die
große, die Mutter der Huren und der Greuel der Erde"
(Offbg. 17, 5), ihr wohlverdientes Gericht empfangen.
Schreckliches Ende dessen, das einen so herrlichen Anfang
genommen hatte und zu den höchsten Vorrechten berufen
war!
Diese Wege des Herrn mit der Kirche erklären das
Schweigen, welches Er bezüglich Seines Kommens zur
Aufnahme der Seinen Jahrhunderte lang beobachtet hat.
Seit dem Tode der Apostel bis zur Zeit der Reformation,
und selbst während der ersten Jahrhunderte des Bestehens
des Protestantismus, hören wir keinen Laut von dem
Kommen des Herrn. Die Reformation hat dazu gedient,
d'e Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben wieder
ans Licht zu stellen. Aber wie die allgemeine Kirche dem
Aberglauben verfallen ist, so ist der Protestantismus
zum größten Teil ein Opfer des Unglaubens geworden.
Der Herr bezeugt von ihm: „Ich kenne deine Werke, daß du
den Namen hast, daß du lebest, und bist tot".
(Offbg. 3, 1.) Er hat auch den Protestantismus Jahrhunderte
lang mit großer Geduld getragen, hat gewartet auf
seine Buße und ihn ermahnt: „Sei wachsam und stärke das
293
Uebrige, das sterben will; denn ich habe deine Werke
nicht völlig erfunden vor meinem Gott. Gedenke nun,
wie du empfangen und gehört hast, und bewahre es und
thue Buße. Wenn du nun nicht Wachen wirst, so werde
ich über dich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht
wissen, um welche Stunde ich über dich kommen werde."
(Vers 2. 3.) Der Zustand des Protestantismus ist hoffnungslos;
denn statt umzukehren und zu bewahren was
er empfangen und gehört hat, neigt sich die große Masse
seiner Bekenner zusehends dem offenbaren Abfall zu und
bestätigt damit, daß sein Ende nahe und sein Gericht unausbleiblich
ist.
Die Christenheit ist also, was ihren moralischen Zustand
betrifft, heute auf demselben Punkte angelangt, wo
die Welt und das abtrünnige Israel schon zur Zeit des
Herrn Jesu standen, d. h. nahe vor dem Eintritt der
letzten Woche Daniels; „die Axt ist schon an die Wurzel
der Bäume gelegt". Ihr Gericht wird mit demjenigen
der Welt und des Volkes Israel zusammenfallen; die
Stunde der Versuchung wird kommen über den ganzen
Erdkreis. Damals wurde die Ausführung des Gerichts
aufgeschoben, weil die Kirche aus allen Völkern der Erde
gesammelt werden sollte; heute aber steht dieser Ausführung
nichts mehr im Wege. Das Einzige, was vorher
noch geschehen muß, ist die Aufnahme der Gläubigen.
Dementsprechend beschränkt sich denn auch die Thätigkeit
des Herrn in unsern Tagen darauf, die wahren Gläubigen
aus der Mitte der Christenheit zu sammeln und für Seine
Ankunft bereit zu machen. Und zum erstenmal nach
langer, langer Zeit hören wir wieder von dem Kommen
des Herrn zur Aufnahme der Seinigen reden; und zwar
294
heißt es jetzt nicht nur wie im Anfang: „so komme ich
wieder" (Joh. 14, 3), sondern: „Ich komme bald!"
(Offbg. 3, 11.) Der Herr fügt das Wörtchen „bald"
hinzu, um den Gläubigen der letzten Tage jeden Zweifel
hinsichtlich Seiner nahen Ankunft zu benehmen. Er betrachtet
diese Gläubigen als solche, die mit Ihm ausgeharrt
haben während der langen Zeit, in welcher Sein
liebendes Herz mit Ausharren, obwohl vergeblich, die Umkehr
der Kirche erwartet hat. Darum sagt Er auch zu
ihnen: „Weil du das Wort meines Ausharrens
bewahrt hast, so werde auch ich dich bewahren vor der
Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen
wird, um die zu versuchen, welche auf der Erde wohnen."
(Vers 10.) Sie haben die Wege der bekennenden Christenheit
nicht eingeschlagen, und darum sollen sie auch bewahrt
bleiben vor dem schrecklichen Ende derselben.
Wenn nun die Gläubigen im Anfang der gegenwärtigen
Haushaltung den Herrn bei ihren Lebzeiten erwarteten,
wieviel mehr sollten wir Ihn jetzt erwarten, die
wir am Ende stehen und die Wege des Herrn mit der
Kirche klar überblicken können! Wenn jenen die Verheißung
des Herrn, wiederzukommen und sie zu sich zu
nehmen, genügte, um Ihn beständig zu erwarten, wieviel
mehr sollte Sein erneuter und in bestimmtester Weise
an uns gerichteter Zuruf: „Ich komme bald!" unsre
Erwartung lebendig und frisch erhalten!
Die Bedeutung dieses Zurufs wird noch erhöht durch die
Thatsache, daß er im Einklang steht mit dem mitternächtlichen
Geschrei: „Siehe, der Bräutigam!" (Matth. 25, 6.)
Wir wissen, daß dieses Geschrei nun schon seit einer Reihe
von Jahren vernommen worden ist. Wir dürfen deshalb
295
mit aller Bestimmtheit sagen, daß die Mitternachtsstunde
vorüber, und die dem Morgengrauen vorangehende Erscheinung
des Morgensterns nahe ist. Jenes Geschrei
kam unerwartet. Es wurde nicht veranlaßt durch äußere,
auffallende Ereignisse, welche so leicht in aufgeregten Gemütern
den Gedanken an das Kommen Christi oder an
das sogenannte jüngste Gericht wachrufen; sondern es wurde
hervorgerufen durch den Heiligen Geist, der überall in den
Herzen der Gläubigen wirkte und sie von neuem auf das
Kommen des Herrn aufmerksam machte. Und wenn wir
das angeführte Gleichnis reden lassen, so finden wir nicht,
daß die Jungfrauen wieder einschlafen. Nein, sie wachen
auf, schmücken ihre Lampen und gehen dann dem Bräutigam
entgegen. So lebt denn auch bis heute die Erwartung
des Herrn in den Herzen Tausender von Christen fort.
Andrerseits läßt uns das Gleichnis erkennen, daß von
dem ersten Erschallen des Rufes: „Siehe, der Bräutigam!"
bis zur Ankunft des Herrn noch eine Zeit vergeht, und
diese Zwischenzeit stellt den Zustand der Jungfrauen auf
die Probe. Viele werden offenbar, daß sie in Wirklichkeit
nicht sind, was sie zu sein bekennen — wahre Christen;
trotzdem werden sie erst bei der Ankunft des Herrn ihre
schreckliche Täuschung erkennen, aber dann leider zu spät!
So unerwartet wie die Anmeldung des Bräutigams durch
das mitternächtliche Geschrei, gerade so unerwartet wird die
persönliche Ankunft des Herrn sein. So wenig wie
jene sich durch äußere, auffallende Ereignisse bemerkbar
machte (denn die Welt blieb völlig unberührt), so wenig
wird diese sich äußerlich bemerkbar machen. Die Welt
wird durch die Aufnahme der Gläubigen nicht auS ihrem
Schlummer geweckt werden. Um so schrecklicher aber wird
296
ihr Erwachen sein, wenn der Donner der furchtbaren Gerichte
ertönt, welche nach jener Aufnahme die Ankunft
des Tages des Herrn und Seine Erscheinung in
Herrlichkeit ankündigen werden.
Möchten wir uns deshalb nicht beeinflussen lassen
durch die gegenwärtige falsche Ruhe und Sicherheit, sondern
an die ernste Mahnung des Herrn gedenken: „Ich komme
bald; halte fest, was du hast, auf daß niemand
deine Krone nehme!"
„Ein König ist gefesselt durch deine Locken."
(Hohel. 7, 1—5.)
„Wie schön sind deine Tritte in den Schuhen, Fürstentochter!"
(V. 1.) Die Braut des Königs wird hier noch
einmal genau betrachtet und empfängt einen neuen
Titel: „Fürstentochter". Ihre Verbindung mit der königlichen
Würde wird jetzt anerkannt. Sie ist in die
innigsten Beziehungen zu dem König gebracht. Das ist
offenbar vor aller Augen. Wenn der Messias den Thron
besteigen wird, so wird nach der klaren und gewaltigen
Sprache des 45. Psalmes der Platz der Braut zur
Rechten des Königs sein. „Die Königin steht zu
deiner Rechten in Gold von Ophir." Wenn
Christus den Schauplatz wieder betritt und den Thron
Davids einnimmt, so wird in Israel alles verändert sein.
Jerusalem wird den ersten Platz haben, und alle Städte
Judas werden es an diesem Platze anerkennen. Ja, die
Segnung des ganzen Landes und der Erde im allgemeinen
wird eine Folge der Erhöhung Israels sein. „An
deiner Väter Statt werden deine Söhne sein; zu Fürsten
297
wirst du sie einsetzen im ganzen Lande (od.: aus der
ganzen Erde)."
Und nun lausche, mein Leser, auf die erste Ansprache,
wenn wir es so nennen dürfen, die der König von dem
Throne herab an Sein geliebtes Volk richtet. Sie lautet:
„Höre, Tochter, und siehe, und neige dein Ohr; und
vergiß deines Volkes und deines Vaters Hauses! Und
der König wird deine Schönheit begehren, denn Er ist
dein Herr: so huldige Ihm!" (Ps. 45, 10. 11.) Nicht
die Herrlichkeit der Väter, — eines Abraham, Isaak
und Jakob, — nein, die unendlich höhere Herrlichkeit des
wahren Sprossen aus dem königlichen Hause Juda ist
dann angebrochen. Christus ist alles und in allen.
Er, der Gerechtigkeit liebt und Gesetzlosigkeit haßt, hat
sich der Herrschaft würdig erwiesen. In Gerechtigkeit
und Gericht hat Er den vollen Triumph und die Herrlichkeit
des jüdischen Volkes eingeführt. Er hat es zum
Siege geführt und alle seine mächtigen Feinde vor ihm zu
Boden geschmettert. Der große Feind, der Israel in
die Gefangenschaft führte, ist selbst in dem Abgrunde
gefangen. Christus sitzt auf dem Throne, und alle Seine
Feinde sind zum Schemel Seiner Füße gelegt. Und dann
wird Israel aufgefordert, nicht auf die Väter, sondern
auf Ihn zu blicken. „Wir sind Abrahams Same", so
lautete einst ihre ruhmredige Antwort dem demütigen
und sanftmütigen Jesus gegenüber; aber alles ist jetzt
verändert. „Vergiß deines Volkes", so tönt es in das
Ohr der Tochter Zion, „und deines Vaters Hauses!"
Und was wird die Folge davon sein? „Der König
wird deine Schönheit begehren." Ja, Er ist ihr
Herr, und Ihm allein gebührt ihre Huldigung und Anbetung.
298
Aber, möchte ich fragen, haben diese schönen Worte
von den Lippen Jesu, obwohl Er sie als König der
Juden ausspricht, nicht auch eine Stimme für uns? Sind
sie nur passend für Israel? Weit davon entfernt! Grundsätzlich
und in geistlichem Sinne sind sie heute auf alle
Jünger Christi anwendbar. Sobald eine Seele zu Jesu
bekehrt wird, sollte sie alle ihre alten Verbindungen und
Beziehungen vergessen und sich von ihnen abwenden.
Alles was Seinem Willen zuwider ist und uns hindern
will, diesen Willen auszuführen, sollte aufgegeben werden.
Die Anwendung der Stelle ist gar nicht schwierig, vorausgesetzt
daß wir bereit sind, unsre Herzen Ihm zu
weihen. „Gieb mir, mein Sohn, dein Herz, und laß deine
Augen Gefallen haben an meinen Wegen" (Spr. 23, 26),
ist ein schönes und sicher auch ein billiges Gebot von
feiten Dessen, der sich selbst für uns hingegeben hat.
Seine Hingebung uns gegenüber ist vollkommen. Er hat
nichts zurückgehalten. Er hat uns geliebt und sich
selbst für uns hingegeben; nicht nur Sein Leben, so
wahr und gesegnet das ist, sondern sich selbst. Das
Kreuz ist selbstredend der stärkste Ausdruck Seiner Liebe,
den es jemals geben kann; aber indem Er sich selbst
hingab, gab Er alles was Er ist, als der Mensch
Christus Jesus, der Heiland der Sünder. O beachte,
mein lieber Mitpilger, die Größe dieser Gabe: sich
selbst! — und betrachte Ihn, den Geber! Seine Liebe
ist vollkommen. Er, Er selbst, ist dein!
Wir besitzen Christum in Seiner ganzen Fülle, Sein
Name sei dafür gepriesen! Seine Weisheit, Seine Gerechtigkeit,
Sein Friede, Seine Freude, Seine Gnade,
Seine Herrlichkeit, die Vollkommenheit Seines Werkes,
299
Sein Auferstehungsleben — mit einem Wort, Seine ganze
Person mit all ihrer Schönheit und Herrlichkeit ist unser,
ist dem Gläubigen für immer und ewig geschenkt. Groß,
wunderbar groß ist das Geheimnis dieser vollkommnen
Liebe. Betrachten wir hier nur kurz ein Beispiel derselben.
Es steht geschrieben, daß Christus „Frieden
gemacht habe durch das Blut Seines Kreuzes". Das Wort
„Friede" bedeutet in dieser Verbindung Versöhnung.
Wir sind mit Gott versöhnt, der Friede ist gemacht
gemäß der Vollkommenheit Seines Werkes auf dem Kreuze.
Aber es steht auch geschrieben: „Frieden lasse ich euch,
meinen Frieden gebe ich euch." Hier ist „Friede"
nicht gleichbedeutend mit „Versöhnung", sondern es handelt
sich um den eignen Frieden Christi, wie Er ihn
hienieden in der Gemeinschaft mit Seinem Vater auf dem
Pfade des Gehorsams genossen hat. Welch eine Gabe:
„mein Friede"! ein Friede, der der Herrlichkeit Seiner
Person entsprach und den Er uns als ein heiliges Vermächtnis
inmitten des unruhigen Schauplatzes dieser Welt
hinterlassen hat. Und Er giebt nicht, wie die Welt giebt.
Die Welt giebt einen Teil, und einen Teil hält sie für
sich zurück; Er aber giebt alles. Welch eine Segnung!
Was hat die Liebe nicht gethan! Welch ein Vertrauen
sollte diese unaussprechliche Gabe in unsern Herzen erwecken!
Zu wissen und zu verwirklichen, daß Jesus
mein ist, heißt vollkommnen Frieden und selige Ruhe
in Seiner gesegneten Gegenwart genießen. Und wenn diese
Gabe das Vertrauen unsrer Herzen weckt, wie treibt sie
uns andrerseits an, uns Ihm ganz zu widmen, Leib,
Seele und Geist unserm hochgelobten Herrn zu weihen!
Möchten wir jenes Vertrauen kennen, und handeln,
300
getrieben durch diese Liebe! — Ja, Herr, gieb, daß
unsre Liebe ein treuer Widerschein der Deinigen sei!
Es ist schwer zu sagen, ob die ersten fünf Verse
unsers Kapitels von den Töchtern Jerusalems oder von
dem Bräutigam selbst an die Braut gerichtet werden.
Der Ton des sechsten Verses, in welchem offenbar der
Bräutigam spricht, scheint tiefer und inniger zu fein, als
vorher. Wenn Er ferner im 4. Kapitel von den Eigen-
fchaften Seiner Geliebten redet, beginnt Er mit dem
Haupte. Im 5. Kapitel thut die Braut im Blick auf
den Bräutigam dasselbe. Hier aber ist es umgekehrt;
die Beschreibung beginnt mit den Füßen und endet mit
dem Haupte. Die Braut scheint in dieser Stelle von
einem irdischen Gesichtspunkt aus betrachtet zu werden,
als ob die Töchter Jerusalems zunächst durch ihren Wandel
angezogen würden. Außerdem handelt es sich hier nicht
so sehr um ihre persönliche, makellose Schönheit, welche
der Bräutigam so sehr bewundert und bei der Er so gern
verweilt, sondern vielmehr um Eigenschaften, die auf ihre
königliche Würde anspielen; oder, wie man auch sagen
könnte, es handelt sich mehr um nationale Herrlichkeit
als um persönliche Schönheit.
Da wir bereits im 4. und 5. Kapitel die einzelnen
Züge eingehender betrachtet haben, können wir uns hier
darauf beschränken, die Bedeutung der Vergleiche kurz
anzudeuten.
Der Ausdruck: „Wie schön sind deine Tritte in den
Schuhen, Fürstentochter!" erweckt den Gedanken an einen
stattlichen Gang, an ein majestätisches Einherschreiten.
Der Vergleich der Biegungen der Hüften mit einem kostbaren
Kunstwerk bestätigt diese Auffassung der Stelle.
301
„Eine Schale, in welcher der Mischwein nicht mangelt",
und „ein Weizenhaufen, umzäunt mit Lilien", deutet einen
Ueberfluß von allem an, was erfreut und sättigt.
Die Umzäunung mit Lilien erlaubt jedem den Zutritt;
alle dürfen kommen und von der Freigebigkeit des Königs,
von Seinen Gaben Gebrauch machen. Sie erinnert uns
an die Einladung der Weisheit: „Kommet, esset von
meinem Brote, und trinket von dem Weine, den ich gemischt
habe!" (Spr. 9, 5.) So voll, so reich und
herrlich werden die irdischen Segnungen sein unter der
friedlichen Regierung des wahren Salomo. Eine Fülle
von Korn und Wein, umzäunt mit Lilien! Welch eine
Vorstellung geben uns diese schönen und bezeichnenden
Sinnbilder von dem Segenszustande im tausendjährigen
Reiche! Wie schön und anmutig, wie sicher und friedlich
muß das Land sein, dessen Grenzzäune aus den Lilien
der Thäler bestehen! Welch einen überwältigenden Eindruck
müssen alle empfangen, die nach Jerusalem Hinauf-
Ziehen! Jesus ist dort! Der König von Salem
regiert, und alles ist nach Seinen Gedanken geordnet.
Das „Zwillingspaar junger Gazellen" deutet vielleicht
auf die Einigkeit und Harmonie hin, die in jenen Tagen
die ganze Bevölkerung des Landes kennzeichnen wird. Von
dem Segen Israels unter dem neuen Bunde am Ende
der Tage sagt das Wort: „Und ich werde reines Wasser
auf euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von allen
euern Unreinigkeiten und von allen euern Götzen werde
ich euch reinigen. Und ich werde euch ein neues Herz
geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und
ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleische wegnehmen
und euch ein fleischernes Herz geben. Und ich werde
302
meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde machen,
daß ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte
bewahret und thut. Und ihr werdet in dem Lande wohnen,
das ich euern Vätern gegeben habe; und ihr werdet mir
zum Volke, und ich werde euch zum Gott sein." (Hes.
36,25—28.) Der Apostel sagt, unter Anwendung dieser
Prophezeiung auf Israel, trotz seiner gegenwärtigen Zerstreuung:
„Denn dies ist der Bund, den ich dem Hause
Israel errichten werde nach jenen Tagen, spricht der Herr:
Indem ich meine Gesetze in ihren Sinn gebe, werde ich
sie auch auf ihre Herzen schreiben; und ich werde ihnen
zum Gott, und sie werden mir zum Volke sein. Und sie
werden nicht ein jeder seinen Mitbürger und ein jeder
seinen Bruder lehren und sagen: Erkenne den Herrn!
denn alle werden mich erkennen, vom Kleinen bis zum
Großen unter ihnen." (Hebr. 8, 10. 11.) Wer könnte,
mit solchen Stellen vor sich, an der vollen Wiederherstellung
Israels, an der Wirklichkeit und Einheitlichkeit ihrer
Segnung zweifeln?
Der „Turm von Elfenbein" erweckt den Gedanken
an Reichtum und Erhabenheit, vielleicht auch an
Reinheit, da gutes Elfenbein bekanntlich schneeweiß
ist. Der Ausdruck: „die Teiche zu Hesbon" läßt uns
wohl an Ruhe, Tiefe und Klarheit denken. Wie ein
ruhiger Teich das Antlitz dessen, der sich in ihm spiegelt,
klar und deutlich wiedergiebt, so wird dereinst Christus in
Seiner geliebten Braut gesehen werden. Sie wird Seine
Schönheit wiederspiegeln.
„Der Libanon-Turm, der nach Damaskusshinschaut",
erinnert an Kraft, Sicherheit und Obergewalt. Die Juden,
das einst so allgemein verfolgte und über die ganze Erde
303
hin zerstreute Volk, das in alter Zeit so oft Einfälle
seitens der Syrer zu erdulden hatte, kann nun auf Syrien
und alle umherliegenden Völker Hinblicken in turmgleicher
Stärke. Alle Nationen der Erde liegen ihm zu Füßen.
Der Turm blickt nach Damaskus hin, der Hauptstadt
ihres einst so rastlosen und mächtigen Feindes. „Denn
Damaskus ist das Haupt von Syrien, und Rezin das
Haupt von Damaskus." (Jes. 7, 8.) Ein Turm, der
auf dem Gipfel des Libanon steht, blickt herab auf alles,
und wird gesehen von allen. Zu jener Zeit wird man
auf der ganzen Erde wissen, daß die Macht Jehovas-
JesuS inmitten Seines geliebten Volkes wohnt; und das
Volk wird die Obergewalt haben über alle Völker der Erde.
„Dein Haupt auf dir ist wie der Karmel." Der
Berg Karmel war berühmt wegen seiner Weinberge, seiner
Gärten und seines reichen Pflanzenwuchses. „Karmel"
bedeutet „Fruchtgefilde". So wird Israel gekrönt sein
mit Güte, das Land Immanuels gesegnet mit aller
irdischen Segnung. Aber so herrlich dies auch sein wird,
so ist es doch nur ein schwacher Schatten von den Segnungen
der Kirche Gottes, selbst während sie noch als
ein Pilgrim in dieser Welt wandelt. Im Blick darauf
ruft der Apostel aus: „Gepriesen sei der Gott und Vater
unsers Herrn Jesu Christi, der uns gesegnet hat mit
jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Oertern in
Christo!" (Eph. 1, 3.) Das ist der Charakter und das
Maß der christlichen Segnungen, wenn sie überhaupt gemessen
werden können. Verweile hier einen Augenblick,
mein Leser, bei den drei kostbaren Dingen, von denen in dem
eben angeführten Verse die Rede ist: 1. „Jede geistliche
Segnung". Keine fehlt; und es sind geist
304
liche Segnungen, entsprechend der neuen Natur, die
wir empfangen haben. 2. Sie sind „in den himmlischen
Oertern". Es ist der höchste, erhabenste
Bereich, die besten Oerter, die es giebt; nicht irdische
Oerter, wie diejenigen Israels, so gesegnet sie sein mögen,
sondern himmlische. 3. Sie sind „in Christo";
sie sind uns geschenkt in der gesegnetsten und herrlichsten
Weise, in welcher Gott sie uns schenken konnte. Hier
können wir keine Vergleiche ziehen; wir können nur bewundern
und anbeten. O vermöchten wir nur mehr in
das einzugehen, was bereits in Christo unser Teil ist,
gemäß der Liebe unsers Gottes und Vaters, „der uns
auserwählt hat in Ihm vor Grundlegung der Welt, daß
wir heilig und tadellos seien vor Ihm in Liebe"!
„Das herabwallende Haar deines Hauptes ist wie
Purpur: ein König ist gefesselt durch deine Locken!"
(V. 5.) „Purpur" ist wiederum das Sinnbild königlicher
Würde. Das Auge, welches von den schönen Schuhen
bis hinauf zu dem herrlichen Schmuck deS Hauptes der
Braut wandert, findet nur Vollkommnes. Die liebliche
Braut des Königs ist makellos. Der König ist von
ihrer hinreißenden Schönheit überwältigt; Er ist gleichsam
gefesselt durch ihre Locken, durch die Schönheit, die
Er selbst ihr gegeben hat. „Ganz herrlich ist des Königs
Tochter drinnen, von Goldwirkerei ihr Gewand; in buntgewirkten
Kleidern wird sie geführt werden zum Könige;
Jungfrauen hinter ihr her, ihre Gefährtinnen, werden zu
dir gebracht werden." (Ps. 45, 13. 14.) — „Ein König
ist gefesselt durch deine Locken." Er kann Seine königliche
Braut nicht wieder aufgeben. Sie ist Ihm kostbar
über alles; Er hat sie um einen teuren Preis erkauft
305
und sie so herrlich gemacht, daß Sein Auge mit der
höchsten Wonne auf ihr ruht. Wunderbare Liebe! Ueber-
strömende Gnade! O das Herz Jesu zu kennen, mein
Leser, was könnte es Höheres und Herrlicheres geben!
Auszug.
. . . Was wichtig ist, sind nicht „die Brüder", sondern
die Wahrheit, die sie haben. . . Gott könnte sie beiseite
setzen und Seine Wahrheit durch andere ausbreiten; und
ich glaube, Er wird es thun, obgleich Er voll gnädiger Geduld
ist, wenn sie nicht treu sind. Ihr Platz ist, in
Verborgenheit und Hingebung gegen den Herrn zu verharren,
nicht an „die Brüder" zu denken, (es ist immer
verkehrt, an uns selbst zu denken,) sondern an Seelen,
im Namen und in der Liebe Christi, sowie an Seine
Verherrlichung und Wahrheit; nicht „Brüdertum" zu
treiben, sondern mit jeder Seele zu Verkehren, wie sie es
bedarf, um Christi willen. . . . Was uns not thut, ist
eine nichtweltliche Gesinnung, Nicht gleichförmigkeit mit
der Welt, Selbstverleugnung und ein Vergessen der eignen
Interessen in der Liebe zu andern . . . Mögen die Brüder
wandeln in Liebe und in der Wahrheit, demütig, niedriggesinnt,
getrennt von der Welt und für Christum; so
klein (und zufrieden, so klein zu sein), wie sie im Anfang
waren — und Gott wird sie segnen. Wenn sie es nicht
thun, so mag ihr Leuchter hinweggethan werden, (und
o welch ein Schmerz und welch eine Beschämung des Angesichts
würde es sein nach einer solchen Gnade!) wie andere
hinweggethan worden sind . . . Mögen sie das Werk eines
306
Evangelisten thun; mögen sie beweisen, welch ein Dienst
ihnen anvertraut ist, in Demut, in Hingebung und Einfalt,
als solche, deren Herz Christo geweiht ist und die
abgesondert sind für Ihn. Was die Thätigkeit um sie
her betrifft, so ist sie eines der Zeichen der Zeit, und sie
sollten sich darüber freuen . . . aber sie stellt nicht ihr
Zeugnis dar . . . Ich glaube nicht, daß es unsre Aufgabe
ist, irgend etwas anzugreifen, sondern über allem
erhaben zu sein und für die Wahrheit einzustehen in
Liebe . . . Selbstverteidigung ist in jeder Hinsicht zu vermeiden.
Der Herr wird für uns eintreten, wenn wir
Seinen Willen thun . . . Gott bedarf unser nicht, aber
Er bedarf eines Volkes, das in der Wahrheit, in Liebe
und Heiligkeit wandelt. „Ich werde in deiner Mitte ein
elendes und armes Volk übriglassen, und sie werden auf
den Namen Jehovas vertrauen." (Zeph. 3, 12.) . . .
Am Werke des Evangeliums dürfen und sollen wir uns erfreuen,
aber es macht das Zeugnis der Brüder außerhalb
des Lagers notwendiger als je; nur muß es echt und
wirklich sein . . . Wenn die Brüder sich in das innerhalb
des Lagers herrschende Christentum verlieren, so werden
sie nur eine neue Sekte sein mit gewissen Wahrheiten.
___________ I. N. D.
„Der hinabgestiegen ist derselbe, der auch
hinaufgestiegen ist."
„Der hinabgestiegen ist derselbe, der auch hinaufgestiegen
ist über alle Himmel, auf daß Er alles erfüllte."
(Eph. 4, 10.)
Das ist das Geheimnis. Es ist derselbe Jesus,
Immanuel, der Sohn Gottes, und doch der Blutsverwandte
307
des Samens Abrahams. Und ich möchte sagen — denn
es liegt ein Bedürfnis dafür vor: Ich weiß, daß wir
die beiden Naturen in diesem Herrlichen und Hochgelobten
nicht mit einander vermengen dürfen. Im Glauben beuge
ich mich völlig vor der Wahrheit, daß „Der, welcher
heiligt", Fleisch und Blut angenommen hat. Ich bekenne
mich mit ganzer Seele zu der wahren Menschheit in
Seiner Person; aber es war keine unvollkommene
Menschheit, die in irgend einer Weise den Bedingungen
oder den Folgen der Sünde unterworfen gewesen wäre.
Und ich möchte fragen: Giebt es nicht bei manchen Gläubigen
unsrer Tage einen vielleicht ungeahnten, aber doch thatsächlich
vorhandenen Unglauben bezüglich des Geheimnisses
der Person Christi? Ist die Unteilbarkeit dieser Person
durch alle Abschnitte ihrer herrlichen, geheimnisvollen Geschichte
hindurch nicht manchem Auge entschwunden?
Ich erquicke mich (und möchte es immer mehr thun)
an der Sprache des Heiligen Geistes, wenn Er von dem
Menschen Christus Jesus redet. Der auferstandene „Mensch"
ist das Unterpfand unsrer Auferstehung. (1. Kor. 15, 21.)
Der gen Himmel gefahrene „Mensch" giebt uns die Bürgschaft,
daß unsre Interessen jeden Augenblick vor Gott
vertreten sind. (1. Tim. 2, 5.) Der „Mensch", der bald
aus dem Himmel zurückkehren wird, verbürgt die Beständigkeit
und Freude des kommenden Reiches. (Ps. 8.) Das
Geheimnis des gehorsamen, gestorbenen, auserweckten,
gen Himmel gefahrenen und wiederkommenden
„Menschen" enthält also den ganzen Ratschluß
Gottes. Dennoch aber muß, ich wiederhole es,
die Person in ihrer Unteilbarkeit stets vor den Blicken
der Seele stehen. Das vollkommne und vollendete Werk
308
Ehristi in jedem Abschnitt Seines Dienstes, in allem,
was Er that, litt und heute noch thut, ist das Werk
Seiner ganzen Person. Ja, diese ganze Person war am
Kreuze, wie überall sonst. Diese Person war das Opfer,
und in dieser Person war der Sohn, „Gott über alles,
gepriesen in Ewigkeit". Er „übergab den Geist", obgleich
Er unter dem Gericht Gottes wider die Sünde starb,
und durch die Hand gottloser Menschen gekreuzigt und
getötet wurde. Und das ist eine unendliche Gnade.
Ja, Geliebte, Er war es selbst, von Anfang bis
zu Ende. Er selbst ging den geheimnisvollen Pfad, obwohl
Er ihn ohne Beistand und allein ging. Kein anderer
als Gr, „Gott geoffenbart im Fleische", hätte diesen Pfad
M wandeln vermocht. Der Sohn wurde hienieden das
Lamm für den Altar, und dann erreichte das geschlachtete
Lamm den Platz der Herrlichkeit, der über alle Himmel
erhaben ist. Es ist die Person, die allem Kraft und
Wert verleiht. Sein Wirken und Dienen, Sein Leiden
und Sterben, Seine Auferstehung und Himmelfahrt —
alles wäre nutzlos, wenn Jesus nicht Der wäre, der Er
ist. Seine Person ist der „Fels"; und darum „ist Sein
Thun vollkommen". (5. Mose 32, 4.) Es ist das Geheimnis
aller Geheimnisse. Aber vergessen wir nicht, daß
Er uns nicht als ein Gegenstand der Erörterung gegeben
ist, sondern als ein Gegenstand des Glaubens,
des Vertrauens, der Liebe und der Anbetung.
Gott und Mensch, Himmel und Erde sind in diesem
großen Geheimnis den Gedanken des Glaubens gegenwärtig.
Gott war hienieden, und zwar geoffenbart im
Fleische, und jetzt ist der verherrlichte Mensch droben im
Himmel. (Aus: „Der Sohn Gottes" von I. G. B.)
„Wie schön bist du, und wie lieblich bist
du, o Liebe, unter den Wonnen!"
(Hohel. 7, 6-8, 14.)
„Wie schön bist du, und wie lieblich bist du, o
Liebe, unter den Wonnen!" (V. 6.) Das ist ohne Zweifel
des Bräutigams Stimme. Wir entdecken sofort mehr
Tiefe und Innigkeit in diesem Verse als in den fünf
vorhergehenden. Andere mögen die Braut bewundern,
Er aber hat Seine Wonne an ihr. Durch Seine langmütige
Gnade ist eine moralische Ähnlichkeit mit Ihm
in der Geliebten hervorgebracht. Das sieht Er jetzt und
erfreut sich darin. Je vollkommner Christus Sein Bild
in uns wiederfindet, desto größer wird Seine Wonne an
uns sein. Das ist eine notwendige und auch leicht verständliche
Wahrheit.
Ein gerader, aufrichtiger Mensch findet kein Gefallen
an einem Manne, der krumme Wege liebt; ein ehrlicher
kein Gefallen an einem unehrlichen. Eine Person von
reinen Sitten kann keine Gemeinschaft haben mit jemandem,
der in Unreinheit wandelt. Der Aufrichtige erfreut sich
an Aufrichtigkeit, der Ehrliche an Ehrlichkeit, der Reine an
Reinheit. So kann auch der Herr nur Seine Freude an
dem finden, was Seine eigne Vollkommenheit, wenn auch
notwendigerweise in geringem, unvollkommnem Maße,
wiederstrahlt, was Ihm ähnlich ist. Welch eine ge-
310
fünde, praktische Lektion kannst du hieraus lernen, meine
Seele! Inwieweit, laß dich fragen, bist du Christo
ähnlich? Denke an Seine Liebe, Seine Heiligkeit und an
die Vollkommenheit aller Seiner Wege; und dann frage
dich: „Inwieweit findet Er Sein eignes Bild in mir
wieder?" Und weiter: „Inwieweit kann Er Seine Wonne
an mir finden?" Weise solche tief erforschenden Fragen
nicht ab; bleibe in dem Lichte und prüfe dort alle deine
Wege mit Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. — Was machte
einen Paulus zu einem so treuen Diener und Zeugen
Christi? Was rief eine solch himmlische Gesinnung in
ihm hervor? Er konnte sagen: „Eines aber thue ich".
Und was war dieses Eine? Sein Auge war auf
Christum in der Herrlichkeit droben gerichtet, und sein
Herz verlangte sehnlichst nach Ihm. Ein im Himmel
verherrlichter Christus war der eine Gegenstand, der vor
seiner Seele stand. Und das allein wird auch in uns
ein Verhalten und eine Gesinnung Hervorrufen, an welchen
Christus Seine Wonne finden kann. „Wir alle aber,
mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend,
werden verwandelt nach demselben Bilde
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit." (2. Kor. 3.)
Doch inmitten all unsrer Fehler, Versäumnisse und
Mängel ist es tröstlich zu wissen, daß ein Tag kommt,
an welchem Er von dem, was Er liebt und woran Er
Seine ganze Wonne findet, umgeben sein wird. Dann
werden alle himmlischen Heiligen Seinem verherrlichten
Leibe gleichgestaltet, vollkommen in dasselbe Bild verwandelt
sein. „Geliebte, jetzt sind wir Gottes Kinder,
und es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein
werden; wir wissen, daß, wenn es offenbar werden wird.
311
wir Ihm gleich sein werden, denn wir werden
Ihn sehen wie Er ist." Und an diesem zukünftigen
Tage der Herrlichkeit Christi wird auch von
Israel, als Seinem Volke hienieden, gesagt werden: „Nicht
wehr wird man dich „Verlassene" heißen, und dein Land
nicht mehr „Wüste" heißen; sondern man wird dich
nennen: „Meine Lust an ihr", und dein Land: „Vermählte"
; denn Jehova wird Lust an dir haben, und dein
Land wird vermählt werden." (Jes. 62, 4.) — O Herr,
beschleunige diesen herrlichen Tag, um Deines großen
Namens willen!
„Die Palme" und „die Trauben" in Vers 7 dürfen
wir wohl als Sinnbilder der Geradheit oder
Aufrichtigkeit und derReife und Fruchtbarkeit
betrachten. Der Palme geschieht oft in der Schrift in
sinnbildlicher Weise Erwähnung. Ihr Stamm ist glatt,
aber schlank, anmutig und gerade — das Bild der
Geradheit. Wird sie auch für eine längere Zeit umgebogen,
so richtet sie sich doch, sobald der Druck aufhört,
wieder auf. Sie will nicht krumm wachsen; alle Lebenskraft
des Baumes drängt nach oben. Schönes Bild von
der Art und Weise, wie die Juden dereinst, nach Aufhebung
des langen Druckes, der auf ihnen gelegen hat, ihre Häupter
wieder erheben werden. Einige Palmenarten erreichen
«ine beträchtliche Höhe; und da die Palme keine Aeste
treibt, sondern nur eine prächtige, reiche Blätterkrone
trägt, so ist das Einernten der Frucht oft mit vieler
Mühe verbunden. An diesen Umstand erinnert Wohl der
nächste Vers: „Ich sprach: Ich will die Palme ersteigen,
will ihre Zweige erfassen". Die Früchte des Geistes sind
niemals unerreichbar für den Herrn. Er sammelt sie und
312
schätzt sie hoch an Seinem Volke. Doch noch an etwas
anderes erinnert uns die Palme. Kein Anblick ist dem
durstigen Wanderer in dem Sandmeer der Wüste will-
kommner, als wenn Palmenwipfel am Horizonte aufsteigen.
Es ist das sichere Zeichen, daß erquickendes und belebendes
Wasser in der Nähe ist. (Vergl. 2. Mose 15, 27.)
Die Schrift liefert uns ferner viele Beispiele von
dem sinnbildlichen Gebrauch der Palmzweige oder der
gewaltigen, eine Länge von 8—12 Fuß erreichenden
Blätter, als Zeichen des Sieges. Bei dem Laubhüttenfest,
einer Zeit großer Freude in Israel, kamen sie vornehmlich
in Anwendung. „Und ihr sollt euch am ersten
Tage Frucht nehmen von schönen Bäumen, Palm-
zweige und Zweige von dichtbelaubten Bäumen und
von Bachweiden, und sollt euch freuen vor Jehova, euerm
Gott, sieben Tage." (3. Mose 23, 40.) Auch die unzählige
Volksmenge, welche Johannes vor dem Throne und vor
dem Lamme sah, war „bekleidet mit weißen Gewändern,
und Palmen in ihren Händen". (Offbg. 7, 9.)
Heute noch redet man viel von der Siegespalme;
sie wird dem Sieger als Preis zuerkannt.
Die liebliche Braut des Königs hat also ihre
moralische Reife erlangt. Sie ist vollkommen in Seinen
Augen, die Wonne Seines Herzens, das Bild Seiner selbst.
Das Gebet ist beantwortet, die Verheißung erfüllt: die
Lieblichkeit Jehovas ist über ihr; der Gerechte sproßt wie
der Palmbaum. Ja, das Fest der Laubhütten ist gekommen,
die Braut schwingt triumphierend die Siegespalme;
ihre Freude ist voll. Gerade und erhaben wie die Palme,
ihr Haupt herrlich gekrönt, zu ihren Füßen ein erfrischender
Quell; dabei schwach und abhängig gleich der
313
Rebe, aber sich anklammernd an den Mächtigen Israels
und reiche Frucht tragend zu Seiner Verherrlichung —
so erscheint sie vor unsern Blicken. Die Rebe ist eines
der lieblichsten Sinnbilder von dem schwachen Zustande
des Menschen und doch von einer überreichen Fruchtbarkeit
durch das Vertrauen auf Gott, durch das Bleiben in
dem wahren Weinstock. „Denn wenn ich schwach bin,
dann bin ich stark." (2. Kor. 12, 10.) Der Wohlgeruch
der Braut ist gleich dem Duft der Aepfel (V. 8),
der Frucht des Baumes, den wir bereits als das schöne
Sinnbild des Geliebten kennen gelernt haben. (Kap. 2, 3.)
Sie verbreitet um sich her den süßen Wohlgeruch Seines
Namens.
Von der Mitte des 9. Verses an scheint der
Bräutigam in den lieblichen Reizen Seiner Braut zu
ruhen. Sein Herz ist befriedigt. Er sieht in ihr die
Frucht der Mühsal Seiner Seele und ist gesättigt.
(Jes. 53, 11.) Das Begehren Seiner Liebe hat Befriedigung
gefunden. Glückliche Braut! Glückliches Israel!
Vollkommen und auf immerdar wiederhergestellt, so daß der
Herr, dein Gott, in dir ruht! Er wird erquickt durch
„den besten Wein", den du für Ihn, deinen Geliebten,
bereitet hast, und der Ihm „sanft hinuntergleitet". (V. 9.)
— Sollte in dem Herzen irgend eines meiner Leser noch
eine Frage bestehen hinsichtlich der herrlichen und gesegneten
Wiederherstellung der Juden in den letzten Tagen,
möge er dann die nachstehende schöne Prophezeiung mit
Aufmerksamkeit erwägen. Daß sie ihre Erfüllung bis
heute noch nicht gefunden hat, kann sicherlich niemand bezweifeln.
„Jubele, Tochter Zion; jauchze Israel! freue
dich und frohlocke von ganzem Herzen, Tochter Jerusalem!
314
Jehova hat deine Gerichte hinweggenommen, deinen
Feind weggefegt; der König Israels, Jehova, ist in
deiner Mitte, du wirst kein Unglück mehr sehen. An
jenem Tage wird zu Jerusalem gesagt werden: Fürchte
dich nicht! Zion, laß deine Hände nicht erschlaffen!
Jehova, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein rettender
Held; Er freut sich über dich mit Wonne, Er schweigt
in Seiner Liebe, frohlockt über dich mit Jubel."
(Zeph. 3, 14-17.)
„Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist Sein
Verlangen." (V. 10.) Das ist, wie wir Wohl sagen
dürfen, die höchste Note, der reinste Ton in dem Liede
der Lieder. Die Seele ist jetzt völlig fertig mit sich selbst,
und einzig und allein mit Christo beschäftigt. In ihren
Worten drückt sich, nach unsrer Meinung, die höchste
Vorstellung von Christo aus: Sein Verlangen ist nach
mir; Er hat Seine Wonne an mir! Die Gnade hat
ihr vollkommnes Werk gethan; die Seele ist gegründet
in der Gnade; und gerade dies ist die höchste
Schönheit an dem Gläubigen, das, woran der Herr Seine
besondere Freude findet. So lange eine Seele unter dem
Gesetz steht, erreicht sie niemals diesen Platz des Vertrauens,
der Ruhe und der ungestörten Freude. Sie
vermag eine solch hohe Note nicht zu singen. Sie ist mit
Zweifeln und Befürchtungen erfüllt. Nicht als ob das
Gesetz nicht gut wäre; im Gegenteil: es ist gerecht, heilig
und gut. Aber der Mensch vermag es nicht zu halten;
und nun der Gedanke an die Zukunft! Wir können
nicht ewig auf dieser Erde bleiben. Und wenn wir sie
nun verlassen müssen, was dann? Dann kommt der
Richterstuhl. Eine finstre Wolke hängt über der Zukunft.
315
Ach, die arme, beunruhigte Seele glaubt nicht, obgleich es
klar und deutlich geschrieben steht, daß sie aus Gnaden,
vermittelst des Glaubens, ewiges Leben hat und nicht
mehr ins Gericht kommt; sie weiß nicht, daß sie aus dem
Tode in das Leben hinübergegangen ist. (Joh. 5, 24.)
Die Gnade allein kann die Seele in diesen glücklichen,
gesegneten Zustand bringen. Das Gesetz vermag
es nicht, weil es alle Uebertreter verdammen muß und
kein Erbarmen kennt. Ueberdies, wenn ich Furcht habe,
so habe ich Pein. Aber „die vollkommne Liebe treibt die
Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber
fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe." (1. Joh. 4, 18.)
Diese „vollkommne Liebe" giebt sich kund in einer vollkommnen
Gnade, und die Gnade allein vermag die
Seele zu gründen in der Liebe unsers Gottes und Vaters
und unsers Herrn Jesu Christi, sowie in Seinem auf
Golgatha vollbrachten Werke. Israel sang sein erstes
Loblied auf der andern Seite des Roten Meeres, wo die
Gnade sich in der vollendeten Errettung des Volkes voll
und ungehindert offenbarte. In Aegypten vernehmen wir
keinen Lobgesang, und noch weniger am Fuße des Berges
Sinai, wo das Volk die Donner des Gesetzes hörte.
Hier gab es nur Furcht und Zittern. Seit jenem Augenblick
ist Israel stets unter dem Gesetz gewesen, und muß
es sein, bis sein Messias kommt. (Diejenigen Israeliten,
welche heute Buße thun und an Jesum gläubig werden,
verlassen selbstredend den jüdischen Boden, werden Glieder
des Leibes Christi und erlangen alle die Vorrechte und
Segnungen eines gegenwärtigen Heils.)
Die Lage der Juden in ihrer Gesamtheit und besonders
als derer, die den Herrn der Herrlichkeit ge
316
kreuzigt haben, findet ihr treffendes Vorbild in der Lage
des „Totschlägers" unter dem Gesetz. Derselbe war gezwungen,
in der Zufluchtsstadt zu bleiben, bis eine Veränderung
des Priestertums eintrat. (4. Mose 35.) Erst
nach dem Tode des jeweiligen Hohenpriesters durfte er
in das Land seines Eigentums zurückkehren. So auch
wird Israels volle Befreiung erst dann kommen, wenn
ihr Messias in Seiner Melchisedek-Herrlichkeit erscheinen
wird. Dann wird Er sie von dem Druck des Gesetzes
befreien, unter welchem sie seufzen und leiden, und wird
sie erretten aus der Hand aller ihrer Bedränger. Er
wird ihnen begegnen entsprechend dem lieblichen Bilde in
1. Mose 14 und ihre wankenden Herzen erquicken und
stärken mit dem Brot und Wein des Reiches. Ihre so lange
verblendeten Augen werden dann sich öffnen, um ihren
Messias zu sehen, und zu erkennen, daß Er alles für sie ist.
Erfahrungen dieser Art finden wir im Hohenliede
nicht. Sie würden nicht im Einklang stehen mit seinem
Gegenstand. Der Geist der Prophezeiung macht uns
vielmehr mit den Herzensübungen des Ueberrestes bekannt;
es handelt sich um innere Gefühle, Zuneigungen
und Erfahrungen, so wie in den Psalmen die Uebungen
des Gewissens, durch welche der Ueberrest am Ende
der Tage gehen wird, im Vordergründe stehen.
Wir erinnern uns, daß die Braut in Kap. 2, 16
ihrer Freude darüber Ausdruck gab, daß sie den Messias
gefunden hatte, daß sie Ihn besaß: „Mein Geliebter
ist mein, und ich bin Sein". In Kap. 6, 3 hatte
ihre Erfahrung schon einen höheren Grad erreicht; ihr
Herz fand süße Genugthuung und Befriedigung in dem
Bewußtsein, daß sie Ihm an gehörte: „Ich bin
317
meines Geliebten, und mein Geliebter ist mein".
In dem vorliegenden Verse aber gelangt sie zu dem
Gipfelpunkt in den Erfahrungen einer Seele; sie ruht in
der seligen Gewißheit, daß Sein Herz nach ihr verlangt:
„Ich bin meines Geliebten, und nach mir ist
Sein Verlangen". Es ist, wie bereits gesagt, das
herrliche Ergebnis der geduldigen und langmütigen Gnade
des Herrn; sie ist in Seinen Augen das Bild makelloser
Schönheit und Vollkommenheit, und sie weiß das, und ihr
Herz ruht selig und frei in diesem kostbaren Bewußtsein.
„Nach mir ist Sein Verlangen" — höher als das kann
die Seele sich nicht erheben; Besseres kann sie nicht erlangen.
Sie findet alles in der unveränderlichen Liebe
Christi zu ihr. Das ist die tiefste Freude des Herzens,
das giebt unerschütterlichen, süßen Frieden. Welch ein
Teil für einen armen, aus Gnaden erretteten Sünder,
alle seine Quellen in der Liebe Jesu zu finden; sagen zu
können: „Er kennt mich ganz und gar; Er weiß, was ich
war und was ich bin. Und dennoch liebt Er mich, ja Er
liebt mich nicht nur, sondern Er findet auch Seine Wonne
an mir." Wunderbare Wahrheit! Laß mich hier fragen,
mein Leser: Ist die Harfe deines Herzens so gestimmt,
daß sie diesen Ton hervorzubringen vermag? Oder ist eine
gewisse Anstrengung deinerseits dazu erforderlich? — Ach, das
Lied von Seiner Liebe sollte nie schwächer werden, sollte
keinen Augenblick auf unsern Lippen verstummen; nein, es
sollte lauter und lauter ertönen, mehr und mehr anschwellen,
je näher wir der Herrlichkeit kommen, wo derselbe
Jesus und dieselbe Liebe ewiglich Gegenstand unsers
Lobens und Dankens sein werden.
318
„Komm, mein Geliebter, laß uns aufs Feld hinausgehen,
in den Dörfern übernachten. Wir wollen uns
früh aufmachen nach den Weinbergen, wollen sehen, ob
der Weinstock ausgeschlagen ist, die Weinblüte sich geöffnet
hat, ob die Granaten blühen; dort will ich dir
meine Liebe geben." (V. 11. 12.) In der vollen Gemeinschaft
mit ihrem Bräutigam und in dem seligen Genuß
Seiner Liebe wendet sich jetzt die Braut an ihren
Geliebten. Der Ton ihrer Anrede und der Charakter
ihrer Worte übersteigt alles, was wir bisher von ihr
gehört haben. Sie redet nur noch von Dingen, von denen
sie weiß, daß sie Ihm wohlgefällig sind. Ihr Glaube
hat das Maß Seiner Gedanken und Gefühle bezüglich
ihrer Person erreicht. So war es einst auch bei David
im Terebinthenthal. (1. Sam. 17.) Sein Glaube erhob
sich zu den Gedanken und Gefühlen Gottes bezüglich
Seines Volkes Israel, und rechnete dementsprechend auf
Ihn. Das ist der wahre Boden der Gemeinschaft: Einheit
der Gefühle und des Herzens mit Christo.
Der Ausdruck: „Laß uns aufs Feld hinausgehen,
in den Dörfern übernachten", scheint anzudeuten, daß die
Segnung und Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches die
Grenzen Israels überschreiten werden. Die Felder und
Thäler liegen außerhalb der Stadt. Jerusalem und
die Städte Judas werden, als der irdische Mittelpunkt
der Herrlichkeit des Messias, ohne Zweifel zuerst mit ihr
erfüllt werden. Aber von diesem Mittelpunkt aus wird
sie sich zur Rechten und zur Linken ausbreiten, bis die
ganze Erde von jener Herrlichkeit erfüllt sein wird.
Was mir so besonders lieblich und gesegnet in der vorliegenden
Stelle erscheint, ist die Thatsache, daß die Juden
319
mit ihrem Messias in dieser Herrlichkeit verbunden
sein werden. Christus und Sein Volk sind gleichsam für
einander gebildet, und erfreuen sich mit einander all der
Segnungen der Erde. „Komm, mein Geliebter", sagt die
Braut, „laß uns aufs Feld hinausgehen, ... wir wollen
uns früh aufmachen" u. s. w. Bräutigam und Braut
besuchen und überschauen in glückseliger Gemeinschaft die
weiten, ausgedehnten Gefilde tausendjähriger Segnung und
Herrlichkeit. Hernach fügt sie mit der Vertraulichkeit eines
Herzens, das sich in Seiner Gegenwart völlig daheim fühlt,
hinzu: „Dort will ich dir meine Liebe geben". Ihr Herz
wallt über. Das Wort „Liebe" steht im Hebräischen in
der Mehrzahl. Eine tiefe, überströmende Liebe erfüllt
ihr ganzes Innere und geht aus, dem Bräutigam entgegen.
Und in der That, unsre Liebe kann nie zu tief, zu glühend
sein, wenn Christus ihr Gegenstand ist.
Ich brauche kaum noch einmal darauf aufmerksam
zu machen, daß die Kirche und alle Heiligen, welche bei
der Ankunft des Herrn auferweckt und entrückt werden,
bereits mit Christo in dem Jerusalem droben verherrlicht
sind, ehe die Vereinigung des Königs mit Seiner irdischen
Braut erfolgt. Denn es ist der Vorsatz Gottes, alles
was im Himmel und auf Erden ist, unter ein Haupt
zusammenzubringen, und dieses Haupt ist Christus. Er
wird sowohl die himmlichen wie die irdischen Teile Seines
Reiches unter Seinem Scepter vereinigen. Sie werden
mit einander verbunden sein, wie es einst vorbildlich durch
Jakobs Leiter dargestellt wurde. Die Herrlichkeit der
himmlischen Heiligen wird den Heiligen hienieden, ja der
ganzen Welt sichtbar sein. „Auf daß die Welt erkenne,
daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie du
320
mich geliebt hast." (Joh. 17, 23.) Und im Blick auf
das neue Jerusalem lesen wir: „Die Nationen werden
durch ihr Licht wandeln, und die Könige der Erde bringen
ihre Herrlichkeit zu ihr." (Offbg. 21, 24.)
„Die Liebesäpfel duften, und über unsern Thüren
sind allerlei edle Früchte, neue und alte, die ich, mein
Geliebter, dir aufbewahrt habe." (V. 13.) Die glückliche
Braut entdeckt jetzt in ihrem Herzen eine Fülle von kostbaren
Früchten für den Sohn Davids, allerlei edle Früchte,
neue und alte. Wir dürfen unter diesen Früchten wohl
die Dankbarkeit und Liebe, die Hingebung und Anbetung
ihres Herzens verstehen. Die Schlußworte der Braut sind
von besondrer Schönheit: „die ich, mein Geliebter, dir
aufbewahrt habe". Eine ganz neue Art von Gefühlen
ist in ihrer Seele für den Herrn erwacht; Gefühle, wie
sie sie nie vorher gehabt hat und auch für niemanden
anders haben könnte. Ihr Herz, das so lange dürr und
leer war, ist jetzt mit der Liebe ihres Messias erfüllt
und bringt die Früchte dieser Liebe dar. Er hat Zuneigungen
in ihr wachgerufen, die Ihm selbst eigentümlich
sind, und die gleichsam während der ganzen Zeit ihres
Umherirrens verschlossen gewesen und für Ihn aufbewahrt
geblieben sind.
Kapitel 8.
„O wärest du mir gleich einem Bruder, der die
Brüste meiner Mutter gesogen! Fände ich dich draußen,
ich wollte dich küssen; und man würde mich nicht verachten.
Ich würde dich führen, dich hineinbringen in
meiner Mutter Haus, du würdest mich belehren; ich würde
dich tränken mit Würzwein, mit dem Moste meiner Gra
321
naten." (V. 1. 2.) Diese Verse führen uns, was die
Stellung und Erfahrung der Braut betrifft, offenbar wieder
rückwärts. Wir verließen sie am Schluffe des vorigen
Kapitels inmitten der sich hell und glänzend entfaltenden
Herrlichkeit der letzten Tage und in glücklicher Gemeinschaft
mit ihrem Geliebten. Die finstere Nacht ihres Kummers
und Alleinseins mit allen ihren schmerzlichen Erfahrungen
lag hinter ihr, und der Tag ihrer Herrlichkeit war angebrochen
mit all seinem Glanz und Segen. Hier aber
kehren wir zu der eigentlichen Quelle der Uebungen, durch
welche sie gegangen ist, zurück, nämlich zu dem heißen
Verlangen ihres Herzens nach ungehinderter, ungestörter
Gemeinschaft mit ihrem Messias. Sie verlangt nach der
vollen Freiheit verwandtschaftlicher Liebe: „O wärest du
mir gleich einem Bruder!" Das entspricht dem Anfang
unsers Buches: „Er küsse mich mit den Küssen Seines
Mundes, denn deine Liebe ist besser als Wein".
Das 8. Kapitel steht, wie wir bereits früher gesagt
haben, für sich selbst da und faßt die Grundsätze des Buches
noch einmal kurz zusammen. Wir möchten deshalb auch
wenig mehr thun als, soweit wir es vermögen, den Pfad
des Geistes in diesem das Lied der Lieder beschließenden
Kapitel kurz andeuten.
Das tiefe Sehnen der Braut, wie es hier durch den
Geist der Prophezeiung zum Ausdruck kommt, findet seine
sofortige und völlige Befriedigung. Sie verlangt nach
dem vollen Besitz Christi und wünscht Gelegenheit zu haben,
Ihn mit dem würzigen Most ihrer Granaten zu tränken.
Sie weiß jetzt, daß Er einst den bittern Kelch des
Zornes Gottes für ihre Sünden trank; und sie verlangt
danach, Ihm einen Kelch kostbaren Weines zu reichen, den
322
ihre Dankbarkeit und Liebe für Ihn allein gemischt haben.
Aehnlich dem zurückgekehrten verlornen Sohne findet auch
sie sich gleich nachher in den Armen ihres Geliebten wieder
und ruht an Seinem Herzen. Die Töchter Jerusalems
werden wiederum beschworen, sie nicht zu stören, so lange
sie die Liebe ihres Geliebten genießt. „Seine Linke sei
unter meinem Haupte, und Seine Rechte umfasse mich!
Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, daß ihr nicht
wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr gefällt!"
(V. 3. 4.) — Dann sehen wir sie „von der Wüste
heraufkommen, sich lehnend auf ihren Geliebten". Sie ist
auf der Reise nach den sonnigen Hügeln Kanaans, in
Abhängigkeit von ihrem Geliebten und unter dem Schatten
Seiner Flügel; Aegypten und die Wüste liegen hinter ihr.
Hierauf erinnert der Bräutigam die Braut an die
Quelle all ihrer Segnung: „Unter dem Apfelbaum
habe ich dich geweckt". Der „Apfelbaum" ist das bekannte
Sinnbild von Christo selbst. „Wie ein Apfelbaum
unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter
inmitten der Söhne." (Kap. 2, 3.) Ihr göttliches Leben
und alle damit in Verbindung stehenden Segnungen verdankt
die Braut Christo. Durch Ihn ist sie aufgeweckt
und lebendig gemacht, und unter Ihm gesegnet mit aller
irdischen Segnung in einem herrlichen Lande. Der Christ
hat nicht Leben und Segnung unter Christo, sondern
in und mit Ihm. Diese wichtige Wahrheit kennzeichnet
den Unterschied zwischen jüdischer und christlicher Segnung.
Beide verdanken selbstverständlich ihr Leben und ihre
Segnung Ihm allein. Aber von den Christen lesen wir,
daß sie mit Christo lebendig gemacht, mit Ihm auferweckt
und in Ihm mit versetzt sind in die himmlischen
323
Oerter. (Eph. 2, 5. 6.) Israel, als solches, gehört der
Erde an; wir, als Christen, dem Himmel. Dort sind
unsre Namen angeschrieben, und dorthin sind wir in Christo
jetzt schon versetzt.
In der zweiten Hälfte des 5. Verses erinnert der
Bräutigam Seine Geliebte an ihre Beziehung zu dem
Volke Israel. Der Ueberrest des Volkes, in deren
Herzen die Gnade wirkt, wird die Braut des großen
Königs. In besondrer Weise stellt sie, wie wir dies schon
früher zu bemerken Gelegenheit hatten, den Ueberrest Judas
dar, der in Jerusalem sein wird, ehe der Ueberrest Ephraims
oder der zehn Stämme eingesammelt ist; grundsätzlich
aber repräsentiert sie das ganze Volk. Und da Christus
selbst aus dem Stamme Juda entsprossen ist, heiligt der
Geist sichtbarlich den Gebrauch hierauf bezüglicher Titel
und den Ausdruck von Zuneigungen, die ihnen angehören.
Ein Gefühl der Trauer und des Schmerzes beschleicht
unwillkürlich unser Herz, wenn wir daran denken, daß
diejenigen, zu deren Ermunterung und Glaubensstärkung
diese Beziehungen anerkannt und solch herrliche Scenen
beschrieben werden, sich noch in der tiefen Finsternis eines
schrecklichen Unglaubens befinden. Die Decke liegt noch
auf dem Herzen Israels. Aber der Weg der Liebe, der
in dem Hohenliede eine so schöne Darstellung gefunden
hat, wird bald von dem unglücklichen Volke erkannt und
eingeschlagen werden. Inzwischen ziehen wir Nutzen aus
dieser wundervollen Offenbarung innerer Gefühle und
Zuneigungen, umsomehr als das Hohelied eine gesegnete
moralische Anwendung auf uns zuläßt.
Der aus dem Tode zum Leben geführte Ueberrest,
die Braut des Messias in Seinem salomonischen Charakter,
324
wünscht nun wie ein Siegelring an Sein Herz gelegt zu
werden, entsprechend einer Liebe, die alle Erkenntnis übersteigt.
„Lege mich wie einen Siegelring an dein Herz,
wie einen Siegelring an deinen Arm! Denn die Liebe
ist gewaltsam wie der Tod, hart wie der Scheol ihr Eifer;
ihre Gluten sind Feuergluten, eine Flamme Jahs. Große
Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen, und Ströme
überfluten sie nicht. Wenn ein Mann allen Reichtum
Seines Hauses um die Liebe geben wollte, man würde
ihn nur verachten." (V. 6. 7; vergl. auch S. 99—101
unsrer Betrachtungen.) Wo sollen wir eine Liebe finden
gleich dieser? Sie ist nur in dem Herzen Jesu. WaS
ist so gewaltsam wie der Tod? was so hart wie der
Scheol? was so schonungslos wie Feuergluten? Mit der
Liebe ist nichts zu vergleichen. Würde ein reicher Mann
auch all sein Hab und Gut für die Liebe bieten, er würde
nur verachtet werden. Was sind alle Reichtümer und
Schätze im Vergleich mit der Liebe! Große Wasser vermögen
sie nicht auszulöschen, Ströme können sie nicht
überfluten. Als die Liebe und der Tod in furchtbarem
Kampf auf dem Kreuze einander begegneten, triumphierte
die Liebe, und der Tod wurde für immer zunichte gemacht.
Der „Siegelring" an dem „Herzen" und dem „Arme"
des Geliebten erinnert vielleicht an das Brustschild und
die Schulterstücke, wie sie von dem Hohenpriester getragen
wurden. Die Namen der zwölf Stämme wurden „in
Siegelstecherei" in kostbare Steine eingegraben und auf
dem Herzen (dem Bilde der Liebe) und auf den Schultern
(dem Bilde der Kraft) des Hohenpriesters vor Jehova
gebracht. So wird auch die glückliche Braut binnen kurzem
wie ein Siegelring gelegt sein an das liebende Herz und
325
an den starken Arm ihres hochgelobten Herrn, ihres großen
Hohenpriesters nach der Ordnung Melchisedeks.
Die „kleine Schwester", von welcher die Braut im
nächsten Verse redet, ist, wie wir nicht zweifeln und auch
schon früher bemerkten, ein Bild von Ephraim oder von
den so lange verlorenen zehn Stämmen. „Was
sollen wir unsrer Schwester thun", fragt sie, „an dem
Tage, da man um sie werben wird? Wenn sie eine
Mauer ist, so wollen wir eine Zinne von Silber darauf
bauen, und wenn sie eine Thür ist, so wollen wir sie
mit einem Cedernbrett verschließen." (V. 8. 9.) Die
Gefangenschaft der zehn Stämme hat lange vor der
Geburt Christi begonnen, und sie sind nie wieder in ihr
Land zurückgekehrt. Sie wissen also nichts von den
Uebungen, durch welche Juda (oder die zwei Stämme)
gegangen ist hinsichtlich der Geburt, des Todes, der
Auferstehung und Wiederkunft des Messias. Nichtsdestoweniger
treten auch sie in den Genuß der gesegneten Ergebnisse
Seines ersten Kommens in Gnade und Seines
zweiten Kommens in Herrlichkeit ein. Sie werden
belehrt, auferbaut und befestigt in der Lehre
Christi durch ihre bevorzugte Schwester Juda. „Ich bin
eine Mauer", sagt sie, „und meine Brüste sind wie
Türme; da wurde ich in Seinen Augen wie eine, die
Frieden findet." (V. 10.) Sie ist stark in dem Herrn,
in Seiner Erkenntnis gereift, und steht in der vollen
Gunst des Königs. Das Israel Gottes ist wiederhergestellt!
Die zwölf Stämme sind vereinigt, und
nicht länger mehr in zehn und zwei geteilt wie heute.
„Salomo hatte einen Weinberg zu Baal-Hamon;
er übergab den Weinberg den Hütern: ein jeder sollte
326
für seine Frucht tausend Silbersekel bringen." (V. 11.)
„Baal-Hamon" bedeutet: „Herr einer Menge";
dieser Name enthält offenbar eine Anspielung auf die
Menge der Nationen, auf die ganze Welt, welche dann
den weiten Weinberg des Herrn bilden wird. „Jehovas
ist die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und die darauf
wohnen." (Ps. 24, 1.) Das tausendjährige Reich ist angebrochen!
Die Herrlichkeit des Herrn erfüllt die Erde;
alle Herzen frohlocken; Jesus regiert, und die Hüter des
Weinberges bringen Ihm jetzt einen entsprechenden Ertrag.
Alles ist unter dem Auge Christi und entspricht den
Grundsätzen Seiner Regierung. Die Braut wünscht, daß
von ihrem eignen Weinberge der ganze Ertrag dem
König Salomo zufließe, außer einem Teile für die Hüter
desselben. „Mein eigner Weinberg ist vor mir; die
tausend sind dein, Salomo, und zweihundert seien den
Hütern seiner Frucht." (V. 12.) Alle sollen ihr Teil
haben an dem Ertrage der fruchtbaren, friede- und freudeerfüllten
tausendjährigen Erde. Aber Christus ist Herr
von allen.
Zum letzten Male in diesem Liede wendet sich der
Herr jetzt an Seine liebliche, so hoch bevorzugte Braut,
indem Er ihr zuruft: „Bewohnerin der Gärten, die
Genossen horchen auf deine Stimme; laß sie mich hören!"
<V. 13.) Er ladet sie ein, ein Loblied anzustimmen. Sie
soll gleichsam ihren Genossen, ja der ganzen Erde den
Ton angeben. Und, mein lieber Leser, was wird es
sein, wenn alle Völkerschaften, Sprachen und Zungen den
Jubelgesang aufnehmen, und die frohlockenden Hosianna's
sich fortpflanzen werden „von Meer zu Meer und von
dem Strome bis an die Enden der Erde"! Die ganze
327
Schöpfung wird mit Glück und Freude erfüllt sein, und-
ihre lauten Lobes- und Dankeslieder werden das Ohr
ihres erhabenen, herrlichen Königs erreichen. — Laß
mich deine Stimme hören!
„Enteile, mein Geliebter, und sei gleich einer Gazelle
oder einem Jungen der Hirsche auf den duftenden Bergen I"
(V. 14.) — Unser Gesang ist zu Ende. Sein letzter Ton
ist voll und reich. Die liebende Braut verlangt sehnlichst
nach der baldigen Rückkehr ihres Herrn. Sie bittet Ihn,
daß Er ohne Zögern kommen möge. Die tiefe, innige
Liebe ihres Herzens giebt sich kund in dem heißen Verlangen
nach Seiner herrlichen Erscheinung. O möchten
doch auch alle unsre Herzen sich mit der Braut vereinigen
in dem ernsten und anhaltenden Flehen, daß Er bald kommen
und Sein glorreiches Werk vollenden möge; daß Er
kommen möge zur Aufnahme der Kirche, zur Herrlichkeit
Israels und zum Segen der ganzen Erde!
Amen, Amen! Jesu eile,
Still' das Sehnen Deiner Braut!
Mächtiglich die Wolken teile,
Daß Dich unser Auge schaut!
Steige auf am Horizonte,
Morgenstern, durchbrich die Nacht;
O daß Deine Braut schon thronte
Dort mit Dir in Himmelspracht!
„Tag für Tag Seine Wonne."
(Spr. 8, 30.)
Der Sohn ist der Christus. Gott, in der Person des-
Sohnes, hat das ganze Werk des Dienstes, alles wozu
Salbung oder ein Christus (ein Gesalbter) erforderlich war^
328
für uns übernommen; und Er hat dies gethan in der
Person Jesu. Darum sagen wir: „Jesus Christus, der
Sohn Gottes." Der Eingeborne, der Christus, Jesus von
Nazareth ist eine und dieselbe Person. Nur erblicken wir Ihn
unter diesen verschiedenen Namen in Seiner persönlichen,
Ihm eignen Herrlichkeit, in Seinem Dienst und
in Seiner angenommenen Menschheit. . . .
Er war in dem Schoße des Vaters; dort war das
ewige Leben bei dem Vater — selbst Gott und doch
bei Gott. Im Ratschluß Gottes war Er dort „eingesetzt
vor den Uranfängen der Erde, vor dem Beginn der Schollen
des Erdkreises". Dann war Er der Schöpfer aller Dinge
in ihrer ersten Ordnung und Schönheit; hernach der Versöhner
aller Dinge in ihrem Zustand der Sünde und des
Verderbens, und schließlich wird Er bei ihrer Wiederherstellung
der Erbe aller Dinge sein. So sehen wir Ihn
durch den Glauben, und so reden wir von Ihm. Wir
sagen: Er war in den ewigen Ratschlüssen Gottes, in dem
Mutterleibe der Jungfrau, in den Leiden dieser Welt, in
der Auferstehung aus den Toten; Er ist im Himmel mit
Ehre und Herrlichkeit gekrönt und mit Macht und Ruhm
bekleidet als der Erbe und das Haupt aller Dinge. . . .
Wie lieblich und gesegnet ist eS, — ach, wenn wir
nur fähiger dazu wären! — den Herrn auf Seinem ganzen
Wege bis zu dem Throne der Herrlichkeit zu betrachten!
Auf jeder Station dieses Weges erblicken wir
Ihn als Den, der stets dasselbe vollkommene
Wohlgefallen Gottes hervorrief, gleichsehr im Beginn
wie am Ende Seiner Laufbahn; nur mit dem Ihm
eignen Vorrecht, daß Er es in der gesegnetsten und
wundervollsten Verschiedenheit hervorrief.
329
Die Schrift setzt uns in den Stand, diesem allem zu
folgen. Von der Freude, die Er genoß, als Er sich vor
Grundlegung der Welt in dem Schoße des Vaters befand,
haben wir nicht nötig zu reden, denn wir vermögen es
nicht. Jener Schoß war „der Bergungsort der Liebe";
und die Freude, die mit dieser Liebe verbunden war, ist
ebenso wenig in Worten auszudrücken wie die Liebe selbst.
Aber auch als Mittelpunkt aller göttlichen Thätigkeit und
als Grundlage aller Ratschlüsse Gottes war der Geliebte
ebensowohl die Wonne Gottes. In dieser Stellung und
in diesem Charakter sehen wir Ihn in Sprüche 8, 22—31.
In dieser wunderbaren Schriftstelle wird die Weisheit,
oder der Sohn, dargestellt als der große Ursprung, der
Schöpfer und Erhalter aller Werke und Vorsätze Gottes,
die in dem göttlichen Ratschluß vor Grundlegung der
Welt festgesetzt waren. In ähnlicher Weise wird Er in verschiedenen
Stellen des Neuen Testamentes betrachtet. (Siehe
Joh. 1, 3; Eph. 1, 9. 10; Kol. 1, 15-17.) Und in
allem diesem kann Er von sich sagen: „Da war ich Schoßkind
bei Ihm, und war Tag für Tag Seine Wonne,
vor Ihm mich ergötzend allezeit."
Und als die Fülle der Zeiten gekommen war, lag
der Sohn Gottes in dem Schoße der Jungfrau. Wer
kann dieses Geheimnis ergründen? Und doch ist es so.
Aber es war nur eine neue Veranlassung zur Freude.
Engel kamen, um derselben Ausdruck zu geben und sie den
Hirten auf Bethlehems Fluren zu verkündigen.
Der Sohn der Liebe Gottes mußte jetzt in einer neuen
Gestalt eine andere Laufbahn betreten. Unter Leiden und
im Dienste als Sohn des Menschen erblicken wir Ihn auf
der Erde. Doch überall, und ebenso unvermischt wie in
330
den verborgenen Zeitaltern der Ewigkeit, rief Er auch hier
das unaussprechliche Wohlgefallen Gottes hervor. „Dieser
ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden
habe." — „Siehe, mein Knecht, den ich stütze,
mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen
hat." Das sind Aussprüche des Vaters, die von Seiner
unveränderten Freude zeugen, während Er den Pfad
Jesu über diese sündenbefleckte Erde hin verfolgt.
Und dieselbe Stimme ertönt zum zweiten Male:
„Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen
gefunden habe." Sie wird vernommen auf dem
heiligen Berge wie am Ufer des Jordan, am Tage der
Verklärung wie bei der Taufe. (Matth. 17.) Die Verklärung
war das Unterpfand und das Vorbild des Reiches,
wie die Taufe den Eintritt in Seinen Dienst und Sein
Zeugnis darstellte. So wurde- in dem Schoße des Vaters,
wo der Sohn sich befand, stets dasselbe Wohlgefallen hervorgerufen,
ob das Auge Gottes Ihn auf dem einsamen
Pfade des Dieners in einer unreinen, verderbten Welt verfolgte,
oder Ihn auf der Höhe des Königs der Herrlichkeit
im tausendjährigen Reiche erblickte. Auf Seinem ganzen
Wege von Ewigkeit zu Ewigkeit fand Gott stets dasselbe
vollkommene Wohlgefallen an Ihm. Nirgend zeigt sich
eine Unterbrechung, nirgend ein Stillstand in der Freude
Gottes an Ihm, wiewohl diese Freude mannigfaltig und
verschiedenartig war; sie bleibt stets dieselbe an Fülle und
Tiefe, mögen die Umstände und die Veranlassungen auch
wechseln. Er, der diese Freude hervorruft, bleibt immer
der gleiche, und deshalb auch die Freude selbst; in ihrem
Maße konnte sie nie verschieden sein, obwohl ihre
Ursachen sich verändern mochten. — Und dieser Eine
331
war während Seines ganzen Pfades von Ewigkeit zu
Ewigkeit gleich unbefleckt; so heilig im Mutterleibe der
Jungfrau wie im Schoße des Vaters; so rein am Ende
wie beim Beginn Seiner Laufbahn: so vollkommen als
Knecht wie als König; unbegrenzte Vollkommenheit kennzeichnete
alles, und dasselbe Wohlgefallen ruhte auf allem.
Wenn die Seele nur immer von dem Gedanken durchdrungen
wäre, daß dieser hochgelobte Herr (wo und wie
Er auch betrachtet werden mag), derselbe war, der von
Ewigkeit her in dem Schoße des Vaters war — wenn
dieser Gedanke durch den Heiligen Geist in der Seele
lebendig erhalten würde, so würde manche Neigung, die
jetzt vielleicht die Seele verunreinigt, in Schranken gehalten
werden. Er, der in dem Mutterleibe der Jungfrau lag,
ist derselbe, der im Schoße des Vaters war! Welch ein
Gedanke! Der majestätische Jehova des Alten Testamentes,
den die geflügelten Seraphim anbeteten, war Jesus von
Galiläa! Welch ein Gedanke! So fleckenlos als Mensch,
wie Er als Gott war; so rein in dem menschlichen Gefäße,
wie in dem ewigen Schoße; so makellos inmitten
der Verunreinigungen der Welt, wie damals, als Er die
Wonne des Vaters bildete vor Grundlegung der Welt!
Wahrlich, wenn die Seele von diesem Geheimnis
durchdrungen ist, wird mancher Gedanke, der im Herzen
aufsteigen will, sofort seine Beantwortung finden. Wer
möchte angesichts eines solchen Geheimnisses reden, wie
manche geredet haben? Wenn nur diese Herrlichkeit vor
der Seele steht, so werden die Flügel wieder das Angesicht
bedecken und die Schuhe von den Füßen gezogen werden.
(Jes. 6, 2; 2. Mose 3, 5.)
(Aus: „Der Sohn Gottes" von I. G. B.)
332
Ueberreich in Hoffnung.
„Die Hoffnung aber beschämt nicht."
(Röm. 5, 5.)
Hoffnung kennzeichnet das ganze Leben des Christen.
Er rühmt sich in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes
(Röm. 5, 2); er ist errettet worden in Hoffnung (Röm.
8, 24); er freut sich in Hoffnung. (Röm. 12, 12.)
Die Hoffnung stählt seinen Mut im Kampfe, giebt ihm
die nötige Kraft zum Ausharren in der Trübsal, und
erfüllt ihn mit Freudigkeit im Dienste. Wie der Pflügende
auf Hoffnung pflügt, und der Dreschende auf Hoffnung
drischt (1. Kor. 9, 10), so lebt und arbeitet der
Christ in der gewissen Hoffnung, sein Ziel zu erreichen.
Aber dieses Ziel liegt in der Herrlichkeit droben. Dort
wird er ernten und die Frucht seiner Arbeit genießen.
Er wird nicht beschämt werden; denn die Hoffnung beschämt
nicht. Ueberdies kennt er das Wort: „Der
Ackerbauer muß, um die Früchte zu genießen, zuerst
arbeiten." (2. Tim. 2, 6.) Hoffnung kennzeichnet also,
wie gesagt, das ganze Leben des Christen. Fehlt ihm die
Hoffnung, oder ist sie geschwächt, so wird er bald mutlos
werden und im Wettlauf ermüden. Das herrliche Ziel
ist aus dem Auge verloren, und die Kraft erlahmt.
Jeder Gläubige ist berufen, an seinem Teil mitzuarbeiten
an dem Werke des Herrn und an der Auferbauung
des Leibes Christi, „bis wir alle hingelangen zu
der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes
Gottes, zu dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des
vollen Wuchses der Fülle des Christus". (Eph. 4, 13.)
Das ist das allen gemeinsame Ziel; und um es zu er
333
reichen, darf keiner an sich selbst denken, keiner sich selbst
zu gefallen suchen, sondern vielmehr dem Nächsten zum
Guten und zur Auferbauung. (Röm. 15, 1. 2.) Hierdurch
wird das christliche Leben zu einem Leben beständiger
Selbstverleugnung und Hingebung für Andere. Das
war daS Leben Christi und Seiner Apostel, und das
sollte unser Leben sein.
Aber ist es nicht sehr entmutigend, wenn unser Blick
auf den allgemein niedrigen Zustand der Christen fällt?
wenn die Gläubigen, anstatt dem Ziele näher zu kommen,
sich immer weiter von demselben zu entfernen scheinen?
wenn die Verwirrung je länger je größer wird, und die
traurigen Vorkommnisse, durch welche der Name des Herrn
verunehrt wird, in unsrer Mitte sich mehren? Gewiß, alles
das ist entmutigend und niederdrückend. Aber obwohl
wir unser Auge nicht davor verschließen können noch sollen,
dürfen wir doch nicht dabei stehen bleiben. Ein stetes
Beschäftigtsein mit den Umständen um uns her macht uns
müde und matt; wir verraten dadurch, daß wir nicht
mehr in Hoffnung leben und arbeiten, in dieser glückseligen
Gewißheit, daß unsre Mühe nicht vergeblich ist im Herrn.
(1. Kor. 15, 58.) Wie groß die Verwirrung und Zersplitterung
unter den Gläubigen auch sein mag, so wissen
wir doch, auf Grund des göttlichen Wortes, daß der
Augenblick kommt und nahe ist, wo die Menge der Heiligen
ein Herz und eine Seele, und wo Christus der
Mittelpunkt von allem sein wird. Mag Satan auch die
größten Anstrengungen machen und erschreckende Erfolge
erringen, mag es ihm selbst scheinbar gelingen, die Sache
des Herrn zu verderben, — jener Augenblick wird zeigen,
daß er die Ratschlüsse Gottes nicht aufzuhalten und Sein
334
Werk der Gnade nicht zu hindern vermocht hat. Nicht
einer der Auserwählten wird fehlen; alle werden den
Herrn umgeben als solche, die abgewaschen, geheiligt und
gerechtfertigt sind in dem Namen unsers Herrn Jesu und
durch den Geist unsers Gottes. (1. Kor. 6, 11.) Nicht
die geringste Spur von der Macht und Wirksamkeit Satans
wird an der glückseligen, verherrlichten Schar der Erlösten
mehr zu entdecken sein. Und dann wird auch offenbar
werden, daß wir nicht vergeblich gearbeitet haben,
daß unsre Mühe und unser Ausharren nicht vergeblich
waren.
Diese Hoffnung, dieser Gedanke an das herrliche
Ziel, erfüllte unsern hochgelobten Herrn während Seines
Wandelns hienieden und ließ Ihn mit Ausharren Seinen
schweren Weg gehen und Sein Werk der Hingebung und
Selbstaufopferung zum Heil verlorner Sünder vollbringen.
Er wird uns als Muster vorgestellt, daß wir nicht uns
selbst gefallen sollen: „denn auch der Christus hat nicht
sich selbst gefallen, sondern wie geschrieben steht: „Die
Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen."
(Röm. 15, 3.) Er hat der Schande nicht geachtet
und für die vor Ihm liegende Freude das
Kreuz erduldet. (Hebr. 12, 2.) Die Freude stand vor
Seinen Blicken, die einst Himmel und Erde erfüllen wird;
jene herrliche Zeit, wo das Loblied der Erlösten wiederhallen
wird zu Seines Namens Ruhm und Ehre; wo
droben in den Himmeln das neue Lied der Erkauften
durch alle Ewigkeiten den Herrn erheben (Offbg. 5), und
hienieden Sein irdisches Volk Ihn als den treuen Erfüller
aller Verheißungen und als seinen glorreichen Befreier
Preisen wird; wo die Nationen Gott verherrlichen werden
um der Begnadigung willen, und die Weissagungen erfüllt
sein werden: „Seid fröhlich, ihr Nationen, mit Seinem
Volke", und: „Lobet den Herrn, alle Nationen, und alle
Völker sollen Ihn preisen". (Röm. 15, 9—12.)
Im Blick auf diese Freude betrat Christus den
schweren Pfad, auf welchem die tiefste Erniedrigung, Ar
335
mut und Entbehrungen aller Art Seiner warteten; wo die
ganze schreckliche Feindschaft des menschlichen Herzens gegen
Gott sich gegen Seine Person kehrte; wo Er für alle
Seine Güte nur Undank, für alle Seine Sanftmut und
Freundlichkeit nur den Widerspruch der Sünder und ihren
bittern Haß erntete, einen Haß, der am Kreuze seinen
völligen Ausdruck fand. Aber Er erduldete alles um der
vor Ihm liegenden Freude willen, ja, Er erduldete
weit mehr noch als das: selbst der Mann seines Friedens,
auf den Er vertraute, der Sein Brot aß, erhob seine
Ferse wider Ihn (Psalm 41, 9); einer Seiner Jünger
verleugnete Ihn, alle übrigen verließen Ihn. Dazu gesellte
sich die ganze List, Bosheit und Macht Satans;
die sichtbaren und die unsichtbaren Mächte der Finsternis
ließen nichts unversucht, um Ihn in Seinem Vorhaben
zu hindern. Doch nichts vermochte Ihn zurückzuschrecken;
unverrückt blieb Sein Blick auf die vor Ihm liegende
Freude gerichtet. Und endlich kam das Schrecklichste:
die Sünde mußte der Gerechtigkeit Gottes gemäß gesühnt
werden. Dies konnte nur geschehen durch jene unergründlichen
Leiden, die Er als unser Stellvertreter erduldete,
indem Er für uns zur Sünde gemacht wurde. Keine
Kreatur ist fähig, auch nur annähernd fühlen zu können,
was das Verlassensein von Gott für Den sein mußte,
der als der geliebte Sohn eins mit dem Vater und von
Ewigkeit her in dessen Schoße war. Diese schrecklichen
Stunden der Finsternis standen vor Seinem Geiste, als
in Gethsemane Sein Schweiß wie große Blutstropfen
zur Erde raun. Aber selbst dann noch harrte Er aus;
für die vor Ihm liegende Freude blieb Er standhaft bis
zum letzten Augenblick, bis der letzte Tropfen des bittern
Kelches geleert und das ganze Werk vollbracht war. Er
hat nicht sich selbst gefallen, sondern nur an die herrlichen
Ergebnisse des Erlösungswerkes gedacht, an die vollkommene
Verherrlichung Gottes und die Freude erlöster Sünder.
Ist alles dieses nicht „zu unsrer Belehrung geschrieben,
auf daß wir durch das Ausharren und durch.
336
die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben?"
(Röm. 15, 4.) Ja wahrlich, welch eine Ermunterung liegt
in der Betrachtung der ausharrenden Hingebung und
gänzlichen Aufopferung unsers Herrn für Andere! Wie
fordert uns Sein Ausharren auf so schwerem Wege auf,
ebenfalls nicht müde und überdrüssig zu werden! Es ist
fürwahr der Mühe wert, im Blick auf die vor uns liegende
Freude, auf die herrlichen Folgen der Erlösung, an unserm
geringen Teile mitwirken, milleiden und uns selbst aufgeben
zu dürfen zum Guten und zur Auferbauung des
Nächsten. Der Apostel Paulus war in diesem, wie in
vielem andern, ein treuer Jünger Seines geliebten Herrn,
ein nachahmungswürdiges Beispiel für uns. Er konnte sagen:
„Deswegen erdulde ich alles um der Auserwählten willen,
auf daß auch sie die Seligkeit erlangen, die in Christo
Jesu ist, mit ewiger Herrlichkeit." (2. Tim. 2, 10.) Sein
Herz war in allen seinen Leiden mit der Hoffnung auf
die vor Ihm und allen Auserwählten liegende Herrlichkeit
erfüllt, und kraft dieser Hoffnung erduldete er alles. Nur
eine „überreiche Hoffnung", die sich auf die Gewißheit
des Sieges und des herrlichen Ausgangs unsers Weges
gründet, kann unsern Mut im Kampfe aufrecht erhalten
und uns Kraft zum Leiden darreichen.
Latztuns denn Tag für Tag in Hoffnung leben,
arbeiten und dulden! Möge sich das Gebet des Apostels
an uns erfüllen: „Der Gott der Hoffnung aber
erfülle euch mit aller Freude und allem Frieden im
Glauben, damit ihr überreich seid in Hoffnung,
durch die Kraft des Heiligen Geistes!" (Röm. 15, 13.)
Laßt uns nicht den Mut verlieren trotz der scheinbaren
Erfolge des Feindes! Der Herr ist nahe, und wenn Er
kommt, wird unser Sieg ein vollständiger sein.