Inhaltsverzeichnis: Botschafter des Heils in Christo 1866 | Seite |
Betrachtungen über die zweite Ankunft des Herrn III | 1 |
Der Eifer für Gott (Hiskia) 44 | 21 |
Gedanken über die Leiden Christi 78 | 28 |
Der Herr und Seine Jünger 93 | 41 |
Das ungleiche Joch 100 | 61 |
Der Korb mit den Erstlingen der Frucht des Landes 130 | 67 |
Der Dienst 137 | 81 |
„Nur" und „frühe" 139 | 92 |
Der Friede mit Gott 139 | 99 |
Der blindgeborene Bettler 147 | 100 |
Das Auge des Allmächtigen 162 | 101 |
Nahrung für das neue Leben 169 | 140 |
Das allgemeine Gericht | 141 |
und das Erscheinen der Heiligen vor dem | 149 |
Richterstuhl Christi 170 | 155 |
Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken 193 | |
Das Gewissen und die Offenbarung 200 | 161 |
Die unmittelbare und vollkommene Erlösung 208 | 172 |
Die christliche Liebe 116 | 179 |
Das verlorene Paradies des Menschen und das - | |
gefundene Paradies Gottes 218 | 181 |
Der Sabbat und der Tag des Herrn 229 | 191 |
Der Schatten des Apfelbaumes 239 | 199 |
Betrachtungen über die zweite Ankunft des Herrn
III. Offenbarung 12
Wir empfehlen, zunächst das Kapitel zu lesen. In diesem Kapitel werden uns zwei Hauptgegenstände vor Augen gestellt, nämlich die Vereinigung der Kirche Gottes, der
himmlischen Heiligen, mit Christo, und die damit verbundenen Verheißungen, und dann die untrügliche Gewißheit der Wiederherstellung der Juden, als Nation auf dieser Erde. Diese beiden Ereignisse knüpfen sich an die Offenbarung verschiedener Gerichte über diese Welt, jedoch mit dem Unterschied, daß sich die Heiligen außerhalb dieser Gerichte befinden werden, während die auf Erden zurückbleibenden Juden und Heiden durch sie hindurchgehen müssen. Wie vordem Noah durch die Wasser der Sündflut hindurch gerettet wurde, während Henoch bereits in den Himmel entrückt war, so wurde später Lot wie ein Brand aus dem Feuer gerettet, während Abraham vom Berge herab auf die Gerichte schauen konnte, durch welche die Stadt der Ebene verwüstet wurde. Wir erblicken also in diesen beiden Ereignissen eine Klasse von Menschen, die sich außer dem Bereiche der Gerichte befinden, und eine andere Klasse von
solchen, die durch sie hindurchgehen.
Wir haben bereits früher gesehen, daß die Kirche unter Christo,
der Mittelpunkt aller Dinge ist, den Mittelpunkt der himmlischen Herrlichkeit bildet, Israel dagegen den Mittelpunkt der
irdischen Segnungen. Ich wünsche daher unsere Aufmerksamkeit zu richten
1) auf die Aufnahme der Heiligen in den letzten Tagen zu
ihrem Herrn in den Himmel, wo sie an Seiner Herrlichkeit
und Seinen Segnungen teilnehmen,
2) auf die Einführung der Juden in die Segnungen dieser Erde,
wo sie unter der Herrschaft Christi, ohne jedoch mit Ihm zu
regieren, eine große Nation sein werden. Diese zwei Ereignisse
bilden die beiden großen Zentralpunkte in den Wegen Gottes.
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In dem soeben gelesenen Kapitel der Offenbarung finden wir
in dem „männlichen Sohn" Christum und die Kirche, sodann in
dem „Weibe", das der Verfolgung entflieht und 1260 Tage
hindurch in der Wüste ihre Nahrung findet, den Überrest der
Juden personifiziert, der in der Zeit des Gerichts zwar verschont
bleiben, aber nicht in die Herrlichkeit eingeführt worden ist. Ich
füge nur noch hinzu, daß das, was man eine allgemeine, zu
gleicher Zeit stattfindende Auferstehung nennt, eine der Schrift
gänzlich unbekannte Sache ist. Zwar erhielt sich unter den
Juden und vornehmlich unter den Pharisäern dieser Begriff als
untrüglich, während die Heiden nur als Hunde betrachtet
wurden; aber das Verständnis der Aufnahme der Kirche in den
Himmel stellt diesen Irrtum gänzlich ins Licht, denn die entschlafenen Heiligen des Alten sowohl wie des Neuen Testaments, die an dieser Aufnahme teilhaben, müssen zuerst auferstehen.
Während Christus zur Rechten Gottes sitzt und Gott für Ihn die
Erben sammelt, welche mit Ihm regieren sollen, wenn Er den
Besitz des Erbes antritt, wird Gott sich nicht, wie es später
geschehen wird, mit dieser Welt beschäftigen, wiewohl Er sie
durch eine Art von Vorsehung regiert. Gott allein kennt die
Stunde, in der Christus in Sein Erbe eintreten wird; und erst
dann, wenn Er Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt
haben wird, wird Christus den Thron Seines Vaters verlassen,
um Sich auf Seinen eigenen Thron zu setzen. Während Christus
auf dem Throne des Vaters sitzt, sammelt der nach der Himmelfahrt Christi herabgesandte Heilige Geist aus der Welt ein
Volk für Seinen Namen, ein Volk, welches zu Erben Gottes und
zu Miterben Christi auserkoren ist. Diese Zeitdauer bildet
gleichsam eine Einschaltung in den Wegen Gottes und wird uns
durch den Propheten Daniel klar vor Augen gestellt, indem uns
der Heilige Geist am Ende des 9. Kapitels belehrt, daß eine
gewisse Zeit verfließen muß, bevor Jerusalem wieder in seine
vollen Segnungen eintreten kann. „Siebzig Wochen sind über
dein Volk und deine heilige Stadt bestimmt, um die Übertretung
zum Abschluß zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen,
und die Ungerechtigkeit zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen, und Gesicht und Propheten zu versiegeln, und
ein Allerheiligstes zu salben. So wisse denn und verstehe: vom
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Ausgang des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu
bauen, bis auf den Messias, den Fürsten, sind sieben Wochen
und zweiundsechzig Wochen. Straßen und Gräben werden
wiederhergestellt und gebaut werden, und zwar in Drangsal der
Zeiten. Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der Messias
weggetan werden und nichts haben" (Dan 9, 24—26).
Dies ist bereits in Erfüllung gegangen. Sieben Wochen bilden
die Zeitdauer, in der die Gassen und Mauern Jerusalems wieder
hergestellt und erbaut wurden; und nach Verlauf von
62 Wochen wurde der Christus verworfen. Jene 7 und diese 62
sind 69 Wochen. Christus ist verworfen worden und hat das
Reich noch nicht empfangen. „Und das Volk des kommenden
Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören, und das
Ende davon wird durch die überströmende Flut sein; und bis
ans Ende: Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen" (V. 26).
Auch diese Prophezeiung hat, wie wir wissen, in der Zerstörung
der Stadt durch die Römer ihre Erfüllung gefunden, indem kein
Stein auf dem anderen geblieben ist. Neunundsechzig Wochen
sind vorüber, es bleibt nur noch eine Woche übrig; und hier
möchte ich, ohne mich auf Einzelheiten einzulassen, auf einen
höchst wichtigen Grundsatz aufmerksam machen.
Wir haben also hier 69 Wochen. Der Messias erschien, wurde
verworfen, empfing das Reich nicht und hatte nichts. Er fand
das Kreuz; das ist alles. Er fuhr auf gen Himmel: und dorthin,
wo Er ist, sollen Ihm unsere Herzen folgen. Der kommende
Fürst wird „einen festen Bund mit den Vielen schließen für eine
Woche;" denn wir dürfen nicht vergessen, daß bis zum Ende
die Verwüstung fortdauern wird. In betreff der Zeit ist alles
unbestimmt geblieben. Es gibt eine siebzigste Woche, in der,
da der Messias fortging und nichts hatte, nach der Zerstörung
Jerusalems die Verwüstungen — niemand weiß wie lange —
ihren ununterbrochenen Fortgang haben werden. „Und er wird
einen festen Bund mit den Vielen schließen für eine Woche;
und zur Hälfte der Opfer wird er Schlachtopfer und Speisopfer
aufhören lassen. Und wegen der Beschirmung der Greuel wird
ein Verwüster kommen, und zwar bis Verwüstung und Festbeschlossenes über das Verwüstete ausgegossen werden"
(Vers 27). Hier haben wir also die einfache und wichtige Erklärung der 70 Wochen Daniels. Nach Ablauf der 69 Wochen
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erscheint Christus, wird verworfen und hat nichts; dann folgen
die Kriege, die Stadt wird zerstört und die Zeiten der Nationen
sind angebrochen, während Israel, wie wir Röm 11 lesen,
Verstockung zum Teil widerfahren ist, bis daß die Vollzahl der
Nationen eingegangen sein wird. In Lk 21, 24 fügt der Herr,
nachdem Er von der Zerstörung Jerusalems gesprochen hat,
noch die Worte hinzu: „Und Jerusalem wird zertreten werden
von den Nationen, bis daß die Zeiten der Nationen erfüllt sein
werden." Und dies findet gegenwärtig statt. Noch wird Jerusalem zertreten; noch hat Christus Seine große Macht und Herrschaft nicht in die Hand genommen, wovon in einem der folgenden Kapitel der Offenbarung die Rede ist. Noch ruht der
Fluch der Verwüstung auf Jerusalem; noch sind die Zeiten der
Heiden nicht abgelaufen, wie bald sie auch ihr Ende erreichen
werden, und noch sitzt Christus zur Rechten des Vaters zufolge
des Wortes: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde
lege zum Schemel deiner Füße." Der Heilige Geist aber ist vom
Himmel gesandt, um zu verkünden, daß der von den Menschen
Verworfene im Himmel Aufnahme gefunden hat und daß die
Versöhnung vollbracht ist und Gnade vorhanden ist. Während
dieses Zeitraumes ist Israel beiseitegesetzt; die Zeiten der
Nationen setzen ihren Lauf ungehindert fort; und so lange
Christus beschäftigt ist, die himmlischen Heiligen als Seine
Miterben zu sammeln, findet keine Erfüllung statt; denn die
himmlischen Heiligen sind, wie bereits bemerkt, völlig mit Ihm
einsgemacht. Er schämt Sich nicht, sie Brüder zu nennen. Er ist
der Erstgeborene unter vielen Brüdern, die von Gott zuvor
bestimmt sind, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu sein.
Sie sind Glieder Seines Leibes; denn wir lesen im Epheserbrief:
„Niemand hat jemals sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern er
nährt und pflegt es, gleichwie auch der Christus die Versammlung. Denn wir sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch
und von seinen Gebeinen." — Auch erblickt man in den Heiligen
die Braut Christi; der Platz der Kirche Gottes ist an der Seite
Christi, wie der Platz Evas an der Seite Adams war; und Er ist
jetzt beschäftigt, die Heiligen zu sammeln, um sie diesen Platz
einnehmen zu lassen. Dies ist nicht die Erfüllung der Wege
Gottes bezüglich der Erde, sondern das Sammeln der Heiligen
für den Himmel; und während dieser Zeit sitzt Christus zur
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Rechten Gottes, bis alle Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße
gelegt sind. In Hebr 2 fügt der Apostel, nachdem er den 8. Psalm
angeführt hat, die Worte hinzu: „Jetzt aber sehen wir ihm
noch nicht alles unterworfen. Wir sehen aber Jesum, der ein
wenig unter die Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigt
war, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt." — Ich bemerke hier
im Vorbeigehen, daß, wenn man die Kirche im Alten Testament
sucht, man nur Christum findet, daß aber auch, wenn man die
Segnungen und die Herrlichkeit Christi findet, die Kirche stets
ihren Anteil daran hat.
Es ist selbstverständlich, daß die Kirche noch vor der Erfüllung
der Prophezeiungen Gottes in den Himmel aufgenommen sein
muß, weil Gott Seine Wege mit den Nationen in der letzten
Woche nicht beginnen kann, bevor das Sammeln der Heiligen,
der Miterben Christi, vollendet ist. Erst wenn Christus Seine
Miterben um Sich versammelt hat, tritt Er den Besitz des Erbes
an;und darum sind alle diese Wege Gottes*) gegenüber der Welt
aufgeschoben, bis die Kirche aufgenommen ist. In der Prophezeiung bis zum Ende der Offenbarung tritt nie die Kirche auf
den Schauplatz, es sei denn in Verbindung mit Christo. Ich
zweifle z. B. nicht, daß sich der „männliche Sohn" unseres
Kapitels sowohl auf Christum, als auch auf die Kirche bezieht;
aber vornehmlich ist Christus hier dargestellt, da die Kirche
ohne Christum gleich einem Leibe ohne Haupt sein würde.
Christus wurde zum Himmel entrückt; aber die Kirche ist mit
einbegriffen; denn sobald Er öffentlich zu handeln beginnt, so
muß, selbst bei dem Sturze Satans, Sein Leib, Seine Braut bei
Ihm sein. Er muß Seine Brüder, Seine Miterben um Sich haben.
Wir lesen: „Und sie gebar einen männlichen Sohn, der alle
Nationen mit eiserner Rute weiden soll; und ihr Kind wurde
entrückt zu Gott und zu seinem Throne" (V. 5). Auf der
einen Seite des Gemäldes sehen wir Christum verworfen von
dieser Erde und nichts habend; und auf der anderen sehen wir
Ihn zu Gott und zu Seinem Throne entrückt, wo Er zur Rechten
der Majestät in der Höhe Seinen Platz eingenommen hat. Diese
Stellung gehört persönlich nur Christo; aber wenn es sich darum
handelt, daß die Nationen mit eiserner Rute geweidet werden,
*) Wir reden natürlich nicht von der Vorsehung Gottes; denn nicht ein
Sperling fällt auf die Erde ohne Seinen Willen.
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so nehmen die Heiligen daran teil. In Psalm 2 lesen wir:
„Fordere von mir; und ich will dir zum Erbteil geben die Nationen, und zum Besitztum die Enden der Erde. Mit eisernem
Zepter wirst du sie zerschmettern, wie ein Töpfergefäß sie zerschmeißen." — „Fordere von mir!" Diese Forderung ist noch
nicht geschehen. Er hat für die Heiligen gebetet und nicht für
die Welt. „Ich bitte für sie; nicht bitte ich für die Welt, sondern
für die, die du mir gegeben hast" (Joh 17, 9). Er bittet nur dann
in betreff der Welt, wenn Er die Herrschaft über sie fordert;
und diese Forderung wird Ihm gewährt werden, weil sie den
Ratschlüssen Gottes entspricht. Er wird das Gericht, die eiserne
Rute, in Seine Hand nehmen; aber die Heiligen werden an
diesem Gericht teilnehmen. „Wisset ihr nicht, daß wir Engel
richten werden?" (1. Kor. 6, 3). „Wisset ihr nicht, daß die
Heiligen die Welt richten werden?" (1. Kor 6, 2). Auch lesen
wir in Offb 2 ausdrücklich, daß diese Rute sowohl der Kirche,
als auch Christo gegeben ist. „Wer überwindet und meine
Werke bewahrt bis ans Ende, dem werde ich Gewalt über die
Nationen geben; und er wird sie weiden mit eiserner Rute,
wie Töpfergefäße zerschmettert werden; wie auch ich von
meinem Vater empfangen habe" (Offb 2, 26. 27). Ebenso
lesen wir in Dan 7: „Bis der Alte an Tagen kam und das Gericht
den Heiligen der höchsten örter gegeben wurde" — Und
wiederum: „Und ich sah Throne, und sie saßen darauf; und es
wurde ihnen gegeben, Gericht zu halten" (Offb 20, 4).
Indes ist dies, obwohl es ein Teil von den Dingen ist, die wir
zu erwarten haben, doch nicht das gesegnetste Teil; denn das
besteht darin, daß wir bei Ihm sein werden. Es ist traurig zu
sehen, wie sehr die Christen das Gefühl dieser Segnungen und
dieser Herrlichkeit, das Gefühl ihres Einsseins mit Christo und
ihrer Stellung als Glieder Seines Leibes mit vielerlei Verrichtungen, als Seine Braut, verloren haben. Man pflegt zu sagen,
daß es genug sei, am Fuße des Kreuzes zu sitzen; aber wie sehr
ich es auch zu schätzen weiß, wenn ich jemanden zum Kreuze
gehen sehe, so finde ich es doch bedauernswürdig, wenn er
hier seine Schritte hemmt, als wollte er sagen: „Ich erkenne
nicht an, daß alles vollbracht ist. Ich bin zu unwürdig, um als
Priester durch den zerrissenen Vorhang in das Heiligtum einzugehen; darum muß ich draußen bleiben." — Eine Stellung,
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worin es an Freimütigkeit zum „Eingang in das Heiligtum durch
den Vorhang, das ist sein Fleisch" mangelt, ist eine höchst
beklagenswerte Stellung. Freilich gibt es keinen anderen Weg
als das Kreuz, um durch die enge Pforte einzugehen; aber stets
draußen am Fuße des Kreuzes stehen bleiben zu wollen, ohne
mit Freimütigkeit ins Heiligtum zu gehen, ist ein trauriger Irrtum. Wenn Ihr sagt, daß Euch die Gewißheit Eurer Errettung
mangelt, wie könnt Ihr Euch denn Christen nennen? Seid Ihr
wirklich Christen, so seid Ihr auch gerettet. Was nützt anders
der Name?
In dem soeben gelesenen 12. Kapitel der Offenbarung wird ausdrücklich erklärt, daß alle Prüfungen der Heiligen und die
gegen sie gerichteten Anklagen beendet sind, bevor die Prüfungen des jüdischen Volkes beginnen werden. In den ersten
sechs Versen findet man die, welche mit diesen letzten Tagen in
Verbindung stehen. Zuerst erblicken wir das Weib, „bekleidet
mit der Sonne und dem Mond unter ihren Füßen und auf ihrem
Haupte eine Krone von zwölf Sternen." Ohne Zweifel wird uns
in diesem Bilde das jüdische Volk gezeigt, weil Christus nicht
von der Kirche, sondern, bezüglich Seiner Stellung als König
Israels, von den Juden ist, aus denen der Christus nach dem
Fleische kommen sollte. Die „Sonne" als das Kleid des Weibes,
zeigt uns ihre Bekleidung mit der höchsten Gewalt; Der „Mond
unter ihren Füßen" stellt uns ihren vorigen Zustand vor Augen;
und die „Krone von zwölf Sternen auf ihrem Haupte" drückt
durch die Zahl „zwölf" die vollkommene Macht der Verwaltung
Gottes unter den Menschen aus. Wir sehen zwölf Apostel
sitzend auf zwölf Thronen und eine Stadt auf zwölf Grundlagen gebaut und mit zwölf Toren usw. — „Und sie ist schwanger und schreit in Geburtswehen und in Schmerzen zu gebären"
(V. 2). Es ist die Geburt Christi; und wir lesen in Jes 9: „Ein
Sohn ist uns geboren." Die Kirche kann dies nicht sagen. Wir
können sagen, daß wir in Ihm den Sohn Gottes erkennen, aber
nicht, daß uns in Ihm ein Sohn geboren ist. Seine Abstammung
nach dem Fleische ist aus den Juden.
Jetzt kommen wir zu der sich widersetzenden Macht, zu der
durch das römische Reich ausgeübten Macht Satans. „Und es
erschien ein anderes Zeichen im Himmel; und siehe, ein großer,
feuerroter Drache, der sieben Köpfe und zehn Hörner hatte,
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und auf seinen Köpfen sieben Diademe. Und sein Schwanz
zieht den dritten Teil der Sterne des Himmels mit sich fort, und
er warf sie auf die Erde. Und der Drache stand vor dem Weibe,
die im Begriff war zu gebären, auf daß er, wenn sie geboren
hätte, ihr Kind verschlänge" (V. 3.4). Das ist die Macht Satans,
die Christo widersteht und Seiner Autorität ein Ende zu machen
sucht. Natürlich vermochte er es nicht; aber eine Zeitlang hatte
es den Anschein, als ob es ihm gelungen wäre. „Und sie gebar
einen männlichen Sohn, der alle Nationen weiden soll mit
eiserner Rute; und ihr Kind ward entrückt zu Gott und zu
seinem Throne" (V. 5). Christus empfing nicht die Macht; Er
empfing nichts, sondern wurde zu Gott entrückt. Wir kennen
also die Personen in dieser Szene und erfahren jetzt das Schicksal des Weibes. „Und das Weib floh in die Wüste, wo sie eine
von Gott bereitete Stätte hat, auf daß man sie dort ernähre
tausend zweihundertsechzig Tage" (V. 6). Hier zeigt sich, wie
bereits erwähnt, in den Wegen Gottes betreffs der Welt eine
Unterbrechung, die, ohne nähere Bestimmung, den Zeitraum
zwischen der Entrückung Christi und Seiner Wiederkehr zur Aufnahme der Kirche ausfüllen wird. Dies ist nicht eine menschliche Behauptung; sondern in Dan 9 wird ausdrücklich gesagt,
daß der Messias erscheinen, verworfen und nichts haben werde,
so wie wir in Röm 11 lesen, daß Israel zum Teil Verstockung widerfahren sei, bis die Zeiten der Heiden erfüllt und die Juden zur
Buße geleitet sein werden. Auch sagt der Herr selbst: „Ihr
werdet mich nicht mehr sehen, bis ihr saget: Gelobet sei der da
kommt im Namen des Herrn!"
Wir haben also gesehen, daß die mit Christo vereinigte Kirche
zu Gott entrückt, und das Weib in die Wüste geflohen ist. Jetzt
aber folgen Ereignisse, die nicht die Kirche, sondern Israel und
die Welt betreffen. „Und es entstand ein Kampf in dem
Himmel: Michael und seine Engel kämpften mit dem Drachen.
Und der Drache kämpfte und seine Engel; und er siegte nicht
ob, auch wurde ihre Stätte nicht mehr in dem Himmel gefunden" (V. 7. 8). Die ganze Macht Satans wird aus dem
Himmel beseitigt werden, und diese Handlung steht im Gegensatz zu dem Resultat des Kampfes der Kirche auf Erden. „Denn
unser Kampf ist nicht wider Fleisch und Blut, sondern wider die
Fürstentümer, wider die Gewalten, wider die Weltbeherrscher
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dieser Finsternis, wider die geistlichen Mächte der Bosheit in
den himmlischen örtern" (Eph 6, 12). Das ist unser Kampf
zufolge des Vorrechtes, mit Christo in den himmlischen örtern
sitzen zu dürfen; und das Resultat dieses geistlichen Kampfes
ist die Verwerfung der Macht Satans. In der uns vorliegenden
Prophezeiung ist dieses alles beendet; denn laut tönt uns die
Freude der Bewohner des Himmels, der himmlischen Heiligen,
entgegen, wenn wir lesen: „Und es wurde geworfen der große
Drache, die alte Schlange, welcher Teufel und Satan genannt
wird, der den ganzen Erdkreis verführt, geworfen wurde er
auf die Erde, und seine Engel wurden mit ihm hinabgeworfen.
Und ich hörte eine laute Stimme in dem Himmel sagen: Nun
ist das Heil und die Macht und das Reich unseres Gottes, und
die Gewalt seines Christus gekommen; denn hinabgeworfen ist
der Verkläger unserer Brüder, der sie Tag und Nacht vor
unserem Gott verklagte. Und sie haben ihn überwunden um
des Blutes des Lammes und um des Wortes ihres Zeugnisses
willen, und sie haben ihr Leben nicht geliebt bis zum Tode!
Darum seid fröhlich, ihr Himmel und die ihr in ihnen wohnet!
Wehe der Erde und dem Meere!" (V. 9—12). — Wir sehen also,
wenn das himmlische Volk, die Kirche Gottes, sich der Verwerfung des Verklägers der Brüder und ihres Sieges über ihn
zu erfreuen berufen ist, daß Satan im gleichen Augenblick auf
die Erde herabstürzt, und zwar in großer Wut, weil er weiß,
daß er wenig Zeit hat. Großes Frohlocken erfüllt dann den
Himmel und zu gleicher Zeit entsetzliches Wehklagen die Erde,
wodurch klar der Gegensatz zwischen den Erben des Himmels
und den Bewohnern der Erde bezeichnet wird. „Darum seid
fröhlich, ihr Himmel und die ihr in ihnen wohnet! Wehe der
Erde und dem Meere! denn der Teufel ist zu euch hinabgekommen und hat große Wut, da er weiß, daß er wenig Zeit
hat. Und als der Drache sah, daß er auf die Erde geworfen war,
verfolgte er das Weib, welches das männliche Kind geboren
hatte" (V. 12, 13). — Hier sehen wir deutlich, daß das Weib
nicht die Kirche Gottes darstellt, weil diese berufen ist, sich über
das Ende ihrer Trübsale und der gegen sie gerichteten Anklagen
zu freuen. Sie hat durch das Blut des Lammes und durch ihr
eigenes Zeugnis überwunden, während die ganze Wut Satans
gegen das Weib gerichtet ist; sie befindet sich außer dem
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Bereich der Wut Satans, während sich diese Wut einem anderen
Gegenstand, nämlich dem jüdischen Volk zuwendet. Für Israel
ist dieses die Zeit der großen Trübsal. Der Herr sagte zu den
Juden: „Ich bin in dem Namen meines Vaters gekommen und
ihr nehmet mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen
Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen." — Weil sie den
wahren Christus verworfen hatten, waren sie genötigt, den
falschen aufzunehmen. Das unserer Betrachtung zugrunde gelegte Kapitel zeigt uns also unzweideutig, daß die Trübsale auf
der Erde in dem Augenblick beginnen, wo eine Klasse von Personen, die mit Christo vereinigt sind, zu Gott entrückt ist, die
beim Sturze Satans die Stimme des Frohlockens erhebt. „Und
als der Drache sah, daß er auf die Erde geworfen war, verfolgte
er das Weib, welches das männliche Kind geboren hatte. Und es
wurden dem Weibe die zwei Flügel des großen Adlers gegeben,
auf daß sie in die Wüste fliege, an ihre Stätte, woselbst sie
ernährt wird eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit, fern von
dem Angesicht der Schlange" (V. 13. 14). Während der Tage
großer Trübsale sorgt Gott in der Wüste für sie; sie entflieht
diesen Trübsalen mittels einer großen Macht, die uns als Flügel
eines großen Adlers dargestellt wird. Gott bringt sie in Sicherheit, jedoch nicht wie es bei Abraham geschah, der auf die Zerstörung Sodoms von der Höhe des Berges hinabschaute, sondern wie wir es bei Lot sehen, der dem Verderben durch die
Flucht entrann. Das frohlockende Volk des Himmels ist uns in
Abraham bildlich vorgestellt, und in Lot das Weib auf der Erde,
das, zum Entfliehen mit Flügeln eines großen Adlers versehen,
durch Gott gerettet wird. „Und die Schlange warf aus ihrem
Munde Wasser, wie einen Strom, hinter dem Weibe her, auf
daß sie sie mit dem Strome fortrisse. Und die Erde half dem
Weibe; und die Erde tat ihren Mund auf und verschlang den
Strom, den der Drache aus seinem Munde warf" (V. 15. 16).
Die Vorsehung wendet Mittel an, um die Juden aus den sie
umringenden, heftigen Verfolgungen zu erretten. „Und der
Drache ward zornig über das Weib und ging hin, Krieg zu
führen mit den übrigen ihres Samens, welche die Gebote Gottes
halten und das Zeugnis Jesu haben" (V. 17).
Ich werde jetzt auf eine mehr buchstäbliche Prophezeiung aufmerksam machen, um dem Verständnis betreffs der erwähnten
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Zwischenzeit oder der Zeit der Heiden*) zu Hilfe zu kommen.
In Jes 8, 13—15 lesen wir: „Jehova der Heerscharen, den sollt
ihr heiligen; und er sei eure Furcht und er sei euer Schrecken.
Und er wird zum Heiligtum sein; aber zum Stein des Anstoßes
und zum Fels des Straucheins den beiden Häusern Israels, zur
Schlinge und zum Fallstrick den Bewohnern Jerusalems. Und
viele unter ihnen werden straucheln und werden fallen, und
zerschmettert und verstrickt und gefangen werden." — Wir
wissen, daß der Herr Sich selbst als diesen Stein des Anstoßes
bezeichnete, indem Er sagt: „Wer auf diesen Stein fällt, wird
zerschmettert werden." — Wir lesen in Jes. 8 weiter: „Binde zu
das Zeugnis, versiegele das Gesetz unter meinen Jüngern. Und
ich will auf Jehova harren, der sein Angesicht verbirgt vor
dem Hause Jakob und will auf ihn hoffen. Siehe, ich und die
Kinder, die Jehova mir gegeben hat" (Jes. 8, 13—18). Wiewohl
Gott Sein Angesicht vor dem Hause Jakob verbirgt, sagt
Christus dennoch: „Ich will auf Jehova harren!" und fügt dann
hinzu: „Siehe, ich und die Kinder, die Jehova mir gegeben hat."
— Zu diesen gehören die Jünger Christi aus allen Zeiten. In Jes 9
finden wir das Ende von diesem allem. „Denn das Joch ihrer
Last und den Stab ihrer Schulter, den Stock ihres Treibers hast
du zerschlagen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel der
Gestiefelten im Getümmel, und jedes Gewand, das im Blut
gewälzt, die werden zum Brande, ein Fraß des Feuers. Denn ein
Kind ist uns geboren, ein Sohn uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und man nennt seinen Namen:
Wunderbarer, Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst. Die Mehrung der Herrschaft und der Friede werden kein
Ende haben auf dem Throne Davids und über sein Königreich,
um es zu befestigen und zu stützen durch Gericht und durch
Gerechtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit. Der Eifer Jehovas
der Heerscharen wird dieses tun" (Jes 9, 4—7). — In Jes 8 finden
wir also die Tatsache des Kommens Christi; wir sehen ihn hier
als einen Stein des Anstoßes und hören ihn sagen: „Und ich
will auf Jehova harren, der sein Angesicht verbirgt vor dem
Hause Jakob." Dann aber folgen Tage des schrecklichen Elends
für Israel; denn wir lesen: „Und es wird aufwärts schauen, und
*) Idi zweifle nicht, daß diese Zeiten in den Tagen Nebukadnezars ihren
Anfang genommen haben.
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wird zur Erde blicken: und siehe, Drangsal und Finsternis,
angstvolles Dunkel; und in dichte Finsternis ist es hineingestoßen" (Jes 8, 22). — Endlich aber folgt eine schreckliche
Schlacht — das Feuer des Gerichts Gottes; denn wir lesen in
Jes 9: „Sie werden zum Brande, ein Fraß des Feuers werden."
Wenn wir dann weiter lesen: „Ein Kind ist uns geboren", so
wissen wir, daß dieses geborene Kind Christus ist, von dem es
jedoch in Jes. 53 heißt: „Wir hielten ihn für gestraft, von Gott
geschlagen und niedergebeugt." — Wir finden also in diesen
Stellen die Offenbarung Seines Erscheinens, Seine Verwerfung
und Sein Vertrauen zu dem Ewigen, der Sein Antlitz über das
Haus Jakob verbirgt, sowie Sein mächtiges Ausrücken in die
Schlacht des Gerichts, wo Er „Krieg führt in Gerechtigkeit." —
Und nun wird Israel ein Sohn geboren, „und die Herrschaft
ruht auf seiner Schulter", um, sitzend auf dem Thron Davids,
der Erde einen dauernden Frieden zu geben. Noch ist dies nicht
erfüllt; noch wartet Er, während Gott Sein Antlitz vor dem
Haus Jakob verbirgt; aber einmal wird die Wartezeit enden.
Ich rede von diesen Dingen, um in unseren Seelen ein Verständnis über die Gesamtheit der Wege Gottes zu wecken.
Christus kam, wurde verworfen und zu Gott entrückt, und
sitzt, bevor Er Seine große Macht und Sein Reich offenbart, auf
dem Thron Seines Vaters. Unterdes verfolgen die Zeiten der
Heiden ihren Lauf. Noch hat Gott Sein Antlitz vor dem Haus
Jakob verborgen; und noch wird Jerusalem von den Füßen der
Heiden zertreten, bis deren Zeiten erfüllt sind. Die Wege
Gottes bezüglich der Regierung über diese Welt sind unterbrochen; und während dieser Zeit sammelt Christus durch den
Heiligen Geist Seine Miterben, um sie beim Offenbarwerden
Seiner großen Macht in Seiner Umgebung zu haben. Betrachten
wir jetzt zunächst die Erfüllung dieser Dinge in bezug auf die
Kirche, die ihrer Aufnahme entgegenharrt, um mit Christo vereinigt zu sein; später werden wir auch auf die Erfüllung dieser
Dinge betreffs der Juden unsere Aufmerksamkeit richten.
Die Auferstehung der Heiligen ist ihrer Natur, ihrer Zeit und
ihrem Charakter nach ganz verschieden von der Auferstehung
der Gottlosen. Beide Auferstehungen bilden einen entschiedenen Gegensatz zueinander. Die Auferstehung der Heiligen ist
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das Ergebnis einer besonderen Gunst Gottes, wie es die des
Herrn Selbst war; denn sie sind bereits errettet, haben das
ewige Leben und sind — allerdings nicht in sich selbst, sondern
in Christo — Gegenstände der Wonne Gottes. Schließlich werden
sie entrückt werden und, eine besondere Klasse bildend, als
nicht zu der Regierung dieser Welt gehörend betrachtet, ausgenommen daß sie Könige sind. Die Gottlosen hingegen,
wiewohl auch ihre Auferstehung außer allem Zweifel steht, da
Christus alle aus den Gräbern hervorrufen wird, werden auferstehen, nicht weil sie die Wonne Gottes, sondern weil sie
gerade das Gegenteil sind, und kein Leben in Christo haben.
bie werden vielmehr aus den Gräbern hervorkommen zur Auferstehung des Gerichts; dies ist die Verdammnis. Doch wollen
wir nicht länger hierbei verweilen. —
Ich werde jetzt alle Stellen, die von der Auferstehung handeln,
durchgehen, um zu zeigen, daß die Auferstehung der Heiligen
ihrer Natur, ihrer Zeit und ihrem Charakter nach einen besonderen Platz einnimmt und eine Folge der Versöhnung ist, ferner
daß ihre Erfüllung mit der Ankunft des Herrn zusammenfallen
wird, während Christus bei der Auferstehung der Gottlosen
nicht erscheint. Wie ernst ist dieser Gedanke für uns, meine
teuren Freunde! Der Herr wird am Tage Seiner Ankunft nur
die auferwecken, die teil an Seinem Leben und an der Versöhnung haben, um sie zu Sich in Seine Herrlichkeit einzuführen und mit ihnen in Herrlichkeit zu erscheinen, während
alle, die nicht Buße getan und Ihn nicht in ihrem Herzen aufgenommen haben, zu seiner Zeit nur zum Gericht auferweckt
werden, um unfehlbar das Urteil der Verdammnis zu hören.
Wie sehr wird daher unser Vertrauen gestärkt durch die Worte:
„Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knechte! denn vor dir ist
kein Lebendiger gerecht." Fühlt ihr, meine teuren Freunde, die
Bedeutung dieser Wahrheit, die sozusagen direkt auf den Zustand unserer Seelen angewendet ist? Es gibt kein Gericht ohne
Verdammnis. Kein Mensch, mit dem Gott ins Gericht geht,
findet Rettung; denn das Urteil Gottes ist bereits klar und
bestimmt in den Worten ausgesprochen: „Da ist kein Gerechter,
auch nicht einer." Unmöglich wird der große weiße Thron eine
andere Sprache führen. Und die Sprache tönt in unsere Gewissen; aber von dem Gerichtstage, der den zukünftigen Zorn
17
zur Schau stellen wird, erscheint Christus zu unserer Befreiung,
Sobald Er in unseren Herzen aufgenommen ist, sind wir errettet
von diesem Zorn und nehmen mit Ihm denselben Platz ein.
Er ist unsere Gerechtigkeit, unser Leben, unser Alles.
Bevor wir indes die Stellen, die sich auf die Auferstehung beziehen, näher betrachten, bemerke ich noch, daß das Gericht
Gottes in der Tat nichts anderes sein kann, als die Verdammnis.
Wir haben Gott durch die Sünde zu einem Richter gemacht.
Gott hätte Adam nicht richten können, wenn er geblieben wäre,
wie Gott ihn geschaffen hatte; denn würde Er die von Ihm
geschaffenen Dinge richten, so wäre dieses ein Gericht gegen
Sich selbst. „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und
siehe, es war sehr gut." Adam kam ins Gericht, weil er Gott
verlassen, Satan geglaubt und sich der Sünde zugewendet hatte.
Was anders kann daher das Gericht sein, als die Verdammnis?
Gott kann uns durch Christum davon befreien; und unser
Gebet muß daher sein: „Gehe nicht mit uns ins Gericht"; denn
„es ist kein Gerechter, auch nicht einer." —
Die Auferweckung der Heiligen ist mithin das Resultat der
Befreiung Christi, während wir in der anderen Auferstehung
die Ausübung des gerechten Gerichts betreffs derer erblicken,
die ihren Nacken gegen die in Christo dargebotenen Erbarmungen Gottes gesteift haben und sich nach ihrer Störrigkeit
und ihrem unbußfertigen Herzen Zorn aufhäuften für den Tag
des Zorns und des gerechten Gerichts Gottes (Röm 2, 5).
Was nun die Natur und den Charakter der Auferstehung der
Heiligen betrifft, so lesen wir in Röm 8, 11: „Wenn aber der
Geist dessen, der Jesum aus den Toten auferweckt hat, in
euch wohnt, (d. h. wenn ihr Christen seid; denn wer den Geist
Christi nicht hat, ist nicht Sein) so wird er, der Christus aus den
Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig
machen wegen seines in euch wohnenden Geistes." Dieses hat
keineswegs Bezug auf die Gottlosen. Ihre Auferstehung ruht
auf einem ganz anderen Grundsatz. Nicht sie, sondern wir,
wenn wir anders errettet und mit dem Heiligen Geiste versiegelt
sind, werden in der Kraft des Heiligen Geistes auferweckt
werden. —
Wir wenden uns jetzt zu Joh 5, 21, wo wir die Worte lesen:
18
„Denn gleichwie der Vater die Toten auf erweckt und lebendig
macht, also macht auch der Sohn lebendig, welche er will. Denn
auch der Vater richtet niemanden, sondern das ganze Gericht
hat er dem Sohne gegeben, auf daß alle den Sohn ehren, wie
sie den Vater ehren.*) Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater
nicht, der ihn gesandt hat." — Wir sehen also, daß beide, der
Vater und der Sohn, lebendig machen, aber daß der Vater
niemanden richtet, sondern das ganze Gericht den Händen des
Sohnes anvertraut hat; und jetzt besteht für uns die Frage, ob
wir Gegenstände dieser lebendigmachenden Kraft oder des
Gerichts sein werden. — „Wer mein Wort hört und glaubt dem,
der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins
Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen" (Joh 5, 24). — Christus hat Seine lebendigmachende
Kraft ausgeübt und wird darum die Gegenstände dieser Macht
nicht ins Gericht führen. — „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch,
daß die Stunde kommt und ist jetzt, da die Toten die Stimme
des Sohnes Gottes hören werden; und die sie gehört haben,
werden leben" (Joh 5, 25). — Selbstverständlich handelt es sich
hier um die geistliche Lebendigmachung. — „Denn gleichwie der
Vater Leben in sich selbst hat, also hat er auch dem Sohne
gegeben, Leben zu haben in sich selbst; und er hat ihm Gewalt
gegeben, auch Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn ist.
Wundert euch darüber nicht; denn es kommt die Stunde, in
welcher alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören und
hervorkommen werden: die das Gute getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber das Böse verübt haben, zur
Auferstehung des Gerichts" (Joh 5, 26—29). — Hier handelt es
sich um eine Auferstehung zum Leben und um eine Auferstehung zum Gericht. Die Dauer des Zeitraumes, der diese
beiden Ereignisse trennt, hat mit der Sache selbst, nämlich, daß
es zwei verschiedene Auferstehungen gibt, nichts zu schaffen.
Da wo eine geistliche Lebendigmachung stattgefunden hat, gibt
es kein Gericht, weil ein Übergang aus dem Tode ins Leben
bewirkt worden ist; aber wenn der Leib tot ist, so muß er,
damit das Leben vollständig sei, auferweckt werden. Die Leiber
müssen mit der Stellung, die sie einnehmen sollen, in Harmonie
gebracht werden. Andererseits aber werden die, welche Böses
*) Selbst die Gottlosen werden gezwungen sein, Ihn zu ehren.
19
getan haben, zum Gericht auferstehen. — Wenn wir lesen: „Die
Stunde kommt, in welcher usw.", so hat dieses keineswegs die
Bedeutung, als ob die beiden Auferstehungen zu gleicher Zeit
stattfinden würden. Wenn ich z. B. von einer Stunde der Größe
Napoleons reden würde, so bezeichnete ich damit die Periode
seiner Größe im Gegensatz zu der Periode seines Verfalls; und
ebenso wissen wir auch, daß die Stunden der geistlichen
Lebendigmachung bereits neunzehn Jahrhunderte gedauert hat.
Es ist, als ob der Herr sagen wollte: „Es gibt eine Zeit der
Lebendigmachung und eine Zeit des Richtens und mithin auch
eine Zeit des Auferweckens." Hier zeigen sich zwei verschiedene Charaktere der Macht Christi: die Lebendigmachung und
das Richten. Die einen, denen das geistliche Leben durch die
Gnade geschenkt ist, haben teil an der Auferstehung des
Lebens; die anderen aber, denen dieses Leben mangelt, haben
teil an der Auferstehung des Gerichts, nämlich der Verdammnis.
Dies ist der große Grundsatz, der in dieser Stelle vor unsere
Seele tritt. —
Wenden wir uns zu anderen Stellen, die uns neue Seiten dieses
Gegenstandes zeigen. Auf eine Frage, die in Luk 20, 34-36 die
Sadducäer an den Herrn richteten, um Ihn zu versuchen, antwortete Er: „Die Söhne dieser Welt heiraten und werden verheiratet; die aber würdig geachtet werden, jener Welt teilhaftig
zu sein und der Auferstehung aus den Toten, heiraten nicht,
noch werden sie verheiratet; denn sie können auch nicht mehr
sterben; denn sie sind Engeln gleich, und sind Söhne Gottes,
weil sie Söhne der Auferstehung sind." — Was heißt „für
würdig geachtet werden jener Welt und der Auferstehung aus
den Toten"? Wir sehen, daß es eine besondere Begünstigung
ist. Alle aber, welche die Auferstehung aus den Toten erlangen,
sind „Engeln Gottes gleich, und sind Söhne Gottes, weil sie
Söhne der Auferstehung sind." Das kann doch unmöglich von
denen gesagt werden, die zur Verdammnis auferstehen.
In 1. Kor 15 finden wir eine deutliche Bestätigung dieser
Wahrheit. „Denn gleichwie in dem Adam alle sterben, also
werden auch in dem Christus alle lebendig gemacht werden. Ein
jeder aber in seiner eigenen Ordnung: der Erstling, Christus;
sodann die, welche des Christus sind bei seiner Ankunft." —
Finden die Gottlosen in dieser Ordnung etwa auch einen Platz?
20
Keineswegs. „Dann das Ende." — Es kommt also eine Zeit, wo
auch andere auferstehen werden; aber nur die, welche des
Christus sind, werden bei Seiner Ankunft zur Auferstehung
gelangen, eine Sache, die mit der Wahrheit der Erlösung in
Verbindung steht. Viele erkaufte Seelen mögen dieses nicht
erkennen; aber dennoch bleibt es wahr, daß die Auferstehung
des Lebens eine Wirkung der Erlösung ist. Die Worte: „Wer
mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat das
ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem
Tode in das Leben übergegangen", werfen einen Lichtstrahl
auf dieses glorreiche Ereignis. Leider hat die Kirche diese Wahrheit aus dem Auge verloren. —
In Phil 3 hebt der Apostel die Auf erstehung als den Gegenstand
seiner Hoffnung hervor, indem er sagt: „daß ich in ihm erfunden werde, indem ich nicht meine Gerechtigkeit habe, die
aus dem Gesetz ist, sondern die durch den Glauben an Christum
ist, die Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben, um ihn zu
erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, indem ich seinem Tode gleichgestaltet
werde, ob ich auf irgend eine Weise hingelangen möge zur
Auferstehung aus den Toten." — Welches ist nun die wichtige
Sache, um derentwillen der Apostel dem Tode Christi gleichgestaltet zu werden wünscht? Ist es nicht die Auferstehung aus
den Toten? Würde er sich aber einer solchen Sprache bedienen,
wenn alle Menschen, die Gottlosen wie die Gerechten, teil hätten
an dieser Auferstehung und späterhin noch eine Scheidung
stattfinden müßte? Gewiß nicht. Überhaupt ist nichts ungereimter als der Gedanke eines allgemeinen Gerichts, wiewohl
wir alle vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden müssen.
Denken wir z. B. an den Apostel. Bereits neunzehnhundert
Jahre ist er ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei
dem Herrn. Wie? sollte er dennoch gerichtet werden? Er ist bei
dem Herrn, weil er dazu durch die Gnade ein Recht hatte; und
wollte man jetzt noch von Gericht sprechen, so wäre das höchst
töricht. Ach, wie sehr hat die Kirche Gottes das Gefühl ihrer
Erlösung, als vollbrachte Tatsache, verloren! Hat der Tod Christi
meine Sünden hinweggenommen und mir einen Platz bei Ihm
selbst angewiesen, bin ich durch den Heiligen Geist mit dem
Herrn vereinigt, wie kann dann noch von Gericht die Rede sein?
21
Wenn ich dieses glaube, verliere ich meine wahre Stellung. —
Dafür werde ich jetzt Beweise liefern.
Richten wir unsere Aufmerksamkeit nochmals auf 1. Kor 15.
Nachdem uns der Apostel die Ordnung der ersten Auferstehung gezeigt hat, teilt er uns unzweideutig mit, daß nur die
Heiligen daran teilhaben werden, indem er sagt: „Also ist auch
die Auferstehung der Toten. Es wird gesät in Verwesung, es
wird auferweckt in Unverweslichkeit. Es wird gesäet in Unehre,
es wird auferweckt in Herrlichkeit." — Ist es möglich, diese
Worte auf eine allgemeine Auferstehung anzuwenden? Werden
die Gottlosen auferstehen in Herrlichkeit? Unmöglich kann
man eine einzige Stelle lesen, die sich auf die erste Auferstehung bezieht, ohne zu sehen, daß nicht nur die Gottlosen
keinen Teil daran haben, sondern daß es sich entschieden um
die Auferstehung der Heiligen handelt, weil sie erkauft sind
und das Leben in Christo haben. Diese Auferstehung berührt
stets die Wurzel der Frage unserer Erlösung. — Ebenso werden
die Worte des Apostels in 1. Thess 4, die ich schon früher
bezüglich der Ankunft Christi anführte, auch hier am Platze
sein. „Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit
der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel; und die Toten in Christo werden
zuerst auferstehen." — Also die Toten in Christo, sonst niemand. In der Tat zieht sich diese Hauptwahrheit durch das
ganze Neue Testament, daß, so wie Christus durch TotenAuferstehung dem Geiste der Heiligkeit nach als Sohn Gottes
in Kraft erwiesen ist, (Röm 1, 4) auch wir, indem wir in dem
dazu bestimmten Augenblick die Auferstehung des Leibes
erlangen, als Söhne Gottes bezeichnet werden. —
Wenn ich die Stelle in Offb 20, 5 anführe, so geschieht dies, um
zu beweisen, daß ein Zeitraum von tausend Jahren die beiden
Auferstehungen trennt. Aber ob es tausend Jahre oder tausend
Tage sind, darauf kommt es nicht an; hier gilt es nur, die Frage
zu entscheiden, daß die Auferstehung der Heiligen und die der
Gottlosen zwei verschiedene Ereignisse sind. Die Auferstehung
der Heiligen charakterisiert sich dadurch, daß Gott die aus den
Gräbern hervorruft, an denen Er Seine Wonne hat, und die
bereits erkauft und durch Seinen Geist lebendig gemacht wor22
den sind. Weil Gottes Geist in ihnen wohnt, werden sie auferweckt, um bei Christo in der Herrlichkeit zu sein, während
die andere Auferstehung — mag sie 1000 Tage oder 1000 Jahre
später stattfinden — sich als die Auferstehung zum Gericht,
mithin als eine ganz andere Sache erweist. Auch in Joh 14 finden
wir diese Wahrheit vollkommen bestätigt. „Ich gehe hin, euch
eine Stätte zu bereiten; und wenn ich hingehe und euch eine
Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir
nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr seid." — Wir sehen also,
daß, wenn Christus uns, und zwar bei Seiner Ankunft, abholen
wird, Er uns zu Sich nimmt, auf daß wir seien, wo Er ist. —
Und dennoch hat man sich bemüht, Beweise für die irrige Lehre
einer allgemeinen Auferstehung ausfindig zu machen, indem
man in Ermangelung einer Stelle, die speziell von der Auferstehung spricht, Matthäus 25 anführt, wo von einer Scheidung der Schafe von den Böcken, nicht aber von der Auferstehung selbst die Rede ist. In Kap. 24 hat der Herr von den
Wegen Gottes betreffs der Juden bis zur Ankunft Christi gesprochen, dann bezeichnet Er Seine Wege mit den Heiligen,
sowie die mit den Nationen, und redet schließlich von der Zeit,
wo Er in Herrlichkeit kommen und Sich auf den Thron Seiner
Herrlichkeit setzen wird, um alle Nationen zum Gericht vor
Sich zu versammeln. Aber dies eben ist das Gericht, welches
viele aus dem Auge verloren haben, indem sie übersehen, daß
es sowohl ein Gericht der Lebendigen, als auch der Toten gibt
und daß jenes ebenso schrecklich wie dieses sein wird.
Wenden wir uns jetzt dem 22. Kapitel der Offenbarung zu. In
den vorhergehenden Kapiteln finden wir die Zerstörung
Babylons, weil in ihr das Blut von Propheten und Heiligen
gefunden worden ist, dann das Gericht der Bösen auf der Erde,
und endlich die Hochzeit des Lammes mit den Heiligen und ihr
Erscheinen mit Ihm, wenn Er kommt, um das Tier zu zerstören.
„Und die Kriegsheere, die in den Himmeln sind, folgten ihm"
Offb 19, 14. — In der Tat werden bei der Wiederkunft Christi
alle Heiligen mit Ihm kommen, denn wir lesen: „DerHerr,mein
Gott, wird kommen, und alle seine Heiligen mit ihm"; und
wiederum: „Siehe, der Herr ist gekommen inmitten seiner heiligen Tausende" Judas 14;—und wiederum: „Wenn der Christus,
23
unser Leben, geoffenbart werden wird, dann werdet auch ihr
mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit." Hier in der Offenbarung sieht man sie bildlich in weißen Kleidern (die Gerechtigkeit der Heiligen darstellend) erscheinen. Ich führe dieses nur
an, um ihren Platz zu bezeichnen, den sie einnehmen werden.
Wird also Christus als König der Könige und als Herr der
Herren mit Seinen Heiligen erscheinen, dann werden das Tier
und der falsche Prophet vernichtet werden. Satan wird gebunden, und Johannes fügt hinzu: „Und ich sah Throne, und
sie saßen darauf, und es wurde ihnen gegeben, Gericht zu halten;
und die Seelen derer, die um des Zeugnisses Jesu und um des
Wortes Gottes willen enthauptet waren, und die, welche das
Tier nicht angebetet hatten, noch sein Bild und das Malzeichen
nicht angenommen hatten an ihre Stirn und an ihre Hand; und
sie lebten und herrschten mit dem Christus tausend Jahre"
(Offb 20, 3. 4). Hier haben wir also die Heiligen, denen das
Gericht übergeben ist, vor uns; sie sitzen auf Thronen und
herrschen mit Christo tausend Jahre. „Die übrigen der Toten
wurden nicht lebendig, bis die tausend Jahre vollendet waren.
Dies ist die erste Auferstehung" (V. 5). — Hier sehen wir die
Ungereimtheit dessen, was man das geistliche tausendjährige
Reich nennt. Wie ernst und betrübend ist es, den Einfluß zu
sehen, den ein solcher Irrtum auf die Seelen ausübt! Alles, was
die Kirche betrifft, ist vollendet; und, nachdem die Braut bereitet ist und die Hochzeit des Lammes stattgefunden hat,
kommt Christus, begleitet von den Kriegsheeren Seiner Heiligen, um das Gericht über das Tier und den Propheten zu
vollziehen. Dennoch ist man bemüht, das tausendjährige
Reich als einen zukünftigen Zustand der Kirche auf Erden darzustellen. Aber angenommen, daß dieses angekündigte Reich
bildlich zu fassen sei, so kann doch nicht geleugnet werden, daß,
wenn die Braut oben ist und die Hochzeit des Lammes vorüber
ist, es sich nicht mehr um den Zustand der Kirche auf Erden
handeln kann. Zudem wird Satan im tausendjährigen Reich
gebunden sein, während die Kirche ihn zu überwinden hat. „Der
Gott des Friedens aber wird in kurzem den Satan unter eure
Füße zertreten." — Unsere Stellung auf Erden bleibt stets die
des Kampfes, „nicht wider Fleisch und Blut, sondern wider die
geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen örtern",
24
während, wenn das Lamm mit Seinen Heiligen ersdieint, Satan
gebunden wird und die Zeit der tausend Jahre ihren Anfang
nimmt.
Ich mache bei dieser Gelegenheit auf die Verbindung zwischen
einer Stelle in 1. Kor 15 und einer ähnlichen in Jes 25 aufmerksam, wodurch uns die Beziehung der Auferstehung der Heiligen zu der Wiederherstellung der Juden klar vor Augen treten
wird. Der Apostel sagt: „Wenn aber das Verwesliche Unverweslichkeit anziehen, und das Sterbliche Unsterblichkeit
anziehen wird, dann wird das Wort erfüllt werden, das geschrieben steht: Verschlungen ist der Tod in Sieg". Ein Blick
in Jesaja 25 belehrt uns nun, daß dies in jener Zeit stattfinden
wird, in der die Juden wieder in ihr Land zurückgekehrt sind,
und die wir das für alle Nationen so gesegnete tausendjährige
Reich nennen. Dort lesen wir: „Wie die Glut in einem dürren
Lande beugtest du der Fremden Ungestüm; wie die Glut durch
einer Wolke Schatten wurde gedämpft der Gewalttätigen Siegesgesang. Und Jehova der Heerscharen wird auf diesem Berge
allen Völkern ein Mahl von Fettspeisen bereiten, ein Mahl von
Hefenweinen, von markigen Fettspeisen, geläuterten Hefenweinen. Und er wird auf diesem Berge den Schleier vernichten,
der alle Völker verschleiert, und die Decke, die über alle Nationen gedeckt ist. Den Tod verschlingt er auf ewig" (Jes 25,5—7).
— In 1. Kor 15 wird uns nun die Auferstehung als der Augenblick bezeichnet, in dem diese Ereignisse in Erfüllung gehen
werden; denn es heißt: „Dann wird das Wort erfüllt werden,
welches geschrieben steht: Verschlungen ist der Tod in Sieg." —
Es scheint also, daß die Zeit der Auferstehung zugleich die Zeit
ist, in welcher der Herr auch Israel wiederherstellen wird, indem
er es in Zion einführt und den Schleier vor dem Angesicht aller
Nationen wegnimmt. Wir lesen in Habakuk 2, 13. 14: „Siehe,
ist es nicht von Jehova der Heerscharen, daß Völker fürs Feuer
sich abmühen, und Völkerschaften vergebens sich plagen? Denn
die Erde wird voll werden von der Erkenntnis der Herrlichkeit
Jehovas, gleichwie die Wasser den Meeresgrund bedecken." —
Dies wird der Zustand der Erde im tausendjährigen Reich sein,
nachdem die Menschen fürs Feuer gearbeitet und sich vergeblich
abgemüht haben. Jesaja fährt in Kapitel 26, 10. 11 fort: „Wird
dem Gesetzlosen Gnade erzeigt, so lernt er nicht Gerechtigkeit:
25
im Lande der Geradheit handelt er unrecht und sieht nicht
die Majestät Jehovas. Jehova, deine Hand war hoch erhoben,
sie wollten nicht schauen. Schauen werden sie den Eifer um das
Volk und beschämt werden; ja, deine Widersacher, Feuer wird
sie verzehren." — Welch ein Grad von Bosheit! Wenn den Gottlosen Gnade angeboten wird, wollen sie nicht Gerechtigkeit
lernen; nur wenn sich die Gerichte Gottes auf der Erde zeigen,
dann „lernen die Bewohner des Erdbodens Gerechtigkeit" (V. 9).
Wir sehen also aus diesem allem, daß das tausendjährige Reich
nicht in geistigem Sinne aufzufassen ist; denn jedesmal, wenn
Gott von der Erde sagt, daß sie voll von Erkenntnis der Herrlichkeit des Herrn sein werde, steht dieses in Verbindung mit
dem Gericht, während nirgends die Schrift dem Gedanken
Raum gibt, daß das Evangelium unter allen Nationen verbreitet
werden und daß es sie unter den Gehorsam Christi bringen
würde. Erst wenn die Fülle der Heiden eingekommen sein wird,
wird die Errettung Israels ihren Anfang nehmen.
Liebe Freunde! nachdem ich nun glaube, alle Stellen des Neuen
Testaments, die sich auf die Auferstehung beziehen, vor Eure
Seelen geführt zu haben, werdet Ihr hoffentlich alle mit mir die
Überzeugung teilen, daß nach allen diesen Stellen die Auferstehung der Heiligen, weil sie auf deren Erlösung gegründet
ist, sich gänzlich unterscheidet von der Auferstehung der Gottlosen, indem die Heiligen das Leben Christi besitzen, ein Leben,
dessen Macht durch die Auferweckung ihres Leibes erwiesen
wird. Dann, daß zweitens die Auferstehung zum Leben und die
Auferstehung zum Gericht zwei verschiedene Ereignisse sind,
weil ein Zeitraum von tausend Jahren sie voneinander trennt;
und daß endlich drittens, während die erste Auferstehung das
Resultat der Erlösung ist, die andere nur eine Folge der Verwerfung sein kann. Die Zeit erlaubt mir nicht, näher auf den
Gegenstand der Wiederherstellung der Juden einzugehen; aber
ich kann nicht schließen, ohne diesen ernsten Wahrheiten noch
einige Worte zu widmen.
Christus ist gekommen, um zu erretten, bevor das Toben der
Gerichte begonnen hat. Wenn Er kommt, um zu richten, dann
kann niemand mehr Rettung finden, ja, dann wird kein Fleisch
gerechtfertigt werden, weil kein Gerechter da ist, auch nicht
26
einer. Darum hat der Herr ein vollkommenes Heil gebracht,
damit der Mensch dem Gericht entfliehen könne, ein Heil, das
uns von dem kommenden Zorn befreit. Es gibt einen kommenden Zorn; aber es gibt auch eine Befreiung von ihm. Gott
ist in Gnaden dazwischengetreten und rettet uns nicht nur von
dem Zorn, sondern gibt uns auch einen Platz mit Seinem eigenen Sohn. Nicht nur sind uns unsere Sünden vergeben, sondern
wir sind auch mit Christo vereinigt, ein Geist mit Ihm. Er ist
der Erstgeborene unter vielen Brüdern und wir sind die Glieder
Seines Leibes, von Seinem Fleisch und Seinem Bein. So wie der
Mensch sein eigenes Fleisch pflegt, so widmet Christus Seine
ganze Sorgfalt Seiner Kirche oder Versammlung; und Sein
Gebet lautet: „Vater, ich will, daß die, die du mir gegeben
hast, auch bei mir seien, wo ich bin." Wenn Er erscheint, werden wir mit Ihm erscheinen; und wenn Er richtet, werden die
Heiligen bei Ihm auf Thronen sitzen und das Gericht ausführen
helfen; denn der Apostel sagt: „Wisset ihr nicht, daß die
Heiligen die Welt richten werden?" (1. Kor 6, 2).
Liebe Freunde! Sind das auch eure Gedanken in betreff der
Erlösung? Glaubt auch ihr, daß diese Welt eine verurteilte Welt
ist? Ich weiß wohl, daß dies für das Ohr der Welt eine unerträgliche Sprache ist; aber sie wird es einräumen müssen,
wenn sie zum Gericht auferweckt werden wird. Die einzelnen
Seelen werden geprüft; aber behaupten zu wollen, daß die Welt
als solche sich in einem Prüfungszustande befinde, ist ein
großer Irrtum. Christus ist gekommen, zu suchen und selig zu
machen, was verloren ist; ein verlorener Mensch aber befindet
sich nicht in einem Zustande, um geprüft zu werden. Wenn wir,
als Gläubige, gerichtet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht mit der Welt verurteilt werden. Was
die Welt betrifft, so ist ihre Verdammnis eine beschlossene
Sache. Was fühlt ihr bei dem Gedanken, daß dieser Schauplatz,
auf dem ihr lebt, eine verurteilte Welt ist, die den Herrn verworfen hat, indem sie gesagt hat: „Dieser ist der Erbe; laßt uns ihn
töten," und von der Er einst sagte: „Jetzt ist das Gericht dieser
Welt"; und: „Die Welt wird mich nicht mehr sehen"; und:
„Wenn der Sachwalter gekommen ist, wird er die Welt überführen von Sünde und von Gerechtigkeit und von Gericht. Von
Gerechtigkeit, weil ich zu meinem Vater gehe und ihr mich nicht
27
mehr sehet."? — Aber eben weil die Welt verurteilt ist, ist uns
eine Erlösung angeboten, ein neues Leben, „der letzte Adam"
anstatt des ersten Menschen Adam, und alle Verheißungen
Gottes sind Ja und Amen in Ihm. Nicht dem ersten Menschen,
Adam, welcher sündigte, sondern dem Samen des Weibes wurde
die Verheißung gegeben, daß er der Schlange den Kopf zertreten werde; also dem letzten Adam und nicht dem ersten
gehört die Verheißung. Wir haben in Christo nicht nur die
Vergebung, sondern auch die Herrlichkeit. Wir sind eins mit
Ihm, — sind Seine Braut und haben unseren Platz nicht nach
dem Verdienst des ersten, sondern des zweiten Adam.
Faßt ihr diese gesegnete Wahrheit, meine Freunde? Möge der
Herr es euch geben, tiefer als bisher zu fühlen, was es heißt, in
einer Welt zu sein, die Ihn verwarf, und zugleich in einem
glücklichen Herzen das Bewußtsein zu tragen, daß ihr Ihm,
der in Seiner unaussprechlichen Liebe für uns litt und starb,
gehuldigt und Ihn als euren Heiland empfangen habt. —
IV.
(Röm 11)
Die Heilige Schrift behandelt außer unserem persönlichen Heil
zwei wichtige Gegenstände, nämlich die Kirche und die Regierung über die Welt. Der letztere dieser beiden Gegenstände
leitet unverzüglich unsere Aufmerksamkeit auf Israel, als
seinen Mittelpunkt, während die Kirche den Mittelpunkt der
himmlischen Herrlichkeit unter Christo bildet, unter dem alle
Dinge in den Himmeln und auf der Erde, als unter ihrem
Haupte in eins vereinigt werden sollen.
Freilich wird sich die Regierung der Welt über die ganze Erde
erstrecken; aber das jüdische Volk wird die königliche Nation,
der Sitz und der Mittelpunkt dieser Regierung sein. Jerusalem,
als der Mittelpunkt der Anbetung und der Regierung, ist der
Platz, wohin sich alle Nationen begeben werden, so wie es von
Anfang an nach der bemerkenswerten Stelle in 5. Mo 32, 8 u. 9
angeordnet ist. „Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da stellte
er fest die Grenzen der Völker nach der Zahl der Kinder Israel.
28
Denn Jehovas Teil ist sein Volk, Jakob die Schnur seines
Erbteils." Die Schwierigkeit, die dieser Gegenstand für viele
zeigt, drückt sich in der Frage aus: Wie? wird dieses Volk,
wenn es, wegen seiner Sünden, wegen seines Götzendienstes
und der Verwerfung Jesu Christi verworfen ist und die Kirche
und das Reich der Himmel eingerichtet sind, wiederhergestellt
werden? Wird es sich nicht vielmehr mit der Christenheit vermengen? — Doch ein solcher Einwand findet weder in den
Prophezeiungen des Alten Testaments, noch in den Darstellungen des Neuen irgendeinen Grund; und ich werde zu seiner
Widerlegung zunächst aus dem Neuen Testament schöpfen und
dann zu Zeugnissen des Alten Testaments übergehen, die bestimmt und unmittelbar zu diesem auserwählten Volke Gottes
in Beziehung stehen.
In Röm 11 lesen wir: „Ich sage nun: Hat Gott etwa sein Volk
verstoßen? Das sei ferne! .. . Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erkannt hat." — Und nachdem also die
Tatsache ihrer Verwerfung festgestellt ist, zeigt der Apostel,
daß diese Züchtigung die Versöhnung der Welt ist, indem er
hinzufügt: denn wenn ihre Verstoßung die Versöhnung der Welt
ist, was wird aber ihre Annahme anders sein, als Leben aus den
Toten? . .. Wenn aber einige der Zweige ausgebrochen worden
sind, und du, der du ein wilder Ölbaum warst, unter sie eingepropft und der Wurzel und der Fettigkeit des Ölbaums mit teilhaftig geworden bist, so rühme dich nicht wider die Zweige. Wenn
du dich aber wider sie rühmst—du trägst nicht die Wurzel, sondern die Wurzel dich. Du wirst nun sagen: Die Zweige sind ausgebrochen worden, auf daß ich eingepfropft werde. Recht, sie sind
ausgebrochen worden durch den Unglauben; du aber stehst
durch den Glauben. Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich;
denn wenn Gott die natürlichen Zweige nicht geschont hat, daß er
auch dich etwa nicht schonen werde. Siehe nun die Güte und die
Strenge Gottes; gegen die, welche gefallen sind, Strenge; gegen
dich aber Güte Gottes, wenn du an der Güte bleibst; sonst
wirst auch du ausgeschnitten werden. Und auch jene, wenn sie
nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn
Gott vermag sie wiederum einzupfropfen. Denn wenn du aus
dem von Natur wilden Ölbaum ausgeschnitten und wider die
29
Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wieviel
mehr werden diese, die natürlichen Zweige, in ihren eigenen
Ölbaum eingepfropft werden" (Röm 11,15.17—24).
Der Apostel warnt also die Heidenchristen vor dem bereits
angedeuteten Irrtum, indem er ihnen bezeugt, daß sie, wie wir
es bei Behandlung dieses Gegenstandes noch deutlicher sehen
werden, in Gefahr seien, auch ihrerseits ausgeschnitten zu
werden. Im 25. Vers fährt er weiter fort: „Denn ich will nicht,
Brüder, daß euch dieses Geheimnis unbekannt sei, auf daß ihr
nicht euch selbst klug dünket, daß Verstockung Israel zum Teil
widerfahren ist, bis daß die Vollzahl der Nationen eingegangen
sein wird, und also wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: Es wird aus Zion der Erretter kommen, er wird
die Gottlosigkeiten von Jakob abwenden." Sie sind also zum
Teil, und zwar bis zur Entrückung der Kirche, beiseite gesetzt;
dann aber, wenn die ganze Kirche gesammelt worden ist, wird
ein Erretter, Christus, aus Zion kommen und ihre Gottlosigkeiten abwenden. Jedoch geschieht dies nicht mittels des Evangeliums, so wie es jetzt gepredigt wird; denn er fügt hinzu:
„Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde, um euretwillen, hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte, um der Väter
willen; denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind
unbereubar" (Verse 28-29).
Hier finden wir die Wege Gottes bezüglich Israels klar dargestellt. Für eine Zeit, während der die Kirche, die Fülle der
Heiden, berufen wird, sind sie zum Teil der Verstockung anheimgefallen; und am Ende dieser Zeit wird ihr Erretter aus
Zion kommen. Unser Evangelium wird nicht das Mittel sein;
sie sind als Nation Feinde hinsichtlich dieses Evangeliums; aber
sie haben nicht aufgehört, der Väter wegen Vielgeliebte zu sein.
Hier handelt es sich um die Auswahl Gottes; und hinsichtlich
Seiner Gnadengaben und Seiner Wege verändert Er nimmer
Seine Gedanken.*) Es steht also fest, daß Gott Seine Absichten
in betreff ihrer als eines Volkes ausführen wird, daß ihre Be-
*) Röm II, 31. sollte eigentlich so übersetzt werden: „Denn gleicher Weise
haben auch sie nicht an eure Begnadigung geglaubt, damit auch sie Gegenstände
dieser Begnadigung würden." Selbstredend waren die Heiden Gegenstände der
Begnadigung; aber die Juden hatten Verheißungen. Da sie nun aber die Gnade
verwarfen, so wurden sie, gleich den Heiden, zu Gegenständen einer unver»
mischten Begnadigung. Dieses erregt die Bewunderung des Apostels, wenn er
die Wege Gottes berührt.
30
rufung aber nicht durch das Evangelium, so wie es jetzt gepredigt wird, geschieht, vielmehr sind sie Feinde in betreff dieses
Evangeliums. Ebenso sagt der Herr am Ende des 23. Kapitels
von Matthäus, indem Er von dem über sie kommenden Gericht
redet, daß ihr Haus wüste gelassen werde, bis sie (nach Ps 118)
rufen würden: „Gesegnet sei, der da kommt im Namen des
Herrn", — und dann verfolgt Er ihre Geschichte bis zu Seiner
Ankunft, wo Er die Auserwählten von den vier Winden versammeln wird. Die Juden sollen als ein besonderes Volk nicht
zu existieren aufhören, bis alles erfüllt ist (5. Mo 32, 5—20).
Weiter zeigt der Herr Seine Wege in bezug auf Seine Diener
in der Zwischenzeit, sowie schließlich Seine Wege bezüglich der
Heiden bei Seiner Wiederkunft.
Wir erhalten also im Neuen Testament von Seiten des Herrn
und des Apostels eine klare Unterweisung in betreff der Pläne
und Wege Gottes bezüglich Seines alten und auserwählten
Volkes; und wir finden dieses ausführlich in 5. Mo 32, 26. 28
usw. bestätigt. Am Ende wird der Herr Sein Volk richten und
zu Gunsten Seiner Knechte Erbarmen eintreten lassen. Die
Nationen werden berufen sein, sich mit ihnen zu freuen*); und
Jehova wird Mitleid haben mit Seinem Lande und Seinem
Volke.
Wenn wir uns jetzt mit den bestimmten Aussprüchen der Propheten beschäftigen, so werden wir finden, daß sie in betreff
der Wiederherstellung und der Segnungen der Juden als eines
Volkes, und zwar in Verbindung mit Jerusalem, als dem Mittelpunkt ihrer Herrschaft und ihrer Herrlichkeit, keinem Zweifel
Raum geben. Die Stellen an und für sich beweisen, daß die
Prophezeiungen noch nicht erfüllt sind. Ich will indessen mit
gewissen allgemeinen Betrachtungen beginnen.
Es ist klar, daß bei der ersten Ankunft Christi Israel, als das
Volk, nicht in die verheißenen Segnungen eingeführt worden
ist. Es war die Zeit ihrer Verwerfung; und die in den Ölbaum
der Juden eingepfropften Heiden, die versöhnte Welt und die
Wiederaufnahme der Juden — alles dieses steht im Gegensatz
*) Der Apostel führt dieses an, um als Grundsatz festzustellen, daß Gott
die Heiden segnen wird. Aber es ist offenbar, daß die Erfüllung dieser Sache
noch zukünftig ist. Wenn wir dieses Kapitel aufmerksam lesen, wird uns dies klar.
31
zu der Verwerfung der Juden. Jerusalem war zerstört und nicht
wieder aufgebaut, das Volk war zerstreut und nicht wieder
gesammelt.
Dennoch bezeichnet man mitunter die Wiederherstellung des
Volkes nach der babylonischen Gefangenschaft als die Erfüllung
seiner Verheißungen, während diese doch erst unter dem neuen
Bunde und unter dem Messias ihre Verwirklichung finden
werden. Damals aber bestand weder der neue Bund, noch war
der Messias gekommen, sondern die Juden befanden sich noch
in Gefangenschaft; denn wir hören Nehemia sagen: „Siehe wir
sind heute Knechte; und das Land, das du unseren Vätern
gegeben hast, um seine Früchte und seine Güter zu genießen,
siehe, wir sind Knechte in demselben. Und seinen Ertrag mehrt
es für die Könige, die du um unserer Sünde willen über uns
gesetzt hast; und sie schalten über unsere Leiber und über unser
Vieh nach ihrem Wohlgefallen und wir sind in großer Bedrängnis" (Neh 9, 36—37). Bei Einführung des Christentums war
Jerusalem nicht nur durch Gericht zerstört, sondern die Heiden
befanden sich auch in vollem Ruhm und vollem Triumph, während sie, wenn die Juden nach der Prophezeiung wiederhergestellt sind, gerichtet und schließlich unterworfen sein werden.
Ich werde jetzt etliche Prophezeiungen anführen, die diese
Wiederherstellung des jüdischen Volkes im Voraus ankündigen;
und man wird finden, daß sie mit Christo, mit dem Gericht der
Heiden, mit dem neuen Bund und selbst mit der ersten Auferstehung in Verbindung steht.
Es wird sich zunächst ein verschonter Überrest zeigen, der zu
einer großen Nation werden soll. Ich führe zuerst Stellen aus
Jesaja an, die uns bemerkenswerte Prophezeiungen über diesen
Gegenstand liefern. Nachdem dieser Prophet das ganze Übel
und das Gericht dieser Nation geschildert hat, schließt er seine
prophetische Einleitung mit den Worten: „An jenem Tage wird
der Sproß Jehovas zur Zierde und zur Herrlichkeit sein, und
die Frucht der Erde zum Stolz und zum Schmuck für die Entronnenen Israels. Und es wird geschehen, wer in Zion übriggeblieben, und wer in Jerusalem übriggelassen ist, wird heilig
heißen, ein jeder, der zum Leben eingeschrieben ist in Jerusalem:
wenn der Herr den Unflat der Töchter Zions abgewaschen und
die Blutschulden Jerusalems aus dessen Mitte hinweggefegt
32
haben wird durch den Geist des Gerichts und den Geist des
Vertilgens. Und Jehova wird über jede Wohnstätte des Berges
Zion und über seine Versammlungen eine Wolke und einen
Rauch schaffen bei Tage, und den Glanz eines flammenden
Feuers bei Nacht; denn über der ganzen Herrlichkeit wird eine
Decke sein. Und eine Hütte wird sein zum Schatten bei Tage
vor der Hitze und zur Zuflucht und zur Bergung vor Sturm und
vor Regen (Jes 4, 2—6). — Also wird die Herrlichkeit in Zion
wiederhergestellt sein, wenn der Herr Zion durch Gericht von
seinen Sünden gereinigt hat. Wir finden hier zwei Ursachen
des Gerichts: den Unglauben Israels hinsichtlich seiner ersten
Berufung, und seine Unfähigkeit, der Herrlichkeit des Herrn
bei Seiner Erscheinung zu begegnen. Das 6. Kapitel redet von
dem Gericht, das der Herr in Beziehung zu dieser zweiten
Ursache ankündigt; denn wir lesen: „Mache das Herz dieses
Volkes fett, und mache seine Ohren schwer, und verklebe seine
Augen: damit es mit seinen Augen nicht sehe, und mit seinen
Ohren nicht höre, und sein Herz nicht verstehe, und es nicht
umkehre und geheilt werde (Jes 6, 10). — Dann fragt der
Prophet: „Wie lange, Herr?" — und die Antwort lautet: „Bis die
Städte verwüstet sind, ohne Bewohner, und die Häuser ohne
Menschen, und das Land zur Öde verwüstet ist . . . Und ist noch
ein Zehntel darin, so wird es wiederum vertilgt werden, gleich
der Terebinthe und gleich der Eiche, von welchen, wenn sie
gefällt sind, ein Wurzelstock bleibt; ein heiliger Same ist sein
Wurzelstock" (Jes 6, 11—13). — Nichts hätte in treffenderer
Weise den langen Winter der Verwüstung Israels schildern
können; aber Gott will durch den Überrest einen Grundsatz der
Wiederherstellung und der Segnung aufrichten, wie uns Paulus
in Römer 11 sagt. Jedoch in einer mehr historischen Weise wird
uns dieses in dem 8. und 9. Kapitel Jesaja prophezeit. So finden
wir in Kapitel 8, 14—18 die bestimmte Ankündigung der Verwerfung Christi, und in Kap. 9, 5—7 Seine Offenbarung in
Herrlichkeit zu Gunsten Israels, obwohl in Gericht, während
uns die Kapitel 11 und 12 die Wiederherstellung Israels ankündigen und diese Reihenfolge mit den Worten schließen:
„Jauchze und juble, Bewohnerin von Zion! denn groß ist in
deiner Mitte der Heilige Israels!" In dem 24. und 25. Kapitel,
womit die nächste Reihenfolge geschlossen wird, wird das Zeug33
nis Gottes bis zur gänzlichen Zerstörung der Erde fortgesetzt.
„Die Erde taumelt wie ein Trunkener und schaukelt wie eine
Hängematte, und schwer lastet auf ihr ihre Übertretung, und
sie fällt und steht nicht wieder auf" (Jes 24, 20). Das ist das
schließliche und entscheidende Gericht der Erde, als des Mittelpunktes der Macht des Menschen. Der Prophet fügt hinzu:
„Und es wird geschehen an jenem Tage, da wird Jehova heimsuchen die Heerschar der Höhe in der Höhe, und die Könige
der Erde auf der Erde . . . Und der Mond wird mit Scham
bedeckt und die Sonne beschämt werden, denn Jehova der Heerscharen herrscht als König auf dem Berge Zion und in Jerusalem,
und vor seinen Ältesten in Herrlichkeit" (Jes 24, 21—23). —
Hier finden wir also aufs neue das Gericht auf der Erde, und das
jüdische Volk in dem Genuß der Gegenwart und der Segnungen
Jehovas, während im Kapitel 25 eine allgemeine Segnung sich
über alle Heiden ausbreitet. „Und Jehova der Heerscharen wird
auf diesem Berge allen Völkern ein Mahl von Fettspeisen bereiten, ein Mahl von Hefenweinen, von markigen Fettspeisen,
geläuterten Hefenweinen. Und er wird auf diesem Berge den
Schleier vernichten, der alle Völker verschleiert, und die Decke,
die über alle Nationen gedeckt ist" (Jes 25, 6—7). — Auch wird
dann die Auferstehung stattgefunden haben; denn wir lesen
weiter: „Den Tod verschlingt er auf ewig, und der Herr, Jehova,
wird die Tränen abwischen von jedem Angesicht, und die
Schmach seines Volkes wird er hinwegtun von der ganzen Erde.
Denn Jehova hat geredet" (Jes 25, 8). Der Segen und die Macht,
die alles Feindselige beseitigen, zeigen sich auf dem Berge Zion;
und dies alles findet in dem prophetischen Lobliede des 26. Kap.
einen Ausdruck, während im Kap. 27 die Macht Satans zerstört
ist und die Wege Gottes gegen Israel noch einmal an unserem
Auge vorübergeführt werden.
Bei Betrachtung dieser zwei Reihenfolgen schließenden Kapitel,
die uns im Kap. 5—12 die Wege Gottes mit Israel in seinem
Lande, und im Kap. 24—27 Seine Wege mit den Heiden bezeichnen, habe ich ein beachtenswertes Kapitel überschlagen, auf das
ich zurückkommen muß. Dies ist das 18. Kapitel, das schwierig
in seinen Ausdrücken, aber sehr klar betreffs seines Zweckes
ist. Von einer großen, schirmenden Macht sind zu einer zerstreuten, schwachen und von ihrem Ursprung an wunderbaren
34
Nation Boten ausgesandt. Der Herr ruft alle Bewohner der
Erde zusammen. Er Selbst bleibt oben in Seiner Wohnung; die
Juden kehren mit der Hoffnung einer großen irdischen Segnung
zurück. In dem Augenblick aber, wo diese Segnung in voller
Blüte zu stehen scheint, sind sie von neuem abgeschnitten, und
die Tiere des Feldes, die Heiden, erheben sich während des
Sommers und des Winters über sie. Jedoch ist in dieser Zeit das
Volk als ein Geschenk zu Jehova gebracht, und schließlich bringt
es selbst Ihm ein Geschenk auf dem Berge Zion. Wir erfahren
also die Rückkehr dieses Volkes und, als Folge irgendeiner
politischen Bewegung, dessen Trostlosigkeit in seinem Lande;
dann sehen wir es zum Herrn zurückgeführt; und schließlich
bringt es Jehova in Zion seine Opfer. In beachtenswerter Weise
finden wir in den Kapiteln 29 und 32, aber vollständig in den
Kapiteln 34 und 35 das Zeugnis, das der Heilige Geist von der
schließlichen Wiederherstellung Israels ablegt. Ebenso bieten
uns die Kapitel 54, 62, 65, 66 umfangreiche Zeugnisse über die
Wiederherstellung Jerusalems in Herrlichkeit. Die Prophezeiungen des Jesajas tragen den Charakter einer allgemeinen Offenbarung der Wege Gottes, in denen die Juden (ihre Schuld betreffs der Trennung von Gott und der Verwerfung Christi mit
eingerechnet) den Mittelpunkt bilden, und in denen Babylon,
während sie nicht gekannt, und Assyrien, während sie wieder
erkannt sind, die Rute ist. Jeremia hingegen lebte zu der Zeit,
wo das Maß der Schuld des Hauses Israel voll war und Jerusalem durch Babylon in Gefangenschaft gebracht werden sollte.
Folglich berührt er, da er mit ihnen betreffs ihrer Sünde rechtet,
spezielle Einzelheiten hinsichtlich der Wiederherstellung der
Juden und Jerusalems, indem er gleich anderen Propheten das
Gericht der hochmütigen Heiden ankündigt. Wir wollen uns
daher jetzt mit den Prophezeiungen Jeremias beschäftigen.
Der Inhalt der Kapitel 30—34 verdient unsere ganze Aufmerksamkeit; ich werde jedoch nur die hervorragenden Stellen anführen. In Kap. 30 erwähnt der Prophet jenen Tag der Drangsal Jakobs, der, wie der Herr in Mt 24 sagt, seinesgleichen nicht
hat; jedoch erklärt er, daß Jakob daraus befreit werden wird —
eine Ankündigung, die, wie wir wissen, zur Zeit der ersten Zerstörung Jerusalems durch Titus noch nicht in Erfüllung ge35
gangen ist. Er fügt hinzu, daß Jehova der Heerscharen an diesem Tage das Joch seines Halses zerbrechen werde und Fremde
ihn nicht mehr dienstbar machen sollen; er behandelt die vollständige Zerstörung Jerusalems; aber er erklärt zugleich, daß
Jakob aus der Gefangenschaft zurückgeführt, die Stadt auf
ihrem Hügel wieder erbaut und der Tempel an seinem Platze
stehen werde. Endlich kündigt er das entscheidende Gericht der
Widersacher an, wenn, und zwar in den letzten Tagen, Israel
von neuem Sein Volk sein wird. In dem 31. Kapitel sehen wir,
daß die beiden Familien Sein Volk sein werden, ein Beweis, daß
es sich nicht um die Rückkehr aus Babylon handelt. Jehova
kündigt an, daß Seine Liebe eine ewige Liebe ist. Die Erlösten
werden jauchzend den Berg Zion betreten (V. 12). Und dieses
alles ist, wie uns Vers 31 belehrt, auf die Errichtung eines neuen
Bundes gegründet; und das Kapitel schließt mit den beachtenswerten Worten: „So spricht Jehova, der die Sonne gesetzt hat
zum Lichte bei Tage, die Ordnungen des Mondes und der Sterne
zum Lichte bei Nacht, der das Meer erregt, und seine Wogen
brausen, Jehova der Heerscharen ist sein Name: Wenn diese
Ordnungen vor meinem Angesicht weichen werden, spricht
Jehova, so soll auch der Same Israels aufhören, eine Nation zu
sein vor meinem Angesicht alle Tage. So spricht Jehova, wenn
die Himmel oben gemessen und die Grundfesten der Erde unten
erforscht werden können, so will ich auch den ganzen Samen
Israels verwerfen wegen alles dessen, was sie getan haben,
spricht Jehova. — Siehe, Tage kommen, spricht Jehova, da diese
Stadt dem Jehova gebaut werden wird vom Turme Hananel
bis zum Ecktore. Und die Meßschnur wird weiter fortlaufen
geradeaus über den Hügel Gareb und sich nach Goah wenden.
Und das ganze Tal der Leichen und der Asche, und alles Gefilde
bis zum Bache Kidron, bis zur Ecke des Roßtores gegen Osten,
wird Jehova heilig sein; es soll nicht ausgerottet werden noch
zerstört werden in Ewigkeit" (Jer 31, 35—40).
In Kap. 32 ergeht an den Propheten der Befehl, den Acker zu
Anathoth zu kaufen; und das Kapitel schließt mit der Erklärung Jehovas, daß Er die Kinder Israel aus allen Landen sammeln wolle, und sie Sein Volk sein werden, und Er ihr Gott;
und Er fügt die Worte hinzu: „Und ich werde ihnen ein Herz
und einen Weg geben, damit sie mich fürchten alle Tage, ihnen
36
und ihren Kindern nach ihnen zum Guten. Und ich werde einen
ewigen Bund mit ihnen machen, daß ich nicht von ihnen lassen
werde, ihnen wohlzutun, und werde sie in diesem Lande pflanzen in Wahrheit mit meinem ganzen Herzen und mit meiner
ganzen Seele. Denn so spricht Jehova: Gleichwie ich über dieses
Volk all dieses große Unglück gebracht habe, also will ich über
sie all das Gute bringen, das ich über sie rede" (Jer 32, 39—42).
Die Ursache dieser Prophezeiung war folgende: „Siehe,
Hanamel, der Sohn Schallums, deines Oheims, wird zu dir
kommen und sagen: Kaufe dir mein Feld, das zu Anathoth ist;
denn du hast das Lösungsrecht, um es zu kaufen. Und Hanamel,
der Sohn meines Oheims, kam zu mir, nach dem Worte Jehovas,
in den Gefängnishof und sprach zu mir: Kaufe doch mein
Feld, . .. und ich kaufte .. . das Feld" (Jer 32, 7-9). Am Schluß
sagt Jehova in bezug auf dieses: „Man wird Felder um Geld
kaufen und Kaufbriefe schreiben . . . Denn ich werde ihre Gefangenschaft wenden, spricht Jehova" (Vers 44).
Die Verheißungen werden in Kap. 33 erneuert, wo Gott erklärt,
daß es David nicht an einem Manne fehlen solle, der auf dem
Thron des Hauses Israel sitze. „So spricht Jehova: Wenn ihr
meinen Bund betreffs des Tages und meinen Bund betreffs der
Nacht brechen könnt, so daß Tag und Nacht nicht mehr seien zu
ihrer Zeit, so wird auch mein Bund mit meinem Knechte David
gebrochen werden, daß er keinen Sohn habe, der auf seinem
Throne König sei, und auch mit den Leviten, den Priestern,
meinen Dienern. — Und das Wort Jehovas geschah zu Jeremia
also: Hast du nicht gesehen, was dieses Volk redet, indem es
spricht: „Die zwei Geschlechter, welche Jehova erwählt hatte,
die hat er verworfen?", und so verachten sie mein Volk, so daß
es vor ihnen kein Volk mehr ist. So spricht Jehova: Wenn nicht
mein Bund betreffs des Tages und der Nacht besteht, wenn ich
nicht die Ordnungen des Himmels und der Erde festgesetzt
habe, so werde ich auch den Samen Jakobs und Davids, meines
Knechtes, verwerfen, daß ich nicht mehr von seinem Samen
Herrscher nehme über den Samen Abrahams, Isaaks und
Jakobs. Denn ich werde ihre Gefangenschaft wenden und mich
ihrer erbarmen" (Jer 33, 20—26). Wie bestimmt sind diese
Verheißungen! Jehova stützt Sich auf Seine unbewegliche Treue,
erwähnt alles Böse, dessen sich die Kinder Israel schuldig
37
machten, und erklärt, daß Er sie dieserhalb nicht verwerfen,
sondern Sein Gesetz in ihre Herzen geben wolle. Dann folgen
örtliche Einzelheiten über die Wiedererbauung Jerusalems; und
endlich schließt Er mit der Zusicherung, daß, so wie Er sie
umgestürzt und zerstört habe, Er sie ebenso auch wieder aufrichten wolle. Es ist daher unmöglich, dieses anders als auf sie
anzuwenden.
Auch der Prophet Hesekiel liefert umständliche Berichte über
ihre Wiederherstellung. In Kap. 20 lesen wir, daß die zehn
Stämme aus den Völkern wieder zurückgeführt werden, und
daß, so wie am Tage des Auszuges aus Ägypten die Widerspenstigen in der Wüste fielen, auch sie, gleich einer durch den
Hirten gezählten Herde, unter der Rute einherschreiten und die
Widerspenstigen nicht in das Land eingehen würden (V. 34—38).
So aber verhält es sich nicht mit den zwei Stämmen; sie werden
in den Unglauben zurückfallen; und nur ein kleiner, treuer
Überrest — die „Weisen" Daniels — wird bleiben: „Und es
wird geschehen im ganzen Lande, spricht Jehova: zwei Teile
davon werden ausgerottet werden und verscheiden, aber der
dritte Teil davon wird übrigbleiben. Und ich werde den dritten
Teil ins Feuer bringen, und ich werde sie läutern, wie man das
Silber läutert" (Sach 13, 8-9).
In Hes 34, 11-22 richtet Gott die Hirten. Er erklärt, daß Er die
Herde unter Seine eigene Leitung nehmen werde. In Vers 23
geht Er zu einer nicht figürlichen Sprache über, um Sein Tun
in den letzten Tagen zu offenbaren. „Und ich werde einen
Hirten über sie erwecken, und er wird sie weiden — meinen
Knecht David: der wird sie weiden und der wird ihr Hirt sein.
Und ich, Jehova, werde ihr Gott sein, und mein Knecht David
wird Fürst sein in ihrer Mitte. Ich, Jehova, habe geredet. Und ich
werde einen Bund des Friedens mit ihnen machen und werde
die bösen Tiere aus dem Lande vertilgen; und sie werden in
der Wüste sicher wohnen und in den Wäldern schlafen. Und ich
werde sie und die Umgebungen meines Hügels zum Segen
machen; und ich werde den Regen fallen lassen zu seiner Zeit,
Regen des Segens werden es sein. Und der Baum des Feldes
wird seine Frucht geben, und das Land wird seinen Ertrag
geben; und sie werden in ihrem Lande sicher sein. Und sie
38
werden wissen, daß ich Jehova bin, wenn ich die Stäbe ihres
Joches zerbreche, und sie aus der Hand derer errette, welche sie
knechteten. Und sie werden nicht mehr den Nationen zur Beute
sein, und die wilden Tiere der Erde werden sie nicht mehr
fressen; sondern sie werden in Sicherheit wohnen und niemand
wird sie aufschrecken. Und ich werde ihnen eine Pflanzung
erwecken zum Ruhme, und sie werden nicht mehr durch Hunger
weggerafft werden im Lande und nicht mehr die Schmach der
Nationen tragen. Und sie werden wissen, daß ich, Jehova, ihr
Gott, mit ihnen bin, und daß sie, das Haus Israel, mein Volk
sind, spricht der Herr, Jehova. Und ihr meine Herde, Herde
meiner Weide, ihr seid Menschen; ich bin euer Gott, spricht der
Herr, Jehova" (Hes 34, 23-31).
In Kap. 36 finden wir die wohlbekannte Stelle über die Erklärung der neuen Geburt, als das Werk, das Gott an ihnen
vollbringen wird, damit sie sich des Landes vor Ihm erfreuen:
„Und ich werde euch aus den Nationen holen und euch sammeln
aus allen Ländern und euch in euer Land bringen. Und ich werde
reines Wasser auf euch sprengen und ihr werdet rein sein; von
allen euren Unreinigkeiten und von allen euren Götzen werde
ich euch reinigen. Und ich werde euch ein neues Herz geben und
einen neuen Geist in euer Inneres geben; und ich werde das
steinerne Herz aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein
fleischernes Herz geben. Und ich werde meinen Geist in euer
Inneres geben; und ich werde machen, daß ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte bewahret und tut. Und ihr
werdet in dem Lande wohnen, das ich euren Vätern gegeben
habe; und ihr werdet mein Volk und ich werde euer Gott sein.
Und ich werde euch befreien von allen euren Unreinigkeiten.
Und ich werde das Getreide herbeirufen und es mehren, und
keine Hungersnot mehr auf euch bringen; und ich werde die
Frucht des Baumes und den Ertrag des Feldes mehren, auf daß
ihr nicht mehr den Schimpf einer Hungersnot traget unter den
Nationen" (Hes 36, 24-30).
Dann werden die Nationen wissen, daß diese Wiederherstellung
das Werk Jehovas ist; und diese Tatsache, die wir zu wiederholten Malen in Hesekiel berührt finden, ist ein wichtiges
Element in der Wiederaufrichtung Israels; und, gleich den an39
deren, ist — namentlich was das gleichzeitige Zusammentreffen
all dieser Ereignisse betrifft — auch diese Tatsache nicht erfüllt
worden.
Das Kapitel 37 hebt einen anderen Punkt hervor. Die verdorrten Gebeine Israels werden mit Fleisch überzogen; das Volk
wird zum Leben zurückgebracht und wieder in sein eigenes
Land versetzt (V. 14). Da dieses aber in den letzten Tagen stattfinden wird, so werden die so lange getrennten zehn Stämme
von neuem für immer mit Juda unter einem Haupte vereinigt
(V. 19—20). David (der Vielgeliebte), nämlich Christus, wird
über sie herrschen; die Hütte Gottes wird in ihrer Mitte sein;
Er, Jehova, wird ihr Gott und sie werden Sein Volk sein; und
dann, wenn Sein Heiligtum für immer in ihrer Mitte ist, werden
die Nationen erkennen, daß Jehova Israel heiligt.
Diese Wohnung Gottes in ihrer Mitte hat immer seit der babylonischen Gefangenschaft einen Platz gefunden, ausgenommen
durch die Gegenwart Christi, den sie verworfen haben. Hesekiel
überspringt vollständig die Zeit der Heiden und führt von
neuem Jehova inmitten der Juden in das Land ein. Der in den
beiden folgenden Kapiteln mitgeteilte Bericht des Einfalls Gogs
hat Bezug darauf. Nachdem sie in ihrem Lande wiederhergestellt sind und äußerlich in die Segnungen zurückgeführt zu
sein scheinen, tritt Gog gegen sie auf. Gott handelt gegen ihn
und heiligt Sich Selbst in diesem Gericht. Gog fällt auf den
Bergen Israels; und Gott macht Seinen heiligen Namen in der
Mitte Israels kund. Er erlaubt nicht mehr, Seinen Namen zu
beschmutzen; und die Nationen werden erkennen, daß Er,
Jehova, der Heilige in Israel ist. „Siehe, es kommt und wird
geschehen, spricht der Herr, Jehova. Das ist der Tag, von welchem ich geredet habe" (Hes 39, 8); — und diese Prophezeiung
schließt mit den Worten: „Und sie werden wissen, daß ich,
Jehova, ihr Gott bin, indem ich sie zu den Nationen weggeführt
habe und sie wieder in ihr Land sammle und keinen mehr von
ihnen dort übrig lasse. Und ich werde mein Angesicht nicht
mehr vor ihnen verbergen, wenn ich meinen Geist über das
Haus Israel ausgegossen habe, spricht der Herr, Jehova"
(Hes 39, 28—29). — Nichts ist klarer, als die Offenbarung der
vollständigen Wiederherstellung Israels bezüglich der beiden
Teile des getrennten Reiches, als vereinigt in und unter Christo
40
und unter dem neuen Bunde, und zwar zu derselben Zeit, wo
die Heiden gerichtet sind und erkennen werden, daß Jehova in
der Mitte Israels ist; denn, wie wir in Jesaja 40 lesen, wird dann
Jerusalem wieder aufgebaut und verherrlicht sein. —
Ich wende mich jetzt zu einzelnen beachtenswerten Zeugnissen
der kleineren Propheten. In Hosea 3, 4—5 lesen wir: „Denn die
Kinder Israel werden viele Tage ohne König bleiben und ohne
Fürsten und ohne Schlachtopfer und ohne Bildsäule und ohne
Ephod und Teraphim. Danach werden die Kinder Israel umkehren und Jehova, ihren Gott, und David, ihren König, suchen;
und sie werden sich zitternd wenden zu Jehova und zu seiner
Güte am Ende der Tage" (Hos 3, 4—5). Beachten wir es wohl,
daß der so oft genannte Segen Jehovas und Davids nur in bezug
auf die letzten Tage erwähnt wird. In der Zwischenzeit haben
sie weder den wahren Gott noch falsche Götter, sie haben keine
Opfer, auch keine Bilder, in diesem Zustande werden sie lange
verharren, bis in den letzten Tagen alles eine neue Gestalt
annimmt.
In Joel 3 finden wir von neuem das Gericht über die Heiden,
nebst der an sie gerichteten Aufforderung, heraufzukommen
zum großen Tage Gottes in das Tal Josaphat. „Denn dort werde
ich sitzen, um alle Nationen ringsum zu richten. Leget die Sichel
an; denn die Ernte ist reif" (V. 12.13). Am Schluß dieses Buches
lesen wir: „Aber Juda soll ewiglich bewohnt werden, und Jerusalem von Geschlecht zu Geschlecht. Und ich werde sie von
ihrem Blute reinigen, von dem ich sie nicht gereinigt hatte. Und
Jehova wird in Zion wohnen" (Joel 3, 20—21).
In Arnos 9, 14—15 begegnen wir einer Verheißung, die augenscheinlich noch nie erfüllt worden ist und die sich auf die zeitlichen Segnungen im Lande Kanaan bezieht. „Und ich werde
sie in ihrem Lande pflanzen; und sie sollen nicht mehr herausgerissen werden aus ihrem Lande, das ich ihnen gegeben habe,
spricht Jehova, dein Gott" (Arnos 9, 15). — Ist dieses Wort
Gottes erfüllt? Für den Glauben bedarf es dieser Frage nicht.
Der Prophet Micha liefert uns eine treffende Schilderung von
dem, was die Kinder Israel in der Welt unter Christo an diesem
Tage sein werden. Sie werden nicht einer nach dem anderen mit
der Kirche verschmolzen werden, indem sie, wenn auch geseg41
net, als Juden vom Schauplatze verschwinden; sondern sie
werden als Israeliten gesammelt werden; und dann wird, wenn
Er im Lande erkannt ist, Christus ihre Kraft gegen den Assyrer,
ihren Feind, sein. „Und der Überrest Jakobs wird inmitten
vieler Völker sein wie ein Tau von Jehova, wie Regenschauer
auf das Kraut. . . wie ein Löwe unter den Tieren des Waldes ... "
(Micha 5, 6—7). — Ihre Hand wird siegen über alle, die sich
ihnen und den betreffenden Ratschlüssen Gottes widersetzen,
während sie, was noch nicht stattgefunden hat, von allem Übel
gereinigt und die Heiden gerichtet worden sind (V. 9—10).
In Zeph 3 finden wir eine andere höchst lehrreiche Stelle in
betreff der Wege Gottes mit Seinem Volke. Zunächst begegnen
wir der langen, gnadenreichen aber leider wirkungslosen Geduld
Jehovas (V. 7). Also sollen die Gerechten harren, bis das Gericht
hereinbricht. Die Gerichte über die Nationen werden diese unterwerfen und die Segnung anführen. Israel wird (V. 12—13) ein
armer, betrübter und geheiligter Überrest sein; aber es wird
des Friedens teilhaftig werden. Dann werden Zion, Israel und
Jerusalem berufen sein, sich von ganzem Herzen zu freuen.
Jehova ist in ihrer Mitte; sie werden kein Übel sehen. „Er wird
in seiner Liebe ausruhen"; denn die Segnung ist in solcher
Fülle, daß Seine Liebe befriedigt sein und ruhen wird! Welch
ein süßer Gedanke! Und für uns wird dieses in einem noch
reicheren Maße zur Wahrheit werden, wenn der Herr Jesus die
Arbeit Seiner Seele sehen wird und befriedigt sein wird. Dann
werden alle, die Israel beleidigten, vernichtet sein und das
Volk inmitten aller Völker der Erde zum Ruhme werden
(V. 14-20).
Auch das ganze 10. Kapitel des Sacharja schildert die Wiederherstellung des Volkes Israel in den letzten Tagen, indem es
die beiden Teile des Volkes, Juda und Ephraim, ins Auge faßt.
Das 11. Kapitel spricht von der Verwerfung Christi. Im 12.
Kapitel werden alle gegen Jerusalem versammelten Nationen
gerichtet. Die heilige Stadt wird für sie ein Stein (V. 3), — ein
Umstand, den man sicher nicht auf vergangene Ereignisse beziehen kann. Dann folgt ein ausführlicher Bericht über die Art
und Weise, wie Gott Sein Volk rettet. „An jenem Tage werde
ich die Fürsten von Juda machen gleich einem Feuerbecken unter
42
Holzstücken und gleich einer Feuerfackel unter Garben; und sie
werden zur Rechten und zur Linken alle Völker ringsum verzehren. Und fortan wird Jerusalem an seiner Stätte wohnen
in Jerusalem. Und Jehova wird die Zelte Judas zuerst retten,
auf daß die Pracht des Hauses Davids und die Pracht der
Bewohner von Jerusalem sich nicht über Juda erhebe" (Sach
12, 6—7). — Dann wird uns die Trauer wegen der Verwerfung
Christi geschildert; sie werden auf Den blicken, den sie durchbohrt haben. In Kap 13, 8—9 beginnt die Läuterung. Zweidrittel
werden hinweggetan; und der dritte Teil geht mitten durch
Feuer. Das 14. Kapitel schließt diese bemerkenswerte Geschichte
durch die Mitteilung einzelner Begebenheiten, die noch kommen
werden. Der Herr erscheint; Seine Füße stehen auf dem ölberg,
und am Abend, wo man die Finsternis erwartet, wird es Tag
sein. Lebendige Wasser strömen aus Jerusalem. Jehova wird
König über die ganze Erde, und Er wird als solcher allein
gekannt sein. Jerusalem wird an seiner Stelle bewohnt sein.
Keine Zerstörung wird mehr stattfinden, sondern Jerusalem
wird ein Wohnplatz in Sicherheit sein.
Die von mir angeführten Zeugnisse werden hinreichend sein,
um jedem, der die Wahrheit des Wortes Gottes erkennt, zu
zeigen, daß Israel ohne allen Zweifel in seinem Lande wiederhergestellt werden wird, um unter Christo und dem neuen
Bunde gesegnet zu werden. Die Umstände der Rückkehr Israels
unterscheiden sich von denen der Rückkehr Judas: die Widerspenstigen Israels kommen nicht ins Land, sondern werden
außerhalb des Landes hinweggetan, während dies in betreff der
Widerspenstigen Judas im Lande selbst stattfindet. Der Überrest der Letzteren geht durchs Feuer. Diese Ereignisse schließen
die Geschichte des Antichristen und die der Heiden in sich,
wovon wir bei Gelegenheit der sie betreffenden Prophezeiungen
reden werden. Aber Israel und Juda werden unter einem Haupt
vereinigt; dann sehen wir in der Reihenfolge der die Segnungen
herbeiführenden Ereignisse die Heiden wider Israel versammelt, gerichtet und unterjocht. Auch ist angemerkt worden,
daß die Auferstehung vor diesen Ereignissen stattgefunden hat.
Der Friede herrscht und der Fluch ist hinweggetan; Jerusalem
wird nie wieder zerstört werden und Israel nimmer wieder seine
Segnungen verlieren.
43
Das ist der Endbeschluß der Regierung Gottes in dieser Welt.
Israel ist, zufolge des gefaßten Vorsatzes und der unveränderlichen Berufung Gottes, der Mittelpunkt dieser Regierung. Für
den Augenblick verwerfen sie das Evangelium; aber sie sind
Vielgeliebte der Väter wegen; sie werden glauben, wenn sie
sehen werden. Unsere Segnungen sind herrlicher, weil wir
glauben, ohne gesehen zu haben.
Wie wichtig ist es, die Prophezeiungen, welche die Juden betreffen, zu verstehen. Sie sind uns kostbar, nicht nur, weil sie
für uns einen Teil der Herrlichkeit Christi zeigen, sondern ein
klares Verständnis ihrer Anwendung auf die Juden bewahrt
uns, sie auf die Kirche anzuwenden, die sonst ihres himmlischen
Charakters entkleidet würde. Die Kirche ist die Zeugin der
unumschränkten Gnade, die ihr einen Platz mit Christo gibt,
da, wo es keine Verheißung gab, während Israel der Zeuge des
in Seinen Verheißungen treuen Gottes ist, der da war und der
da kommen wird. In der Tat, Israel wird das königliche Volk
und der Mittelpunkt der Macht und der irdischen Herrschaft
Christi sein; aber es wird beherrscht werden, während wir,nachdem wir mit Ihm gelitten haben, aus freier Gnade mit Ihm
herrschen werden. Die Kirche hat ihren Platz mit Ihm; und
Israel hat, gemäß seiner alten Verheißungen, seine besonderen
Segnungen unter Ihm. —
Der Eifer für Gott
oder
Betrachtungen aus dem Leben und den Zeiten Hiskias
2. Chron 29-32 und Jes 36-39
Untätigkeit einerseits und unzeitiger Diensteifer andererseits
sind zwei Dinge, gegen die der Christ stets auf seiner Hut sein
sollte. Untätigkeit ist durchaus unverträglich mit dem christlichen Charakter. Die Gnade, die uns mit Scham die Unvollkommenheit unserer Arbeit erkennen läßt, weckt zugleich das
ernste Verlangen in uns, dem Dienst des Herrn alle unsere
Kräfte zu weihen. Es ist in der Tat beklagenswert, wenn wir es
44
nötig haben, zur Tätigkeit angespornt zu werden. Für den
Christen sollte das Wirken für den Herrn ebenso natürlich sein,
wie für den natürlichen Menschen das Arbeiten zur Befriedigung seiner irdischen Bedürfnisse. Wenn er nicht wirkt, so hat
er viel Ursache zu zweifeln, ob Leben in ihm sei. Der Mensch
kann den „Namen haben, daß er lebe", und dennoch tot sein;
aber er kann ohne Leben nicht den Namen haben, daß er
Gott diene.
Andererseits dürfen wir nicht aus dem Gedächtnis verlieren,
daß Gott niemandes Schuldner sein will; denn: „Er gibt allen
Leben und Odem und alles" (Apg 17, 25). Beständig strebt der
Mensch dahin, Gott zu seinem Schuldner zu machen; aber
seine Anstrengungen bleiben fruchtlos; und wer darin beharrt,
wird als einer, der wider Gott streitet, erfunden werden. Die
Frage zwischen Gott und dem Menschen kann nicht eher zum
Abschluß gebracht werden, als bis der Mensch sich als den
Empfänger und den Schuldner Gottes betrachtet; bevor dies
geschieht, ist kein Hinzunahen möglich.
Indes beabsichtige ich jetzt, mehr den zweiten Punkt ins Auge
zu fassen. Unzeitiger und verkehrter Diensteifer, als nicht aus
der Gemeinschaft mit Gott hervorgehend, soll, im Gegensatz
zu dem aus dieser Gemeinschaft strömenden Eifer für Gott, der
Gegenstand meiner Betrachtung sein, wozu das Leben und die
Zeiten Hiskias mir eine ganz besondere Anleitung geben.
Die Regierungen dreier Könige von Juda sind durch den Heiligen Geist mit drei Propheten in eine genaue Verbindung
gebracht. Jesaja, Hosea und Micha erfüllten ihren mühevollen
prophetischen Beruf unter den Regierungen der Könige Jofham,
Ahas und Hiskia. Ich fühle deutlich, daß eine moralische Verbindung zwischen diesen drei Regierungen bestand.
Der Tempel in Jerusalem war von jeher der große Mittelpunkt,
der Sammelplatz der Juden. Alle Zuneigungen jedes gläubigen
Israeliten waren mit diesem heiligen Gebäude aufs engste verflochten; und in betreff der Könige von Juda bildet ihr Verhalten dem Tempel gegenüber den Maßstab, nach dem ihr
menschlicher und königlicher Charakter beurteilt werden kann.
Jeder von ihnen, von dem bezeugt wurde: „Er tat, was recht
war in den Augen Jehovas", zeigte auch ein Herz für den
Tempel und den Tempeldienst des Gottes Israels; alle aber,
45
welche „taten, was böse war in den Augen Jehovas", waren
solche, die das Haus Jehovas verlassen und sich dem Götzendienst hingegeben hatten. —
Jotham, der König von Juda, konnte indes weder zu der einen
noch zu der anderen Klasse gezählt werden. Er war kein
Götzendiener; aber dennoch zeigte er nicht jenes warme Interesse, auf welches das Haus Jehovas Anspruch machen konnte.
Von ihm kann gesagt werden, daß er außerhal b de s
Heiligtum s sein Werk begann. Er ging hinauf zu den
Bergen, um zu bauen, bevor er ins Heiligtum gegangen war,
um anzubeten; er stand auf dem Schlachtfelde, bevor er am
Altar gestanden hatte, er redete mit den Werkleuten und dem
Kriegsvolk, bevor er mit den Priestern, den Dienern des Heiligtums, gesprochen hatte. Darum war alles mangelhaft. Freilich
hatte er vieles getan: „er baute Burgen und Türme" und sogar
das „obere Tor am Hause Jehovas"; ja „er richtete seine Wege
vor dem Angesicht Jehovas, seines Gottes." Nichtsdestoweniger
gab es bei all diesem noch ein „Doch die Höhen wichen nicht,
das Volk opferte und räucherte noch auf den Höhen" (Vgl.
2. Kon 15, 35; 2. Chron 27, 2). Dies ist eine lehrreiche Lektion
für uns. Wir sollten stets mit großer Strenge über den Zustand
unserer Herzen wachen, damit sich nicht unser eigener, wenn
auch rechtschaffener und vernünftiger Dienst, zwischen unsere
Seelen und die Person Christi dränge. Wir sollen stets, sei es,
daß wir predigen, Bücher oder Briefe schreiben,Besuchemachen
oder dergleichen, die Motive untersuchen, warum wir solches
tun; wir sollen stets ein ruhiges Urteil über die geheimen Beweggründe aller dieser Handlungen fällen. Wenn der Herr
kommt, wird er nicht nur das Werk unserer Hände, sondern
auch die „Überzeugungen der Herzen" offenbar machen. Das
ist sehr ernst. Manche glänzende Tat, manche geschmückte
Predigt, manches gut verfaßte Buch,mancher prunkende Besuch
wird dann in ewige Vergessenheit versinken oder nur erwähnt
werden, um das Gewissen zu verwunden und das Urteil der
getäuschten Seele zu verdunkeln, die vielleicht ihr Werk begonnen hat, ohne aus Erfahrung jene Grundregel des Hauses
Gottes zu kennen, daß der Mensch ein Bettler sein muß, oder
die, mit anderen Worten, sich selbst in all ihren Worten und
Werken zum höchsten Gegenstande gemacht hat.
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Über den König Ahas haben wir nicht viel zu sagen. Er trat
Gott und der Wahrheit offenbar entgegen. Er verwahrloste den
Tempel, schloß die Türen, schlug alle Gefäße in Stücke und
baute Altäre an allen Ecken in Jerusalem. Dazu zog er nach
Damaskus, dem König von Assyrien entgegen, und sah dort
einen Altar, dessen Bildnis er dem Priester Uria sandte, der in
Jerusalem einen ähnlichen bauen ließ. Auf diese Weise rückte
er den wahren Altar von seiner Stätte und hob, mit einem
Wort, die ganze Ordnung der Anbetung auf. Das waren die
Taten des Königs Ahas. Die Geschichte dieses unglücklichen
Mannes, von welcher Seite wir ihn auch betrachten mögen,
bietet uns eine ernste Warnung, besonders aber, wenn wir in
ihm den Nachfolger Jothams erblicken. Wenn unsere Herzen
nicht ganz und gar dem Dienste des Herrn gewidmet sind,
wenn wir den verborgenen Umgang mit Gott geringschätzen
und nicht mit Eifer suchen, wenn das Werk in uns nicht
gleichen Schritt hält mit dem Werk außer uns, wenn wir
mehr lesen und lehren als beten, wenn unsere Arbeit mehr
vor dem Auge des Menschen, als vor dem Auge Gottes geschieht, dann können wir versichert sein, daß wir bald kraftlos
zusammenbrechen werden. Gemeinschaft mit Gott ist das einzige Mittel, durch das wir Ihm wahrhaft dienen können; und
wo diese mangelt, da erntet man bittere Früchte. In der moralischen Verbindung dieser beiden Regierungen war es unvermeidlich zu erwarten, daß dem unvollkommenen Dienst
Jothams der offenbare Abfall des Ahas folgen mußte. Wenn
wir in den Wäldern bauen können, während der Tempel vernachlässigt wird, dann werden wir uns auch bald von dem
wahren Gottesdienst abwenden und uns der Abgötterei hingeben. Mit Recht mögen wir fragen: Wozu Burgen und Türme,
wenn die Türen des Hauses Gottes geschlossen sind? Was
nützen Siege über die Ammoniter, wenn der Leuchter Gottes
von der heiligen Stätte gestoßen ist? Sie sind weder von Nutzen,
noch von langer Dauer, sondern werden bald den entscheidenden Taten eines Ahas Platz machen, der keine zweideutige
Rolle spielen wollte. —
Aus diesen Anmerkungen können wir für uns die nützliche
Lehre ziehen, daß die Gemeinschaft m i t Gott eine hervorragendere Stelle bekleiden muß, als ein Dienst für Gott. Nie
47
darf der verborgene Umgang mit Gott dem öffentlichen Wirken, selbst in göttlichen Dingen, den Platz räumen. Viele
zeigen sich bereit, für Gott glänzende Taten zu vollbringen,
während sie vielleicht wenig das Bedürfnis fühlen, mit Ihm im
Stillen zu verkehren. O möchten wir doch nie vergessen, daß
es, wenn unser Herz nicht ganz und gar dem Herrn angehört,
wenig frommt, in welcher Weise unsere Hand äußerlich oder
unser Verstand durch gelehrte Abhandlungen Ihm dient! Das
Fundament unseres Gebäudes ist wurmstichig, und dieses wird
bald über unseren Häuptern zusammenstürzen und uns unter
seinen Trümmern begraben; und je prächtiger die Zusammenstellung des Baues ist, soviel größer wird beim Einsturz das
Getöse und desto trübseliger die Verwüstung sein. Ich fühle es,
wie sehr es die Christen nötig haben, diesen Dingen ihre ernste
Aufmerksamkeit zuzuwenden, zumal da unsere Zeit reich ist
an äußerem Schein, aber arm an geistlichem Leben, reich an
Werken des Kopfes und der Hände, aber arm an Werken des
Herzens und der Seele, reich an Taten für das Auge des Menschen, aber arm an Taten für das Auge Gottes. Mögen wir doch
unaufhörlich um Kraft, geistliche Kraft, zu Gott flehen, ohne
die alles eitel ist.
Wir wenden uns jetzt zu der Regierung des Hiskia, dessen
Geschichte uns mehr befriedigen wird, als die Geschichte seiner
beiden Vorgänger auf dem Thron von Juda. Ober ihn lesen wir:
„Im ersten Jahr seiner Regierung, im ersten Monat, öffnete
er die Türen des Hauses Jehovas und besserte sie aus"
(2. Chron 29, 3). Dies war ein guter Anfang, eine ermutigende
Bürgschaft für das, was seine ganze Laufbahn zu sein verhieß.
Eine mit Gott begonnene Laufbahn führt gewiß am Ende zum
Sieg. Man mag auf dem Wege vielen Verleugnungen, Schwierigkeiten, Versuchungen, Trübsalen und vielen dunklen Wolken
begegrien, so wird es sich dennoch endlich herausstellen, daß
ein im Heiligtum begonnener Weg in Herrlichkeit endet. „Die
gepflanzt sind in dem Hause Jehovas, werden blühen in den
Vorhöfen unseres Gottes" (Ps 92, 13). Hiskia schien dieses
durch die Gnade erfahren zu haben. Er nimmt, wie wir sehen,
seinen Lauf von dem rechten Punkte aus. Er schreitet nicht in
die Wälder, um zu bauen, sondern greift alsbald das Werk einer
Reformation an; er sendet die Leviten, das Innere des Hauses
48
Jehovas zu reinigen und setzt auf diese Weise, sozusagen, Gott
wieder in Seine Rechte ein, und zwar in der festen Überzeugung, daß, war einmal dieser Hauptschritt getan, alles übrige
leicht folgen sollte. Hierin könnten wir vonHiskia vieles lernen.
Die Erfahrimg und das Wirken des Christen hängen ganz von
dem Platz ab, den Gott in seinem Herzen einnimmt, mit anderen
Worten, es gibt eine moralische Verbindung zwischen dem
Grade, wie wir Gott würdigen, und unserem Betragen. Sind
unsere Begriffe von Gott gering, so wird auch das Maß unseres
christlichen Wandels gering sein, sind sie hingegen erhaben, so
werden auch die Resultate demgemäß sein. Darum, als die
Kinder Israel am Fuße des Horeb „ihre Herrlichkeit vertauschten gegen das Bild eines Stieres, der Gras frißt" (Ps 106, 20),
sagt Jehova: „Dein Volk .. . hat sich verderbt" (2. Mo 32, 7).
Was anders konnte das Volk tun, als sich verderben, nachdem
seine Vorstellungen von der Würde und der Majestät Gottes
so tief herabgesunken waren, daß sie sich für einen Augenblick einbilden konnten, daß er „einem Stier, der Graß frißt",
gleich sei. Das gleiche finden wir in Röm 1. Durch den Geist
geleitet, zeigt uns der Apostel, daß die Ursache all der Greuel
der Heiden in dem Umstände zu suchen sei, daß sie „Gott
kennend, ihn nicht als Gott verherrlichten." Dieser Grundsatz
übt einen äußerst mächtigen Einfluß aus. Wir erniedrigen uns
selbst in dem Maße,als wir uns eine mehr sinnlicheV'orstellung
von Gott machen. Diese Wahrheit läßt uns in die geheimen
Schlupfwinkel unserer Herzen eindringen, um dort vor dem
scharfen, durchdringenden Auge Gottes zu untersuchen, wie
hoch wir jeden Tag, jede Stunde Seinen Wert schätzen. Wir
dürfen es nicht versäumen, auf diesen Punkt der Wahrheit
unser ganzes Augenmerk zu richten; jede Nachlässigkeit hierin
wird unzweifelhaft Ursache zu Trägheit und trauriger Gleichgültigkeit in unserem Wandel sein. Er hat dann nicht den ersten
Platz in unserer Liebe und wir leben nicht in der Atmosphäre
Seiner göttlichen Güte und Liebe. Und unser eigener Zustand,
unsere Erfahrung, unser Dienst, unser Kampf, unsere Schwachheit und unsere Leiden haben sich in hohem Grade zwischen
unsere Seelen und Gott gestellt und verdüstern das lebengebende Licht Seines Antlitzes. Wenn wir aber mit unserer
eigenen Angelegenheit so sehr erfüllt sind, daß sie unser Herz
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und Gewissen verhindert, in der rettenden Liebe und in der
Kraft des Erlösungswerkes zu ruhen, so werden wir unvermeidlich in äußere Werkheiligkeit und Gesetzlichkeit und endlich
gar in völlige Weltlichkeit und moralische Verderbtheit versinken. Die erste Handlung des Königs Hiskia leitet uns nach
meiner Meinung zu dieser Anschauung. Er hatte einen guten
Grund gelegt; er hatte nach jener Vorschrift gehandelt, die
später der Herr Jesus Seinen Jüngern gab: „Trachtet aber zuerst
nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit; und
dies alles wird euch hinzugefügt werden" (Mt 6, 33). Er fühlte,
daß seine Burgen und Türme dem Hause Gottes nachstehen
mußten. Er konnte nicht in einem getäfelten Hause wohnen,
während der Tempel Jehovas die Spuren einer traurigen Verwahrlosung an sich trug. Darum ging er in das Innere des
Heiligtums und begann dort sein Werk. Verweilen wir hier
einen Augenblick, um den Unterschied zwischen göttlichem
und menschlichem Wirken ins Auge zu fassen. Der Mensch
sagt: Beginne mit dem Äußeren und wirke auf das Innere. Die
Schrift sagt: Beginne mit dem Inneren, und das äußere Werk
wird folgen. Der Mensch sagt: Gehe in die Wälder und baue
Burgen und Türme, und dann komme ins Heiligtum, um dort
alles in Ordnung zu bringen. — Die Schrift sagt: „Gehe zuerst
ins Innere des Hauses Jehovas und säubere es von Stufe zu
Stufe", bis du dich in dem geeigneten Zustande befindest, die
etwa nötigen Burgen und Türme zu bauen. — Der Mensch
sagt: Du mußt wirken, um zu leben; die Schrift sagt: „Du
mußt leben, um zu wirken. Die Sprache des Menschen lautet:
Tue und lebe; und die Sprache Gottes: Lebe und tue. Welch ein
Trost für einen Sünder, der fühlt, daß Gott seinen Bedürfnissen
entgegenkommt! —
Kommen wir indes zu dem Gegenstand unserer Betrachtung
zurück. Nach meiner Meinung finden wir, wenigstens hinsichtlich der Reformation, in allen Handlungen Hiskias eine göttliche
Ordnung. Er betrat nicht nur den rechten Pfad, sondern er
beharrte auch darin. Man kann von ihm sagen, daß er, mit Ausnahme in der Sache der Botschafter des Königs von Babel,
denen er seine Schätze zeigte, seine Laufbahn mit Gott begann,
fortsetzte und endete. Er beschloß, das Passah Jehovas zu
halten und also nach der Größe der Gedanken Gottes über
50
Israel zu handeln. Er wollte nicht selbstsüchtig die Beziehung
dieses großen Festes, oder die reinigende Wirkung des Blutes,
für die Grenzen Judas oder Jerusalems absperren, sondern „für
ganz Israel hatte der König das Brandopfer und das Sündopfer
befohlen" (2. Chron 29, 24). Freilich war Israel schändlich
abgewichen und in Abgötterei versunken; aber sollte dies ihn
abhalten? Das Blut, das Juda reinigen konnte, vermochte auch
Israel zu reinigen; und beide bedurften es in gleichem Maße.
Und in der Tat, jede von Gott unterwiesene Seele wird mit
ihren Gedanken die ganze Familie Gottes umfassen.
Es existiert keine Zergliederung des Leibes Christi; es kann nur
von dem ganzen, oder sonst von keinem Leibe die Rede sein.
Wollen wir irgend eine Wahrheit in ihrem vollen Umfange
betrachten, so müssen wir sie als dem ganzen Leibe angehörend
betrachten. Die Erlösung, in der wir stehen, der Dienst, durch
den wir aufrecht erhalten werden, die Hoffnung, die uns belebt,
alles muß in Verbindung mit dem ganzen Leibe beschaut
werden. „Meinen Keim sahen deine Augen, und in dein Buch
waren sie alle eingeschrieben." —„Er bewahrt alle seineGebeine;
nicht eines von ihnen wird zerbrochen" (Ps 139, 16; 34,20).
Dieser weite Blick und dieses volle Herz für das ganze Volk
befähigten Hiskia, durch das ganze Land Israel die Botschaft
zu senden: „Kinder Israel! kehret um zu Jehova, dem Gott
Abrahams, Isaaks und Jakobs, so wird er umkehren zu den
Entronnenen, die euch aus der Hand der Könige von Assyrien
übriggeblieben sind" (2. Chron 30, 6). Wieviel moralische
Kraft und welch ein geistliches Verständnis finden wir in dieser
Botschaft! Sie hat ihre Quelle im Heiligtum; sie wird ausgerichtet durch jemanden, der in einem gewissen Maße in die
Größe der göttlichen Gesinnung eingedrungen ist. Es ist die
Absicht Gottes, daß Juda und Israel noch gemeinschaftlich die
irdischen Vorhöfe betreten und die Wirksamkeit desselben
Opfers genießen sollen. Josaphat hatte mit Ahab, dem König
Israels, einen Bund wider die Syrer geschlossen (2. Chron 18).
Dies war, wie wir wissen, durchaus verkehrt, wenngleich der
Zweck, Ramoth und Gilead aus den Händen des Königs von
Syrien zu befreien, nicht gerade verwerflich war. Ramoth war
eine jener Freistädte, deren Wiedereroberung dem Könige
51
Josaphat so wünschenswert sein mußte, daß selbst ein Bund
mit Ahab gerechtfertigt schien. Dennoch war es ein tadelnswerter Schritt. Die Grundlage dieses Bundes taugte nicht, er
war nicht gegründet auf das „Blut des Lammes"; und daher
konnte Gott ihn nicht billigen, und für Josaphat wurde dieses
Bündnis hernach eine Quelle vieler Trübsale.
So aber war es nicht mit Hiskia. Er vereinigte Juda und Israel
nicht, um eine Freistätte zu erobern. Nein, sein Trachten war,
ihre zerstreuten Stämme um den einen Altar zu Jerusalem zu
versammeln. Er hatte einen Vereinigungspunkt aufgerichtet,
um den sich jeder Israelit, eben weil er ein Israelit war, scharen
durfte, der aber für die, die unbeschnittenen Herzens waren,
nichts Anziehendes hatte. Was aber befähigte ihn zu einer so
allgemeinen Einladung? Hätte Hiskia sich von dem kalten,
dürren Ausschließungseifer des Menschen leiten lassen, so würde
er die Kinder Israel bei ihren Götzen gelassen und nur an
seinen eigenen Genuß und an den Genuß derer gedacht haben,
die mit ihm in einer engeren Verbindung standen. Aber nein;
sein Herz war weich und weit geworden in der Gegenwart
Gottes. Er fühlte die Lieblichkeit und die Kraft des Versöhnungs-Blutes und erkannte, daß dieses Blut allein den Bedürfnissen des abgöttischen Israels entsprechen konnte. Er wußte,
daß das auf dem Altar geschlachtete Lamm der einzige Vereinigungspunkt aller war; und darum trachtete er in der anziehenden Kraft der Gnade, „die zerstreuten Kinder Gottes"
zusammenzubringen. Wie viel Lehrreiches liegt in diesem allem
für einen jeden von uns! Sollten wir uns nicht fragen, warum
bei uns so wenig von dieser gewinnenden Kraft der Gnade zu
finden ist? Warum sammeln wir die Kinder Gottes nicht mit
uns um den Herrn? O, sicher, es kommt daher, daß wir in
unserem Wandel so wenig den Herrn Jesus darstellen, der
gesagt hat: „Ich, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde alle
zu mir ziehen" (Joh 12, 32).
Bemerken wir indes die zweifache Wirkung der Botschaft
Hiskias. Man verlachte und verspottete die Boten; doch einige
Männer demütigten sich (2. Chron 30, 10. 11). Dieser Umstand
ist sehr lehrreich. Die Einladung wurde durch die verschiedenen
Parteien verschieden angenommen; dennoch aber zeigte die
Annahme, trotz ihrer Verschiedenheit, daß die Botschaft gött52
liehen Ursprungs und dem Heiligtum entsprossen war. Die
Gnade mußte entweder das Herz demütigen oder Spott und
Hohn hervorrufen; in jedem Fall zeigte sie ihre Macht. Wir
sind „den einen ein Wohlgeruch des Todes zum Tode, den
anderen aber ein Wohlgeruch des Lebens zum Leben." Hiskia
jedoch vermochte den Spott und das Gelächter zu ertragen,
denn er begriff den Wert des vergossenen Blutes; und da er
sah, daß „einige Männer sich demütigten", fühlte er sich reichlich für seine Mühe belohnt. Würden wir auch in der Kraft
göttlicher Gnade wandeln, so würden sich auch dieselben Resultate zeigen: Etliche würden spotten, andere sich demütigen.
Wenn sich aber weder das eine noch das andere zeigt, auch
nicht in geringem Grade, so ist diese Unbestimmtheit gerade
der Beweis, daß unser Zeugnis nicht war, wie es hätte sein
sollen. Die Gläubigen zeigen keine innige Verbindung; das
scharfe Schwert eines heiligen Zeugnisses „schneidet nicht
durchs Herz" der Kinder dieser Welt. Traurige Lauheit und
verabscheuungswürdige Gleichgültigkeit machen sich in Betreff
göttlicher Dinge geltend, während die Begierde und das Ringen
nach den Dingen dieser Welt zur Genüge beweisen, woran das
Herz geknüpft ist. Gewiß, wenn wir einem so beklagenswerten
Zustand nicht entgegentreten, muß alles unter uns dem Ruin
entgegengehen; wir können nicht neutral bleiben. Wirken wir
nicht für Christum, so wirken wir gegen Ihn; tun wir nichts für
Christum, so tun wir etwas für Satan.
Wir haben bereits angedeutet, daß sich in den Handlungen
Hiskias eine göttliche Ordnung fand. Dies wird sich auf seinem
ganzen Wege zeigen. Der Götzendienst der Israeliten konnte
weder seine Liebe zu ihnen schwächen, noch seine Anstrengung
hemmen, sie auf den Platz wahrer Segnungen zurückzuführen.
Sein Bemühen war, sie um den einzigen Mittelpunkt — den
Altar zu Jerusalem zu sammeln;*) er strebte, die Stämme
Ich glaube, daß es in betreff der göttlichen Grundlage einer christlichen
Vereinigung und Gemeinschaft von unberechenbarem Nutzen sein würde, eine
völlige Erkenntnis der einfachen Grundsätze der Wahrheit zu besitzen. Darum
verweise ich den Leser auf die beiden Schriftstellen: „Auf daß er die zerstreuten
Kinder Gottes in eins versammelte." — „Und ich, wenn ich von der Erde
erhöht bin, werde alle zu mir ziehen." (Joh 11, 52; 12, 32). Wir sehen
hier Christum als den Mittelpunkt, um den sich alle Seine Glieder vereinigen,
wie die Planeten um die Sonne. Wenn nun Christus der Mittelpunkt ist, ist es
denn nicht, selbst wenn es sich um irgendeine Wahrheit handelt, eine Sünde,
wenn man einen anderen Mittelpunkt aufrichtet, so "Wie es für Jerobeam Sünde
53
Israels, ohne ihrer seitherigen Unterlassung zu gedenken, um
das Passahlamm zu scharen nach dem Worte des Herrn:
„Tröste, tröste mein Volk!" (Jes 40,1). In diesem allem standen
seine Handlungen in Verbindung mit den Grundsätzen der
Wahrheit. Es ist stets die Weise Gottes, die Seele von dem
Bösen wegzulocken, indem Er ihr das Gute vorhält. Es wäre
mit dieser göttlichen Weise nicht in Übereinstimmung gewesen,
wenn Hiskia zuerst mit dem Hause Juda das Fest gefeiert hätte
war, als er die Einheit des irdischen Volkes Gottes durch das Aufrichten der
Kälber zu Dan und Bethel zerstörte, während Jerusalem der große Sammelplatz
des Volkes war? Und welche Folge trug die Handlungsweise Jerobeams? Statt
des einen Mittelpunktes gab es jetzt drei , nämlich: Jerusalem, Bethel und Dan;
und mithin, da das Volk nach drei verschiedenen Richtungen sich bewegte, so
entfernten sie sich immer mehr voneinander. Hätten sie hingegen den göttlich
bezeichneten Platz festgehalten, so würde dieses das Zusammenkommen der
Kinder Israel wesentlich gefördert haben, denn sie würden von Norden, Osten,
Süden und Westen herbeigeströmt sein, während jetzt viele ganz zurückblieben,
da sie wußten, daß Dan und Bethel keine von Gott, sondern von Menschen
eingerichteten Sammelplätze waren. Hiskia war von der Wahrheit, daß Jerusalem
der Mittelpunkt sei, um den Israel sich scharen mußte, so sehr überzeugt, daß
er in seiner Einladung sagen konnte: „Kehret um zu Jehova, dem Gott eurer
Väter!" Dies wäre eine unerlaubte Sprache gewesen, wenn Jerusalem nicht
wirklich der von Gott bezeichnete Mittelpunkt war.
Für uns jedoch ist nicht Jerusalem, sondern der Name Jesu der Mittelpunkt und
das Band der Vereinigung. Sobald etwas, als für diese Vereinigung nötig, dem
Namen Jesu beigefügt wird, ist die Einheit gebrochen und eine Sekte ins Leben
gerufen. Sollte dieser Name nicht genügen? Wenn den Gläubigen durch das Blut
Jesu der Zugang in das Allerheiligste gestattet ist, wenn sie aus Gnaden dort
gemeinschaftlic h eingetreten sind, wenn ihre Namen gemeinschaf t =
lie h in das Lebensbuch des Lammes eingeschrieben sind, wenn sie gemei n =
schaftlic h auferweckt und jetz t im Geist und durch den Glauben in die
himmlischen örter versetzt sind, wenn sie endlich bald der Tat nach gemei n =
schaftlic h dem Herrn entgegengerückt werden in die Luft, warum sollten sie
nicht auch schon hienieden gemeinschaftlic h ihren Weg gehen? Wir stehen
gemeinschaftlic h vor dem prüfenden Auge Gottes und schreiten einem
Orte zu, wo wir vor den Augen aller geschaffenen Wesen ein s sein werden;
und dürfen wir uns nun auf dem Wege in unsere engen Grenzen absperren
und auf andere mit Geringschätzung herabblicken? Ach! möchten doch alle, die
dieses gesegnete Band christlicher Vereinigung erkennen, sie zu fördern suchen;
Gott würde wirklich dadurch verherrlicht werden.
Ist nun aber der Name Jesu das einzige Vereinigungsband der Christen, so ist
der Heilige Geist die einzige Kraft, sie darin zu leiten. Wo diese beiden
Grundsätze in ihrer vollen Bedeutung angenommen sind, da werden wir bald
ihren Einfluß gewahren.
Wir dürfen indes, während wir das Volk Gottes in die Freiheit und Einheit
des Geistes zu leiten trachten, den hoffnungslosen und unvermeidlichen Ruin
der bekennenden Kirche, als eine Körperschaft auf Erden, nicht aus dem Auge
verlieren. Es wird hier das Wort eines treuen Dieners des Herrn am Platze sein,
der einmal gesagt hat: „Wenn wir ein Zeugnis suchen, so werden wir zugrunde
gehen; wenn wir aber mit Gott zu wandeln trachten, werden wir bestehen." -
Es scheint mir, als ob jede Anstrengung, das Volk Gottes zu vereinigen, den
Charakter des „Rufes um Mitternacht" an sich trage, wovon in Mt 25 die Rede
ist. Man bemerkt hier, daß, wenn der Bräutigam kommt, die klugen Jungfrauen
vereinig t sind. Das ganze Gleichnis lehrt dies deutlich. Die, welche Öl
hatten, waren zusammen und bereit; aber die, denen das Öl fehlte, die Törichten,
die bloßen Bekenner, zerstreuten sich, um sich ö l zu verschaffen. O möcht e
doc h diese s i n de n Herze n alle r wahre n Gläubige n de n
Wunsc h erwecken , vereinig t gefunde n z u werden .
54
und dann zu den Städten Israels gegangen wäre, um gegen die
Abgötterei zu predigen. Dies würde seinen Einfluß nur geschwächt haben. Eins der Übel der Abgötterei war das Streiten
gegen die Einheit des Volkes Gottes und dessen Getrenntsein
in Parteien und Sekten; und wie hätte Hiskia gegen diese Spaltungen zeugen können, wenn er nicht selbst von dem Grundsatz der Einheit ausgegangen wäre? Die Beschränkung des
Festes auf die Grenzen Judas würde ebenso sektiererisch
gewesen sein wie die Aufrichtung eines anderen Altars oder die
Gründung eines neuen Vereinigungspunktes. Die wahre Methode, um die Christen von ihrer Sektiererei zu heilen, ist, sie
die Süßigkeit wahrer Einheit kosten zu lassen. So dachte Hiskia
und so handelte er. „Und die Kinder Israel, die sich in Jerusalem befanden, feierten das Fest der ungesäuerten Brote sieben
Tage lang mit großer Freude; und die Leviten und die Priester
lobten Jehova Tag für Tag mit den Instrumenten des Lobes
Jehovas. Und Jehiskia redete zum Herzen aller Leviten, welche
gute Einsicht in bezug auf Jehova bewiesen. Und sie aßen das
Festopfer die sieben Tage hindurch, indem sie Friedensopfer
opferten und Jehova, den Gott ihrer Väter, priesen" (2. Chron
30, 21—23). — Dies war der geeignete Weg, um Israel das
Schändliche der Abgötterei unter die Augen zu stellen. Solche
glücklichen Tage hatten sie nie in der Nähe des Kalbes zu Dan
verbracht; eine solche Freude haten sie nie gekostet unter dem
Einfluß jenes politischen Religionssystems, das sie Jerobeam
verdankten. Nein, nichts vermochte so tief in das Herz eines
wahren Israeliten einzudringen, wie die Stimme eines von
Gott verordneten Priesters oder Leviten, nichts vermochte ihre
Seele so sehr zu erquicken, wie das von Gott eingeführte Opfer.
Und ist es nicht köstlich, daß wir die Echtheit eines Systems
oder einer Einrichtung nach der Wirkung auf die Seele beurteilen dürfen? Das was wirklich von Gott ist, wird die Seele
wirklich glücklich machen, während das, was nicht von Gott ist,
das Gegenteil ans Licht stellen wird. Die „Freude" und die
„sehr große Versammlung" bezeugen es uns daher deutlich,
daß Gott unter ihnen war, und daß solch eine Versammlung
den mächtigen Einfluß ausüben mußte. Unvermeidlich mußte
der hier herrschende Geist laut gegen die Abgötterei und Sektiererei zeugen, die ihren verderblichen Einfluß über alle Städte
55
Israels ausgebreitet hatten. Wie eine Wasserflut strömte eine
moralische Macht aus Jerusalem, um die Götzen und ihre Altäre
aus dem Lande zu verdrängen; und gewiß, wäre diese Macht
nicht gehemmt worden, so würde sie für immer den Thron der
Abgötterei und des Sektengeistes über den Haufen geworfen
haben.
Die Lehre, die wir aus dem Vorhergehenden ziehen können, ist
deutlich und von größter Wichtigkeit. Der wahre Grundsatz,
der bei jeder Reformation Wert hat, liegt nicht so sehr darin,
niederzureißen, was falsch ist, als darin, aufzuhauen, was wahr
ist. Hiskia fühlte, daß, wenn er Israel nur um den wahren
Altar führen und sie in die Lieblichkeit der wahren Anbetung
des Gottes ihrer Väter leiten könnte, alle falschen Altäre bald
verschwinden würden. Und wirklich, er wurde in seinen Erwartungen nicht getäuscht; denn „als sie dies alles vollendet
hatten, zogen die Israeliten, die sich daselbst befanden, hinaus
zu den Städten Judas; und sie zerschlugen die Bildsäulen und
hieben die Ascherim um und rissen die Höhen und die Altäre
nieder in ganz Juda und Benjamin und in Ephraim und Manasse, bis sie damit fertig waren. Und alle Kinder Israel kehrten
in ihre Städte zurück, ein jeder zu seinem Besitztum" (2. Chron
31, 1). Hier zeigt sich der wahre Eifer für Gott, als die Frucht
der Anbetung. Die einzige Quelle, aus der solcher Eifer hervorströmen kann, ist die Herrlichkeit Gottes. Man hätte erwarten
sollen, daß diese Altäre die Aufmerksamkeit der Kinder Israel
würde erregt und ihren Abscheu dagegen aufgeweckt haben,
als sie auf dem Wege nach Jerusalem waren; aber dies war
nicht der Fall. Nein, zuerst mußten sie den Segen und die Kraft
der Wahrheit in ihren Herzen erfahren und sozusagen aus dem
Hauptbrunnen getrunken haben; sie mußten eingetreten sein
in das Heiligtum in Jerusalem, wo der wahre Priester stand, der
das wahre Opfer darbrachte, erst dann konnten sie, inmitten
des anbetenden Volkes Gottes gestärkt und erquickt durch
Seine Gegenwart, sich aufmachen, um durch ihre Werke Zeugnis abzulegen. Diese Art des Handelns zeigt sich sowohl bei
Hiskia, als bei Israel. Hiskia hatte die Türen des Hauses Gottes
geöffnet, bevor er die Hand an die Altäre legte. Israel stärkte
sich am Altar Gottes, um Satan überwältigen zu können. Aber
ebenso wie Hiskia infolge des Öffnens der Türen des Tempels
56
die abgöttischen Altäre niederreißen konnte, so stärkte Gott
auch Israel, das Böse auszurotten. Unmöglich vermochten sie
während ihres Ganges von Dan nach Jerusalem die Abgötterei
zu vernichten. Nein, sie gingen von Dan nach Jerusalem, um
dort Kraft zu empfangen, damit sie, zurückkehrend von Jerusalem, für Gott und gegen das Böse zeugen konnten. Wo wir den
uns von Gott angewiesenen Platz verlassen haben, müssen wir
uns hüten, auf dem Irrwege vorwärts zu gehen, sondern wir müssen sogleich mit Demut und Schuldbekenntnis zurückkehren.
Auf diese Weise wird unser Auge für unseren Irrtum geöffnet
werden, und wir empfangen Kraft, um den Irrtum zu überzoindrn. Die Kinder Israel empfingen in diesen vierzehn Tagen
der „Freude" eine tiefe Erkenntnis von der Scheußlichkeit des
Götzendienstes und der Sektiererei, und zugleich die Kraft,
über beides das Todesurteil zu fällen. Dies hätten sie zu Dan
nie lernen können. Sind wir der Gefahr eines wankenden Gebäudes entronnen, erst dann werden wir begreifen, wie nahe
sein Sturz ist.
Wir sehen es daher ebenso in Übereinstimmung mit demWiüen
Gottes, daß die Kinder Israel, bevor sie ihre Hände an die abgöttischen Altäre legten, nach Jerusalem gingen wie daß Hiskia
das Haus Gottes herstellte, bevor er nach außen hin in den
Dienst Gottes trat. Das eine wie das andere steht auf einem
wahrhaft göttlichen Grundsatz. Nachdem Israel einmal wieder
die Kraft der alten, wahren Anbetung gekostet hatte, konnte es
begreifen, wie weit es sich davon entfernt hatte, und auf welchem Wege eine Rückkehr möglich war. Und nachdem Hiskia
dem wahren Gott wieder Seinen rechten Platz zwischen den
Cherubim eingeräumt und die Segnung dieses Werkes erfahren
hatte, war er vorbereitet, jenes scheußliche Böse, die Aufrichtung der Götzenaltäre in den Straßen Jerusalems, zu
erkennen.
Bevor ich jedoch die Betrachtung dieses Gegenstandes abbreche,
möchte ich noch ein tröstendes Wort reden zu dem unter meinen
Lesern, der es fühlt, daß er in irgendeiner Weise von Gott abgewichen ist. Zu einem solchen sage ich: Bist du dir wirklich
bewußt, an geistlichem Leben abgenommen und durch Sünden
den Heiligen Geist betrübt zu haben, hast du es versäumt, über
deine Gedanken und Werke zu wachen, so daß Satan die Macht
57
über dich erlangt hat, dich zu schwächen und zu beunruhigen,
hast du deine Pflichten des Dienstes oder der Anbetung versäumt, mit einem Worte, ist etwas da, was dein Herz niederbeugt und deinen Geist umdunkelt: dann ist es nutzlos, über
das Böse zu brüten, sondern es ist nötig, daß du, gleich den Kindern Israel, alsbald zu dem Altar Gottes hinschreitest, dein
Auge auf das Blut, auf Jesum, als den Grund deiner Annahme
vor „dem Throne Gottes" richtest; und du kannst versichert
sein, daß du mit neuer Kraft gegen das Böse wirst streiten
können, das dich in den Staub beugt und täglich zu Boden
drückt. Nicht die Anstrengung, das Netz der Sünde und des
Verderbens, worin wir gefangen sind, abzuwerfen, verleiht
wahre Kraft, sondern das Bekenntnis unseres Vertrauens auf
unsere vollkommene Annahme in dem Geliebten. Dann stehen
wir plötzlich in dem vollen Licht der erlösenden Liebe Gottes;
und in dem heiligen Triumph des Glaubens zertreten wir das
Netz der Sünde. „Gott sei Dank, der uns den Sieg gibt."
Doch wir wenden uns zu unserer Betrachtung zurück. Es war
nicht zu erwarten, daß der Feind lange ein ruhiger Zuschauer
dieser herrlichen Vorgänge bleiben würde. Es war zuviel Ehre
für Gott, zuviel Freude für das Volk Gottes, als daß er ein
gleichgültiger Zeuge dieser Dinge sein konnte. Darum, „nach
diesen Dingen und dieser Treue kam Sanherib, der König von
Assyrien, und er drang in Juda ein und lagerte sich wider die
festen Städte, und er gedachte sie für sich zu erobern" (2. Chron
32, 1). Wir dürfen nicht erwarten, daß wir, ohne Stürmen zu
begegnen, unseren Weg fortsetzen werden. Wir haben es mit
einem bösen und mächtigen Feind zu tun; und selten finden
wir auf Erden den Sonnenglanz des Glücks, ohne daß eine
Wolke ihren Schatten darauf wirft. So wurden auch Hiskia und
sein glückliches Anbeter-Gefolge von Sanherib und dessen
wüsten Kriegsgesellen überfallen. Aber Gott sei Dank! das
Heiligtum und seine heiligen Beschäftigungen machen uns nie
für äußeren Dienst unfähig. Wir werden im Gegenteil nur
dann mit Erfolg wirken, wenn wir zuvor im Heiligtum gewesen
sind. Haben wir zuerst dort im Inneren als Priester unsere Aufgabe erfüllt, dann sind wir auch bereit, draußen als Leviten
oder als Kriegsleute zu handeln; diese von Gott eingeführte
Ordnung dürfen wir nicht umwenden. Hiskia war zumHandeln
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bereit, sobald der Augenblick dazu gekommen war. Freilich
stand ihm das Heiligtum mit seiner feierlichen Stille höher, als
der Lärm des Schlachtfeldes; und die lieblichen Altäre Gottes
galten ihm mehr als die Schlösser und Burgen der Kriegskunst;
aber wenn es gefordert wurde, konnte er auch die in stiller
Verborgenheit gesammelte Weisheit zur Vernichtung seiner
Feinde erweisen.
Es zeigt sich indes augenscheinlich ein Unterschied in der Weise,
wie uns in 2. Chron. 32 und in Jes. 37 die Handlungen Hiskias
dargestellt werden. In Chronika ist nur, wie mir scheint, die
einfache Tatsache als solche mitgeteilt, während Jesaja sie aus
einem moralischen Gesichtspunkte betrachtet und zwar in Beziehung auf das zukünftige Schicksal Israels. In 2. Chron finden
wir die Kriegstaten Hiskias, die Jesaja ganz mit Stillschweigen
übergeht. Wir wollen daher bei den letzten Begebenheiten aus
dem Leben dieses Königs, so wie sie uns durch den Geist in
Jesaja mitgeteilt sind, ein wenig verweilen.
Wie schon bemerkt, setzte Hiskia einen weit höheren Wert auf
die Stille des Heiligtums, als auf das Getümmel des Schlachtfeldes. Dies zeigt sich in seiner ganzen Laufbahn. Besonders
aber sagt uns Jesaja, daß er den größten Teil seiner Zeit den
Dingen widmete, die mit dem Tempel in Verbindung standen.
Er legte mehr Wert auf den Ort, wo Gott zwischen den Cherubim wohnte, als auf seinen eigenen Platz auf dem Thron
Davids, und seine Anhänglichkeit an das Haus Jehovas ging so
weit, daß wir, als die Zeit kam, wo wir sein Ausrücken ins
Schlachtfeld erwarten sollten, ihn streitend im Heiligtum finden.
Der stolze König von Assyrien stand mit einem mächtigen,
sieggewohnten Heer vor den Toren Jerusalems; und jeder würde
natürlich den König von Juda, von Kopf bis zu Fuß gewappnet,
inmitten seiner Kriegsleute gesucht haben; aber nein, Hiskia
unterschied sich von den meisten Königen und Hauptleuten;
er hatte einen Platz der Kraft ausfindig gemacht, den Sanherib
durchaus nicht kannte; und er hatte ein Schlachtfeld entdeckt,
wo er, ohne einen Hieb zu tun, Sieger sein konnte. Und welche
Waffenrüstung hatte er sich angelegt? Wir lesen: „Als der
König Hiskia es hörte, zerriß er seine Kleider und hüllte sich in
Sacktuch und ging in das Haus Jehovas" (Jes 37, 1). Das also
war die Waffenrüstung, in der der König von Juda kämpfen
59
wollte mit dem König von Assyrien. Wahrlich, eine seltsame
Rüstung! Es war eine Rüstung aus dem Heiligtum. Was würde
Sanherib bei ihrem Anblick gesagt haben? Mit einem solchen
Gegner war er niemals zusammengetroffen; nie war er in Berührung gekommen mit einem Mann, der sich in Sacktuch
hüllte, statt sich einen Panzer anzulegen, und der im Tempel
auf seinen Knien lag, statt auf seinem Wagen ins Schlachtfeld
zu eilen. Wahrlich, das wäre in den Augen des stolzen Feindes
eine neue Art von Kriegsführung gewesen. Er hatte sich gemessen mit den Königen von Hamath und Arpad und mit
anderen; aber dies war nach seinen eigenen Grundsätzen und
in seiner eigenen Weise geschehen; und nie hatte er einem
Gegner wie Hiskia gegenübergestanden. Und was anderes gab
diesem solch eine außergewöhnliche Kraft zum Streit, als gerade
das Bewußtsein, daß er nichts, und daß sein „Arm von Fleisch"
ein machtloses Ding sei, ja, daß es sich hier nur um Jehova und
um nichts anderes handelte. Dieses sehen wir vor allem darin,
daß Hiskia den Brief vor Jehova ausbreitete. Der Glaube trieb
Hiskia ganz von dem Kriegsschauplatz weg, indem er das
Ganze zu einer Frage zwischen Jehova und dem König von
Assyrien machte. Nicht mehr Sanherib und Hiskia, sondern
Sanherib und Gott standen sich gegenüber. Das ist die Ursache,
warum Hiskia sich in Sacktuch hüllte. Er fühlte sich ganz hilflos und nahm den Platz eines Hilfsbedürftigen ein. Er teilte
dem Herrn mit, daß der König von Assyrien Ihn verhöhnt
habe; er flehte zu Gott, daß Er Seinen eigenen und herrlichen
Namen rechtfertigen möge, und war völlig überzeugt, daß Er
also Sein Volk erretten werde.
Welch eine bewundernswürdige Szene! Dort im Heiligtum liegt,
schwach und zurückgezogen, ein Mann auf seinen Knien; er
schüttet seine Seele aus vor Dem, der zwischen den Cherubim
wohnt. Er rüstet kein Kriegsvolk aus, hält keine glänzenden
Paraden ab, sondern sendet die Ältesten und Priester, in Sacktuch gehüllt, zu dem Propheten Jesaja. Alles verrät Ohnmacht.
— Ihm gegenüber aber steht, aufgebläht von Siegesfreude und
lechzend nach Beute, an der Spitze eines zahlreichen Heeres
ein mächtiger Eroberer. Sicher müßte man menschlicherweise
sagen: Der Untergang Hiskias und Jerusalems ist unvermeidlich; Sanherib und sein trotziges Heer werden solch eine
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schwache Rotte in einem Augenblick verschlingen! Und welchen
Standpunkt nahm Sanherib ein? Er sagt: „Was ist das für ein
Vertrauen, womit du vertraust? Ich sage: Nur ein Wort der
Lippen ist Rat und Macht zum Kriege. Nun, auf wen vertraust
du, daß du dich wider mich empört hast? Siehe, du vertraust
auf jenen geknickten Rohrstab, auf Ägypten, der, wenn jemand
sich auf ihn stützt, ihm in die Hand fährt und sie durchbohrt.
So ist der Pharao, der König von Ägypten, allen, die auf ihn
vertrauen. Und wenn du zu mir sprichst: Auf Jehova, unseren
Gott, vertrauen wir, — ist er es nicht, dessen Höhen und dessen
Altäre Hiskia hinweggetan, da er zu Juda und zu Jerusalem
gesagt hat: Vor diesem Altar sollt ihr anbeten" (Jes 36, 4—7)?
Wir sehen hier, daß Sanherib den Hiskia tadelt wegen seiner
Reformation, um ihm, nach seiner Meinung, jeden Ruheplatz
und alles Vertrauen zu rauben. Er sagt wiederum: „Bin ich
ohne Jehova heraufgezogen wider dies Land, es zu verheeren?
Jehova hat zu mir gesagt: Ziehe hinauf in dieses Land und
verheere es" (V. 10). In der Tat, Hiskias Glaube wurde auf die
Probe gestellt — der Glaube mußte in den Schmelztiegel. Es ist
nicht genug, daß wir unser Vertrauen zum Herrn mit Worten
bezeugen, sondern wir müssen es durch die Tat beweisen, selbst wenn alles uns entgegen zu sein scheint. Und
wie begegnet Hiskia den prunkenden Worten? In dem würdigen Schweigen des Glaubens. „Es war das Gebot des Königs,
der gesagt hatte: Ihr sollt ihm nicht antworten" (V. 21). In
dieser Weise zeigte sich der König vor den Augen des Volkes;
ja in solcher Ruhe, Selbstbeherrschung und Würde tritt der
Glaube stets vor den Blicken der Menschen auf, während er
sich zugleich vor Gott in den Staub niederbeugt. Der Glaubende
kann zu seinen Mitmenschen sagen: „Stehet und sehet die Rettung Jehovas!" und im Gefühl seiner Ohnmacht schreit er in
demselben Augenblick zum Herrn (Siehe 2. Mo 14, 13—15).
Also handelte der König von Juda in diesem feierlichen, entscheidenden Augenblick. Aber laßt uns ihm lauschen, wie er
in der Verborgenheit des Heiligtums mit Gott ringt und sein
Herz ausschüttet vor dem Einen, der stets bereit ist zu hören
und mächtig zu helfen. „Und Jehiskia betete zu Jehova und
sprach: Jehova der Heerscharen, Gott Israels, der du zwischen
den Cherubim thronst, du allein bist es, der der Gott ist von
61
allen Königreichen der Erde: du hast den Himmel und die Erde
gemacht. Jehova, neige dein Ohr und höre! Jehova, tue deine
Augen auf und sieh! Ja, höre alle die Worte Sanheribs, der
gesandt hat, um den lebendigen Gott zu verhöhnen! Wahrlich,
Jehova, die Könige von Assyrien haben alle Nationen und ihr
Land verwüstet; und sie haben ihre Götter ins Feuer geworfen,
denn sie waren nicht Götter, sondern ein Werk von Menschenhänden, Holz und Stein, und sie haben sie zerstört. Und nun,
Jehova, unser Gott, rette uns von seiner Hand, damit alle Königreiche der Erde wissen, daß du allein Jehova bist" (Jes 37,15—20).
Hiskia legt die Sache ganz in die Hände Gottes und zieht sich
selbst zurück. Er trachtet nicht, die Schwierigkeit gering darzustellen; er erkennt, „daß die Könige von Assyrien alle
Nationen und ihr Land verwüstet haben." Aber warum? Weil
ihre Götter nicht gleich Jehova waren; sie verstanden nicht, die
Sache in die Hand des lebendigen Gottes, des Schöpfers des
Himmels und der Erde, zu legen. Das allein war das Geheimnis
ihrer Niederlage. Welch ein überwindender Glaube! Welch
ein kühnes, vertrauensvolles Verfahren! Wo, möchten wir
fragen, wo war die Schwierigkeit, die einen solchen Glauben
überstieg? Der Glaube, der sich auf Ihn stützt, der Himmel
und Erde gemacht hat, kümmert sich wenig um das Heer, wie
zahlreich es auch sein mag. Der Glaube entdeckt Myriaden von
Engeln und Berge, die mit feurigen Wagen bedeckt sind, zur
Verteidigung dessen, der auf Jehova vertraut. —
Und welche Aufnahme fand das Gebet Hiskias bei Dem, der
„zwischen den Cherubim thront?" Der Herr verweigert es nie,
Sich in Schwierigkeiten hineinziehen zu lassen, wenn er nur
frei handeln kann und nicht Seiner Herrlichkeit beraubt wird.
Und wie lautet Seine Antwort: „So spricht Jehova, der Gott
Israels: Was du zu mir gebetet hast wegen Sanheribs, des
Königs von Assyrien, — dies ist das Wort, welches Jehova über
ihn geredet hat: Es verachtet dich, es spottet deiner die Jungfrau, die Tochter Zion; die Tochter Jerusalem schüttelt das
Haupt dir nach. Wen hast du verhöhnt und gelästert, und gegen
wen die Stimme erhoben? Gegen den Heiligen Israels hast du
deine Augen emporgerichtet" (Jes 37, 21—23)! Wir haben
schon angedeutet, daß Hiskia sich ganz aus der Schwierigkeit
herauszog. Er erkannte es öffentlich an, daß er unvermögend
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sei, sich mit dem König von Assyrien in einen Streit einzulassen, indem er sich in Sacktuch hüllte, statt seine Waffenrüstung anzulegen. Sein Verhalten in dem Hause Jehovas trug
das Gepräge: Gott oder nichts! Und nachdem der Glaube dieses
demütigen, sich selbst erniedrigenden Mannes den Herrn, den
Gott Israels mit dem König von Assyrien in unmittelbare Berührung gebracht hatte, leitete der Gott Israels den in Sacktuch
gehüllten Mann huldreich zu der Beute des überwundenen
Feindes. Hiskia hatte gesagt: „Er hat gesandt, um den lebendigen Gott zu verhöhnen;" — und Jehova redet über Sanherib
zu Hiskia: „Wen hast du verhöhnt? Den Heiligen Israels." —
Sicher hatte Sanherib mit einem solchen Gegner nicht gerechnet;
sicher hatte er nie daran gedacht, daß sein Brief ausgebreitet
werden würde vor dem Auge des lebendigen Gottes. Seine
Erwartung war, sich, wie er es gewohnt war, mit Fleisch und
Blut, mit Schwert und Speer messen zu können. Aber seht! ein
Mann des Glaubens betete, und ein Engel Jehovas fuhr aus und
schlug im Lager der Assyrer hundertfünfundachtzigtausend
Mann. Und als man des morgens früh aufstand, siehe, da
waren sie allesamt Leichname" (Jes 37, 36).
Dies läßt uns in die reichen Hilfsmittel Hiskias einen Blick tun.
Er kannte den Wert des Alleinseins mit Gott; er war ruhiger
und fühlte sich stärker im stillen Umgang mit Gott, als in der
Mitte seiner gewappneten Kriegsknechte. In ihm erfüllte sich
das Wort des Apostels: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich
stark." Und hätte Sanheribs Heer auch Millionen statt der
Tausenden gezählt, so hätte der Engel des Herrn sie doch in
einem Augenblick von der Oberfläche der Erde hinwegzuraffen
vermocht; denn nichts begrenzt die Macht Jehovas, wenn Er
Seinen Arm ausstreckt, um als Antwort ihrer Gebete die
Seinigen zu retten. „Er stürzte Pharao und sein Heer ins Schilfmeer; denn Seine Güte währet ewiglich" (Ps 136,15).
Und bei Ihm ist kein Wechsel. Wendet sich der Glaube zum
Gnadenthron, so werden stets die staunenswertesten Resultate
folgen. „Was irgend ihr in meinem Namen bitten werdet, das
werde ich tun" (Joh 14, 12); und: „Wiederum sage ich euch:
Wenn zwei von euch auf der Erde übereinkommen werden über
irgendeine Sache, um welche sie auch bitten mögen, so wird
sie ihnen werden von meinem Vater, der in den Himmeln ist"
63
(Mt 18, 19). O, wie gering sind unsere Begriffe über das, was
Gott für uns tun würde, wenn wir Ihm nur die Ehre gäben. Wie
beschränkt sind wir in unseren Gedanken, wie kalt in unseren
Gebeten! Wie oft gleichen wir dem König von Israel (2. Kö 13),
der dreimal auf die Erde schlug und dann innehielt, da er fünfbis sechsmal hätte schlagen sollen. Wie er den Wert des Schiagens nicht verstanden haben mag, so kann von uns das gleiche
in betreff unserer Gebete gesagt werden. Würden wir in unseren Schwierigkeiten den Herrn dadurch ehren, daß wir sie vor
Sein Angesicht brächten, so würde Er uns ohne Zweifel stets
den Sieg über sie geben. Mögen diese Schwierigkeiten groß
oder klein sein, so kann doch Seine Macht die größten erreichen,
und Seine Liebe sich zu den kleinsten herabbeugen. „Seid um
nichts besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet und Flehen
mit Danksagung euer Anliegen vor Gott kund werden; und der
Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen
und euren Sinn bewahren in Christo Jesu" (Phil 4, 6. 7). Wie
herrlich ist in dieser Beziehung das Beispiel Hiskias! Er gebot
dem Volk: „Ihr sollt ihm nicht antworten!" Warum? Weil
er wußte, daß Jehova ihm antworten würde. Und Jehova, gepriesen sei Sein herrlicher Name, tat es in einer Weise, als
habe Er dem Hiskia zeigen wollen, daß er durch seine Beschäftigungen im Hause des Herrn nichts eingebüßt habe. Es sollte
nicht von dem König von Juda gesagt werden können, daß er
sich mit dem Dienst und der Anbetung im Tempel beschäftigt
habe, während er sein Königreich gegen feindliche Überfälle
hätte sichern sollen. Hatte Hiskia mit Eifer gewacht über den
Platz des Herrn zwischen den Cherubim, so zeigte Gott in
Seiner Huld, daß selbst vom politischen Standpunkt aus kein
Mißgriff geschehen sei; denn in einer Nacht wirkte Gott ein
Werk, das die militärischen Vorbereitungen eines ganzen Jahrhunderts zunichte gemacht hätte. „Trachtet zuerst nach dem
Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, und dieses alles wird
euch hinzugefügt werden." Gott bleibt niemandem etwas schuldig. Laßt uns nur mit ganzer Seele Sein Werk treiben, und das
Ende wird zeigen, ob wir auf guten Grund gebaut haben.
„Prüfet mich doch dadurch, spricht Jehova der Heerscharen, ob
ich euch nicht die Fenster des Himmels auftun und euch Segen
ausgießen werde bis zum Übermaß" (Mal 3, 10). Ohne Zweien
fei gibt es viele unter uns, die sich mit Recht beschämt fühlen
wegen der großen Bedeutung, die wir unseren eigenen
Angelegenheiten beilegen, wahrend die Dinge des Hauses
Gottes, die Versammlung des lebendigen Gottes, die Herde
Gottes — so wenig unsere Aufmerksamkeit in Anspruch
nehmen. Der Herr läßt oft unser Mißlingen zu einer Lehre
dienen, indem wir erkennen müssen, daß wir bei all unserem
Eifer in betreff unseres Ichs unser Ziel nicht erreichen. „Ihr
habt nach vielem ausgeschaut, und siehe, es wurde wenig; und
brachtet ihr es heim, so blies ich darein. Weshalb das? spricht
Jehova der Heerscharen. Wegen meines Hauses, das wüst liegt,
während ihr laufet, ein jeder für sein eigenes Haus. Darum hat
der Himmel den Tau über euch zurückgehalten, und die Erde
ihren Ertrag zurückgehalten" (Hag 1, 9—10). Der Herr handelt
mit Seinem Volk auf einem Grundsatz vergeltender Gerechtigkeit nach den Worten: „Was irgend ein Mensch säet, das wird
er auch ernten" (Gal 6, 7). Dieses tut der vollkommenen Annahme des Gläubigen aus Gnaden und seinem Bleiben in der
Gnade durchaus keinen Eintrag. Nein, Gott sei Dank! diese
Dinge stehen unerschütterlich fest. Aber dennoch lehrt uns der
Apostel: „Wer sparsam säet, wird auch sparsam ernten"
(2. Kor 9, 6). Dieser Grundsatz gestattet eine ausgedehnte Anwendung. Der Charakter des Säens tut nichts zur Sache. Können wir nicht freigiebig für den Herrn säen, so wird Er uns
auch keine reiche Ernte schenken. Haben für unsere Herzen
und Seelen die Angelegenheiten der Versammlung, die Angelegenheiten der Lämmer und Schafe der Herde Christi kein
Interesse, dürfen wir uns dann wundern, wenn unsere Seelen
sich in einem dürren, unfruchtbaren Zustand befinden? Wenn
wir nun mit unseren eigenen Dingen, mit unseren Umständen,
unseren Sorgen, unseren Schwierigkeiten, unseren Kämpfen
beschäftigt sind, ist es dann ein Wunder, daß diese Dinge endlich unsere Herzen ganz anziehen? Hätte Hiskia nur an das
Bauen der „Burgen und Türme" gedacht, hätte er nur auf die
Verstärkung seines Königreichs und auf die Befestigung seines
Thrones sein Augenmerk gerichtet, wie hätte er dann im
Augenblick der Gefahr in das Haus Jehovas eilen und dort
Hilfe suchen dürfen? Würden nicht unter solchen Umständen,
statt der herrlichen Antwort Jehovas an Hiskia die Worte sein
65
Ohr getroffen haben: „Gehe hin zu deinen Burgen und Türmen, daß sie dich erlösen in der Stunde der Gefahr?" Doch dies
war nicht der Fall. Hiskia hatte Wache gehalten über das Haus
Gottes, und Jehova trug Sorge um das Königreich Hiskias;
denn: „Gott ist nicht ungerecht, eures Werkes zu vergessen
und der Liehe ... " (Hebr 6,10). Und so wird es zu allen Zeiten
sein. Bilde sich niemand ein, daß seine Seele gedeihen werde,
wenn er sich selbst nicht den Interessen des Hauses Gottes
widmet. Wollen wir den stolzen Assyrer überwunden sehen,
so müssen wir die Verborgenheit der Gegenwart Gottes kennen. Wir müssen mehr vor Gott und mehr für Gott sein, und
zwar nicht, um irgend etwas zu gewinnen, sondern aus reiner
und unbedingter Widmung an Ihn, den Geber aller Gaben,
der uns durch die Ausübung Seiner unumschränkten Gnade zu
allem, was wir sind und ewig sein werden, gemacht hat.
In dieser Stellung finden wir bisher den König Hiskia. Wir
sahen ihn als Priester im Heiligtum, als Levit unter den Brüdern, als Kriegsmann gegenüber dem Feind; und stets entdecken wir an ihm die gleiche Liebenswürdigkeit und die gleiche
sittliche Größe. Er liefert uns ein beachtenswertes Beispiel von
der Segnung eines Menschen, der sein Werk mit Gott beginnt,
fortsetzt und vollendet. Er wünscht einen entscheidenden Sieg
über den Feind davonzutragen, ohne jedoch den lieblichen
Ruheort des Heiligtums zu verlassen. Er wünscht den Tempel
zu seiner Ratskammer zu machen und auf den Knien ordnet er
seine Kriegsrüstungen. In dieser Weise überwand er, in dieser
Weise gewann er den Sieg ohne Stoß und Hieb. Der König
von Juda lag auf den Knien, während der König von Assyrien,
gleich einem wilden Tiere, mit „einem Ring in seiner Nase und
einem Gebiß in seinen Lippen" in sein Land zurückgeführt
wurde. Welch ein schlagendes Beispiel der Folgen des Hochmuts! Und dennoch war dieses nicht das Ende seiner Laufbahn. Wie beschämend und erniedrigend es auch für einen so
hochmütigen und aufgeblähten Eroberer sein mochte, in sein
Land, und zwar geschlagen durch jenen in Sacktuch gehüllten
Mann zurückkehren zu müssen, so harrte seiner doch noch ein
größeres Unheil. Er hoffte Sicherheit zu finden im Tempel
seines Gottes. Aber ach! er verstand es nicht, sich in Sacktuch
zu hüllen vor dem Angesicht dessen, der zwischen den Che66
rubim wohnt, und daher fand er sein schreckliches Ende vor
dem Altar dessen, den er anbetete. Denn wir lesen: „Und es
geschah, als er sich niederbeugte im Hause Nisrocks, seines
Gottes, da erschlugen ihn Adrammelek und Scharezer, seine
Söhne, mit dem Schwerte, und sie entrannen in das Land
Ararat. Und Esar-Haddon, sein Sohn ward König an seiner
Statt" (Jes 37, 38). Ein solches Ende ist das Los aller, die ihre
Hand erheben wider den Herrn und Sein Volk.
Ich habe bereits angedeutet, daß Jesaja die treffliche Geschichte
des Hiskia mehr von einem moralischen Gesichtspunkt aus,
und zwar in Verbindung mit dem zukünftigen Schicksal des
Hauses Israel, zu behandeln scheint. Wenn wir sie von dieser
Seite aus ins Auge fassen, erkennen wir in Sanherib das Bild
jenes „eigenwilligen Königs", der sich „selbst erhöht über
alles, was Gott heißt oder ein Gegenstand der Verehrung ist",
und von dem wir lesen: „Und der König wird nach seinem Gutdünken handeln, und er wird sich erheben und groß machen
über jeden Gott, und wider den Gott der Götter wird er Erstaunliches reden, und er wird Gelingen haben, bis der Zorn
vollendet ist, ... " (2. Thess 2, 4; Dan 11, 16-45). Ebenso kann
der in Sacktuch gehüllte Hiskia als ein Sinnbild jenes gerechten
Überrestes in den letzten Tagen betrachtet werden, der um
Errettung seufzt von der Hand des mächtigen Unterdrückers,
wenn der Herr Seine Auserwählten „in die Wüste führen und
ihnen zum Herzen reden wird", und wenn „die Jungfrau, die
Tochter Zion ihr Haupt schüttelt" gegen ihn, der die Erde
beben und die Königreiche zittern macht. Wahrlich dann wird
„das Entronnene vom Hause Juda, das übriggeblieben ist,
wiederum wurzeln nach unten und Frucht tragen nach oben.
Denn von Jerusalem wird ein Überrest ausgehen, ein Entronnenes vom Hause Zion. Der Eifer Jehovas der Heerscharen
wird solches tun" (Jes 37, 31—32).
Wenn wir von diesem Gesichtspunkt aus die letzten Zeiten
Hiskias betrachten, so steigert sich für uns der Wert seiner
Geschichte bedeutend; denn sie liefert uns nicht nur tiefe moralische Grundsätze für unseren täglichen Wandel, sondern
auch eine wichtige prophetische Schilderung von der Geschichte
Israels in den letzten Tagen. Möge der Herr uns die Gnade
schenken, Seine Zeugnisse mehr und mehr zu würdigen und zu
67
lieben, zumal da die traurige Unsicherheit aller menschlichen
Dinge und Meinungen immer deutlicher in die Erscheinung
tritt! „Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Anmut wie die
Blume des Feldes. Das Gras ist verdorrt, die Blume abgefallen,
denn der Hauch Jehovas hat sie angeweht. Fürwahr, das Volk
ist Gras. Das Gras ist verdorrt, die Blume ist abgefallen; aber
das Wort unseres Gottes besteht in Ewigkeit" (Jes 40, 6—8).
In Jesaja 38 finden wir den König Hiskia „todkrank". Hier
handelt es sich nicht um die Umstände seines Königreichs, sondern um seine eigene Person. Wie er früher durch die stolze
Herausforderung des assyrischen Königs erschreckt worden
war, so fühlte er jetzt den verwelkenden Atem des Königs der
Schrecken. Er erfährt jetzt, daß er nicht nur für sein Reich,
sondern auch für sich selbst seine Zuflucht bei Gott suchen
muß. Es war eine Prüfungszeit, aber auch eine heilsame Zeit
für ihn. Wir gewahren in dieser ernsten Szene deutlich die
Hand eines treuen Freundes. Hiskia hatte vieles erfahren, das
ihn unter dem Einfluß des Feindes zur Selbsterhebung hätte
führen können. Die vielen Jahre seines Diensteifers für Gott,
die herrliche, durch ihn bewirkte Reformation, sein Einfluß auf
die Priester und Leviten, auf die Männer Judas und Israels und
schließlich die glänzende Befreiung, die ihm Jehova der Heerscharen über einen so mächtigen Feind verliehen hatte, dies
alles war ganz und gar geeignet, den Hochmut seines Herzens
zu nähren; und, wie wir im Verlauf seiner Geschichte sehen
werden, wußte Hiskia sehr wohl, was Hochmut war.
Aber wie sehr müssen wir die Treue unseres Gottes bewundern,
wenn wir, nach einem flüchtigen Blick auf die hervorragenden
Lebensszenen dieses vortrefflichen Mannes, die feierlichen
Worte vernehmen, mit denen dieses Kapitel beginnt. „So
spricht Jehova: bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und
nicht genesen." Hier handelt es sich um eine persönliche Frage.
„Dein Haus." Er hatte, und zwar mit gutem Erfolg, für das
Haus des Herrn geeifert; er hatte mit Recht dem Königreich
seine ganze Sorgfalt gewidmet. Hätte er es nicht getan, so wäre
er unfähig gewesen, den Thron Davids zu bekleiden. Aber es
gab für ihn noch etwas von größerer Bedeutung. Der Herr will
Seinem Diener noch näher kommen. Er will mit ihm reden über
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sein Haus. „Bestelle dein Haus." Das war in der Tat ein
prüfendes Wort. Bei einer solchen Berührung wird manche
Saite des Herzens erzittern, die man im Geräusch des tätigen
Dienstes nicht beachtete; und manche verborgene Kammer der
Seele wird aufgeschlossen werden, die man im Verkehr mit
Menschen nicht entdeckte. Wir begegnen hier am Bett Hiskias
einer höchst ernsten Erscheinung, die uns um so mehr auffällt,
da der Übergang so plötzlich ist. Soeben gewahrten wir ihn im
Glanz des Sieges, jetzt sehen wir ihn am Rande des Grabes;
vor wenigen Augenblicken finden wir ihn, das Haupt kühn
über seine Feinde erhebend, im Heiligtum, und jetzt sehen wir
ihn niedergeworfen, und der Todesengel ist bereit, den letzten
Schlag zu tun. Doch in beiden Umständen entdecken wir die
Hand Gottes. Freilich zeigt sich dort Gott in Seiner Gnade und
Barmherzigkeit, und hier in Seiner Weisheit und Treue; aber
immer ist es Gott; und man weiß nicht, ob die Gnade der an
Sanherib gerichteten Worte: „Die Tochter Zion schüttelt ihr
Haupt dir nach", oder ob die Treue der zu Hiskia gesprochenen
Worte: „Bestelle dein Haus!" am meisten zu bewundern ist.
In dem einen Fall sehen wir, wie Gott seinen Diener von einem
Feind, und im anderen, wie er ihn von sich selbst befreit.
Was wird Hiskia tun in dieser Prüfungsstunde? Er kann nicht
zum Hause Gottes pilgern: aber er kann zu Gott selbst gehen;
und das tut er. „Da wandte Hiskia sein Antlitz gegen die Wand
und betete zu Jehova."*) Das war zu allen Zeiten sein Heilmittel. „Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter
auf den Morgen" (Ps 130, 6). Der Herr hatte nur die Absicht,
in seinem vielgeliebten Diener das klare Bewußtsein seiner
Abhängigkeit wachzurufen. Er wollte ihm zeigen, daß dieselbe
Hand, die sein Königreich noch kürzlich aus dem Rachen des
Feindes befreit hatte, jetzt ihn selbst aus dem Rachen des Todes
retten mußte. Er sollte, mit anderen Worten, erfahren, daß
*) Es könnte jemand die Frage aufwerfen, warum Hiskia sich so sehr an das
Leben klammerte. Die Antwort ist, daß er als Jude gelernt hatte, ein langes
Leben als einen besonderen Segen aus der Hand des Herrn zu betrachten; für
den Gläubigen unter der Verwaltung des Evangeliums würde es hingegen widersinnig sein, nach einem langen Leben zu trachten. Für den Juden war es
wünschenswert, lange in dem Lande zu leben; aber das Bürgerrecht des Christen
ist bereits jetzt im Himmel, und die Verwirklichung dessen, was im Geist und
im Grundsatz wahr ist, nämlich der wirkliche Hingang zum Himmel, sollte jetzt
sein Wunsch sein.
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weder er, noch sein Reich bestehen würden, solange sie nicht
in der „Kraft der Auferstehung" standen. Welch eine göttliche
Harmonie liegt in den Worten: „Bestelle dein Haus!" und: „Da
wandte Hiskia sein Antlitz gegen die Wand." Das war seine
Antwort. „Obwohl mein Haus nicht also ist bei Gott, hat er
mir doch einen ewigen Bund gesetzt, geordnet in allem und verwahrt; denn dies ist all meine Rettung und all mein Begehr,
obwohl er es nicht sprossen läßt" (2. Sam 23, 5). Und wie er es
einst mit seinem Königreich tat, so übergibt er sich jetzt selbst
den Händen Jehovas — dem einzigen Platz wahrer Sicherheit.
Und siehe, wie der Herr die Befreiung des Königreichs genau
verbindet mit der Wiederherstellung des Königs! „Siehe, ich
will zu deinen Tagen fünfzehn Jahre hinzutun, und von der
Hand des Königs von Assyrien will ich dich und diese Stadt
erretten; und will diese Stadt beschirmen" (Jes 38, 5—6). Hier
sehen wir deutlich, daß sowohl Juda als auch der König von
Juda durch den Tod und die Auferstehung gehen mußten. Alles
geschah ganz außer dem gewöhnlichen Lauf der Natur, und
weil dieses so war, so wurde auch der Lauf der Natur gestört.
„Und die Sonne kehrte an dem Sonnenzeiger zehn Grade zurück, welche sie niederwärts gegangen war" (V. 8). Welch eine
herrliche Entfaltung der Macht Gottes, der in Seiner Gnade den
Lauf der Natur geradezu umkehrt!
Jede Szene in dem Leben Hiskias ist beachtenswert. Auf eine
wunderbare Weise wird er von dem Assyrer erlöst; seine Befreiung aus dem Rachen des Todes ist noch wunderbarer. Er
wußte alle seine Beschwerden in einer Weise auf Gott zu
legen, daß die Handlungen Gottes dadurch durchaus ans Licht
treten mußten; und Gott wird, wie wir wissen, keine Rücksicht
auf irgend etwas nehmen, was Seinem Handeln in betreff
Seines Volkes im Wege steht. Er läßt nicht nur die Sonne stillstehen, wie bei Josua, sondern läßt sie auch zurückgehen und
zeigt dadurch die göttliche Macht Seiner Gnade und Barmherzigkeit, um denen zu helfen, die auf Seine Hilfe warten.
Wahrlich, wir dürfen sagen: Wenn die Gnade die Allmacht
Gottes anruft, gibt es nichts, das nicht zu überwinden wäre.
Jedoch befreite der Herr Seinen Diener nicht in einer Weise,
die der göttlichen Unterweisung irgendwelchen Abbruch tat.
Dies sehen wir deutlich beim Durchlesen der „Aufzeichnungen
70
Hiskias, als er krank gewesen und von seiner Krankheit genesen war." Die Erfahrung, die sich darin kundgibt, hätte er
weder inmitten der Gemeinde erlangen können, noch im
Schlachtfelde, noch sonst irgendwo, sondern nur da, wohin
Gott ihn führte, auf dem Krankenbett. Niemand kann unterweisen wie Gott.
Vielleicht wird jemand fragen, welche Lektion Hiskia denn
eigentlich in der Leidensstunde gelernt habe. „Was soll ich
sagen? Daß er es mir zugesagt und es auch ausgeführt hat.
Ich will sachte wallen alle meine Jahre, wegen der Betrübnis
meiner Seele" (V. 15). Er lernte, mit einem Wort, die Notwendigkeit, langsam zu wandeln. Und in der Tat war diese
Heimsuchung geeignet, ihm diese Unterweisung zu geben, wie
bald er sie auch wieder vergessen mochte. Aber noch mehr.
Hiskia lernte etwas sowohl in betreff Gottes, als auch in betreff
seiner selbst. Und das ist für uns wichtig. Es würde wenig nützen, wenn wir nur die geheimen Triebfedern in unseren
Herzen, und nicht zugleich die geheimen Triebfedern in dem
Herzen Gottes entdeckten. Lernt der Mensch nur, daß sich
verborgene Sünden sowie böse Grundsätze, die er bisher nicht
kannte, in seinem Herzen befinden, so wird diese Erkenntnis
seine Seele in Verzweiflung stürzen. Aber entdeckt er, im Blick
auf seine Sünde, zugleich die Gnade Gottes, Sünden wegzunehmen, dann ist die Erkenntnis eine göttliche, dann lernt er
sich selbst und Gott kennen; und nur diese Erkenntnis wird ihn
wahrhaft demütig machen. Die Gnade, welche die Sünde hinwegnimmt, leitet die Seele zur wahren Demut. So war es auch
bei Hiskia; er lernte „sachte zu wallen", und zwar durch die
Gnade, die ihm alle Furcht betreffs seiner Sünde weggenommen
hatte. „O Herr! durch dieses lebt man, und in jeder Hinsicht
ist darin das Leben meines Geistes. Und du machst mich gesund und hältst mich am Leben. Siehe, zum Heile ward mir
bitteres Leid: Du, du zogest liebevoll meine Seele aus der Vernichtung Grube; denn alle meine Sünden hast du hinter deinen
Rücken geworfen" (Jes 38, 16—17). Welch eine gesegnete Entdeckung! Er konnte nicht nur sagen: „Du hast das Königreich
aus der Hand des Königs von Assyrien gerettet!" sondern
auch: „Du hast meine Seele errettet, denn du hast alle meine
Sünden hinter deinen Rücken geworfen." So war also Hiskia
71
befreit von sich selber, von seinen Sünden und vom Grabe, um
einen gesegneten Platz unter jenen „Lebendigen" einzunehmen,
die allein den Namen des Herrn zu preisen und zu verherrlichen
vermögen. Ach! zu welch glücklichem Platz wurde die Seele
dieses vortrefflichen Mannes durch jene Führungen Gottes gebracht, die uns in diesem Kapitel gezeichnet werden. Es begann
mit den Worten: „Bestelle dein Haus!" mit Worten, die, wie
wir bemerkt haben, viele Dinge zu seiner Demütigung vor
seinen Blicken aufdeckten, die ihn jedoch zugleich soviel von
der erlösenden und wiederherstellenden Liebe erkennen ließen,
daß er diesen Befehl mit den Worten beantwortete: „Du hast
alle meine Sünden hinter deinen Rücken geworfen." Er übergab
sich ganz seinem Gott, „Der ihm einen ewigen Bund gesetzt
hatte, geordnet in allem und wohl verwahrt. Jehova war bereit,
mich zu retten; und wir wollen mein Saitenspiel rühren alle
Tage unseres Lebens im Hause Jehovas" (V. 20).
Es ist höchst lehrreich, den Tempeldienst wiederhergestellt, das
Königreich Juda aus der Hand des Unterdrückers befreit, und
den König von Juda dem Grabe des Verderbens entrückt zu
sehen; und man könnte versucht sein zu denken, daß sich jetzt
die Herrlichkeit selbst offenbaren werde. Aber leider konnte es
so nicht sein. Alles, wie segensreich es auch war, war doch nur
ein Schatten von dem, was geoffenbart werden soll, wenn der
wahre König von Juda den Thron Seines Vaters David einnehmen und das Zepter über ein Königreich führen wird, das
nimmer erschüttert werden kann.
Wir nähern uns jetzt der letzten Szene aus dem Leben Hiskias,
die unsere Behauptung unzweideutig bestätigt, daß die
Herrlichkeit sich noch nicht offenbaren konnte. Wir brauchen
bei diesem Teil unserer Betrachtung nicht lange zu verweilen.
Der Heilige Geist gibt uns darin ein Beispiel: denn die Erzählung und deren Anwendung nimmt nur den Raum zweier
Verse ein. Und in der Tat finden wir stets, daß der heilige
Geschichtsschreiber eine weit höhere Freude darin findet, die
Tugenden jener Personen aufzuzeichnen, deren Geschichte
er behandelt, als ihre Mängel. Dies ist besonders in der Geschichte Hiskias beachtenswert. Die Mitteilung seiner guten
Taten umfaßt vier lange Kapitel im zweiten Buche der Chronika, während wir bezüglich seines Fehlers nur die kurzen
72
Worte lesen: „Und so verließ ihn Gott bei den Gesandten der
Fürsten von Babel (die zu ihm gesandt hatten, um nach dem
Wunder zu fragen, welches im Lande geschehen war) um ihn
zu versuchen, damit er alles erkennte, was in seinem Herzen
war" (2. Chron 32, 31). Nur wenige Worte; aber wie inhaltsreich! Es ist in der Tat kein geringes Maß von Erkenntnis der
erlösenden Liebe erforderlich, um „Alles, was im Herzen
des Menschen ist", zu erkennen. Sie nahm alles in Anspruch, was Hiskia während seines gesegneten Lebens von
Gott gelernt hatte, um ihn zu befähigen, in die tiefen Winkel
seines Herzens blicken und dort „alles", was darin war, entdecken zu können. O wie umfangreich ist das Wörtchen „alles"!
Wer anders könnte dazu fähig sein, als nur der, der gelernt hat,
zu sagen: „Du hast alle meine Sünden hinter deinen Rücken
geworfen/' Nur dann, wenn wir wissen, daß der Herr uns alle
unsere Übertretungen vergeben und alle unsere Krankheiten
geheilt hat, wenn wir durch den Glauben den von Gott herbeigeführten Sündenbock erkennen, der „alle unsere Ungerechtigkeiten auf sich trug in ein ödes Land" (3. Mo 16, 21—22) —
nur dann können wir uns umwenden und in unsere Herzen
hineinblicken und dort all das entsetzliche Böse entdecken. Das
Böse zu schauen, ohne das Hinwegtun unserer Sünden durch
das Werk Jesu erkannt und erfahren zu haben, ist eine niederschmetternde Entdeckung. Wenn dagegen unser Blick auf dem
Kreuze Christi ruht, dann werden wir nicht nur immer tiefer
unsere eigene Nichtswürdigkeit erkennen und uns nicht nur
immer mehr der Grenze des umfangreichen Wörtchens „alles"
nähern, sondern wir werden auch immer mehr die Gnade unseres Gottes und die reinigende Kraft des Blutes unseres Herrn
Jesu Christi zu würdigen verstehen.
Es ist beachtenswert, daß Gott in den verschiedenen Zeitabschnitten dieser höchst anziehenden Geschichte immer näher an
Hiskia herantritt. „Jede Rebe an mir, die Frucht bringt, die
reinigt er" (Joh 15, 2). Je mehr jemand sich Gott gewidmet hat,
und je ausgezeichneter sein Wandel ist, desto eifersüchtiger
wacht Gott über ihn, damit er um so kräftigere und gesegnetere
Beweise von seiner Ergebenheit an den Tag zu legen imstande
sei, oder auch, um irgendein verborgenes Übel vor sein Auge
zu bringen und auszurotten, das bisher im Herzen geschlum73
mert hatte. Dies war Seine weise und treue Absicht in bezug
auf Hiskia.
Was die Verwaltung des Königreichs betraf, so hatten unverkennbar die jüngst geschehenen Ereignisse und vor allem
die Niederlage Sanheribs einen tiefen, nachhaltigen Eindruck
bei den Nachbarvölkern zurückgelassen. Es lagen genügende
Beweise vor, daß das Land sich einer guten Verwaltung erfreute.
Dazu hatten die in ihre Heimat zurückkehrenden Kinder Israels
die ihrem Herzen so wohltuende Überzeugung gewonnen, daß
der Tempeldienst sich in bester Ordnung befand. Mit einem
Wort, Hiskia hatte das Zeugnis von außen seitens der Welt und
von innen seitens der Brüder, daß sein Pfad ein guter und gerechter Pfad sei. Das war von großer Bedeutung. Welch ein
Glück für uns, wenn wir der Welt keinen Anlaß zum Tadel
und den Brüdern keinen Anlaß zum Argwohn geben! Und
dieses Glückes müssen wir teilhaftig sein. Aber noch mehr als
dieses. Gott prüft unseren Weg mit einem schärferen Auge als
die Welt und die Versammlung. Er begnügt sich nicht mit einem
gutverwalteten Reich, noch mit einem wohlgeordneten Haus,
nein, Er stellt höhere Forderungen; — Er schaut auf ein gut zugerichtetes Herz. Das ist lehrreich und entscheidend. Im Beginn
seiner öffentlichen Laufbahn wurde die Aufmerksamkeit Hiskias zunächst auf die Unordnung des Reiches, dann auf den
Verfall seines Hauses, und schließlich auf das schwer zu entdeckende Böse seines Herzens gelenkt. Und eben diese zuletzt
genannte mühevolle Prüfung, die ihm auferlegt wurde, zeigt
uns, wie weit Hiskia selbst Männer übertraf, denen eine außergewöhnliche Gnade zuteil geworden war. So wurde z. B.
Jotham nie auf eine solche Probe gestellt; warum nicht? Weil er
schon auf der Schwelle seiner Laufbahn Fehler machte. Es gab
hinsichtlich seiner ein „Aber" in der bloßen Angelegenheit des
Königreichs, geschweige denn im Blick auf sein Haus und sein
Herz. So war es nicht bei Hiskia. Bei ihm gab es kein „Aber",
bis die „Gesandten" zu ihm kamen; mit anderen Worten, Gott
hatte mit ihm zu reden über den Zustand seines Herzens; und
müssen wir nicht sagen, daß nur Einer existiert, der diese dreifache Probe bestehen konnte? Nur Er konnte sagen: „Im Innern meines Hauses will ich wandeln in Lauterkeit meines
Herzens" (Ps 101, 2).
74
Gedanken über die Leiden Christi
Die Leiden Christi sind für uns ein Gegenstand der Betrachtung, der unsere ganze Aufmerksamkeit verlangt. Wir erblicken
darin die Herrlichkeit Christi, und die Liebe Gottes, unsere
Sünde in ihrer ganzen Größe und die Macht Gottes, die unsere
Erlösung bewirkt. Dazu ist Sein Mitgefühl, Seine Teilnahme
bei unserer Bedrängnis in einer Welt voll Elend so tröstend,
so beruhigend und zugleich so erhebend für unsere Seele, daß
wir deren Wirkung in unseren Herzen nicht hoch genug zu
schätzen vermögen.
Wenn wir die Leiden des Herrn betrachten, müssen wir zunächst auf den Unterschied zwischen den Leiden Christi, welche
der Mensch bewirkt hat, und den Leiden, welche Gott Ihm
auferlegt hat, unser Augenmerk richten. Das Leiden durch die
Menschen gewahren wir in Seinem Leben vor dem Kreuz; das
Leiden durch Gott nur auf dem Kreuz. Wir wissen, daß der
Herr von Seiten des Menschen zu leiden hatte. Er wurde verachtet und verworfen durch den Menschen. Die Welt haßte
Ihn, weil Er bezeugte, daß ihre Werke böse waren. Er war das
Licht, und „Jeder, der Böses tut, haßt das Licht, und kommt
78
nicht zu dem Lichte, damit seine Werke nicht bloßgestellt
werden" (Joh 3, 20). Mit einem Wort gesagt, Christus litt, weil
Er gerecht war. Er teilte das Los Abels, der in dieser Beziehung
ein Vorbild von der Geschichte Jesu ist. Kain tötete Abel, „weil
seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht." Man
braucht nur die Geschichte Jesu zu lesen; von Beginn bis zu
Ende wird man sehen, wie Er gehaßt, verschmäht, verspottet,
gesteinigt und endlich wie ein Missetäter ans Kreuz genagelt
worden ist. Und dieses alles litt Er um der Gerechtigkeit willen.
Die Feindschaft der Juden war es, die Ihn ans Kreuz heftete.
Der ganze Haß des menschlichen Herzens wälzte sich in vereinter Kraft auf Ihn und fand seinen Ausdruck in den schrecklichen Worten: „Kreuzige, kreuzige Ihn!" Man konnte die
Offenbarung der Heiligkeit und der Liebe Gottes nicht ertragen;
und darum mußte Jesus von der Erde vertilgt werden. Die
sündige Welt vermochte dem Blick des Gerechten nicht zu begegnen. — Und was fühlte die Seele Jesu unter diesem allem?
Wir finden dies deutlich ausgedrückt in Psalm 42. Seine Seele
verlangt nach Gott, wie der Hirsch lechzt nach Wasserbächen.
„Meine Tränen sind mir zur Speise geworden, Tag und Nacht,
da man den ganzen Tag zu mir sagt: Wo ist dein Gott?"
„Sagen will ich zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich
vergessen? Warum gehe ich trauernd einher wegen der Bedrückung des Feindes? Wie eine Zermalmung in meinen
Gebeinen höhnen mich meine Bedränger, indem sie den ganzen
Tag zu mir sagen: Wo ist dein Gott?" — Welch eine rührende
Klage! Er war beengt und niedergebeugt unter dem Druck des
Feindes. Doch zu gleicher Zeit setzte er volles Vertrauen auf die
Gemeinschaft mit Gott. Nicht wie am Kreuz seufzt Er: „Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" sondern-
„Was beugst du dich nieder, meine Seele, und bist unruhig
in mir? Harre auf Gott! denn ich werde ihn noch preisen, der
das Heil meines Angesichts und mein Gott ist." Darum sagt Er
auch: „Ich aber wußte, daß du mich allezeit erhörst." Wie
drückend Sein Leiden auch war, so litt Er doch stets in Gemeinschaft mit Gott und wandelte ohne Unterbrechung in dem Licht
des freundlichen Antlitzes Gottes.
Dieses leitet uns unvermerkt zu der Anschauung, daß der Herr
in Seinem Leben vor dem Kreuze in keiner Hinsicht der Träger
79
der Sünden war; denn dann würde Er ja während Seines ganzen Lebens unter dem Zorn Gottes und keineswegs in der
Gemeinschaft mit dem Vater gewesen sein. Gott kann Sein
Wohlgefallen nicht an jemanden haben, der die Sünde trägt; Er
kann nicht in Gemeinschaft wandeln mit einer Person, die sich
unter Seinem Zorn befindet. Darüber gibt uns das Kreuz den
deutlichen Aufschluß. Sobald Christus an unserer Statt die
Sünden trägt und der Zorn Gottes über Ihn kommt, ist Er von
Gott verlassen. Obwohl Er in Sich Selbst rein und von den
Sündern abgesondert war, konnte Gott doch, sobald Er Ihn an
unserer Statt mit Sünden beladen sah, weder Gemeinschaft mit
Ihm üben, noch Sein Flehen erhören.
Die Schrift sagt uns darum auch ausdrücklich, daß der Herr
unsere Sünden an Seinem Leibe auf dem Holze getragen habe.
(1. Petr 2, 24). Der Zusammenhang, in dem diese Worte vorkommen, macht uns diese Tatsache noch anschaulicher. Petrus
bezeichnet es als ein Vorrecht, um des Gewissens vor Gott
willen Beschwerden auszuhalten, indem man ungerecht leidet,
und stellt uns Ihn als Vorbild hin, — „welcher keine Sünde tat,
noch wurde Trug in seinem Munde erfunden, der, gescholten,
nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der recht richtet" (1. Petr 2, 22). — So war der Herr in
Seinem Leben. Und nun läßt Petrus die Worte folgen: „Welcher
selbst unsere Sünden an seinem Leibe auf dem Holze getragen
hat." Sobald es sich um das Tragen unserer Sünden handelt,
fügt er ausdrücklich die Worte bei: „Auf dem Holze", um dadurch anzudeuten, daß dieses nicht schon früher der Fall
gewesen sei.
Diesen Unterschied finden wir auch in Jesaja 53: „Er hatte
keine Gestalt und keine Pracht; und als wir ihn sahen, da hatte
er kein Ansehen, daß wir seiner begehrt hätten. Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man das
Angesicht verbirgt; Er war verachtet und wir haben ihn für
nichts geachtet. Fürwahr, er hat unsere Leiden getragen, und
unsere Schmerzen hat er auf sich geladen" (V. 2—4). Dies ist
die Beschreibung des Lebens und Leidens Jesu vor dem Kreuze;
und daß es so ist, finden wir deutlich in Mt 8, 16—17, wo die
durch Jesus verrichteten Wunder als eine Erfüllung jener Worte
80
betrachtet werden: „Er hat unsere Leiden getragen und unsere
Schmerzen hat er auf sich geladen." Dann aber folgt die Beschreibung des Leidens am Kreuze, indem wir lesen: „Und
wir, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und
niedergebeugt; doch um unserer Übertretungen willen war er
verwundet, um unserer Missetaten willen zerschlagen. Die
Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden" (Jes 53, 4. 5). Ebenso sagt
Paulus in Römer 4, 25, daß Christus unserer Übertretungen
wegen dahingegeben sei, wodurch nicht Sein Kommen auf die
Erde, sondern Sein Tod am Kreuze angedeutet wird.
Hätte der Herr in Seinem Leben vor dem Kreuz die Sünden
getragen, so würde Er, wie bereits bemerkt, während Seines
ganzen Lebens von Gott verlassen und außer Seiner Gemeinschaft gewesen sein. Im Evangelium finden wir jedoch das
Gegenteil. Schon die Menschwerdung fand statt inmitten der
Wonne des Himmels. Die Engel feierten durch ihr Lob dieses
wunderbar große Ereignis, und der Heilige Geist füllte die
menschlichen Gefäße mit dem ö l der Freuden. Die Engel des
Herrn und eine Menge himmlischer Heerscharen, bejahrte Männer und Frauen, Priester in dem Tempel und Hirten auf dem
Felde, alle verkündigten in ihrer Weise und nach ihrem Maße
die vollkommene und allgemeine Freude. Bei der Taufe des
Herrn durch Johannes stieg der Heilige Geist in der Gestalt
einer Taube auf Ihn hernieder, während eine Stimme aus dem
Himmel rief: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich
Wohlgefallen gefunden habe" (Mt 3, 17). Dies war jene in
Jesaja 42, 1 angekündigte Verheißung: „Siehe, mein Knecht,
den ich stütze; mein Auserwählter, an welchem meine Seele
Wohlgefallen hat. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt." Diese
Erscheinung haben wir auch auf dem Berge der Verklärung. Die
Wolke überschattete Jesus und Mose und Elias, und durch die
Wolke drang die Stimme: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an
dem ich Wohlgefallen gefunden habe" (Mt 17, 5)! Selbst in der
Stunde, wo Jesus, erschüttert bei dem Gedanken an Sein
schreckliches Leiden, die Worte ausstieß: „Jetzt ist meine Seele
bestürzt, und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser
Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater
verherrliche deinen Namen!", kam, als unmittelbare Antwort
81
auf Seine Frage, die Stimme aus dem Himmel: „Ich habe ihn
verherrlicht und werde ihn auch wiederum verherrlichen"
(Joh 12, 27. 28).
Hier haben, wir also unumstößliche Beweise, daß der Herr Jesus
während Seines Lebens nicht unter dem Zorn Gottes war und
mithin unsere Sünden nicht trug. Gott zeugt von Ihm, daß Er
Sein Wohlgefallen an Ihm hatte. Dies wäre unmöglich gewesen,
wenn die Sünde auf Seinen Schultern lastete. Nimmer würde
dann der Himmel sich über Ihm geöffnet haben; nimmer hätte
Er dann der Gegenstand der Anbetung des Himmels sein
können. Als einen solchen aber bezeichnet Er Sich, wenn Er zu
Nathanael sagt: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Von nun
an werdet ihr den Himmel geöffnet sehen, und die Engel Gottes
auf- und niederfahren auf den Sohn des Menschen" (Joh 1,51).
Auch in Gethsemane finden wir das gleiche Zeugnis. Es war
die Nacht vor den Leiden des Kreuzes. Der Herr hatte von
Seinen Jüngern Abschied genommen; Er hatte sie getröstet und
ermutigt. Darauf war Er mit ihnen an den ölberg gegangen;
dort ließ Er sie zurück und blieb allein, um Sich mit dem zu
beschäftigen, was im Begriff war, über Ihn hereinzubrechen.
Diesen Augenblick benutzte der Teufel, um Ihm das Leiden
des Kreuzes in seiner ganzen Schrecklichkeit vorzustellen und
Ihn, wenn möglich, davon zurückzuhalten. Der Herr fühlte das
Schreckliche dieses Todes um der Sünde willen und dieses
Verlassenseins von Gott; Er fühlte das Furchtbare Seiner Lage,
welcher Er Sich, wollte Er uns erlösen, unfehlbar unterwerfen
mußte . Sein Kampf war schwer; wie große Blutstropfen rann
Sein Schweiß zur Erde; und in dem Elende, worin Seine Seele
schmachtete, rief Er: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe
dieser Kelch an mir vorüber." Mit anderen Worten: Wenn es
streiten und diesen furchtbaren Tod sterben zu müssen, dann
möglich ist, Sünder zu erlösen, ohne diesen schrecklichen Streit
laß diesen Kelch an mir vorübergehen. Aber das war nicht
möglich; und, wie Er bereits früher gesagt hatte: „Doch darum
bin ich in diese Stunde gekommen", so übergibt Er Sich auch
hier dem Willen des Vaters, indem Er sagt: „Doch nicht, wie ich
will, sondern wie du willst!" Der Kampf war ausgekämpft und
der Teufel aus dem Feld geschlagen; der Herr hatte über82
wunden, und ein Engel kam, um Ihn zu stärken. (Siehe Mt 26
und Lukas 22). Also auch in dieser fürchterlichen Stunde war
Jesu nicht von Gott verlassen. Inmitten des heftigsten Kampfes redet Er Gott als Seinen Vater an, das auf dem Kreuze erst
dann geschah, nachdem alles vollbracht war. Gestärkt durch
den Engel, geht Er voll Mut der Söldnerschaar entgegen und
übergibt sich ihnen freiwillig und in vollkommener Ruhe. Nein,
auch in Gethsemane trug Er unsere Sünden nicht, auch dort
befand Er Sich nicht unter dem Zorn Gottes; auch dort nahm
Er unseren Platz nicht ein, um gestraft zu werden. Die wichtige Wahrheit, die wir dort finden, ist, daß Christus (ungeachtet
der Versuchung des Teufels, das Leiden und Sterben, als Opfer
für die Sünde nicht auf Sich zu nehmen), durch Seine Liebe zu
uns getrieben, den Kelch des Zorns aus der Hand des Vaters
freiwillig angenommen hat, um ihn am Kreuz zu leeren und
zwar unter dem Gefühl der entsetzlichen Schwere dieses
Leidens.
Während Seines Lebens auf der Erde war der Herr im Genuß
der vollkommenen Gunst Gottes; Er war in Seiner fortdauernden Gemeinschaft ein Gegenstand der Anbetung des Himmels. In den schwersten Leiden, die Er unter der Hand des
Menschen zu erdulden hatte, vertraute Seine Seele auf Gott
und fand bei dem Vater Stärkung und Erhörung. Und selbst in
jener Stunde, wo das Leiden für die Sünde Ihm in seiner
ganzen Größe vorgestellt wurde, und Er dessen Tiefe und
Schrecklichkeit fühlte, befand Er Sich in Gemeinschaft mit dem
Vater, und Gottes Wohlgefallen ruhte auf Ihm. Doch als der
Mensch alles getan hatte, was er tun konnte, als er Jesum nicht
nur verfolgt, verhöhnt, verspottet und geschlagen, sondern Ihn
auch ans Fluchholz geheftet hatte, als er in seiner Bosheit bis
zur äußersten Grenze gegangen war, da, mit einem Male, veränderte sich die Szene. Statt nun im Genuß der Gunst Gottes
und in Seiner Gemeinschaft zu sein, ist Er von Gott verlassen
und ruft laut: „Mein Gott! Mein Gott! warum hast du mich
verlassen." Statt ein Gegenstand der Anbetung des Himmels
zu sein, verfinstert sich drei Stunden hindurch der Himmel über
Ihm. Welch ein Unterschied! Das ist nicht die Hand des Menschen, das ist die Hand Gottes. Wohl war Jesus von den Menschen verlassen, Er hing allein am Fluchholze; die Juden ver83
spotteten Ihn, und Seine Jünger waren geflohen. Doch deshalb
brauchte Gott Ihn nicht zu verlassen. Gewiß würde Er es auch
nicht getan haben, wenn nicht eine völlige Veränderung in
Seinem Zustande stattgefunden hätte. Die Feindschaft der
Menschen war nicht die Ursache, daß Jesus rufen mußte: „Mein
Gott! Mein Gott! warum hast du midi verlassen? bist fern von
meiner Rettung, den Worten meines Gestöhns. Mein Gott!
Ich rufe des Tages, und du antwortest nicht; und des Nachts, —
und mir wird keine Ruhe. Du aber bist heilig, der du wohnst
unter den Lobgesängen Israels. Auf dich vertrauten unsere
Väter; sie vertrauten, und du errettetest sie. Zu dir schrien sie
und wurden gerettet; sie vertrauten auf dich und wurden nicht
beschämt. Ich aber bin ein Wurm und kein Mann; der Menschen Hohn und der vom Volke Verachtete. Alle, die mich sehen,
spotten meiner; sie reißen die Lippen auf, schütteln den Kopf:
,Er vertraut auf Jehova! Der errette ihn; befreie ihn, weil er
Lust an ihm hat!'" (Ps 22, 1—8). O gewiß, selbst als Er am
Kreuze hing, hätte sich der Himmel öffnen können, um das
Wohlgefallen Gottes an Seinem Sohne zu offenbaren; selbst
von hier aus hätte Er Sich zwölf Legionen Engel zu Seiner
Rettung erbitten können, ohne daß Ihn irgend ein Mensch
daran hindern konnte.
Aber warum geschah dies nicht? Weil, sobald Er am Kreuz
hing, Sein Leiden aus der Hand Gottes kam. Wie im Alten
Testament der Hohepriester seine Hand auf das Haupt des
Sündenbocks legte, so legte Gott Seine Hand auf Jesum. Er
legte auf Ihn unsere Sünden; denn „Er ist um unserer Übertretungen willen verwundet, und um unserer Missetaten willen
zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und
durch seine Striemen ist uns Heilung geworden. Er wurde für
uns zur Sünde gemacht. Gott hat „den, der Sünde nicht
kannte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor 5, 21). Gott selbst tat dies. Er
machte Ihn zu einem Sündopfer und legte die Strafe auf Ihn,
die wir verdient hatten. Gottes Zorn ruhte auf Ihm; und darum
mußte Gott Ihn verlassen. Ja, Er war gezwungen dies zu tun,
weil Er keine Gemeinschaft mit der Sünde haben kann, und
Christus zur Sünde gemacht war. Darum lesen wir auch:
„Jehova gefiel es, ihn zu zerschlagen, er hat ihn leiden lassen"
84
(Jes 53, 10). Christus nahm auf dem Kreuz unsere Stelle ein;
Er war unser Stellvertreter; Er trug unsere Sünden; Er war für
uns zur Sünde gemacht; Er, der Gerechte, litt für die Ungerechten; und das will sagen, Er litt nicht, weil Er gerecht war,
sondern weil wir Sünder waren und Er unsere Sünden an
Seinem eigenen Leibe auf dem Holze trug. Weil in Ihm keine
Ursache war, um welcher willen Gott Ihn verlassen hatte,
konnte Er sagen: „Warum hast du mich verlassen?" Doch da
Er für uns zur Sünde gemacht worden ist, so können wir nun
sagen: Aus Gnaden litt Er, der Gerechte, für die Ungerechten.
Wie entsetzlich war dieses Leiden für den Herrn! Die menschliche Sprache hat kein Wort, um ausdrücken zu können, was
es für Ihn war, den Kelch des Zornes Gottes zu trinken; denn
wir sind nur imstande, unsere m Gefühl einen Ausdruck zu
geben. Gewiß, wir können nicht genug die Tiefe des Leidens
des Herrn in Seinem Erlösungswerke fühlen. Nichts kann damit
verglichen werden. Alles Leiden und alle Betrübnis des Herrn
in Seinem Lehen vor dem Kreuze steht in keinem Vergleich zu
Seinem Leiden auf dem Kreuze. Der göttliche Zorn über die
Sünde wurde wirklich in seiner ganzen Kraft gefühlt durch die
Seele Dessen, der mittels Seiner vollkommenen Heiligkeit und
Seiner Liebe zu Gott wissen konnte, was der göttliche Zorn
war, und der vermöge Seiner Heiligkeit imstande war, Sich dem
Zorn Gottes auszusetzen. So schrecklich das Vorgefühl von
diesem Leiden war, so furchtbar war das Leiden selbst.
Nicht der Tod an sich selbst, wie entsetzlich er für den
Fürsten des Lebens auch sein mochte, war es, der die furchtbare
Größe des Leidens ausmachte, sondern der Tod als die Folge
der Sünde und als das Urteil Gottes über den Sünder. In diesem
Leiden befand Sich Jesus allein. Die Gläubigen des Alten Bundes riefen zu Gott, und Gott antwortete ihnen; aber da Er rief,
fand Er keine Antwort.
Wie entsetzlich ist die Sünde, und in welch einem entsetzlichen
Zustande befindet sich der Sünder! Der heilige, vollkommene
Jesus, in dem keine Sünde war, und der während Seines ganzen
Lebens unter göttlichem Wohlgefallen wandelte, und, obwohl
Er verfolgt wurde, Sich des steten Genusses der Gemeinschaft
Gottes erfreute, wird, sobald Er unsere Sünden auf Sich nimmt,
85
und für uns zur Sünde gemacht worden ist, von Gott verlassen
und hängt drei Stunden hindurch in der Finsternis der Hölle.
Da sehen wir das Urteil Gottes über den Sünder. O laßt uns
mit Ernst über die Frage nachdenken: Wozu war dies alles
nötig? Von der Beantwortung dieser Frage hängt das Verständnis der Erlösung und die Ruhe unserer Seele ab. Wir waren
Sünder, verloren, tot in Sünden und Vergehungen, Kinder des
Zorns. Wir hatten die ewige Verdammnis, den ewigen Tod
verdient. Und Gott ist gerecht. Er kann die Sünde nicht unbeachtet lassen. Er mußte uns strafen und töten; Er mußte Sein
Urteil über uns ausführen. Dies forderte Seine Gerechtigkeit.
Und da wir uns nicht selbst der Strafe unterwerfen konnten,
ohne in das ewige Verderben zu kommen, gab Gott Seinen
Sohn dar. „Er hat seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben"; und Er hat Seinen Sohn auf
dem Kreuze an unserer Statt so behandelt, wie er uns hätte
behandeln müssen. Unbegreifliche Liebe! Was wir hätten
tragen müssen, legte Gott auf Jesum; was wir verdient hatten,
fiel auf Ihn, damit wir freigemacht würden. Die Gerechtigkeit
Gottes hat Christum getötet, auf daß die Gnade über uns herrschen konnte. Wie rein und vollkommen das Leben Jesu auch
war, und wie sehr wir es zu unserer Erlösung bedurften, so war
es doch nicht imstande, uns frei zu machen. „Denn ohne Blutvergießen ist keine Vergebung"; und: „Wenn das Weizenkorn
nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein." Um uns erlösen zu können, mußte Jesus Sich der Strafe und dem Urteil
unterwerfen und den Zorn Gottes tragen. Und Gott Selbst
mußte dies alles an Ihm vollziehen, weil Er in Seiner Gerechtigkeit die Strafe des Sünders forderte.
Und was ist die Folge dieses Leidens für uns? Die Strafe, die
auf Ihm lag, brachte uns den Frieden und aus Seinen Wunden
strömte für uns die Heilung. Christus wurde an unserer Statt
gestraft und gerichtet; Er starb an unserer Statt; und indem
Gott Ihn am dritten Tage auferweckte, erklärte Er dadurch, im
Werke des Kreuzes Seine völlige Befriedigung gefunden zu
haben. Nun sind wir frei von der Strafe, frei vom Gericht und
frei vom Tode, und zwar nicht, weil Gott die Sünden nicht besonders beachtet und die Strafe geschenkt hat, sondern weil
wir in Christo gestraft und gerichtet sind. Wir sind nicht gleich
86
einem Missetäter begnadigt worden, sondern in Christo ist
unsere Strafe gebüßt worden und darum sind wir frei. „Die
Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch
Jesum Christum, unseren Herrn" (Röm 5, 21). Wir sind nun
eine Pflanze mit Christo geworden; wir haben das Leben; wir
sind gerechtfertigt, geheiligt, verherrlicht. Wir finden dies in
treffender Weise in Psalm 22. Sobald der Herr erhört ist von
den Hörnern der Büffel, verkündet Er Seinen Brüdern den
Namen Seines Vaters. Als er nach Seiner Auferstehung der
weinenden Maria Magdalena erschien, sagte Er: „Rühre mich
nicht an; denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater.
Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: „Ich
fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und zu meinem
Gott und eurem Gott" (Joh 20, 17). Danach finden wir in
diesem Psalm, wie Israel sich freute in dem Heil, das Christus
gebracht hat, und endlich, wie die Enden der Erde einstimmen
in das Lob, das Ihm dargebracht wird. Überall herrscht Freude!
Das Leiden ist vorbei, das Werk vollbracht, und von dem
Gericht ist keine Rede mehr. Nichts bleibt übrig, als den Lobgesang der Befreiung anzustimmen.
Wir haben also den großen Unterschied zwischen dem Leiden
Christi um der Gerechtigkeit willen und Seinem Leiden um der
Sünde willen gesehen. Jedoch müssen wir hier noch auf etwas
unsere Aufmerksamkeit richten. Christus litt für die Sünde,
damit wir es nie sollten. In diesem Leiden befand Er sich allein.
Wir sind zwar genesen durch Seine Wunden, haben aber nicht
an ihnen teilgenommen. Niemand kann an diesen Leiden des
Herrn einen Anteil haben. Niemand kann Ihm darin nachfolgen. Wir vermögen nicht für die Sünde zu leiden, und wir
brauchen es auch nicht; denn Christus leerte den Kelch des
Zorns bis auf den letzten Tropfen. — Aber an dem Leiden
Christi um der Gerechtigkeit willen können wir Anteil haben.
Sobald wir an Ihn glauben, sind wir der Gerechtigkeit Gottes
teilhaftig geworden, und werden nun, gleich Ihm, als Gerechte,
von der Welt gehaßt und verfolgt. Es ist uns gegeben, nicht
allein an Ihn zu glauben, sondern auch für Ihn zu leiden. Wenn
wir mit Ihm leiden, werden wir auch mit Ihm verherrlicht
werden. Paulus trug an seinem Fleische, was noch rückständig
war an den Drangsalen des Christus (Kol 1, 24). Und dies ist
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eine Gnade von Gott. Der Herr Selbst sagt: „Glückselig die um
Gerechtigkeit willen Verfolgten; denn ihrer ist das Reich der
Himmel! Glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen werden, und jedes böse Wort lügnerisch wider euch
reden um meinetwillen" (Mt 5, 10. 11). Und Petrus sagt:
„Wenn ihr aber ausharret, indem ihr Gutes tut und leidet, das
ist wohlgefällig bei Gott" (1. Petr 2, 20). „Wenn ihr im Namen
Christi geschmäht werdet, glückselig seid ihr! denn der Geist
der Herrlichkeit und der Geist Gottes ruht auf euch"
(1. Petr 4, 14).
Indes finden wir außer dem Leiden Christi um der Gerechtigkeit willen noch ein anderes Leiden während Seines Lebens auf
Erden. Wir werden hierbei einige Augenblicke verweilen.
Schon Sein Kommen auf die Erde war, wie freiwillig Er in dieser
Hinsicht auch handelte, an und für sich ein Leiden. Obwohl Er
in Gestalt Gottes war, hat Er es nicht für einen Raub gehalten,
Gott gleich zu sein. Er brauchte nicht, da Er Selbst Gott war, wie
Adam die Hand zum Raube der Gottheit auszustrecken, sondern machte Sich Selbst zu nichts. Als Herrscher über alles im
Himmel und auf Erden verließ Er den Himmel, leistete Verzicht
auf Seine Herrschaft, entzog Sich Seiner Herrlichkeit und nahm
Knechtsgestalt an (Phil 2, 5—8). Der Herr wurde Knecht; Er,
dem alle Gehorsam schuldeten, kam, um Selbst Gehorsam zu
lernen. Er wurde der Geringste, der ärmste, der unansehnlichste
aller Menschen. Als Säugling fand Er Seinen Platz in einer
Krippe, als Jüngling war Er Zimmermann in dem verachteten
Nazareth, als Mann fand er keinen Platz, wohin Er Sein Haupt
legen konnte. Welch eine Erniedrigung! Er war allen Mühsalen
des menschlichen Lebens unterworfen; Er war ermüdet; Er litt
Hunger und Durst; Er war allerlei Gefahren ausgesetzt; Er
fühlte das Leiden der Schöpfung. Dies alles war, wie wir sehen,
schon an sich für den Herrn ein Leiden.
Doch, das ist nicht alles. Er verließ nicht nur die himmlische
Herrlichkeit, um auf einer verfluchten Erde zu leben, sondern
mußte auch wandeln unter einem sündigen, widerspenstigen
und ungläubigen Geschlecht. Wie drückend muß dieses Leiden
für die reine Seele Jesu gewesen sein! Nur eine schwache, sehr
schwache Vorstellung können wir uns davon machen. Wird
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unsere Seele nicht betrübt, wenn wir den Namen des Herrn
lästern hören, oder wenn wir auf die Ungerechtigkeiten und
Gottlosigkeiten der Menschen unsere Blicke richten? Aber was
wird das für den Herrn gewesen sein, dessen sittliches Gefühl,
dessen Liebe zu Gott, dessen Heiligkeit vollkommen war? Wir
lesen von Lot, daß er „durch das, was er sah und hörte, Tag für
Tag seine gerechte Seele quälte mit den gesetzlosen Werken
der Menschen"; und doch wandelte Lot durchaus nicht in Gemeinschaft mit Gott. Aber welch ein Schmerz muß es für den
Herrn gewesen sein, da Er genötigt war, mit Seinem reinen
Auge tagtäglich die Ungerechtigkeit der Menschen anzusehen!
Sicher war auch Sein Gefühl vollkommen; und darum zeigte Er
größere Ruhe, als der gerechte Mann in Sodom. Nichtsdestoweniger aber war Er betrübt, fortdauernd betrübt über die
Sünde. Man tat Seiner Seele Gewalt an durch die Empörung
gegen Gott. Und der Unglaube fühlte nichts davon. Wir lesen,
daß Er tief in Seinem Geiste seufzte, als die Pharisäer ein
Zeichen verlangten (Mk 8,12). Er weinte am Grabe des Lazarus,
Er seufzte tief im Geiste und erschütterte Sich gegenüber der
Macht des Todes, die auf dem Menschen lastete, ohne daß
dieser sich davon befreien konnte (Joh 11). Und welch eine
rührende Klage dringt über Seine Lipppen im Blick auf Sein
geliebtes Jerusalem, weil es sich nicht sammeln lassen wollte
unter Seine Flügel (Mt 23, 37). Aber nicht nur Seine Feinde,
sondern auch Seine Jünger betrübten Ihn durch ihren Unglauben. „O ungläubiges und verkehrtes Geschlecht! Bis wann
soll ich bei euch sein? Bis wann soll ich euch ertragen"
(Mt 17, 17)? Dieses alles nun war das Leiden sowohl Seiner
vollkommenen Liebe, als auch Seiner Heiligkeit. Er liebte den
Menschen, und deshalb betrübte Ihn dessen Unglaube, deshalb
schmerzte Ihn dessen Sünde.
Außerdem trug der Herr die Schmerzen der Menschen; Er nahm
ihre Krankheiten auf Sich. (Vgl. Jes 53 mit Mt 8, 16-17). Der
Herr hatte natürlich Selbst keine Krankheiten und Schwachheiten, aber kraft Seines vollkommenen Mitgefühls trug Er
unsere Schmerzen und nahm auf Sich unsere Krankheiten. Es
gab keinen Schmerz, kein Leiden, keine Traurigkeit — alles
trug Er auf Seinem Herzen. Er fühlte das Leiden in Seiner
Seele, wenn Er den Leidenden Genesung brachte. Er trug die
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Sünden an dem Holze; doch das war Gehorsam und kein Mitgefühl. Gott machte Ihn für uns zur Sünde: alles übrige Leiden
war das Mitgefühl der Liebe.
Auch gab es für den Herrn noch eine Quelle von Traurigkeit.
Jede zärtliche Saite Seines Herzens wurde empfindlich berührt.
Seine gefühlvolle, wiewohl göttlich geduldige Seele mußte
Beleidigungen, Beschimpfungen, frechen Spott und groben
Tadel ertragen. Wohl hörte Jehova alle diese Lästerungen und
konnte Ihn trösten; jedoch mußte Er durch alles hindurchgehen.
Jedes einzelne menschliche Gefühl in Christo wurde angetastet.
Einer Seiner Jünger überlieferte Ihn mit einem Kuß; ein anderer verleugnete Ihn und alle flohen. Die vertrautesten der
Seinigen schliefen, während sie in der fürchterlichen Stunde im
Garten Gethsemane mit Ihm wachen sollten.
Das also war das Leiden Jesu vor dem Kreuze. Welch ein
Leiden! Ach, wie mühevoll war Sein Pfad! Konnte es auch
anders sein in einer Welt, wo sich alles gegen Seine reine und
heilige Natur erhob? Er hat den Widerspruch von Sündern
wider Sich erduldet. Er mußte die Schmähungen derer ertragen,
die Gott schmähten. Gibt es irgend ein Leiden, das Er nicht
erduldet hätte? Man verdrehte Seine Worte, man legte sie
falsch aus, man beschuldigte Ihn, unsinnig zu sein und einen
Teufel zu haben. Er wurde überliefert, verleugnet, verlassen,
verhöhnt, geschlagen, bespeit, mit Dornen gekrönt, verworfen,
verurteilt und zwischen zwei Mördern ans Kreuz genagelt. Dies
alles wurde Ihm von der Hand des Menschen geboten, verbunden mit der unaussprechlichen Angst, die Satan über Seine
Seele brachte. Doch — wir wiederholen es hier noch einmal —
da der Mensch und der Teufel alle ihre Macht und Feindschaft
erschöpft hatten, blieb für den Herrn noch ein Leiden übrig,
gegen das jedes andere gering war; und das war, daß Gott
Sein Angesicht verbarg — es waren jene drei Stunden der
Finsternis auf dem Kreuze, wo Er durch die Hand Gottes an
unserer Statt gestraft und gerichtet wurde.
Dieses Werk des Kreuzes hat uns von unseren Sünden erlöst,
mit Gott versöhnt, von der Strafe und dem Tode befreit, und
hat den Weg zum Besitz des ewigen Lebens für uns gebahnt.
In der Auferstehung Christi sind wir mit Ihm vereinigt, das
Weizenkorn, das in die Erde fiel und starb, hat in der Auf90
erstehung Frucht getragen. „Wie er ist, sind auch wir in dieser
Welt" (1. Joh 4, 17). Wir sind nicht, wie Er war, als Er auf der
Erde wandelte, sondern wie Er jetzt ist, auferstanden aus den
Toten und verherrlicht zur Rechten Gottes. Vor dem Kreuz war
keine Vereinigung mit Christo für uns möglich. Aber nachdem
Er nun alles vollbracht hat, sind wir eine Pflanze mit Ihm
geworden in der Auferstehung. Das Leben Christi ist notwendig für unsere Erlösung; denn um den Menschen erlösen
zu können, mußte Er Mensch sein und dem Menschen in allem
gleich werden, ausgenommen die Sünde. Er mußte in alle Umstände des menschlichen Lebens eintreten, um in ihnen Seine
Heiligkeit und Vollkommenheit zu offenbaren. Als Mensch
mußte Er Gott vollkommen verherrlichen, um nicht allein ein
Sündopfer, sondern auch für Gott ein duftender Wohlgeruch
sein zu können. Das Opfer, das den Menschen mit Gott versöhnte, mußte ein reines, fleckenloses und in den Augen Gottes
angenehmes Opfer sein. Und darum bilden das Leben und der
Tod Christi ein Ganzes und sind unzertrennlich miteinander
verbunden. Dennoch kann das Leben, wie rein es auch war,
uns nicht erlösen; dazu war der Tod erforderlich.
Nachdem wir nun eine Pflanze mit Christo und der Gerechtigkeit Gottes teilhaftig geworden sind, erlangt das Leben Christi
noch eine andere und herrliche Bedeutung für uns. „Wir sind
das Werk Gottes, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken."
Die guten Werke, worin wir zu wandeln haben, hat Gott in
Christo vorbereitet. In Seinem Leben können wir sehen, was
Gott wohlgefällig ist. Christus hat uns ein Beispiel hinterlassen, auf daß wir Seinen Fußstapfen nachfolgen sollen. Wir
brauchen also nicht mehr unkundig zu sein in betreff des
Willens Gottes. Wie herrlich für den, dessen Lust es ist, Gott
zu verherrlichen! Aber zugleich finden wir in Christo die Kraft,
in diesen guten Werken wandeln zu können. Wir sind in der
Auferstehung mit Christo vereinigt, und zwar mit demselben
Christus, der hier auf Erden Gott verherrlicht hat; und in Ihm
besitzen wir infolge dieser Vereinigung dieselbe Kraft, die Ihn
fähig machte, bei allem Streit, bei jeder Versuchung und bei
jeder Mühsal den Willen des Vaters zu tun. Wie notwendig ist
es deshalb für uns, das Leben Christi zu kennen und mit demselben in Gemeinschaft zu treten! Und wie trostreich ist dieses
91
Leben für uns! Welch eine Quelle unendlichen Trostes ist für
uns das Leiden Christi vor dem Kreuz! Der Apostel sagt uns:
„Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid
zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in
allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde. Laßt uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf daß wir Barmherzigkeit
empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe" (Hebr 4,
15. 16). Ja, wir haben im Himmel zur Rechten Gottes den Sohn
des Menschen, der in allen unseren mühevollen Umständen
mit uns fühlen kann, weil Er selbst darin war, und bereit ist,
die Kraft zu geben, die wir hienieden so sehr nötig haben.
In allen Dingen kann Er uns trösten. ]a, Er fühlt mit uns, wenn
wir den Mühsalen des irdischen Lebens unterworfen sind. Er
versteht uns, wenn wir seufzen über das Leiden der Schöpfung,
wenn wir verlangen nach den Wohnungen des Vaters, und
wenn wir betrübt sind über die Ungerechtigkeit und den Unglauben der Welt. Er hat Mitleiden mit uns, wenn wir krank
und schwach sind. Er kann es verstehen, wenn wir leiden durch
den Spott und Hohn der Welt oder durch die Gleichgültigkeit
der Gläubigen. Mit einem Wort, Er kann alles verstehen und
alles fühlen. O wie unaussprechlich reich ist die Gnade Gottes!
Wir sind durch das Leiden und Sterben Christi von der verdienten Strafe und dem Gericht befreit; und durch Seine Auferstehung sind wir des Lebens und der Gerechtigkeit Gottes
teilhaftig geworden und können also bei all unserer Schwachheit und bei allen Gebrechen in unserem Wandel mit Freimütigkeit vor Gott erscheinen. Das Leben Christi ist das Vorbild für
unseren Wandel. Er versichert uns Seines zärtlichen Mitgefühls,
welches Er in allem, was uns trifft, an den Tag legt, und reicht
uns reichlich Kraft dar zum Ausharren. O möge der Herr es uns
durch Seine Gnade geben, die Kraft und den Trost dieser Wahrheiten immer mehr zu genießen, damit wir fähig seien, Ihn in
allem zu verherrlichen!
92
Der Herr und Seine Jünger
(Markus 6, 30-44)
Es ist höchst lehrreich und erquickend, wenn wir mit einem
gläubigen Herzen und einem erleuchteten Sinn den Pfad des
Herrn auf Erden verfolgen, wie er uns durch die vom Heiligen
Geist geleiteten Schreiber in den Evangelien gezeichnet worden
ist. Allerwärts begegnen wir Seinen göttlichen Vollkommenheiten; und selbst die Bosheit des Menschen, das Elend Seines
Volkes und die Schwachheit Seiner Jünger lassen Seine göttliche
Fülle nur noch lieblicher hervorstrahlen. Auch der oben bezeichnete Abschnitt liefert uns davon ein so klares Bild, daß sich die
Mühe lohnt, einen Augenblick dabei zu verweilen.
Zurückgekehrt von ihrer Mission, wozu sie vom Herrn zu je
zwei und zwei ausgesandt waren, versammeln sich die Jünger
zu Jesu und zählen Ihm alles auf, was sie getan und gelehrt
hatten (V. 30). Wer anders hätte auch ein so warmes Interesse
an ihren Berichten nehmen können, als der hochgepriesene Herr
Selbst? Wer anders wäre so geeignet gewesen, sie über die
gefährlichen Klippen hinwegzuleiten, die infolge einer gesegneten Wirksamkeit den Herzen der schwachen Jünger zum
Anstoß und Fall sein konnten? Während sie sich, wie wir anderswo lesen, darin erfreuten, daß selbst die Teufel ihnen
Untertan gewesen waren, ruft er ihnen zu: „Darüber freuet euch
nicht, daß euch die Geister Untertan sind; freuet euch aber, daß
eure Namen in den Himmeln angeschrieben sind (Lk 10, 20).
Ja, in der Tat, leicht können glänzende Erfolge einen Arbeiter
im Werk des Herrn verleiten, die Erfolge statt den Herrn zum
Gegenstand seiner Freude zu machen, und ihn gar zur Selbsterhebung führen. Und wer außer dem Herrn besitzt Liebe und
Weisheit genug, um vor solchen Abirrungen zu bewahren? Er
kennt unsere schwachen Herzen; und nur Er weiß, wie gefährlich es für uns ist, den Schauplatz der Öffentlichkeit zu betreten
und ein Gegenstand der Beachtung anderer zu sein.
„Und er sprach zu ihnen: Kommt ihr selbst her an einen wüsten
Ort besonders und ruhet ein wenig aus" (Mk 6, 31). Es war
-93
nötig für sie, wieder eine Zeitlang mit ihrem geliebten Herrn
allein zu sein, um ein wenig auszuruhen. Welch ein fürsorgender, zärtlicher Lehrer! Er gebietet nicht: „Wirket, arbeitet
fort und fort! Nein, sobald die Arbeit vollendet ist, zieht Er sie
vom Wirkungsplatz zurück, nimmt sie mit Sich allein, damit sie
an Seiner Seite ein wenig der Ruhe pflegen sollten. Und unter
der Obhut und Pflege dieses weisen und gütigen Herrn steht
jeder Arbeiter im Werke des Herrn. Er fordert nicht ihre Tagebücher wie jemand, der, ohne die Mühe des Dienstes zu kennen,
unnachsichtig jede Stunde, der Arbeit, gewidmet verzeichnet sehen
will. O nein; Er kennt den Dienst und dessen Mühe aus Erfahrung.
Als einfacher Bote des Evangeliums ist Er umhergezogen und ist
müde geworden auf Seinem Wege; Er hat Hunger und Durst
gelitten, hat alle Arten von Schwierigkeiten durchgemacht, die
Feindseligkeiten der Menschen erduldet und die Schwachheiten
Seiner Jünger ertragen. Er weiß, wie es einem Arbeiter in
Seinem Werk zu Mute ist; Er kennt die Gefahren, die einen
solchen umstricken, und alle Versuchungen eines nie ruhenden
Feindes, denen er ausgesetzt ist: Sollte uns dies nicht ermutigen,
allezeit bei Ihm Rat, Trost und Hilfe zu holen? Sollte uns das
nicht anspornen, Ihm alles, was wir getan und gelehrt haben,
mitzuteilen, und in Seine Nähe zu eilen, um wie Maria zu
Seinen Füßen zu sitzen und auf Seine holdseligen Worte zu
lauschen? O wie sehr hat dies der Gläubige nötig an jedem
Tage! Wo solch ein verborgener Umgang fehlt, da wird das
Herz bald matt und dürr werden; und der Arbeiter wird dann
nur aus kalter Pflicht oder um des Lohnes willen seinen Dienst
verrichten oder gar in Hochmut und Selbstgefälligkeit versinken. Ach! ein solcher Dienst hat sich seines wahren Charakters entkleidet und trägt keineswegs das Siegel der Anerkennung des Herrn. Nur in Seiner Gegenwart findet das Herz
die wahre Quelle aller Kraft. Im Licht Seiner Gegenwart wird
jeder Gedanke an seinen wahren Platz gestellt; dort schwindet
jede Selbsterhebung, und das Bewußtsein des eigenen Nichts
kehrt zurück; dort schöpft die kummervolle, zagende Seele
frischen Mut und lebendiges Vertrauen; und das Herz, voll
Trost, Frieden und Freude, wird zu neuer Tatkraft belebt. Ja,
wahrlich, nur einem verborgenen Umgang mit Gott entspringt
unsere Fähigkeit zum Dienst.
94
Der Herr Selbst freilich fand hienieden wenig Zeit zum Ausruhen. Dafür zeugen die Worte: „Und viele sahen sie wegfahren und erkannten sie und liefen zu Fuß von allen Städten
dorthin zusammen, und kamen ihnen zuvor. Und als Jesus aus
dem Schiff trat, sah er eine große Volsksmenge und wurde
innerlich bewegt über sie; denn sie waren wie Schafe, die keinen
Hirten haben; und er fing an, sie vieles zu lehren" (V. 33, 34).
— Stets zeigt Er Seine erbarmende Liebe. Der Zustand Israels
war äußerst betrübend. Von Jehova abgewichen, irrte das Volk
ohne Leitung ruhelos umher. Ihren wahren Hirten erkannten
sie nicht. Es war ihnen unbekannt, daß Jehova, den sie verlassen hatten und dessen Gesetz sie verworfen hatten, auf die
Erde gekommen war, um sie in Gnaden zu besuchen und ihre
Sünden zuzudecken. Ach! die Sünde selbst hatte ihr Auge verblendet und ihr Herz verhärtet. Und dennoch, gerade ihr hoffnungsloser Zustand rief die Strahlen Seiner erbarmenden Liebe
um so kräftiger hervor. „Er wurde innerlich bewegt über sie ...;
und er fing an, sie vieles zu lehren." —Seine Liebe und Treue für
Sein armes, hilfloses Volk ließ Ihn nicht rasten. Es war Sein
stetes Bemühen, ihnen ihren wahren Zustand vor Augen zu
stellen und sie zu Sich einzuladen, um ihnen Ruhe zu geben.
Ja, in der Tat, der schon so lange Verheißene war in ihre Mitte
getreten, um ihnen Gnade und Vergebung anzukündigen, um
ihre Krankheiten zu heilen und sie unter Seinem Zepter Segen
und Frieden genießen zu lassen. Ach, daß sie Ihn erkannt
hätten! Über Seine Lippen dringt der Ruf: „Ich habe den ganzen
Tag meine Hände ausgebreitet zu einem widerspenstigen Volke"
(Jes 65, 2). Israel verwarf Ihn. „Er kam in das Seinige und die
Seinigen nahmen ihn nicht an" (Joh 1, 11). Schreckliche Verblendung! Und dennoch hat Seine Treue nicht aufgehört. Ist
auch Israel eine Zeitlang beiseite gesetzt worden, so wird
dennoch der Tag wieder anbrechen, wo Er sich Seines Volkes
nach Seiner unumschränkten Gnade wieder annehmen wird.
Das Gericht wird unter ihnen aufräumen und sie läutern; und
dann wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht:
„Ein Erlöser wird kommen für Zion und für die, welche in
Jakob von der Übertretung umkehren" (Jes 59, 20).
Für die Gegenwart ist „durch ihren Fall den Nationen das Heil
geworden" (Röm 11, 11). Bis zu ihrer Wiederherstellung sam95
melt Sich der Herr ein Volk aus allen Nationen — die Kirche, die
Braut des Lammes, die mit Christo gesegnet ist in den himmlischen örtern. Und mit derselben erbarmenden Liebe geht jetzt
der Herr dem verlorenen Sünder nach, um ihn aus einer unter
dem Gericht stehenden Welt zu erretten und in die himmlischen
Segnungen einzuführen, Sein Herz ist ebenso bewegt über den
armen, verirrten Sünder wie er es damals über das hirtenlose
Israel war. Jeder Errettete ist ein Zeugnis Seiner ewigen Liebe
und Seines grundlosen Erbarmens. Er wird nicht müde, „zu
suchen und zu erretten, was verloren ist." Hast auch Du, mein
lieber Leser, diese Liebe und dieses Erbarmen kennengelernt?
Oder hast Du bis jetzt immer noch widerstanden? Wie schrecklich für Dich, in Deinen Sünden zu beharren und mit einer verurteilten Welt einem sicheren furchtbaren Gericht entgegenzueilen ! Du kannst jetzt umsonst errettet werden und alle Reichtümer der Gnade und der Herrlichkeit umsonst empfangen; die
gnadenreichen Arme des Heilandes sind für Dich geöffnet;
und Sein erbarmendes Herz ist über Dich bewegt. Willst Du
dies alles verachten und warten, bis die Arme einer ewigen
Verdammnis Dich für immer umschlingen werden? O möchte
dies doch nimmer Dein Los sein!
„Und als es schon spät am Tage war, traten seine Jünger zu
ihm und sagten: der Ort ist wüst und es ist schon spät am Tage,
entlaß sie, damit sie hingehen auf das Land und in die Dörfer
ringsum, und sich Brote kaufen; denn sie haben nichts zu essen"
(V. 35, 36).
Die Blicke der Jünger wandten sich, wie gewöhnlich, auf die
Umstände. Ihr Herz war nicht fähig, das ganze Elend des
hirtenlosen Israels zu erkennen, und darum auch nicht fähig,
das tiefe Mitgefühl des Herrn zu verstehen. Vielleicht entdeckte
ihr Auge im Herrn nur den Eifer eines Lehrers, der zu sehr mit
den inneren Bedürfnissen des Volkes beschäftigt sei, als daß Er
sich um dessen leibliches Wohl kümmern könne, und der an
Zeit und Umstände erinnert werden mußte. War doch der
Abend hereingebrochen; und der Ort war wüste, und die Menge
brauchte Speise. Sicher hatten diese Umstände sie schon längst
im stillen beunruhigt und drängten sie, um dem Herzen Luft zu
machen, jetzt zu den Worten: „Der Ort ist wüste und es ist
schon spät am Tage; entlaßt die Volksmenge, damit sie hin96
gehen auf das Land und in die Dörfer ringsum und sich Brote
kaufen." — Sie befürchteten vielleicht, daß Er kein Auge habe
für die widrigen Umstände und leiblichen Bedürfnisse. Armes,
ungläubiges Herz! Wie oft geben auch wir uns gleichen törichten Sorgen hin! Der Herr hat Sich Selbst für uns gegeben,
hat Sein Leben für uns gelassen, als wir noch Gottlose und
Sünder waren, hat uns tausendfache Proben Seiner Liebe und
Seiner Treue gegeben; und dennoch können wir uns oft in den
gegenwärtigen Umständen einer solchen Unruhe hingeben, als
hätten wir von all diesem noch nichts erfahren. Das arme,
schwache Herz ist immer geneigt, auf die Umstände, und nicht
auf den Gott der Umstände zu sehen; es blickt auf sich und die
eigene Ohnmacht, und nicht auf den Allmächtigen, der die
Liebe ist und in Dessen Gunst wir stehen. —
„Entlaß sie", sagen die Jünger; das war in ihren Augen der einzige Weg, jeder Sorge wegen der hungrigen Menge enthoben
zu werden. Sie waren nicht fähig, in Christo die Quelle jeder
Gabe und jeder Segnung zu erblicken; sie erkannten in Ihm
nicht Den, der verheißen hatte, die Armen Seines Volkes mit
Brot zu sättigen (Ps 132, 15); sie verstanden nicht Sein Herz,
Sein Mitgefühl, Seine Güte. Sie forderten die Entlassung der
Menge, damit sie einem wüsten Ort entrinne; aber ach! von
Ihm entlassen zu werden heißt, in die Wüste geschickt zu
werden. Sollten wir doch in all unseren Nöten zu Ihm unsere
Zuflucht nehmen und jeden Hilfsbedürftigen zu Ihm, der einzig
wahren Quelle des Segens, hinweisen, statt die Kreatur in
Anspruch zu nehmen und die Hilfe da zu suchen, wo es bald
an Fähigkeit, bald an Bereitwilligkeit zum Helfen mangelt. Bei
Ihm aber ist die Fülle der Macht und die Fülle der Liebe; und
statt die Volksmenge zu entlassen, sagt Er: „Gebet ihr ihnen zu
essen." Er will sie nicht, von Hunger gequält, von dannen
ziehen lassen. Seine Freude ist zu geben, und nicht leer fortzuschicken. Aber welche Verlegenheit mußte eine solche Aufforderung den armen Jüngern bereiten! Sie hatten nichts zu
geben und hatten auch kein Vertrauen zu Seiner Durchhilfe.
Ach! viel näher liegt ihnen der Gedanke, beim Krämer Speise
zu kaufen, als Ihn um Hilfe anzusprechen. „Sollen wir hingehen
und für zweihundert Denare Brote kaufen und ihnen zu essen
geben?"
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Das ist stets die Weise des Unglaubens. Wohl möchten auch wir
oft gern die Not anderer steuern; aber zu träge, um im Vertrauen unsere Zuflucht zu Ihm zu nehmen, erblicken wir keinen
Ausweg, kein Hilfsmittel. Und also verkriecht sich unser Mitgefühl hinter leere Seufzer, statt im vertrauensvollen Glauben
zu Ihm zu eilen, der uns in jeder Lage mit vollkommenem Mitgefühl Seine kräftig helfende Hand entgegenstreckt und dem es
nie an Weisheit, Liebe und Macht gebricht, um in allen Umständen ein mächtiger, teilnehmender Helfer sein zu können.
Und wie oft naht Er mit Seiner Hilfe, ohne daß wir sie bei Ihm
gesucht haben! Wie oft beschämt Er unseren Unglauben! Wie
lange wenden wir uns oft zu wasserleeren Brunnen, indem wir
bei uns selbst oder bei anderen um Hilfe seufzen! Wie oft ist
der Herr der letzte, zu dem wir unsere Zuflucht nehmen! Und
dennoch handelt Er stets mit uns nach dem Reichtum Seiner
Gnade und Langmut.
„Er aber spricht zu ihnen: „Wie viele Brote habt ihr?" — Im
Blick auf diese Worte bietet sich uns die Gelegenheit, eine andere Erfahrung zu machen. Wenn bei vielen Christen das, was
sie besitzen oder was ihre Einnahme ist, nach ihrer Berechnung
für die vorliegenden Bedürfnisse nicht ausreicht, so neigen sie
sich augenblicklich zu der Meinung hin, daß der Herr ihnen
andere Hilfsquellen zu deren Befriedigung öffnen müsse, ohne
zu bedenken, daß Er auch das vorhandene Wenige so segnen
kann, daß es ausreicht. Der Herr aber zeigt uns hier einen
anderen Weg (V. 38—41). Freilich waren nur fünf Brote und
zwei Fische vorhanden, während 5000 Männer nach Speise verlangten. Allerdings lag die Ursache nahe, zu fragen: „Was ist
das unter so viele?" Doch alles hängt vom Segen des Herrn ab;
Er segnete und alle wurden gesättigt; niemand wurde leer
heimgeschickt. Ja wahrlich, Er kann das Geringe segnen, so daß
zur Genüge, ja sogar zum Überfluß vorhanden ist. O möchten
wir daher stets, statt bei augenblicklichen Verlegenheiten an
einen anderen Beruf, an ein einbringlicheres Geschäft zu denken, zuerst unsere Blicke, danksagend für das Vorhandene, nach
oben richten, von wo stets die rechte Hilfe kommt. Der Unglaube schlägt gern andere Wege ein; aber der einfältige Glaube
wendet sich an den lebendigen Gott, an die Quelle aller guten
und vollkommenen Gaben.
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Doch noch mehr. Wie schwach der Glaube der Jünger auch sein
mochte, der Herr machte sie dennoch zu Kanälen für die Segnung des Volkes. Solange sie die wahre Quelle nicht erkennen,
fragen sie mit zweifelndem Herzen: „Woher nehmen wir Brot
für so viele?" Sobald sie aber aus der Hand des Herrn zu
nehmen verstehen, teilen sie bereitwillig aus, bis alle gesättigt
sind. Und welch eine Erscheinung! Die Quelle versiegte nicht;
die Bedürfnisse aller wurden völlig gestillt; und noch zwölf mit
Brocken gefüllte Körbe blieben übrig. Jeder der Jünger besaß
noch einen vollen Korb; und hatten sie vor der Speisung mit
kleingläubigem Herzen gefragt: „Woher nehmen wir Brot für
so viele Menschen?" so konnten sie jetzt fragen: „Woher
nehmen wir Menschen für so viel Brot?"
Ach! wie oft fragen auch wir mit Seufzen: „Woher nehmen
wir?" Wie wenig erkennen wir jene unerschöpfliche Quelle in
dem Geber aller guten Gaben! Wie gern will uns der Herr zu
Kanälen Seiner Gnadenspendungen machen; aber wie eng sind
diese Kanäle oft! Wenn das Volk Gottes darben muß, so liegt
die Ursache nicht an dem Mangel der mannigfachen Gnadengaben, sondern an dem engen Kanal, durch den sie strömen.
O möchte doch der Herr unsere Herzen weit machen für die
Reichtümer Seiner Gnade, damit wir reichlich nehmen und
reichlich ausspenden können! Wie ganz anders wird es sein,
wenn wir droben beim Herrn sind, wo der Kleinglaube und
Unglaube keinen Platz mehr finden, um unseren Blicken die
unerschöpflichen Segnungen zu verhüllen, und wo wir im
wahren Sinn des Wortes die Kanäle sein werden, durch die das
irdische Volk des Herrn im tausendjährigen Reiche die Segnungen empfangen soll. Dann werden diese Segnungen ungehemmt und in reicher Fülle strömen; dann werden wir das
Vorrecht völlig verstehen und genießen, zu Austeilern der
reichen Gnade Gottes gemacht zu sein — ein Vorrecht, das jetzt
leider oft als eine mühsame Pflicht betrachtet wird; ja, dann
werden wir es völlig verstehen, daß geben seliger ist als
nehmen.
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Das ungleiche Joch
Wer irgendwie in sich oder in anderen eine reinere und erhabenere
Jüngerschaft zu erwecken wünscht, der kann seinen Blick nicht
auf die Christenheit des heutigen Tages richten, ohne mit einem
unbeschreiblichen Gefühl von Trauer und Niedergeschlagenheit
erfüllt zu sein. Ihre Sprache ist so außergewöhnlich, ihr Aussehen so krank und ihr Geist so geschwächt, daß man zu Zeiten
versucht ist, an allem zu verzweifeln, was einem treuen und
wahren Zeugnis für den abwesenden Herrn ähnlich ist. Dies
ist um so beklagenswerter, wenn wir uns der Achtung gebietenden Beweggründe erinnern, durch die wir in Tätigkeit gesetzt
sind, was unser besonderes Vorrecht ist. Wenn wir auf den
Herrn, dem wir folgen, oder auf den Pfad, den wir betreten,
oder auf das Ende, das wir im Auge zu behalten haben, oder
auf die Hoffnungen, von denen wir beseelt sind, unsere Blicke
richten, so können wir nur anerkennen, daß wir eine weit
kräftigere Nachfolge an den Tag legen würden, wenn dies alles
durch einen einfältigeren Glauben aufgenommen und verwirklicht wäre. „Die Liebe Christi drängt uns",sagt der Apostel. Das
ist die mächtigste Triebfeder von allen. Je mehr das Herz mit der
Liebe Christi erfüllt, und je mehr das Auge auf Seine gesegnete
Person geheftet ist, um so treuer werden wir seiner Bahn zu
folgen suchen. Nur ein einfältiges Auge vermag seine Fußstapfen zu entdecken. Wenn nicht der eigene Wille gebrochen,
das Fleisch gekreuzigt und der Leib im Zaume gehalten ist,
so werden wir zu einer treuen Nachfolge unfähig sein und
Schiffbruch leiden am Glauben und an einem guten Gewissen.
Möge der Leser mich indes nicht mißverstehen. Hier handelt es
sich keineswegs um persönliche Errettung, sondern um eine
ganz andere Sache. Es beweist eine starke Selbstsucht, wenn
jemand, der der Errettung teilhaftig geworden ist, — als Frucht
der Angst und Mühsal Christi, — das Kreuz und die Leiden
von der geheiligten Person Christi so weit wie nur eben noch
möglich trennen möchte, ohne sein persönliches Heil zu verscherzen. Dies zeigt schon nach natürlicher Beurteilung einen
Charakter von Selbstsucht, der entschiedener Verachtung
100
würdig ist, für dessen moralischen Tiefstand aber die Sprache
keinen Ausdruck hat, wenn er von jemandem zur Schau getragen wird, der nach seinem Bekenntnis sein gegenwärtiges
und ewiges Heil einem verworfenen, gekreuzigten, auferstandenen und jetzt abwesenden Herrn verdankt. Geliebter Leser!
Was würdest Du denken, wenn jemand sagte: „Wenn ich nur
dem höllischen Feuer entrinne, dann kümmert mich wenig die
Nachfolge?" Würdest Du solche Gefühle nicht in Deiner
innersten Seele verabscheuen? Dann aber suche ihnen mit Ernst
zu entfliehen und eile hin zu dem ganz entgegengesetzten
Punkt des Kompasses, um in Wahrheit sagen zu können:
„Wenn nur der gesegnete Herr verherrlicht wird, dann kümmert mich verhältnismäßig wenig meine persönliche Sicherheit."
Wollte Gott, daß dies der aufrichtige Ausdruck vieler Herzen in
unseren Tagen sei, wo es leider nur zu wahr ist, daß „alle das
Ihrige suchen,nicht das,was Christi Jesu ist" (Phil 2,21). Möchte
doch der Heilige Geist eine Schar abgesonderter und geweihter
Nachfolger des Lammes durch Seine unwiderstehliche Macht
erwecken und sie durch Seine himmlische Energie vorwärts
treiben — eine Schar, von der jedes einzelne Glied durch die
Fesseln der Liebe gebunden ist an die Hörner des Altars, und
die fähig sind, gleich jenen Dreihunderten Gideons vor alters,
auf Gott zu vertrauen und das Fleisch zu verleugnen. O, wie
verlangt das Herz danach! Wie begierig sehnt sich, oft gebeugt
unter dem schaudernden und verwelkenden Einfluß eines kalten
und kraftlosen Bekenntnisses, der Geist nach einem mehr kräftigen und vollen Zeugnis für Ihn, der Sich selbst entäußerte
und Seine Herrlichkeit beiseite setzte, damit wir durch Sein
kostbares Blutvergießen zu Mitgenossen einer ewigen Segnung
erhoben werden sollten.
Unter den unzähligen Hindernissen, die der gänzlichen Übergabe des Herzens an Christo im Wege stehen, nimmt das
„ungleiche Joch" meistens einen hervorragenden Platz ein. „Seid
nicht in einem ungleichen Joch mit Ungläubigen! Denn welche
Genossenschaft hat Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Und
welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? Und welche Übereinstimmung Christus mit Belial? Oder welches Teil ein Gläubiger mit einem Ungläubigen? Und welchen Zusammenhang
der Tempel Gottes mit Götzenbildern? Denn ihr seid der Tem101
pel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: „Ich will unter
ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und
sie sollen mein Volk sein." Darum gehet aus aus ihrer Mitte
und sondert euch ab, spricht der Herr, und rühret Unreines nicht
an; und ich werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum
Vater sein; und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein,
spricht der Herr, der Allmächtige" (2. Kor 6, 14—18). Unter
der mosaischen Haushaltung lernen wir den gleichen moralischen
Grundsatz. „Du sollst deinen Weinberg nicht mit zweierlei
Samen besäen, damit nicht die Fülle des Samens, den du gesät
hast, und der Ertrag des Weinbergs geheiligt werden. — Du
sollst nicht pflügen mit einem Rinde und einem Esel zusammen.
— Du sollst nicht Zeug von verschiedenartigem Stoffe anziehen,
Wolle und Leinen zusammen" (5. Mo 22, 9—11; 3. Mo 19, 19).
Diese Schriftstellen genügen, uns vor Augen zu stellen, daß ein
ungleiches Joch moralisch böse ist. Es kann mit Bestimmtheit
behauptet werden, daß niemand ein ungefesselter Nachfolger
Christi sein kann, der in irgendeiner Weise in ein ungleiches
Joch gespannt ist. Er mag ein Erlöster, ein wahres Kind Gottes,
ein aufrichtiger Gläubiger sein; aber er kann nicht nur kein
völliger Jünger sein, sondern es besteht auch ein bestimmtes
Hindernis zur Offenbarung dessen, was er wirklich ist trotz
seines ungleichen Joches. „Gehet aus . . . und ich werde euch
aufnehmen . .. und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern
sein, spricht der Herr, der Allmächtige." Der hier vorgestellte
Gedanke ist verschieden von dem, den wir in folgenden Stellen
finden: „Nach seinem eigenen Willen hat er uns gezeugt durch
das Wort der Wahrheit" (Jak 1, 18). — „Die ihr nicht wiedergeboren seid aus verweslichem, sondern aus unverweslichem
Samen, durch das lebendige und bleibende Wort Gottes"
(1. Petr 1, 23). — „Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, daß wir Gottes Kinder heißen sollen" (1. Joh 3,1). —
„So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder
Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, welche
nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus
dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind"
(Joh 1, 12—13). In all diesen Stellen ist das Kindesverhältnis
auf den Ratschluß und die Wirksamkeit Gottes gegründet und
uns nicht als Folge irgendeiner Handlung von unserer Seite vor
102
Augen gestellt, während uns in 2. Kor 6 dieses Verhältnis als
das Resultat unseres Ausgehens aus ungleichem Joche bezeichnet wird. Es ist hier, mit einem Wort, eine ganz praktische
Frage. So lesen wir in Mt 5, 44—45: „Ich aber sage euch: „Liebet
eure Feinde; segnet die euch fluchen; tut wohl denen, die euch
hassen, und betet für die, die euch beleidigen und verfolgen,
damit ihr Söhne eures Vaters seid, der in den Himmeln ist;
denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, und
läßt regnen über Gerechte und Ungerechte." Auch hier findet
sich der praktische Grund und die öffentliche Ankündigung des
Verhältnisses, sowie dessen moralischer Einfluß. Die Söhne
eines solchen Vaters werden in dieser Weise handeln. Kurz, wir
finden einerseits die Stellung oder das Verhältnis als Söhne auf
das unumschränkte Wollen und Wirken Gottes gegründet, und
wir sehen andererseits den diesem Verhältnis entspringenden
moralischen Charakter, der Gott zu Seiner Anerkennung einen
gerechten Grund gibt. Gott kann nicht völlig und öffentlich
diejenigen anerkennen, die in einem ungleichen Joch mit Ungläubigen sind; dies würde eine Anerkennung des ungleichen
Joches selbst sein. Wie könnte Er „Finsternis", „Gesetzlosigkeit",
„Belial", „Ungläubige" und „Götzenbilder" anerkennen? Wenn
ich mich daher mit etwas von dieser Art zusammenjoche, so
habe ich mich moralisch und öffentlich damit und nicht in allem
mit Gott einsgemacht. Ich habe mich in eine Stellung gesetzt,
die Gott nicht anerkennen kann; und folglich kann Er auch mich
nicht anerkennen. Wenn ich mich hingegen aus einer solchen
Stellung herausreiße, wenn ich „ausgehe und mich absondere",
wenn ich meinen Nacken aus dem ungleichen Joche herausreiße, dann, aber auch nur dann kann ich öffentlich und völlig
anerkannt werden als „Sohn oder als Tochter des Herrn, des
Allmächtigen". Das ist ein ernster und beachtenswerter Grundsatz für alle, die fühlen, daß sie sich mutwillig in ein solches
Joch begeben haben. Sie wandeln nicht als Jünger, noch befinden sie sich öffentlich oder moralisch in der Stellung als
Söhne. Gott kann sie nicht anerkennen. Ihr verborgenes Verwandtschaftsverhältnis bildet nicht die Spitze; Sie haben selbst
den ihnen von Gott angewiesenen Boden verlassen. Sie haben
törichterweise ihren Hals zwischen ein Joch gepreßt, das, da es
nicht das Joch Christi ist, das Joch Belials sein muß: und so103
lange sie sich nicht von diesem Joch losreißen, kann Gott sie
nicht öffentlich als Seine Söhne und Töchter anerkennen. Ohne
Zweifel ist die Gnade Gottes unendlich und kann uns in all
unseren Mängeln und Gebrechen begegnen; aber wenn unsere
Seele nach einer höheren Art von Jüngerschaft strebt, müssen
wir einmal, koste es was es wolle, das ungleiche Joch abstreifen,
oder, wenn dies nicht möglich ist, unser Haupt unter die
Schande und Trauer des Joches beugen, indem wir von Gott
eine völlige Befreiung erwarten.
Indes gibt es vier verschiedene Seiten, von denen das „ungleiche
Joch" betrachtet werden kann. Es gibt ein Familien-, ein Handels-, ein Religions-Joch und ein Joch allgemeiner Menschenliebe. Einige mögen geneigt sein, das in 2. Kor 6 bezeichnete
Joch in die erste Rubrik zu verweisen; aber der Apostel macht
eine solche Einschränkung nicht. Er sagt nur: „Seid nicht in
einem ungleichen Joch mit Ungläubigen"; er bezeichnet nicht
näher den Charakter oder den Gegenstand des Joches, und
daher sind wir berechtigt, diese Stelle weitest anzuwenden, indem wir ihre Schärfe direkt auf jede Art eines ungleichen Joches
richten; und wir werden die Wichtigkeit, so zu handeln, erkennen, bevor wir, wenn es der Herr erlaubt, diese Betrachtungen schließen.
1. Wir betrachten also zunächst das Familien- oder Ehe-Joch .
Welche Feder vermag die Seelenangst, das moralische Elend,
verbunden mit den verderblichen Folgen, zu schildern, die für
das geistliche Leben und Zeugnis aus der Heirat eines Christen
mit einer unbekehrten Person hervorfließen? Mir scheint nichts
beklagenswerter zu sein, als der Zustand von jemandem, der,
wenn es zu spät ist, die Entdeckung macht, daß er sich für sein
ganzes Leben mit einer Person verbunden hat, die nicht einen
einzigen seiner Gedanken und Gefühle mit ihm teilen kann.
Der eine Teil der Ehe wünscht Christo, der andere vermag nur
dem Teufel zu dienen; der eine Teil sehnt sich nach den Dingen
Gottes, der andere seufzt nach den Dingen der gegenwärtigen
Welt; der eine Teil trachtet mit Ernst, das Fleisch mit allen
seinen Lüsten und Begierden zu kreuzigen, der andere sucht die
Befriedigung dieser Dinge. Wollte man ein Schaf und eine Ziege
aneinander fesseln, so würde das Schaf nach dem Futter der
grünen Weide im Felde verlangen, während die Ziege nach
104
Brombeersträuchern sucht, die am Graben wachsen, und folglich
müßten beide Hungers sterben. Die Ziege will nicht auf der
Weide grasen, und das Schaf kann nicht an den Brombeersträuchern nagen; und also erlangt keines der beiden Tiere, was
seine Natur gebieterisch fordert, es sei denn, daß es durch größere Stärke der Ziege gelingt, das in ein ungleiches Joch gespannte Schaf zu zwingen, unter den Brombeersträuchern zu
verharren und dort zu verschmachten und zu sterben. Jeder wird
den Sinn dieses Bildes verstehen; es zeigt uns leider eine nur zu
gewöhnliche Erscheinung. Der Ziege glückt es meistens, ihre
Absicht zu erreichen. Der weltliche Gefährte setzt bei fast jeder
Gelegenheit seine Sache durch. Man wird beinahe ohne Ausnahme finden, daß in Fällen eines ungleichen Ehejochs der
arme Christ der Nachgebende ist, was durch die bitteren Früchte
eines bösen Gewissens, eines niederdrückenden Herzens, eines
traurigen Geistes und eines verzagenden Gemüts bezeugt wird.
In der Tat ein hoher Preis für den Genuß einer natürlichen
Zuneigung, oder für die Erreichung irgendeines armseligen,
weltlichen Vorteils! Wirklich, eine Heirat von dieser Art ist das
Totengeläute des praktischen Christentums und des Fortschritts
im göttlichen Leben. Es ist ^moralisch unmöglich, daß irgend
jemand, dessen Hals in das Ehejoch mit einer ungläubigen
Persjon gepreßt ist, ein fesselloser Jünger Christi sein kann.
Ebenso sicher hätte ein Wettrenner bei den olympischen Spielen
erwarten können, durch das Anhängen eines schweren Gewichts
oder eines toten Leibes an seine Person die Siegeskrone zu
gewinnen. Es ist in der Tat genug, einen toten Leib zum Hemmschuh zu haben; wir bedürfen nicht des Anhängens eines anderen. Kein Christ hat je gefunden, daß es für ihn nicht schon
hinreichende Arbeit war, die Übel eines einzigen Herzens
zu bekämpfen, ohne sich mit den Übeln zweier Herzen zu
beladen. Ohne Zweifel ist der Mann, der so töricht und ungehorsam war, eine unbekehrte Frau zu heiraten, sowie die
Frau, die einen unbekehrten Mann heiratete, mit den vereinigten Übeln zweier Herzen beladen; und wer ist dazu fähig? Es
kann jemand völlig auf die Gnade Christi rechnen hinsichtlich
der Unterjochung seiner eigenen bösen Natur; aber er kann
sicher nicht, in betreff der bösen Natur seines mit ihm ungleich
zusammengejochten Gefährten, in derselben Weise auf diese
105
Gnade rechnen. Wenn er sich in Unwissenheit dieses Joch auferlegt hat, so wird der Herr ihm persönlich auf dem Grunde
völligen Bekenntnisses mit der gänzlichen Wiederherstellung
der Seele begegnen; aber zu der treuen Nachfolge eines Jüngers
wird er es nicht bringen. Paulus konnte sagen: „Wisset ihr
nicht, daß die, welche in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen,
aber einer den Preis erlangt? Laufet also, daß ihr ihn erlangt.
Jeder aber, der kämpft, ist enthaltsam in allem; jene freilich,
auf daß sie eine verwelkliche Krone empfangen, wir aber eine
unverwelkliche. Ich laufe nun also, nicht aufs Ungewisse; ich
kämpfe also, nicht wie einer, der die Luft schlägt, sondern ich
zerschlage meinen Leib und führe ihn in Knechtschaft, auf daß
ich nicht, nachdem ich anderen gepredigt, selbst verwerflich
werde" (1. Kor 9, 24—27). Hier handelt es sich nicht um Leben
oder Errettung, sondern einfach um das „Laufen in der Rennbahn", und zwar nicht um das Leben, sondern um eine „unverwelkliche Krone" zu erlangen. Die Tatsache, zum Laufen
berufen zu sein, setzt den Besitz des Lebens voraus; denn
niemand würde tote Menschen auffordern, in Schranken zu
laufen. Ich habe natürlich das Leben erlangt, bevor ich zu laufen
beginne; und ob ich daher auch in den Schranken ermatten
könnte, so verliere ich doch nicht mein Leben, sondern nur meine
Krone; denn diese und nicht das Leben war das dem Laufenden
vorgesteckte Ziel. Wir sind nicht berufen zu laufen, um das
Leben zu erlangen; denn die Erlangung des Lebens ist nicht eine
Folge des Laufens, sondern des „Glaubens an Jesum Christum",
der durch Seinen Tod das Leben für uns erworben und es durch
die Macht des Heiligen Geistes in uns gepflanzt hat. Und dieses
Leben, als das Leben eines auferstandenen Christus, ist ewig;
denn Er ist der ewige Sohn, wie Er Selbst, Sich an den Vater
wendend, in Joh 17 sagt: „Gleichwie du ihm Gewalt gegeben
hast über alles Fleisch, auf daß er allen die du ihm gegeben,
ewiges Leben gebe." Es ist ein Leben ohne Bedingung. Er gibt
uns, den Sündern, nicht das Leben und stellt es dann vor uns,
um als Heilige danach zu laufen, und zwar mit der traurigen
Aussicht, diese kostbare Gabe durch Ermatten in der Rennbahn
zu verlieren. Das wäre ein „Laufen aufs Ungewisse", das leider
so viele versuchen, die bekennen, die Laufbahn betreten zu
haben, ohne zu wissen, ob sie das Leben besitzen oder nicht.
106
Solche Seelen laufen, um das Leben und nicht um eine Krone
zu erlangen; aber Gott stellt nicht das Leben in die Schranken
als eine Belohnung des Sieges, sondern Er schenkt es, bevor wir
beginnen zu laufen als die Macht, durch die wir laufen. Die
Macht zu laufen und das Ziel des Laufens sind zwei ganz
verschiedene Dinge; und dennoch werden sie stets miteinander
verwechselt durch Personen, welche unbekannt sind mit dem
herrlichen Evangelium der Gnade Gottes, in dem Christus als
das Leben und die Gerechtigkeit aller, die an Seinen Namen
glauben, vor unsere Augen gestellt wird, zugleich alles dieses
als eine freie Gabe Gottes, nicht als eine Belohnung unseres
Laufens.
In Anbetracht der schrecklich bösen Folgen des ungleichen Ehejochs wirkt es hauptsächlich hemmend auf unsere Jüngerschaft,
daß wir auf sie sehen. Ich sage „hauptsächlich", weil unser ganzer Charakter und alle unsere Erfahrungen tief dadurch berührt
werden. Ich frage sehr oft, ob wohl jemand dem Fortgang des
göttlichen Lebens einen empfindlicheren Schlag versetzen könne,
alsjiadurch, daß er ein ungleiches Joch auf sich nimmt. In der
Tat beweist die Handlung an sich schon, daß der geistliche Verfall mit seinen beunruhigendsten Symptomen bereits hereingebrochen ist; aber bezüglich der Jüngerschaft und des Zeugnisses kann die Lampe als erloschen betrachtet werden. Und ob
diese auch von Zeit zu Zeit noch zu einem matten Schimmer
aufflackert, so dient dieses nur dazu, das erschreckende Dunkel
der eingenommenen Stellung und der beklagenswerten Folgen,
mit einem Ungläubigen in einem ungleichen Joche zu sein,
hervortreten zu lassen.
Soviel über die Frage des ungleichen Joches in seinem Einfluß
auf das Leben, auf den Charakter, auf das Zeugnis, auf die
Jüngerschaft eines Kindes Gottes. Ich möchte jetzt noch ein
Wort sagen über seine im Familienkreise hervorgebrachte
moralische Wirkung. Auch hier zeigen sich wahrhaft traurige
Folgen. Wie könnte es anders sein? Zwei Personen, die mit
ihrem Geschmack, ihren Gewohnheiten, Gefühlen, Wünschen,
Bestrebungen und Zielen einander schnurstracks entgegengesetzt sind, haben sich zu dem engsten und innigsten Verhältnis miteinander verbunden. Sie haben nichts miteinander
107
gemein, so daß es bei jeder Bewegung nicht ohne Reibung abgehen kann. Der Ungläubige kann nicht in Wirklichkeit mit
dem Gläubigen denselben Weg gehen; und wenn sich auch aus
außergewöhnlicher Freundschaft oder aus offenbarer Heuchelei
ein Schein von Einwilligung kundgäbe, welchen Wert würde
es vor dem Angesicht des Herrn haben, der den Zustand des
Herzens in Ansehung Seiner Selbst beurteilt? Gewiß gar keinen.
Wenn aber der Gläubige sich soweit vergißt, in irgendeiner
Weise den Weg seines mit ihm ungleich zusammengejochten
Gefährten zu wandeln, so kann es nur auf Kosten seiner Jüngerschaft geschehen; und ein verdammendes Gewissen im Angesicht des Herrn ist die Folge. Dies führt aber meistens zur
Trägheit des Geistes und wohl gar zur Bitterkeit der Gemütsstimmung im Familienkreise, so daß die Gnade Gottes keineswegs verherrlicht und der Ungläubige weder angezogen, noch
gewonnen wird. Wie beklagenswert ist daher in jeder Weise
ein solches Verhältnis! Gott wird entehrt, das geistliche Wachstum gestört, die Jüngerschaft und das Zeugnis umgeworfen;
und Frieden und Segen schwinden aus dem häuslichen Kreise.
Entfremdung, Kälte, Uneinigkeit, Mißverständnisse und andere Dinge werden hervorgerufen, oder es werden, wenn dies
nicht der Fall ist, von Seiten des Christen die Jüngerschaft und
das gute Gewissen auf dem Altar des Hausfriedens zum Opfer
gebracht. Kurz, von welcher Seite wir auch ein ungleiches Joch
betrachten mögen, — es führt stets zu den beklagenswertesten
Folgen.
Nicht weniger betrübend ist die Wirkung eines ungleichen
Jochs in bezug auf die Kinder. Sie stehen meistens auf Seiten
des unbekehrten Teiles des Elternpaares. Da kann keine Herzenseinheit in der Erziehung der Kinder, kein gegenseitiges
Zutrauen in betreff ihrer sein. Der eine Teil wünscht sie in der
Zucht und Ermahnung des Herrn und der andere in den Grundsätzen der Welt, des Fleisches und des Teufels zu erziehen;und
da die Sympathien der Kinder, wenn sie heranwachsen, sich
der Welt und dem Fleisch zuwenden, so ist leicht zu begreifen,
welches das Ende sein wird. Kurz, es ist eine ungeziemende,
schriftwidrige und vergebliche Anstrengung, mit einem „ungleichen Joch" zu ackern, oder das Feld mit „verschiedenen Samen
108
zu besäen", und alles wird in Trauer undjyerwirrungenden^1
)
Bevor wir diesen Teil unserer Betrachtung verlassen, wollen wir
noch einen Blick auf die Beweggründe werfen, die gewöhnlich
die Christen antreiben, in das ungleiche Joch der Ehe einzutreten. Wir wissen leider, wie leicht das arme Herz sich selbst
von der Rechtmäßigkeit eines Schrittes, den es zu tun wünscht,
zu überreden weiß, und wie der Teufel diese Überzeugung
durch scheinbare Beweisgründe zu unterstützen sucht, die uns
so klar und zur Genüge den moralischen Zustand der Seele
erkennen lassen. Schon unsere Gedanken in betreff einer solchen Sache beweisen es, wie unfähig wir sind, mit einem nüchternen Sinn und einem geistlich erleuchteten Gewissen die
ernsten Folgen eines solchen Schrittes prüfen zu können. Wenn
das Auge einfältig wäre, oder wenn wir, mit anderen Worten,
nur mit einem Gegenstande, nämlich mit der Herrlichkeit und
Ehre des Herrn beschäftigt wären, so würden wir dem Gedanken, auf unseren Nacken ein ungleiches Joch zu nehmen, keinen
Raum geben, und folglich uns keine Schwierigkeit oder Verlegenheit in betreff dieser Sache bereiten. Ein Wettläufer, dessen
Auge auf die Krone gerichtet war, konnte nicht durch den
Gedanken, einen Zentner auf seine Schultern zu laden, in Verlegenheit gebracht werden. Wie hätte auch ein solcher Gedanke
sein Gemüt durchkreuzen können? Hatte ein wahrer Wettläufer nicht vielmehr eine bestimmte und fast fühlbare Vorstellung von allem, was sich ihm, während er die Rennbahn
durchlief, als ein Hindernis erweisen konnte? Gewiß, und folglich wird er, sobald er solches bei sich wahrnehmen würde, es von
sich abgestoßen haben.2
) Würde es, bezüglich einer schriftwidrigen Heirat, so bei Christen sein, es würde sie vor einer Welt
1) Es gibt viele Fälle, in denen man Personen vereinigt findet, die, obwohl
sie nicht gerade in einem „ungleichen Joche" sind, mindestens sehr schlecht
zusammenpassen. Ihr Geschmack, ihr Gemüt, ihre Gewohnheiten und Anschauungen
sind total verschieden, und zwar so sehr, daß sie, statt ein erwünschtes Gleich*
gewicht zu bewahren (wozu entgegengesetzte Gemüter bei weisem Verhalten
fähig sein mögen), ein beständiges Gezanke im Gange erhalten, den häuslichen
Zirkel in Verwirrung bringen und den Namen des Herrn verunehren. Diesem
allem würde sehr vorgebeugt sein, wenn die Christen mehr auf Gott warten und
mehr Seine Verherrlichung zu ihrem Ziele wählen würden, als ihre persönlichen
Neigungen und Interessen.
2) Es ist für den Christen wichtig, die Worte Jesu: „Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib Licht sein", zu beachten. Wenn ich in betreff
meines Weges in Verlegenheit bin, so habe ich Ursache zu fürchten, daß mein
Auge nicht einfältig ist; denn sicher ist die Verlegenheit kein Beweis, daß der
„ganze Leib Licht" ist. Wir flehen oft um die Führung in Sachen, mit denen
109
voller Trauer und Verlegenheit bewahren. Aber ach! so steht es
nicht bei ihnen. Das Herz verläßt die wahre Gemeinschaft und
ist moralisch unfähig, die sich unterscheidenden Dinge zu prüfen; und in diesem Zustande gewinnt der Teufel einen leichten
Sieg und rasche Fortschritte in seiner gottlosen Anstrengung,
den Gläubigen zu bewegen, sich selbst mit„BeIial", mit „Gesetzlosigkeit", mit „Finsternis" und mit einem „Ungläubigen"
zusammenzujochen.
Befindet sich das Herz in völliger Gemeinschaft mit Gott, so ist
es ganz und gar Seinem Worte unterwürfig; es sieht die Dinge,
wie Er sie sieht; es nennt sie, wie Er sie nennt, und nicht wie der
Teufel oder sein eigenes fleischliches Herz sie nennen würden.
Auf diese Weise entflieht der Gläubige dem verführerischen
Einfluß einer Täuschung, die oft angewendet wird, um ihn
vorwärtszutreiben — nämlich der Täuschung eines falschen
Religionsbekenntnisses von Seiten jener Person, die er zu heiraten wünscht. Wie gewöhnlich ist ein solcher Fall. Es ist leicht,
gewisse Symptome zur Schau zu tragen, als ob man auf die
Dinge Gottes sein Vertrauen setze; und das Herz ist trügerisch
und gemein genug, irgendein Religionsbekenntnis abzulegen,
um nur seine Zwecke zu erreichen. Und nicht dies allein, sondern der Teufel, verwandelt in einen Engel des Lichts, wird zu
diesem falschen Bekenntnis ermuntern, um dadurch um so kräftiger die Füße des Kindes Gottes zu umstricken. Also geschieht
es, daß sich Christen in dieser Sache mit einem Beweis von
Bekehrung begnügen oder zufrieden zu sein bekennen, den sie
unter anderen Umständen als äußerst unvollkommen und
schwach betrachten würden. Aber ach! die Erfahrung öffnet
bald die Augen für die Wirklichkeit. Die Entdeckung wird
wir, wäre das Auge einfältig und der Wille unterwürfig, nicht das Geringste zu
tun haben würden; und wir sollten es daher nicht nötig haben, deswegen zu
beten. Um Dinge beten, in betreff derer das Wort Gottes so klar ist, verrät die
Tätigkeit eines aufrührerischen Willens. Mit Recht bemerkte unlängst jemand:
„Wir suchen oft den Willen Gottes, indem wir zu wissen wünschen, wie wir in
Umständen zu handeln haben, in dene n wi r un s gege n Seine n
Wille n befinden . Wäre aber das Gewissen in einer gesunden Tätigkeit,
so würde deren erste Wirkung sein, uns davon loszumachen. Unser eigener Wille
brachte uns hinein, und nichtsdestoweniger möchten wir uns des Trostes erfreuen,
daß Gott uns auf unserem selbsterwählten Pfade leite. Sicher ist es, daß, wenn
wir uns in der Nähe Gottes befinden, wir nicht in Betreff Seines Willens
beunruhigt sind. „Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib Licht
sein", und daher, wenn unser ganzer Leib nicht Licht sein wird, so ist sicher
auch unser Auge nicht einfältig. „Das ist ein armseliger Trost", wirst Du sagen.
Ich antworte: „Es ist ein reicher Trost für die, deren einziger Wunsch es ist,
ein einfältiges Auge zu haben und mi t Got t zu wandeln. "
110
schleunigst gemacht, daß das Bekenntnis nur eitles Gepränge
war und daß das Herz in und von der Welt ist. Eine entsetzliche
Entdeckung! Wer vermag die Einzelheiten der bitteren Folgen
einer solchen Entdeckung, die Angst des Herzens, die lauten
Vorwürfe und Schläge des Gewissens, die Scham und Verwirrung, den Verlust des Friedens und des Segens, die Verwirkung des geistlichen Friedens und der Freude, die Aufopferung
eines nützlichen Lebens, wer vermag sie zu schildern?
Der Mensch erwacht von seinem trügerischen Traum und öffnet sein Auge über der schrecklichen Wirklichkeit, sich für sein
ganzes Leben mit „Belial" zusammengejocht zu haben. Ja, so
benennt es der Heilige Geist. Dies ist nicht eine Folgerung oder
ein Urteil, wozu man durch langes Nachsinnen gelangt, sondern
eine klare und bestimmte Darstellung des Heiligen Geistes, daß
es sich also in betreff dessen verhält, der in ein ungleiches Ehejoch eintritt, was auch immer die ihn beeinflussenden Beweggründe sein mögen.
O mein geliebter Leser! Wenn Du in Gefahr bist, in solch ein
Joch einzutreten, dann bitte ich Dich in feierlichstem Ernst und
mit herzlicher Liebe, Halt zu machen und diese Sache mit der
Waage der Heiligkeit abzuwägen, bevor Du um ein Haar breit
auf diesem verhängnisvollen Pfade vorwärts gehst. Du kannst
fest versichert sein, daß Du nicht so bald diesen Schritt getan
haben wirst, oder Dein Herz wird mit hoffnungsloser Reue
bestürmt und Dein Leben durch unzählige Sorgen verbittert
sein. Laß Dich durch nichts bewegen, Dich mit einem Ungläubigen zusammenzujochen. Sind Deine Neigungen gefesselt?
Dann wisse, daß es nicht die Neigungen Deines neuen Menschen, sondern der alten und fleischlichen Natur sind, welche
Du berufen bist zu kreuzigen und beiseite zu setzen. Du solltest
zu Gott um geistliche Kraft flehen, um über den Einfluß solcher Neigungen erhoben zu sein und sie Ihm zum Opfer zu
bringen. Oder steht Dein Interesse dabei auf dem Spiel? Dann
wisse, daß es nur Dein Interesse ist und daß Du, wenn Du Deinen Zweck erreichst, das Interesse Christi durch Dein Zusammenjochen mit „Belial" aufopferst. Außerdem sind es nur zeitliche und nicht ewige Interessen. Die Interessen des Gläubigen
und diejenigen Christi müssen in Wirklichkeit dieselben sein;
und daher ist es klar, daß die Interessen Christi, sowie Seine
111
Ehre, Seine Wahrheit und Seine Herrlichkeit aufgeopfert sind,
wenn ein Glied Seines Leibes mit „Belial" verbunden ist. Das
ist der wahre Weg, diese Frage zu behandeln. Was sind etliche
Hunderte oder etliche Tausende für einen Himmels erben? Gott
kann Dir mehr als dieses geben. Wie? Du wärest auf dem
Wege, für eine erbärmliche Handvoll Gold, durch Dinge, die
durch den Gebrauch zu verderben sind, die Wahrheit Gottes
und dazu Deinen Frieden und Deine Glückseligkeit aufzuopfern? Ach nein, Gott wolle es verhüten! Fliehe, wie der Vogel
flieht vor dem Fallstrick, den er sieht und kennt. Strecke Deine
Hand aus nach einer wahren, entschiedenen, aufrichtigen Jüngerschaft, und nimm Dein Messer und schlachte Deine Neigungen und Deine Interessen am Altar Gottes. Und wird hier
auch nicht eine hörbare Stimme vom Himmel Deiner Handlung
Beifall zollen, so wirst Du doch das unschätzbare Zeugnis eines
zustimmenden Gewissens und eines ungetrübten Geistes haben
— eine reichliche Belohnung für das kostbare Opfer, das Du zu
bringen imstande bist. Möge der Geist Gottes Kraft geben, den
Versuchungen Satans zu widerstehen!
Es wird kaum nötig sein zu bemerken, daß in Fällen, wo die
Bekehrung erst nach der Heirat stattfindet, die Gestalt der
Sache wesentlich verändert ist. Dort werden z. B. keine Gewissensbisse sein. Und ob sich unstreitig auch hier Schwierigkeiten, Verlegenheiten und Trübsale zeigen werden, so kann
die Seele, wenn sie sich nicht mit Überlegung und vorsätzlich hineingestürzt hat, weit freimütiger die Trauer und Sorge in die
Gegenwart des Herrn bringen; und — gepriesen sei Gott! — wir
wissen, wie bereit Er ist, zu vergeben und die Seele, die ihren
Irrtum und ihren Fehltritt bekennt, wiederherzustellen und zu
reinigen von aller Ungerechtigkeit. Das mag jedem, der nach
seiner Verheiratung zu Gott gebracht ist, zum Tröste dienen.
Überdies hat der Geist Gottes einem solchen eine besondere
Anweisung und gesegnete Ermunterung in den Worten gegeben: „Wenn ein Bruder ein ungläubiges Weib hat, und sie
willigt ein, bei ihm zu wohnen, so entlasse er sie nicht. Und ein
Weib, das einen ungläubigen Mann hat, und er willigt ein, bei
ihr zu wohnen, so entlasse sie den Mann nicht. Denn der ungläubige Mann ist geheiligt durch das Weib; und das ungläubige Weib ist geheiligt durch den Bruder; sonst wären ja
112
eure Kinder unrein; nun aber sind sie heilig . . . Denn was
weißt du, Weib, ob du den Mann erretten wirst? Oder was
weißt du, Mann, ob du das Weib erretten wirst?" (1. Kor. 7,
12-16).
2. Da s Geschäftsjoch . Wir betrachten jetzt das „ungleiche
Joch" im Falle einer Geschäftsverbindung. Obgleich ein solches
Joch, weil es leichter aufzulösen ist, nicht so bedenklich erscheint wie jenes, das wir soeben betrachtet haben, so wird es
sich dennoch für das Zeugnis des Gläubigen als ein bestimmtes
Hindernis erweisen. Wenn sich ein Christ aus Geschäftszwecken mit einem Ungläubigen, ob mit ihm verwandt oder
nicht, zusammenjocht oder sich zum Glied einer weltlichen
Firma macht, so gibt er der Kraft nach seine persönliche Verantwortlichkeit preis; denn von diesem Augenblick an erblickt
man in den Handlungen der Firma seine eigenen; und dann
kann von Handlungen nach himmlischen Grundsätzen nicht
mehr die Rede sein. Man würde über solche Begriffe lachen,
sobald sie sich den Handelsprojekten gegenüber als wirkliche
Schranken erwiesen. Wird doch stets die Welt, um Geschäfte
machen zu können, nach Mitteln greifen, die dem Geist und
den Grundsätzen des Königreichs ganz entgegengesetzt sind,
dem der Gläubige angehört, sowie der Kirche, deren Teil er
bildet. Mag er auch seinen ganzen Einfluß geltend machen, um
die Art der Geschäftsführung zu verchristlichen, so wird man
ihn dennoch zwingen, seine Geschäfte gleich anderen zu treiben, so daß ihm nichts übrig bleibt, als im geheimen seine
unpassende und schwierige Stellung zu beklagen, oder auszutreten unter großen Nachteilen, die etwa für ihn und seine
Familie daraus erwachsen mögen. Wenn das Auge einfältig ist,
so wird sich beim Einschlagen einer dieser beiden Richtungen
keine Unschlüssigkeit kundgeben; aber leider beweist schon
der Eintritt in eine solche Stellung den Mangel eines einfältigen
Auges; und der Umstand, daß ein Gläubiger sich darin befindet, zeigt augenscheinlich den Mangel geistlicher Fähigkeit
zur Würdigung des Wertes und der Macht göttlicher Grundsätze, welche unfehlbar ihn herausbringen würden. Nie wird
sich jemand, dessen Auge einfältig ist, in der Absicht, sich Geld
zu verschaffen, mit einem Ungläubigen zusammenjochen
113
können; denn ein solcher hält die unmittelbare Verherrlichung
Christi im Auge und weiß, daß er durch Übertretung eines
göttlichen Grundsatzes dieses Ziel nicht erreichen kann. Wenn
nun aber der Eintritt eines Christen als Teilhaber in eine weltliche Firma nicht zur Verherrlichung dient, so fördert er dadurch
unbestreitbar die Zwecke des Teufels. Da gibt es keinen Mittelweg, sondern es ist offenbar, daß in solchem Falle Christus
nicht verherrlicht wird; denn Sein Wort sagt: „Seid nicht in
einem ungleichen Joch mit Ungläubigen." Nimmer kann dieser
Grundsatz übertreten werden, ohne dem Zeugnis zu schaden
und ohne die geistliche Segnung zu behindern. Allerdings kann
sich das Gewissen eines Christen, der in dieser Beziehung verkehrt gehandelt hat, auf mancherlei Art zu beruhigen suchen;
er kann zu verschiedenen Ausflüchten seine Zuflucht nehmen
und eine Menge Gründe anführen, um sich zu überreden, daß
er im Recht sei. Er kann sich sagen: „Mir steht, was mich persönlich betrifft, nichts im Wege, geistlich zu handeln, wenn ich
auch bezüglich meines Geschäfts mit einem Ungläubigen zusammengejocht bin." Allein dieses wird sich stets als eine
Täuschung erweisen, sobald es zu praktischer Ausübung auf
die Probe gestellt wird. Der Diener Christi wird sich auf hundertfache Weise durch eine weltliche Genossenschaft gehemmt
sehen. Wenn er in Sachen des Dienstes Christi nicht mit offenbaren Feindseligkeiten zusammengestoßen ist, so wird er den
geheimen und beständigen Anstrengungen des Feindes, seinen
Eifer zu dämpfen und seine Pläne mit kaltem Wasser zu überschütten, stets preisgegeben sein. Er wird belacht und geschmäht und beständig getadelt werden wegen der Wirkung,
die seine Schwärmerei hinsichtlich der Geschäftsbeziehungen
der Firma hervorbringt. Wenn er einen Teil seiner Zeit, seiner
Talente und seines Geldes für das verwendet, was er als den
Dienst des Herrn betrachtet, so wird man ihn für einen Narren
oder Toren halten und ihn daran erinnern, daß er, um als
Kaufmann in einer wahren, geschickten und vernünftigen
Weise dem Herrn zu dienen, „sein Geschäft und nur sein
Geschäft" im Auge behalten müsse; und daß es die ausschließliche Beschäftigung eines dazu eingesetzten und besoldeten
Predigers oder sogenannten Geistlichen sei, sich um religiöse
Dinge zu kümmern. Obwohl nun die erneuerte Gesinnung
114
eines Christen von dem Betrug eines solchen Urteils hinlänglich
überzeugt ist und obwohl er erkennen mag, daß diese weltliche
Weisheit nur ein über die geringen Ränke des Herzens geworfenes, eitles und abgenutztes Kleid ist, so kann doch niemand
beurteilen, wie weit das Herz durch solche Dinge beeinflußt
werden kann. Wir werden abgestumpft durch beständigen
Widerstand. Die Strömung wird zu stark für uns; wir übergeben uns nachgerade ihrer Wirkung und werden von ihrer
Oberfläche getragen. Das Gewissen mag etliche Todeskämpfe
bestehen; aber die geistliche Energie ist geschwächt und das
feine Gefühl der neuen Natur abgestumpft, so daß der Schrei
des Gewissens keine Antwort findet und kein wirklicher Widerstand gegen den Feind erhoben wird. Der Weltsinn im Herzen
des Christen verbindet sich mit den widerstrebenden Einflüssen
von außen; die Außenwerke sind bestürmt und die Zitadelle
der Neigungen der Seele ist einem nachdrücklichen Angriff
ausgesetzt; und schließlich gibt der weltlich gesinnte Mensch
in seiner eigenen Person ein erläuterndes Beispiel von der
rührenden Klage des Propheten, der da sagt: „Ihre Fürsten
waren reiner als Schnee., weißer als Milch; röter waren sie am
Leibe als Korallen, wie Saphir ihre Gestalt. Dunkler als
Schwärze ist ihr Aussehen, man erkennt sie nicht auf den
Straßen; ihre Haut klebt an ihrem Gebein, ist dürr geworden
wie Holz" (Klgl 4, 7—8). Wenn jemand einmal als ein Diener
Christi, als ein Mithelfer im Reiche Gottes bekannt war, indem
er die Interessen des Evangeliums von Christo zu fördern
suchte, und dann zu einem sich abmühenden, trockenen Geschäftsmann herabsinkt/ würde dann der Apostel nicht auch
von ihm, wie einst von Demas, sagen: „Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen hat" (2. Tim
4, 10)?
Vielleicht aber wirkt beim Eintritt in ein ungleiches Handelsjoch
mit Ungläubigen nichts mehr auf die Herzen der Christen, als die
Gewohnheit, die beiden Charaktere eines Christen und eines
Geschäftsmannes zur Schau zu tragen. Das ist ein gefährlicher
Fallstrick. Ein Mensch muß entweder das eine oder das andere
sein. Wenn ich ein Christ bin, so muß sich mein Christentum
in der Stellung, in der ich mich befinde, als eine lebendige
Wirklichkeit erweisen; wenn es sich aber auf diesem Platz
115
nicht zeigen kann, so darf auch ich auf dem Platz nicht bleiben;
denn wenn ich in einer Stellung verharre, in der das Leben
Christi sich nicht offenbaren kann, so werde ich bald nichts
vom Christentum besitzen, als höchstens den Namen ohne die
Wirklichkeit — die äußere Form ohne die innere Kraft — die
Schale ohne den Kern. Ich soll nicht bloß am Sonntag, sondern
auch von Montag morgen an bis Samstag abend, und nicht
bloß in der Versammlung, sondern auch auf meinem Geschäftsplatz, ein Diener Christi sein. Aber unmöglich kann ich ein
geschickter Diener sein, während mein Nacken in das Joch
mit einem Ungläubigen gespannt ist; denn wie könnten die
Diener zweier feindlich sich gegenüberstehenden Herren in
demselben Joch wirken? Dies ist ebenso unmöglich, als wenn
jemand versuchen wollte, die Strahlen der Mittagssonne mit
der tiefen Finsternis der Mitternacht zu verbinden. Es kann
nicht sein; und ich berufe mich, bezüglich dieser wichtigen
Sache, in der feierlichsten Weise und in der Gegenwart des
allmächtigen Gottes, der die Ratschläge des menschlichen Herzens durch Jesum Christum offenbaren wird, auf das Gewissen
meines Lesers. Ich würde ihm, wenn er im Begriff steht, sich
mit einem Ungläubigen geschäftlich zu verbinden, mit Ernst
zurufen: Vermeide es! — ja vermeide es, wenn er Dir auch den
Gewinn von Tausenden verheißt. Du wirst Dich nur in Trübsal
und Sorgen stürzen. Du bist auf dem Wege, Dich mit jemandem vor den Pflug zu spannen, dessen Gefühle, Triebe und
Neigungen den Deinigen geradezu entgegengesetzt sind. Er
wünscht sich Geld zu verschaffen, Vorteile zu gewinnen und in
der Welt Fortschritte zu machen; Du wünschest — oder solltest
es wenigstens wünschen, daß die Interessen Christi und Seines
Evangeliums auf Erden gefördert und die Grenzen, wo Sein
Name bekannt ist, erweitert werden. Sein Ziel ist das Geld, das
Deine ist hoffentlich Christus; er lebt für diese Welt und Du
für die zukünftige; er reißt die zeitlichen Dinge an sich und
Du die ewigen. Wie kannst Du denselben Platz mit ihm betreten? Deine Grundsätze, Deine Beweggründe, Deine Ziele,
Deine Hoffnungen sind ganz entgegengesetzter Natur. Wie ist
es Dir möglich, einen solchen Schritt zu tun? Wie kannst Du
eine solche Verbindung eingehen? Gewiß, Du bedarfst nur
eines einfältigen Auges, um dieses alles in seiner wahren
116
Gestalt zu sehen. Unmöglich ist es, daß jemand, dessen Auge
von Christo erfüllt und dessen Herz mit Ihm beschäftigt ist,
sich mit einem weltlichen Genossen zusammenjochen kann, in
welcher Sache es auch sei. Laß Dich daher, mein christlicher
Leser, bevor Du einen so folgenschweren Schritt tust, dringend
bitten, die ganze Sache mit einem aufrichtigen Herzen zu betrachten und in der Gegenwart Gottes auf der Waage Seiner
Heiligkeit zu wiegen. Frage Ihn, was Er davon denkt und
horche mit einem unterwürfigen Sinn und einem reinen
Gewissen auf Seine Antwort. Und diese Antwort ist voll und
kräftig, als ob sie aus den geöffneten Himmeln fiele; sie heißt:
„Seid nicht in einem ungleichen Joch mit Ungläubigen."
Wenn Du Dich aber, geliebter Leser, bereits in einem solchen
Joch befindest, so rate ich Dir, Dich so bald wie möglich davon
loszumachen. Ohne Zweifel wirst Du schon gefunden haben,
daß es ein höchst lästiges Joch ist. Dir die traurigen Folgen, die
mit einer solchen Stellung verknüpft sind, schildern zu wollen,
würde überflüssig sein; denn Du wirst sie ohnehin schon
kennen. Aber, geliebter Bruder in Christo, verliere keinen
Augenblick, dieses Joch abzuwerfen. Es muß aber vor dem
Herrn, nach Seinen Grundsätzen und durch Seine Gnade
geschehen. Der Eintritt in eine schlechte Stellung ist leichter,
als von ihr auszugehen. Eine seit zehn oder zwanzig Jahren
bestehende Geschäftsverbindung kann nicht in einem Augenblick aufgelöst werden. Es muß in Ruhe, in Demut und unter
Gebet geschehen, als in dem Angesichte des Herrn und in
völliger Berücksichtigung Seiner Herrlichkeit. Ich kann durch
die Art meines Austritts aus einer schlechten Stellung den
Herrn ebensosehr entehren, wie durch meinen Eintritt in sie.
Finde ich mich daher in einer Genossenschaft mit einem Ungläubigen und sagt mir mein Gewissen, daß dies unrecht sei,
so habe ich aufrichtig und freimütig meinem Partner zu erklären, daß ich nicht länger mit ihm vorangehen könne; und
dann ist meine Aufgabe, die Geschäfte der Firma in einer so
aufrichtigen, geradsinnigen und geschäftsmäßigen Weise abzuwickeln, daß der Widersacher keinen Anlaß zum Tadel
findet und den Übelrednern der Mund gestopft wird. Wir
müssen, wenn wir öffentlich für den Herrn und zur Rechtfertigung Seiner heiligen Grundsätze handeln, jeder Art von
117
Aufregung, Unbesonnenheit und Überredung aus dem Wege
gehen. Wenn jemand sich in einem Netz verwickelt hat, so
nützt kein heftiges, ungestümes Zerren und Reißen, um wieder
herauszukommen. Nein, man muß sich demütigen, man muß
seine Sünden vor dem Herrn bekennen und sich dann in geduldigem Anklammern an die Gnade, die nicht nur vergeben,
sondern auch in die rechte Stellung zu leiten vermag, seine
Schritte zurückziehen. — Indes ist, wie auch bezüglich des
Ehejochs, die Sachlage um vieles verändert, wenn die Geschäftsverbindung vor der Bekehrung ins Leben getreten ist. Zwar
ist auch dadurch keineswegs ein Verharren darin gerechtfertigt;
aber in diesem Falle ist das Gewissen nicht so sehr dabei beteiligt, und dies wird wesentlich auf die Art der Auflösung einwirken. Wenn ich mich selbst wegen meiner verkehrten Stellung
verurteilte, und wenn also der moralische Zustand meines
Gewissens und Herzens auf dem rechten Boden ruht, dann
wird Gott sicher die Sache in Seine Hand nehmen und mich auf
den mir geziemenden Platz stellen. Aber wenn Er meine Sache
ordnet, so wird Er mir nicht gestatten, einer Wahrheit Gewalt
anzutun, während ich bezüglich einer anderen in Gehorsam zu
handeln suche. Dasselbe Wort, welches sagt: „Seid nicht in
einem ungleichen Joch mit Ungläubigen", sagt auch: „Seid
niemandem irgend etwas schuldig"; —„Seid vorsorglich für das,
was ehrbar ist vor allen Menschen";—Wandelt in Weisheit gegen
die, welche draußen sind." Wenn ich durch meinen Eintritt in
jene Geschäftsverbindung gegen Gott ein Unrecht begangen
habe, so darf ich gewiß nicht durch die Art meines Austritts
gegen den Menschen ein Unrecht begehen. Eine tiefe Unterwerfung unter das Wort Gottes durch die Kraft des Heiligen Geistes
wird alles in Ordnung bringen, wird unsere Schritte leiten auf
gerade Pfade und uns fähig machen, alle gefährlichen Überstürzungen zu vermeiden.
3. Da s Religionsjoch . Bei Betrachtung der heiligen
Schriften finden wir viele Stellen, die uns den kräftigen Geist
der Absonderung, die stets das Volk Gottes charakterisieren
soll, vor Augen stellen. Mögen wir unsere Aufmerksamkeit
auf das Alte Testament richten, wo wir die Beziehungen und
Handlungen Gottes gegenüber Seinem irdischen Volke Israel
finden, oder auf das Neue Testament, wo wir Seine Bezie118
hungen und Handlungen betreffs Seines himmlischen Volkes,
der Kirche, sehen, stets finden wir dieselbe Wahrheit kräftig
betont, nämlich die gänzliche Absonderung derer, die Gott
angehören. Die Stellung Israels wird uns in dem Spruch Bileams
bezeichnet, wenn er sagt: „Siehe, ein Volk, das abgesondert
wohnt und unter die Nationen nicht gerechnet wird" (4. Mo
23, 9). Ihr Platz war außer dem Bereich aller Nationen der
Erde und sie waren für die Verwirklichung dieser Absonderung
verantwortlich. Durch die ganze Reihe der fünf Bücher Mose
hindurch werden sie in betreff dieser Sache belehrt, gewarnt
und ermuntert, und in den Psalmen und Propheten finden wir
die Mitteilung ihres Fehlgehens in der Auf rechterhaltung dieser
Absonderung — ein Umstand, der, wie wir wissen, die schwersten Gerichte von der Hand Gottes auf sie herabgezogen hat.
Alle die hierauf bezüglichen Schriftstellen anführen zu wollen,
würde zu weit führen. Die Worte: „Das Volk wird abgesondert
wohnen", bilden den Ausdruck der Gedanken Gottes in betreff
Seines Volkes Israel.
Dasselbe gilt, und das in einer höheren Bedeutung, in betreff
des himmlischen Volkes Gottes, der Kirche, des Leibes Christi,
die aus allen Gläubigen besteht. Auch sie sind ein abgesondertes Volk. Prüfen wir nun den Grund dieser Absonderung.
Absonderung auf Grund dessen, was wir sind, ist höchst verschieden von Absonderung auf Grund dessen, was Gott ist.
Ersteres macht den Menschen zu einem Pharisäer, das andere
macht ihn zu einem Heiligen. Wenn ich zu jemandem sagen
würde: „Mache mir Platz, denn ich bin heiliger als Du!", so
wäre ich ein abscheulicher Heuchler und Pharisäer. Aber wenn
Gott in Seiner unendlichen Herablassung und vollkommenen
Gnade zu mir sagt: „Ich habe dich in der Person meines Sohnes
Jesu Christi mit mir verbunden, darum sei heilig und trenne
dich von den Bösen, gehe aus ihrer Mitte und sondere dich ab",
so bin ich verpflichtet, zu gehorchen, und mein Gehorsam ist
die praktische Darstellung meines Charakters, als eines Heiligen, eines Charakters, den ich nicht wegen irgendeiner Eigenschaft in mir, sondern einfach deshalb besitze, weil Gott mich
durch das kostbare Blut Christi in Seine Nähe gebracht hat.
Das ist begreiflich. Pharisäismus und göttliche Heiligung sind
zwei verschiedene Dinge, und dennoch werden sie oft ver119
wechselt. Die, welche diesen dem Volke Gottes geziemenden
Platz der Absonderung zu behaupten suchen, werden stets der
Überhebung über ihre Mitmenschen beschuldigt. Diese Beschuldigung hat ihre Quelle in dem Nichtbeachten des soeben
angedeuteten Unterschiedes. Wenn Gott die Menschen zur
Absonderung auffordert, so geschieht es auf Grund dessen,
was Er am Kreuze für sie getan hat, wo Er sie in der Person
Christi in eine ewige Verbindung mit Sich selbst gebracht hat.
Aber wenn ich mich auf Grund dessen, was ich in mir bin,
absondere, so wird sich dies früher oder später als sinnlose und
geistlose Anmaßung herausstellen. Gott gebietet Seinem
Volk, heilig zu sein auf Grund dessen, was Er ist, indem Er
sagt: „Seid heilig, denn ich bin heilig." Das ist augenscheinlich
etwas ganz anderes, als wenn ich sage: „Gehe mir aus dem
Wege, denn ich bin heiliger als Du." Wenn Gott die Seinigen
mit Sich selbst in Verbindung bringt, so hat Er ein Recht, ihnen
ihren moralischen Charakter vorzuschreiben, und sie sind verantwortlich, Seinen Aufforderungen zu entsprechen. In der
Absonderung eines Heiligen liegt daher, wie wir sehen, tiefe
Demut. Nichts ist geeigneter, jemanden in den Staub zu legen,
als das Verständnis der wahren Natur göttlicher Heiligkeit.
Es ist eine falsche Demut, die dadurch entspringt, daß wir auf
uns selbst sehen, ja, sie ist in der Tat auf den Stolz eines
Herzens gegründet, das noch nie den Boden der eigenen Wertlosigkeit voll erkannt hat. Solche bilden sich ein, wahre und
tiefe Demut durch Selbstbeschauung erreichen zu können, während sie nur im Hinschauen auf Christum erlangt werden kann.
„Je mehr deine Herrlichkeiten mein Auge treffen, desto demütiger werde ich sein." Das ist ein richtiges Gefühl, und zwar
gegründet auf göttliche Grundsätze. Nur die Seele, die sich in
dem Strahl der moralischen Herrlichkeit Christi verliert, ist
wahrhaft demütig, und keine andere. Ich zweifle nicht, daß wir
alle Ursache haben, demütig zu sein, wenn wir bedenken, was
für arme Kreaturen wir sind; aber wir brauchen nur ein wenig
nachzudenken, um zu erkennen, daß Betrug darin liegt, wenn
wir trachten, durch Selbstbeschauung irgendein praktisches Resultat hervorzubringen. Jedes Kind Gottes sollte daher jedeZusammenjochung mit einem Ungläubigen, sei es bezüglich der
Familie, des Geschäfts oder der Religion, mit Entschiedenheit
120
ausschlagen, und zwar nicht wegen seiner eigenen persönlichen
Heiligkeit, sondern weil Gott ihm gebietet, sich abzusondern.
Die Ausführung dieses Grundsatzes in Sachen der Religion
wird unbedingt manche Art von Trübsal in ihrem Gefolge
haben; man wird ein solches Verhalten als Unduldsamkeit,
Scheinheiligkeit, Engherzigkeit und dergleichen bezeichnen,
aber dies alles kann uns nicht stören. Wenn wir uns auf einem
göttlichen Grundsatz und in der rechten Gesinnung absondern,
so können wir Gott die Folgen anheimgeben. Ohne Zweifel
hatte der Überrest in den Tagen Esras den Schein großer Unduldsamkeit, als er die Mitwirkung des ihn umringenden
Volkes beim Bauen des Hauses Gottes ausschlug; jedoch diese
Weigerung geschah nach einem göttlichen Grundsatz. „Und die
Feinde Judas und Benjamins hörten, daß die Kinder der Wegführung Jehova, dem Gott Israels, einen Tempel bauten; und
sie traten zu Serubbabel und zu den Häuptern der Väter und
sprachen zu ihnen: Wir wollen mit euch bauen, denn wir
suchen euren Gott wie ihr; und ihm opfern wir seit den Tagen
Esar-Haddons, des Königs von Assyrien, der uns hierher
heraufgeführt hat" (Esra 4, 1—2). Das schien eine höchst anziehende Zumutung zu sein, eine Zumutung, die ein bestimmtes Anlehnen an den Gott Israels in Aussicht stellte; dennoch
aber verweigerte der Überrest die Annahme dieses Vorschlags,
weil jenes Volk, ungeachtet seines schönen Bekenntnisses, von
Herzen unbeschnitten und feindselig war. „Aber Serubbabel
und Jeschua und die übrigen Häupter der Väter Israels sprachen zu ihnen: Es geziemt euch nicht, mit uns unserem Gott ein
Haus zu bauen; sondern wir allein wollen Jehova, dem Gott
Israels, bauen, wie der König Kores, der König von Persien,
uns geboten hat" (Esra 4, 3). Sie wollten sich nicht zusammenjochen mit den Unbeschnittenen — sie wollten nicht „pflügen
mit einem Rinde und einem Esel" — sie wollten ihr „Feld nicht
mit zweierlei Samen besäen"; sie hielten sich getrennt, obschon
sie sich dadurch dem Vorwurf der Scheinheiligkeit, der Engherzigkeit und der Lieblosigkeit aussetzten.
Ebenso lesen wir in Nehemia 9, 2: „Und der Same Israels
sonderte sich ab von allen Kindern der Fremde, und sie traten
hin und bekannten ihre Sünden, und die Ungerechtigkeiten
ihrer Väter." Das war nicht Sektiererei; es war bestimmter
121
Gehorsam. Ihre Absonderung war wesentlich nötig für ihre
Existenz als Volk. Auf keinem anderen Grunde hätten sie sich
der Gegenwart Gottes erfreuen können. So muß es stets sein
mit dem Volke Gottes auf der Erde. Hat keine Absonderung
stattgefunden, dann ist sein Weg nicht nur zwecklos, sondern
auch gefährlich. Gott kann die Seinigen weder anerkennen,
noch mit ihnen wandeln, wenn sie sich, auf welchem Grunde
und zu welchem Zwecke es auch sein mag, mit Ungläubigen
zusammenjochen. Es ist indes sehr schwer, eine Gesinnung
strenger Absonderung mit einer Gesinnung der Gnade, der
Sanftmut und der Nachsicht in Einklang zu bringen, oder, wie
jemand sagte, einen engen Kreis mit einem weiten Herzen
innezuhalten. Das ist in der Tat eine Schwierigkeit. Da die
gemessene und unnachgiebige Verteidigung der Wahrheit den
Kreis um uns her zu verengen trachtet, so haben wir ausgedehnte Gnade nötig, um das Herz weit und die Zueignungen
warm zu erhalten. Wenn wir für die Wahrheit streiten außer in
Gnade, so werden wir nur ein einseitiges und höchst abstoßendes Zeugnis ablegen; und wenn wir andererseits die
Gnade darzustellen trachten auf Kosten der Wahrheit, so wird
es sich bald herausstellen, daß wir nur eine allgemein beliebte
Hochherzigkeit auf Kosten Gottes zur Schau tragen, eine wertlose Sache.
Und wenn wahre Christen sich mit denen verbinden, die nach
ihrem eigenen Bekenntnis es nicht sind, wird ein wirklich göttlicher und himmlischer Zweck durch Übertretung der Wahrheit
nicht erreicht werden können. Die Mittel sind nie geheiligt
durch den Zweck, sondern sowohl die Mittel als auch der Zweck
müssen den Grundsätzen des heiligen Wortes Gottes angemessen sein, wenn nicht Verwirrung und Unehre der Ausgang werden soll. Dem Josaphat mochte es als ein guter Zweck
erscheinen, Ramoth in Gilead aus der Hand des Feindes zu
reißen; es mochte den Schein von Edelmut, von Volksfreundlichkeit und Hochherzigkeit tragen, als er auf den Vorschlag
Ahabs erwiderte: „Ich will sein wie du und mein Volk wie dein
Volk; und will mit dir in den Streit ziehen" (2. Chron 18, 3).
Es ist leicht, auf Kosten eines göttlichen Grundsatzes edelmütig
und hochherzig zu sein; aber wie endet dies alles? — Ahab
wurde getötet und Josaphat rettete durch die Flucht kaum sein
122
Leben, während sein Zeugnis total Schiffbruch litt. So erreichte
also Josaphat, wie wir sehen, nicht den Zweck, zu dem er sich
mit einem Ungläubigen zusammengejocht hatte, und hätte er
diesen Zweck auch erreicht, so wäre das dennoch keine
Rechtfertigung seiner Laufbahn gewesen.1
) Nichts kann einen
Gläubigen berechtigen, sich mit einem Ungläubigen zusammenzujochen. Wie hübsch, wie anziehend und wie scheinbar richtig
der Feldzug nach Ramoth für das menschliche Auge auch sein
mochte, so war er nach dem Urteil Gottes doch nur eine „dem
Gesetzlosen geleistete Hilfe und eine den Hassern Gottes erwiesene Liebe" (2. Chron 19, 2). Die Wahrheit Gottes streift
den Menschen und den Dingen die falschen Farben ab, mit
denen der Geist der Schicklichkeit sie bedecken würde, und
zeigt sie in ihrer wahren Gestalt. Es ist eine unaussprechliche
Gnade, daß wir das deutliche Urteil Gottes bezüglich alles
dessen haben, was uns umgibt; dies verleiht unserem Geist
Ruhe und dem Wandel und Charakter Festigkeit, und bewahrt
unsere Gedanken, Gefühle und Grundsätze vor jenem unglückseligen Schwanken, das uns gänzlich unfähig macht für den
Platz eines festen und standhaften Zeugnisses für Christum.
Wir werden unvermeidlich irren, wenn wir unser Urteil nach
den Gedanken und Meinungen der Menschen zu bilden suchen;
denn sie werden stets nach dem äußeren Schein und nicht nach
dem inneren Charakter und Wesen der Dinge urteilen. Und
vorausgesetzt, die Menschen könnten erreichen, was sie für
einen guten Zweck halten, so werden sie doch über die Art und
Weise, wie sie ihren Zweck erreichen, ganz unbekümmert sein,
während der wahre Diener Christi weiß, daß er das Werk
seines Herrn nach den Grundsätzen und nach der Gesinnung
seines Herrn ausführen muß. Es wird einem solchen nicht
genügen, das preiswürdigste Ziel zu erreichen, wenn dieses
nicht geschehen kann auf einem göttlich bezeichneten Wege.
Die Mittel und der Zweck müssen beide göttlich sein. Ich halte
z. B. die Verbreitung guter Schriften, und vor allem die Verbreitung des reinen, ewigen Wortes Gottes für einen höchst
1) Das ungleiche Joch erwies sich für das Herz Josaphats als ein schrecklicher
Fallstrick. Er verbündete sich mit Ahab zu einem religiösen Zweck, und ungeachtet
des traurigen Ausgangs finden wir ihn nachher in einem Handelsjoch mit Ahasja,
— eine Verbindung, die ebenfalls mit Verlust und Verwirrung endete; und
endlich jocht er sich zusammen mit Joram zu einem militärischen Zweck. (Vgl.
2. Chron 18; 20, 3S-37; 2. Kön 3).
123
lobenswerten Zweck; aber wenn ich sie nicht anders als dadurch, daß ich mich mit einem Ungläubigen zu diesem Zweck
zusammenjochen müßte, verbreiten könnte, so würde ich es
unterlassen, da ich nicht Übles tun soll, damit Gutes daraus
entstehe. Aber, gepriesen sei Gott! Sein Diener kann dieses
kostbare Buch verbreiten, ohne die darin enthaltenen Vorschriften zu verletzen. Er kann auf eigene persönliche Verantwortlichkeit hin oder in Verbindung mit solchen, die wirklich
auf Seiten des Herrn stehen, den kostbaren Samen nach allen
Richtungen hin ausstreuen, ohne sich mit denen verbinden zu
müssen, die durch ihr ganzes Verhalten beweisen, daß sie von
der Welt sind. Und dasselbe kann bezüglich jeden Gegenstandes religiöser Art gesagt werden. Das Ziel kann und soll
stets auf göttlichem Wege erreicht werden. Allerdings wird
man uns entgegnen, daß uns geboten sei, nicht zu richten, daß
man nicht ins Herz sehen könne, daß man verpflichtet sei, alle,
welche sich mit solch guten Werken, wie der Verbreitung der
Bibel und guter Traktate, sowie der Unterstützung bei der
Missionstätigkeit befassen, als Christen zu betrachten, und daß
man daher kein Unrecht tue, sich mit ihnen zu verbinden. Auf
dies alles erwidern wir, daß es im Neuen Testament kaum eine
Stelle gibt, die so falsch verstanden und angewendet wird, wie
in Mt 7, 1 die Worte: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet
werdet." Denn wir lesen in demselben Kapitel: „Hütet euch
vor den falschen Propheten .. . An ihren Früchten werdet ihr
sie erkennen." — Wie aber könnten wir uns „hüten", wenn
wir nicht richten? Ebenso lesen wir in 1. Kor 5: „Denn was
habe ich die zu richten, welche draußen sind? Ihr, richtet ihr
nicht, die drinnen sind? Die aber draußen sind, richtet Gott;
tut den Bösen von euch selbst hinaus." Hier sind wir also
bestimmt belehrt, daß die, welche „drinnen" sind, in dem unmittelbaren Gerichtskreise der Kirche stehen, und dennoch
sollen wir nach der gewöhnlichen Erklärung der Worte: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet", niemanden richten;
folglich muß diese Erklärung unrichtig sein. Wenn jemand,
selbst durch ein Bekenntnis, den Platz „drinnen" betritt, so ist
uns geboten, ihn zu richten oder zu beurteilen. „Ihr, richtet
ihr nicht, die drinnen sind?" Mit denen, die „draußen" sind,
haben wir nichts anderes zu schaffen, als daß wir ihnen die
124
reine und vollkommene, die reiche, grenzenlose und unermeßliche Gnade vorstellen, die mit wolkenlosem Glanz in dem
Tode und der Auferstehung des Sohnes Gottes hervorstrahlt.
Das ist klar genug. Dem Volke Gottes ist befohlen, Gericht zu
üben gegenüber denen, die „drinnen" zu sein bekennen; es ist
ihm geboten, sich zu „hüten vor den falschen Propheten" und
die „Geister zu prüfen";und wie könnte dieses alles geschehen,
ohne zu richten? Was nun mag der Herr meinen, wenn Er sagt:
„Richtet nicht!" Ich glaube, daß Er dasselbe meint, was der
Apostel Paulus durch den Heiligen Geist sagt, wenn er uns
gebietet: „So urteilt nicht etwas vor der Zeit, bis der Herr
kommt, welcher auch das Verborgene der Finsternis ans Licht
bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren wird, und
dann wird jedem sein Lob werden von Gott" (1. Kor 4, 5). Wir
haben nicht die Beweggründe, aber den Wandel und die Grundsätze zu richten, und zwar gegenüber all denen, die „drinnen"
zu sein bekennen. Und gerade dieselben Personen, die sagen:
„Wir müssen nicht richten", üben beständig Gericht. Es gibt
keinen wahren Christen, dessen moralischen Triebe einer göttlichen Natur ihn nicht zu einem Urteil über den Charakter, den
Wandel und die Lehre drängen. Dies sind eben die Punkte, die
in den Gerichtskreis des Gläubigen gestellt sind.
Möge es daher der christliche Leser tief in sein Herz dringen
lassen, daß er Gericht üben soll gegenüber denen, mit denen er
bezüglich der Religion zusammengejocht ist. Befindet er sich in
diesem Augenblick in einem Joch oder Zuggeschirr mit einem
Ungläubigen, so ist er bestimmt in der Lage, die Vorschriften
des Heiligen Geistes zu verletzen. Er mag sich aus Unwissenheit in diese Schlinge begeben haben, und in diesem Falle ist
die Gnade des Herrn bereit, zu vergeben und wiederherzustellen; aber wenn er, nachdem er gewarnt ist, aus Ungehorsam darin beharrt, so kann er unmöglich die Segnung und
Gemeinschaft Gottes erwarten, unbekümmert wie wertvoll und
wichtig der Gegenstand auch sein mag, den er zu erreichen
strebt. „Gehorsam ist besser als Schlachtopfer, Aufmerken
besser als das Fett der Widder" (1. Sam 15, 22).
4. Wir haben jetzt noch das „ungleiche Joch" allgemeine r
Menschenlieb e zu betrachten. Viele werden sagen: „Wir
125
sind ganz damit einverstanden, daß wir in Sachen der Anbetung oder des Dienstes Gottes uns nicht mit anerkannten
Ungläubigen vermengen dürfen; aber wenn es sich handelt um
die Förderung menschenfreundlicher Zwecke, z. B. Hungrige
zu speisen, Nackte zu kleiden, nützliche Anstalten für Blinde
und Taubstumme zu errichten, Hospitäler, Waisen- und Rettungshäuser zu bauen, oder wenn es sich mit einem Wort
darum handelt, solche Dinge zu fördern, die eine Verbesserung
des leiblichen und geistigen Zustandes unserer Mitmenschen
bezwecken, so steht unserer Vereinigung mit Ungläubigen
nichts im Wege." Das scheint alles auf den ersten Blick unbestreitbar richtig zu sein, denn man könnte die Frage an
mich richten, ob ich denn nicht einem Mann, dessen Karren
in die Gosse geraten ist, hilfreich beispringen würde? Ich werde
ihm sicher Hilfe leisten. Würde man mich aber auffordern,
mich einer gemischten Gesellschaft anzuschließen, die sich das
Ziel gesteckt, Karren aus den Gossen zu ziehen, so würde ich
mich entschieden weigern, nicht wegen meiner höheren Heiligkeit, sondern weil das Wort Gottes sagt: „Seid nicht in einem
ungleichen Joch mit Ungläubigen." Das würde in allen Fällen,
was auch der Zweck der gemischten Gesellschaft sein möchte,
meine Antwort sein. Dem Diener Christi ist geboten, zu
„jedem guten Werk bereit zu sein", „Gutes zu tun an allen",
„die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal zu besuchen"; aber
er hat dies als Diener Christi zu tun und nicht als Mitglied
irgendeines Vereins, der aus Ungläubigen und Gottesleugnern, aus bösen und gottlosen Menschen zusammengesetzt ist.
Überdies dürfen wir nicht vergessen, daß die Menschenliebe
Gottes an das Kreuz des Herrn Jesu Christi geknüpft ist. Dies
ist der Kanal, durch den Gott segnen, das ist der Hebel, durch
den Er den Menschen leiblich wie geistig aufrichten will. „Als
aber die Güte und Menschenliebe unseres Heilandes Gottes
erschien, errettete er uns, nicht aus Werken, die in Gerechtigkeit vollbracht, wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit, durch die Waschung der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes, welchen er reichlich über uns ausgegossen hat durch Jesum Christum, unseren Heiland" (Tit 3,
4—6). Das ist die Menschenliebe Gottes. Das ist Seine Art,
den Zustand des Menschen zu verbessern. Mit allen, die dieses
126
zu würdigen wissen, mag sich der Christ hurtig zusammenjochen, aber mit keinem anderen.
Die Menschen dieser Welt verstehen nichts von diesem und
kümmern sich nicht darum. Sie mögen trachten, die Zustände
zu verbessern, aber es ist eine Besserung ohne Christum, ohne
das Kreuz. Sie wünschen Gutes zu fördern, aber Jesus ist weder
der Ausgangspunkt, noch das Endziel ihres Laufs. Wie kann
nun der Christ sich mit ihnen zusammenjochen? Sie begehren
zu wirken ohne den Einen, dem sie alles schulden, ohne
Christum. Kann der Christ mit ihnen wirken? Kann er ein
gemeinschaftliches Ziel mit ihnen haben? Ich setze den Fall, es
kämen etliche Menschen zu mir und richteten etwa folgende
Worte an mich: „Wir wünschen Deine Mitwirkung beim Speisen der Hungrigen, beim Kleiden der Nackten, beim Gründen
von Kranken-, Waisen- und Irrenanstalten, bei der Besserung
der physischen Lage unserer sterblichen Mitbürger, aber du
mußt wissen, daß unser Verein es sich, um Streit zu verhüten,
zur Hauptregel gestellt hat, den Namen Christi durchaus nicht
einzuführen. Unsere Zwecke sind ganz und gar keine religiösen, sondern nur auf allgemeine Menschenliebe ist unser
Auge gerichtet, und darum muß der Gegenstand der Religion
aus allen unseren öffentlichen Versammlungen gänzlich ausgeschlossen bleiben. Wir kommen als Menschen zu einem
wohlwollenden Zwecke zusammen, und darum können sich
Ungläubige, Gottesleugner, Arianer, Sozinianer, Römlinge und
alle anderen Parteien zusammenjochen und die glorreiche Maschine der Menschenliebe in Bewegung setzen." Was würde
ich auf eine solche Zumutung erwidern? In der Tat, es würden
jemandem, der den Herrn Jesus wirklich liebt, die passenden
Worte fehlen, um auf eine solch scheußliche Aufforderung zu
antworten. Wie? man will sterblichen Menschen eine Wohltat
erweisen durch den Ausschluß Christi? Das sei fern! Wenn ich
die Zwecke reiner Menschenliebe nicht erreichen kann, ohne
Beifügung jener gesegneten Person, die für mich lebte und
starb und für mich bis in Ewigkeit lebt, dann weg mit eurer
Menschenliebe, denn sie ist sicher nicht von Gott, sondern vom
Satan. Ihr schließt Christum aus, und darum sind Eure Pläne
direkte Eingebungen Satans, des Feindes Christi. Satan ist
stets bemüht, den Sohn Gottes auszuschließen, und wenn er
127
die Menschen bewegen kann, es zu tun, so wird er ihnen mit
Freuden gestatten, wohltätig, liebreich und menschenfreundlich
zu sein. Aber in der Tat, eine solche Güte und Menschenliebe
sollte mit Recht Härte und Menschenhaß genannt werden,
denn wie könnt Ihr nachdrücklicher Euer Übelwollen und Euren
Hai? gegen die Menschen an den Tag legen, als wenn Ihr Ihn
ausschließt, der allein wirklich segnen kann für Zeit und Ewigkeit? Aber wie entsetzlich müßte der moralische Zustand eines
Herzens in bezug auf Christum sein, das an einem Verein unter
der Bedingung teilnehmen könnte, daß der Name Christi durchaus nicht eingeführt werde? Wie kalt müßte ein solches Herz
sein! Es würde den Beweis liefern, daß die Pläne und Wirksamkeiten unbekehrter Menschen nach seinem Urteil von genügender Wichtigkeit seien, um zu ihrer Ausführung den
Herrn über Bord werfen zu können. Täuschen wir uns nicht;
dies ist der wahre Gesichtspunkt, aus dem wir die Menschenliebe der Welt zu betrachten haben. Die Kinder dieser Welt
können „für dreihundert Denare Salbe verkaufen und den
Armen geben", weil es in ihren Augen Verschwendung ist,
wenn diese Salbe auf das Haupt Jesu geschüttet wird. Wird
der Christ darin übereinstimmen? Wird er sich damit zusammenjochen lassen? Wird er ohne Christum die Welt zu veredeln trachten? Wird er sich mit den Menschen vereinigen, um
einen Schauplatz zu zieren und zu schmücken, der mit dem
Blut seines Herrn und Meisters befleckt ist? Petrus konnte
sagen: „Silber und Gold habe ich nicht, was ich aber habe, das
gebe ich dir: In dem Namen Jesu Christi, des Nazaräers, stehe
auf und wandle." — Er heilte einen Krüppel durch die Macht
des Namens Jesu; aber was würde er erwidert haben, wenn
man ihm zugemutet hätte, einem Verein zur Linderung der
Krüppel beizutreten, und zwar unter der Bedingung, daß der
Name Jesu gänzlich ausgeschlossen bliebe? Es erfordert kein reiches Maß von Einbildungskraft, um eine Antwort zu ersinnen.
Seine ganze Seele würde vor solch einem Gedanken zurückgebebt sein. Er heilte den Krüppel, um den Namen Jesu zu
erheben und dessen Wert, dessen Vortrefflichkeit und Herrlichkeit vor das Auge der Menschen zu bringen, während die
Menschenliebe der Welt, da sie diesen gesegneten Namen ganz
beiseite setzt und Ihm aus ihren Vereinen, Gesellschaften und
128
Plänen verbannt, gerade das Gegenteil tut. Sollten wir daher
nicht ausrufen: „Es ist eine Schande für einen Christen, der
auf einem Platz gefunden wird, wo man seinen Herrn und
Meister ausgeschlossen hat." Man gehe voran in der Kraft der
Liebe Jesu; man ermüde nicht, durch die Macht des Heiligen
Geistes Gutes zu tun, aber man joche sich nicht zusammen mit
Ungläubigen, um die Wirkungen der Sünde durch das Ausschließen des Kreuzes Christi verhindern zu wollen. Der große
Zweck Gottes ist die Erhebung Seines Sohnes, damit „Alle den
Sohn ehren, wie sie den Vater ehren." Und dieses sollte auch
ebenfalls der Zweck des Christen sein; in dieser Absicht sollte
er „Gutes tun in allem". Wenn er sich aber einem Verein
oder einer Gesellschaft anschließt, um Gutes zu tun, so ist es
nicht der „Name Jesu", sondern der Name des Vereins, in dem
er, und zwar ohne den Namen Jesu, tätig ist. Das sollte genug
sein für jedes treue und aufrichtige Herz. Außer Christo hat
Gott keinen Weg, die Menschen zu segnen, und Er hat keinen
anderen Zweck der Segnung, als die Erhebung Christi. So wie
einst Pharao den speisebedürftigen Ägyptern, wenn sie in
seine Nähe kamen, zurief: „Gehet zu Joseph!" so sagt das
Wort Gottes zu allen: „Kommt zu Jesu!" — Ja, für Seele und
Leib, für Zeit und Ewigkeit müssen wir zu Jesu gehen; aber
die Kinder dieser Welt kennen Ihn nicht und begehren Ihn
nicht; — was hat nun der Christ mit solchen zu schaffen? Wie
kann er, zusammengejocht mit ihnen, tätig sein? Er kann es
nur tun auf Grund einer praktischen Verleugnung des Namens
seines Heilandes. Viele erkennen dies nicht; aber das ändert
nicht die Sache für die, die es erkennen. Wir sollen aufrichtig
handeln, als im Licht; und wenn auch die Gefühle und Neigungen der neuen Natur nicht stark genug wären, um uns
zurückschaudern zu lassen vor einem Anschließen an die Feinde
Christi, so sollte sich doch mindestens unser Gewissen beugen
unter die gebietende Autorität des Wortes: „Seid nicht in
einem ungleichen Joch mit Ungläubigen."
Möge der Heilige Geist Sein Wort mit himmlischer Macht bekleiden und dessen Schwert schärfen, um das Gewissen zu
durchdringen, damit die Heiligen Gottes befreit werden
möchten von allem, was sie hindert, den „ihnen vorliegenden
Wettlauf mit Ausharren zu laufen." Die Zeit ist kurz. Der
129
Herr Selbst wird bald hier sein. Dann wird manches ungleiche Joch in einem Augenblick zerbrochen werden, und Schaf
und Ziege werden dann für ewig getrennt sein. Mögen wir
befähigt sein, uns von jeder unreinen Verbindung und von
jedem unheiligen Einfluß zu reinigen, so daß wir, wenn Jesus
wiederkehrt, Ihm begegnen können mit einem freudigen
Herzen und einem ruhigen Gewissen.
Der Korb
mit den Erstlingen der Frucht des Landes
(5. Mose 26)
In dieser höchst interessanten Anordnung begegnen wir drei
verschiedenen praktischen Resultaten, die aus der Besitzergreifung des Landes Kanaan durch das Volk Israel hervorfließen; diese sind: 1. der Gottesdienst, 2. das tätige Wohlwollen und 3. die persönliche Heiligkeit. Nachdem Jehova mit
mächtiger Hand Sein Volk in das verheißene Land eingeführt
hatte, konnten die Früchte dieses Landes dargebracht werden.
Man mußte unbedingt in Kanaan sein, bevor man die Früchte
Kanaans beim Gottesdienst opfern konnte. Der Anbeter war
fähig zu sagen: „Ich tue heute Jehova, deinem Gott, kund, daß
ich in das Land gekommen bin, welches Jehova unseren Vätern
geschworen hat, uns zu geben" (V. 3).
„Ich bin gekommen." Das war der Kern der Sache. Er sagt nicht:
„Ich werde kommen" oder: „Ich hoffe zu kommen", oder: „Ich
wünsche zu kommen"; nein, sondern: „Ich bin gekommen".
So muß es stets sein. Wir müssen uns gerettet wissen, bevor
wir die Früchte einer erkannten Rettung bringen können. Wir
mögen in unserem Verlangen nach Rettung sehr aufrichtig,
und in unseren Anstrengungen, gerettet zu werden, sehr ernst
sein; aber wir können nur sehen, daß unsere Anstrengungen,
dieses Ziel zu erreichen, gänzlich verschieden sind von den
Früchten unserer Errettung. Der Israelit opferte den Korb der
ersten Früchte nicht, um in das Land einzugehen, sondern er tat
130
es, weil er wirklich darin war. „Ich tue heute kund, daß ich
gekommen bin." Das beseitigt jeden Irrtum. Ich bin im Lande;
und hier ist die Frucht des Landes.
„Und du sollst vor Jehova, deinem Gott, anheben und sprechen: Ein umherirrender Aramäer war mein Vater, und er zog
nach Ägypten hinab und hielt sich daselbst auf als ein geringes
Häuflein; und er wurde daselbst zu einer großen, starken und
zahlreichen Nation. Und die Ägypter mißhandelten uns und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien
wir zu Jehova, dem Gott unserer Väter, und Jehova hörte unsere
Stimme und sah unser Elend und unsere Mühsal und unseren
Druck. Und Jehova führte uns aus Ägypten heraus mit starker
Hand und mit ausgestrecktem Arm und mit großem Schrecken
und mit Zeichen und mit Wundern; und er brachte uns an
diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch
und Honig fließt. Und nun siehe, ich habe die Erstlinge der
Frucht des Landes gebracht, das du, Jehova, mir gegeben hast.
— Und du sollst sie vor Jehova, deinem Gott, niederlegen und
anbeten vor Jehova, deinem Gott; und du sollst dich freuen
all des Guten, das Jehova, dein Gott, dir und deinem Hause
gegeben hat, du und der Levit und der Fremdling, der in
deinem Hause ist" (5. Mo 26, 5-11).
Ein herrliches Beispiel der Anbetung! „Ein umherirrender Aramäer." Das war der Ursprung. Da gabs nichts zu rühmen,
insofern es sich um die Natur handelte. Und bot der Zustand
etwa einen Grund zum Rühmen? Keineswegs. Das Land Ägypten hatte für das Volk nur einen „harten Dienst", — eine
ermüdende Arbeit in den Ziegelhütten unter der grausamen
Geißel der Frohnvögte Pharaos. Aber dann: „Da schrien wir zu
Jehova." Hier war die Zufluchtsstätte der Unglücklichen. Es wai
alles, was sie tun konnten; aber es war auch genug. Der Schrei
der Hilflosigkeit stieg direkt zum Throne Gottes empor und
führte Gott hernieder in die nämlichen Ziegelhütten Ägyptens.
Hören wir, welche feierlichen Worte Jehova an Mose richtet:
„Und Jehova sprach: Gesehen habe ich das Elend meines
Volkes, das in Ägypten ist, und sein Geschrei wegen seiner
Treiber habe ich gehört; denn ich kenne seine Schmerzen. Und
ich bin herabgekommen, um es aus der Hand der Ägypter zu
erretten und es aus diesem Lande heraufzuführen in ein gutes
131
und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig
fließt. . .. Und nun siehe, das Geschrei der Kinder Israel ist vor
mich gekommen; und ich habe auch den Druck gesehen, womit
die Ägypter sie drücken" (2. Mo 3, 7—9).
Das war die unmittelbare Antwort Jehovas auf den Hilferuf
Seines Volkes. „Ich bin herabgekommen, sie zu erretten." Ja,
gesegnet sei Sein Name! Er kam hernieder, um, in Ausübung
einer freien und uneingeschränkten Gnade, Sein Volk zu befreien; und keine Macht der Menschen oder der Teufel, der
Erde oder der Hölle, konnte es festhalten über die bestimmte
Zeit hinaus. Daher finden in 5. Mose 26 die großen Resultate
in der Sprache des Anbeters und in dem Inhalt seines Korbes
ihren Ausdruck. „Ich bin gekommen in das Land, das Jehova
unseren Vätern geschworen hat, uns zu geben;" und: „Nun
bringe ich hier die Erstlinge der Frucht des Landes, das du,
Jehova, mir gegeben hast." — Der Herr hat in betreff der Liebe
Seines Herzens und in betreff der Treue Seines Wortes alles
erfüllt. Nicht ein Jota, nicht ein Titelchen hat gefehlt. „Ich
bin gekommen;" und: „Ich habe die Früchte gebracht." Die
Früchte, wovon? Von Ägypten? Nein, sondern „die Früchte des
Landes, das du, Jehova, mir gegeben hast." Die Lippen des Anbeters verkündigten die Vollendung des Werkes Jehovas. Der
Korb des Anbeters enthielt die Früchte des Landes Jehovas.
Nichts konnte einfacher, nichts wirklicher sein. Der Anbeter
hatte nur das Werk Gottes bekanntzumachen und die Früchte
zu zeigen. Alles, vom Anfang bis zum Ende, war von Gott. Er
hatte die Israeliten von Ägypten ausgeführt; und Er hatte sie
in das Land Kanaan gebracht. Er hatte ihre Körbe mit den
reifen Früchten Kanaans und ihre Herzen mit dem Lobe des
Gottes ihres Heils gefüllt.
Und was denkst Du, mein teurer Leser? Hältst Du es etwa für
eine Vermessenheit, daß der Israelit eine solche Sprache führte?
War es recht, war es bescheiden, war es die Sprache der Demut,
wenn er sagte: „Ich bin gekommen"? Würde es vielleicht geziemender gewesen sein, wenn er bloß der schwachen Hoffnung, etwa in einer zukünftigen Periode ins Land zu kommen,
Ausdruck gegeben hätte? Würden Zweifel und Ungewißheit
hinsichtlich seiner Stellung und seines Teils mehr zur Ehre des
Gottes Israels gedient haben? Gewiß nicht. Und welch ein herr132
liches Beispiel liefert uns hier das alte Volk Gottes! Konnte ein
Israelit sagen: „Ich bin in das Land gekommen, das Jehova
unseren Vätern geschworen hat, uns zu geben", so kann jetzt
mit derselben Zuversicht ein Gläubiger sagen: „Ich bin zu Jesu
gekommen!" Freilich war es in dem einen Falle die Wirklichkeit, während es in dem anderen der Glaube ist. Aber ist es in
dem einen Falle weniger wahr, als in dem anderen? Sagt der
von Gott erleuchtete Apostel nicht zu den Hebräern: „Ihr seid
gekommen zum Berge Zion?" und wiederum: „Deshalb, da wir
ein unerschütterliches Reich empfangen, laßt uns Gnade haben,
durch welche wir Gott wohlgefällig dienen mögen mit Frömmigkeit und Furcht." Wenn wir darüber im Zweifel sind, ob
wir gekommen sind oder nicht, und ob wir das „Reich empfangen" haben oder nicht, so sind wir unfähig, in Wahrheit anzubeten oder einen annehmlichen Dienst zu üben. Nur wenn wir
uns im friedlichen Besitz unseres Platzes und unseres Teils in
Christo befinden, nur dann steigt wahre Anbetung zum Throne
droben, und nur dann wird wirklicher Dienst geübt werden
können in dem Weinberge hienieden.
Denn was ist wahre Anbetung? Was anders, als daß ich in der
Gegenwart Gottes das rühme, was Er ist und was Er getan hat.
Er hat alles getan. Wenn ich Ihn nun nicht kenne, und wenn
ich nicht glaube an das, was Er getan hat, wie kann ich Ihn
denn anbeten? „Wer Gott naht, muß glauben, daß Er ist". —
Gott zu erkennen, ist das ewige Leben (Joh 17,3). Ich kann Gott
nicht anbeten, wenn ich Ihn nicht kenne; und ich kann Ihn
nicht erkennen, ohne das ewige Leben zu haben. Die Athener
hatten dem „unbekannten Gott" einen Altar errichtet, und
Paulus sagte ihnen, daß ihre Anbetung in Unwissenheit geschehe, und fuhr fort, ihnen den wahren Gott, dargestellt in
der Person und dem Werke Christi, zu verkündigen.
Es ist von höchster Bedeutung, in diesem Punkt klar zu sein.
Ich muß Gott erkennen, bevor ich Ihn anbeten kann. Ich mag
„Gott suchen, ob ich ihn vielleicht tastend fühlen und finden
möchte;" aber nach jemandem tastend fühlen, den ich nicht
gefunden habe, und jemanden anbeten, den ich gefunden habe, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Gott hat
sich im Angesicht Jesu Christi geoffenbart. Er ist in der Person
Seines hochgelobten Sohnes nahe zu uns gekommen, so daß
133
wir Ihn erkennen und lieben, Ihm vertrauen und in all unseren
Schwachheiten und Bedürfnissen bei Ihm Hilfe suchen können.
Wir brauchen Ihn nicht tastend zu suchen inmitten der Finsternis der Natur, oder unter den Wolken und Nebeln einer in
zehntausend Formen aufgelösten falschen Religion. Nein;
unser Gott hat sich in einer so deutlichen Weise zu erkennen
gegeben, daß der pilgernde Mensch, wie töricht er sonst auch
sein mag, nicht darüber im Irrtum zu sein braucht. Der Christ
kann sagen: „Ich weiß, an wen ich glaube." Das ist der Grund
aller wahren Anbetung. Es kann ein ungeheures Maß von
fleischlicher Frömmelei und mechanischer zeremoniöser Übung
ohne ein Stäubchen einer geistlichen Anbetung geben. Anbetung kann nur aus der Erkenntnis Gottes hervorfließen.
Indes ist es nicht unsere Absicht, eine Abhandlung über die
Art und Weise der Anbetung zu schreiben, sondern wir wünschen nur unseren Lesern einfach und in möglichster Kürze die
belehrende und schöne Anordnung betreffs des Korbes mit
den Erstlingen aller Früchte vor Augen zu stellen. Und nachdem wir gezeigt haben, daß die Anbetung die erste Handlung
eines Israeliten war, der sich im Besitz des Landes sah, und daß
auch wir unseren Platz und unsere Vorrechte kennen müssen,
bevor wir den Vater im Geiste und in der Wahrheit anbeten
können, werden wir fortfahren, die Aufmerksamkeit des Lesers
auf das zweite in unserer Betrachtung hervortretende, praktische Resultat, nämlich auf das tätige Wohlwollen, zu richten.
„Wenn du fertig bist mit dem Abtragen alles Zehnten deines
Ertrages im dritten Jahre, dem Jahre des Zehnten, und du ihn
dem Leviten, dem Fremdling, der Waise und der Witwe gegeben hast, damit sie in deinen Toren essen und sich sättigen,
so sollst du vor Jehova, deinem Gott, sprechen: Ich habe das
Heilige aus dem Hause weggeschafft und habe es auch dem
Leviten und dem Fremdling, der Waise und der Witwe gegeben, nach all deinem Gebot, das du mir geboten hast; ich
habe deine Gebote nicht übertreten noch vergessen" (5. Mo 26,
12-13).
Nichts kann in moralischer Beziehung schöner sein, als die Ordnung dieser Dinge Es ist ganz dasselbe, was wir in Hebr 13
finden. „Durch ihn nun laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes
darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen
134
bekennen." So weit ist es die Anbetung. „Des Wohltuns aber
und Mitteilens vergesset nicht; denn an solchen Opfern hat
Gott Wohlgefallen." Hier ist das tätige Wohlwollen. Fassen
wir beides zusammen, so haben wir sozusagen die obere
und die untere Seite des Charakters eines Christen, er
preist Gott und tut den Menschen Gutes. Kostbare Charakterzüge! O möchten wir sie doch treuer ans Licht treten lassen!
Eins ist gewiß, sie gehen immer zusammen. Man zeige
mir einen Menschen, dessen Herz voll des Lobes Gottes
ist, und ich will euch einen zeigen, dessen Herz für jede Form
menschlicher Notdurft geöffnet ist. Er mag nicht reich sein an
Gütern dieser Welt; er mag gezwungen sein zu sagen: „Silber
und Gold habe ich nicht"; gleich jenem vor Alters, der sich
nicht schämte, dies zu sagen; aber er wird eine Träne des Mitgefühls haben, einen freundlichen Blick, ein tröstendes Wort;
und diese Dinge werden mächtiger reden zu einem fühlenden
Herzen, als das öffnen der Börse und das Geklinge des Silbers
und Goldes.
Aber beachten wir die in Hebr 13 aufgestellte und in 5. Mo 26
erläuterte göttliche Ordnung. Die Anbetung hat den ersten, den
höchsten Platz. Mögen wir es nie vergessen. Wir haben Gott
das Opfer des Lobes „stets" darzubringen. Auch der Psalmist
sagt es. „Jehova will ich preisen allezeit; beständig soll sein Lob
in meinem Munde sein." Dies Lob soll nicht nur dann und
wann, wenn etwa alles glänzend und fröhlich um uns her ist,
oder wenn alles nach Wunsch des Herzens geht, laut werden,
sondern „allezeit" — „stets". Der Strom der Danksagung muß
ununterbrochen fließen. Da gibt es keine Frist zum Murren
oder zur Klage, zum Verdruß oder zur Unzufriedenheit, zum
Trübsinn oder zur Verzagtheit. Lob und Danksagung sind die
beständigen Verrichtungen. Wir haben stets den Geist der
Anbetung in der Übung zu erhalten. Das wird auch in der
Ewigkeit unser glückseliger und heiliger Dienst sein. Ja, selbst
wenn die Forderung, „mitzuteilen" nicht mehr an uns gestellt,
wenn nicht mehr unser Mitgefühl und unsere Hilfe begehrt
werden, wenn wir aufgefordert worden sind, diesen Schauplatz
der Trauer und der Not für immer zu verlassen, auch dann
werden wir Gott stets und ununterbrochen loben droben im
Heiligtum Seiner glückseligen Gegenwart.
135
„Des Wohltuns aber und Mitteilens vergesset nicht." Er sagt
nicht: „Aber die Darbringung des Opfers des Lobes vergesset
nicht." Nein, sondern damit wir, im glückseligen Genuß unseres Platzes und Teiles in Christo, nicht vergessen sollen, daß
wir einen Schauplatz der Trauer und der Not, der Trübsal und
des Druckes durchpilgern, fügt der Apostel die heilsame Ermahnung in betreff des Wohltuns und des Mitteilens hinzu.
Der geistlich gesinnte Israelit hatte sich nicht nur jedes guten
Dinges, das Jehova, sein Gott, ihm gewährte, zu erfreuen,
sondern er hatte sich auch des Leviten, des Fremden, des
Waisen, der Witwe, kurz solcher zu erinnern, die kein irdisches
Teil, keine irdische Heimat, keinen irdischen Beschützer und
keine irdische Wohnung hatten. Der Strom der Gnade wälzt
sich hernieder von dem Busen Gottes und füllt unsere Herzen
bis zum Überfließen; und in ihrem Überfluß erfrischen und
erfreuen sie die uns umringende Szene. Wenn wir nur im
Genuß lebten von dem, was unser Teil in Gott ist, so würde
jede Bewegung, jede Handlung, ja jeder Blick von unserer Seite
nur Gutes wirken. Der Christ, nach göttlichem Begriff, erhebt die
eine Hand zur Darbringung des Opfers des Lobes, während
seine andere Hand gefüllt ist mit den wohlriechenden Früchten
reinen Wohlwollens, um damit jedem Hilfsbedürftigen zu
begegnen.
Und jetzt noch ein kurzes Wort über den dritten Punkt. Wir
werden nur die Stelle anführen. Nachdem der Israelit seinen
Korb gereicht und seinen Zehnten ausgeteilt hatte, wurde er
weiter belehrt zu sagen: „Ich habe nicht davon gegessen in
meiner Trauer und habe nicht davon weggetan als ein Unreiner; ich habe nicht davon für einen Toten gegeben" (V. 14).
Hier haben wir also die persönliche Heiligkeit, die gänzliche
Absonderung von allem, was unvereinbar war mit dem heiligen und glückseligen Platz der Anbetung und des Dienstes, in
den er eingeführt worden war. Dort durften kein Leid, keine
Unreinigkeit, keine toten Werke sein. Wir haben keinen Raum
für irgendeins dieser Dinge. Wir haben, mit einem Worte, drei
Dinge zu verrichten. Wir blicken auf Gott und bringen die
Opfer des Lobes dar; wir blicken um uns her in der Welt und
tun Gutes, und wir blicken in den Kreis unseres eigenen
Wesens, unseres inneren Lebens, und halten uns rein.
136
„Betet unablässig; danksaget in allem; denn dieses ist der
Wille Gottes in Christo Jesu gegen euch" (1. Thess 5, 18).
„Laßt uns aber im Gutestun nicht müde werden; denn zu
seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten!"
(Gal 6, 9). „Da wir nun diese Verheißungen haben, Geliebte,
so laßt uns uns selbst reinigen von aller Befleckung des
Fleisches und des Geistes, indem wir die Heiligkeit vollenden
in der Furcht Gottes" (2. Kor 7,1).
Möge der treue Herr uns die Gnade schenken, daß bei uns allen
diese Dinge reichlich vorhanden seien! Sie gehören zusammen.
Wo das eine ist, da kann das andere nicht fehlen. Einer wahren
Anbetung entspringt ein treuer Dienst und ein heiliger Wandel.
Der Dienst
(i. Kor 12—14.)
In diesen drei Kapiteln des ersten Korintherbriefes, die ich der
Aufmerksamkeit des Lesers empfehle, haben wir drei wichtige
Punkte in bezug auf den Gegenstand des Dienstes in der
Versammlung oder der Kirche Gottes.
1. In Kapitel 12 haben wir die einzige göttliche Grundlage des
Dienstes, nämlich die Gliedschaft am Leibe, nach dem Willen
Gottes; denn wir lesen in Vers 18: „Nun aber hat Gott die
Glieder gesetzt, jedes einzelne von ihnen an dem Leibe, wie
es ihm gefallen hat." Das ist ein wichtiger Grundsatz. „Gott
hat gesetzt. .. wie es ihm gefallen hat." Es ist nicht ein Mensch,
der sich selbst in irgendeiner Art oder Form eingesetzt hat
oder durch andere eingesetzt worden ist. Dergleichen findet
keinen Raum in dem göttlichen Dienst. In Vers 4 lesen wir:
„Es sind aber Verschiedenheiten von Gnadengaben; aber derselbe Geist; und es sind Verschiedenheiten von Diensten; aber
derselbe Herr; und es sind Verschiedenheiten von Wirkungen,
aber derselbe Gott, der alles in allem wirkt." Hier ist in
bezug auf den Dienst die heilige Dreieinigkeit dargestellt.
137
Es ist die Gabe des Geistes, verwaltet durch den Sohn und
wirksam gemacht durch den Vater. Diese drei Dinge sind zu
jedem wirksamen Dienste unbedingt nötig.
2. Dann zeigt uns das liebliche Kapitel 13 die Triebfeder des
Dienstes; die „Liebe". Wenn auch jemand die glänzendste
Gabe hat, so wird sie dennoch, wenn sie nicht durch die Liebe
in Bewegung gesetzt und in Liebe geübt wird, keinen Nutzen
bringen. Es kann sich jemand in der Versammlung erheben
und seine Kraft, in Sprachen zu reden, seine Gabe der Prophezeiung, sein Verständnis der Geheimnisse, seine Erkenntnis
der Lehre, oder die Kraft seiner Beredsamkeit an den Tag
legen, ohne der Versammlung oder einem einzelnen Gliede
von ihr irgendwie zu nützen, und zwar einfach deshalb, weil
die Liebe nicht die Quelle des Dienstes ist. Möge man dieses
wohl erwägen! Es ist ein beachtenswerter Punkt für alle, die
irgendeinen Dienst übernehmen. Der Diener sollte stets die
Frage an sich richten: „Ist es die Liebe, die mich drängt?"
Wenn nicht, so wird er sich als untauglich erweisen.
3. Schließlich haben wir in Kapitel 14 den Zweck und das
Resultat des Dienstes, nämlich die „Erbauung". Dies ist das
Ziel jedes Dienstes. Der Apostel will angesichts dieses Zieles
„lieber fünf Worte reden" zur Erbauung, als „zehntausend
Worte", wobei dieses Ziel nicht erreicht wird. „Auf daß die
Versammlung Erbauung empfange", das ist der spezielle
Punkt, der in diesem ganzen Kapitel hervorgehoben wird; und
das ist das Ziel, das die Liebe stets zu erreichen strebt, mag
auch die Gabe sein, welche sie will. Die Liebe hat nur das Wohl
anderer im Auge. Sie sucht nicht den eigenen Ruhm, sie sucht
nicht das Ihre. Die Erbauung der Versammlung ist ihr Ziel und
Zweck.
Mögen wir uns daher an diese drei Dinge, an die Grundlage,
an die Quelle und an den Zweck des wahren Dienstes stets
erinnern! Mögen wir darüber nachsinnen und sie in der Kraft
des Heiligen Geistes praktisch zur Ausführung bringen, und
zwar zur Verherrlichung Gottes und zum Wohl Seiner Kirche!
138
„Nur" und „frühe"
(Psalm 62 und 63)
In diesen beiden Psalmen finden wir eine schöne und nützliche
Aufgabe für uns. Das Herz ist immer geneigt, sein Vertrauen
zwischen Gott und der Kreatur zu teilen, und das sollte nicht
sein. „Nur auf Gott vertraut still meine Seele, nur er ist mein
Fels und meine Rettung, meine hohe Feste." Dies lehrt uns der
62. Psalm.
Ferner sind wir so geneigt, Fleisch für unseren Arm zu halten,
und wenn uns dies mißlingt, so richten wir danach wohl unsere
Blicke auf Gott: aber dies sollte ebensowenig sein. Er muß
sowohl unsere erste als auch unsere alleinige Quelle sein.
„Gott, du bist mein Gott! Truhe suche ich dich." In dieser
Weise sollte das Herz allezeit mit dem gnadenreichen Gott
verkehren. Dies ist die Aufgabe des 63. Psalms. Wenn wir die
Segnungen gelernt haben, nur Gott zu suchen, so werden wir
Ihn sicher auch frühe suchen.
Der Friede mit Gott
Es gibt nicht wenige Personen, die, obwohl sie in betreff ihrer
Seelen gänzlich in Ruhe zu sein scheinen, doch nicht wagen zu
sagen, daß sie Frieden mit Gott gefunden haben, nämlich den
Frieden, der der Erkenntnis jener Wahrheit entspricht, daß
„der Herr ihnen ihre Ungerechtigkeit nicht zurechnet" (Ps 32,2).
Und doch ist es eine sehr ernste Sache, daran zu denken, daß
der Friede, der eine andere Quelle hat, ein durchaus falscher
Friede ist und keineswegs der Friede mit Gott. Nun gibt es
zwei Arten eines falschen Friedens. Zuerst einen, der das
traurige Resultat der gänzlichen Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit hinsichtlich unserer Seelen ist. Wir sehen eine große
Menge den „breiten Weg, der zur Verdammnis führt" (Mt 7,
139
13) wandeln. Dennoch, die große Frage zwischen Gott und
ihren Seelen ruft nie ein Nachdenken in ihnen wach, wiewohl
wir wissen, daß Gott früher oder später mit einem jeglichen
persönlich in betreff dieser Frage abrechnen wird, entweder
jetzt oder in der vollsten Gnade kraft des für Sünder vergossenen Blutes Jesu, oder, wenn wir diese Gnade gering achten, später
in dem ernsten, das Herz prüfenden Gericht, „in der Offenbarung des Herrn Jesu vom Himmel mit den Engeln seiner
Macht, in flammendem Feuer, wenn er Vergeltung gibt denen,
die Gott nicht kennen, und denen, die dem Evangelium unseres
Herrn Jesu Christi nicht gehorchen" (2.Thess 1, 7. 8).
Dann gibt es aber auch solche, die ihr Gewissen, das sie verklagt, (Röm 1) auf einem Wege zu beruhigen suchen, den Gott
nicht gezeigt hat. Sie sind bemüht, sich durch den Gedanken
zufriedenzugeben, daß sie nicht so schlecht seien, wie viele
ihrer Mitmenschen; sie sind keine Mörder, keine Ehebrecher,
keine Lästerer und dergleichen; und ferner sind sie vielleicht
sogar religiöse Leute; sie kommen den Vorschriften des öffentlichen Gottesdienstes nach, soviel es in ihren Kräften steht; sie
lesen das Wort Gottes und halten täglich ihre Gebete; und
mithin meinen sie, auf einem solchen friedfertigen Wege
vorangehen zu können, ohne großes Aufsehen zu machen.
Aber ach! weder diese noch jene besitzen Frieden mit Gott;
und alle, die sich mit diesem Scheinfrieden begnügen, gleichen
jenen, die rufen: „Friede!" „obwohl kein Friede da ist"
(Hes 13,10).
Weder der Friede, der einer sorglosen Gleichgültigkeit, noch
der, welcher der Eigengerechtigkeit entspringt, können als
Frieden mit Gott bezeichnet werden. Sie haben beide der heiligen Wirklichkeit gleichsam gänzlich den Rücken gewandt.
Der erstgenannte Friede kann als der Friede des Ungläubigen,
und der andere als der Friede der falschen Religion bezeichnet
werden; beide sind falsch, beide leiten unvermeidlich ins gewisse Verderben, beide stehen in schroffem Gegensatz mit
dem Frieden, der aus der Erkenntnis der reinigenden Wirksamkeit des Blutes des Herrn Jesu Christi hervorfließt. Denn
wie könnte es der wahre Friede sein, der in der Unwissenheit
oder in der Gleichgültigkeit gegenüber einer nicht zu leug140
nenden Gefahr seinen Grund hat? Und gewiß, jeder, der sich
mit einem solchen Frieden begnügt, gleicht einem Menschen,
der in einem brennenden Hause oder am Rande eines schrecklichen Abgrundes ruhig weiterschläft.
Ebensowenig kann ein Friede als der wahre bezeichnet werden,
der unsere Werke, unsere Buße, unsere Trauer, unsere Tränen,
unsere Gebete, unser Fasten, unsere Tugenden, unsere Gefühle
und Erfahrungen, unsere Erkenntnis, unseren Dienst, oder
sonst etwas als Fundament hat. Der Friede kann in keiner
Weise mit uns selbst in Verbindung stehen; er muß einzig und
allein in dem vollbrachten Opfer Christi seine Quelle haben,
in Ihm, der durch Sein eigenes Opfer das Werk der Versöhnung vollendet und für immer Frieden gemacht hat.
Auch möge der Leser es bemerken, daß das Werk Jesu nicht
erst, nachdem es von seiten des Menschen gewürdigt und anerkannt ist, den Frieden mit Gott geben kann, sondern daß
alles in der Würdigung und der Anerkennung von Seiten Gottes
seinen Ruhepunkt findet. Das Blut Jesu Christi ist und bleibt
immer dasselbe in den Augen Gottes; und auf dieses Blut und
auf nichts anderes ist der wahre Friede gegründet.
Es ist daher eine höchst wertvolle und trostreiche Sache, daß
man jedem mit Sünden beladenen Gewissen zurufen darf:
„Nicht das Werk des Heiligen Geistes an uns, sondern dasWerk
Christi für uns gibt uns Frieden."
Und nun, mein Leser, mache einen Augenblick halt, weil ich
über diesen wichtigen Punkt gern ein wenig mit Dir reden
möchte. Wende Dich nicht ab, indem Du sagst, daß Du dieses
alles längst vorher gehört habest und nicht wünschest, es noch
einmal zu hören. Sei versichert, es rückt ein Tag heran, an dem
Du für tausend Welten nicht wünschen wirst, der Dir im
Namen Jesu Christi angekündigten Gnade und Barmherzigkeit
ein taubes Ohr geboten zu haben. Darum, wenn Du Deine
Seele lieb hast, so höre mir zu.
Zunächst möchte ich die Frage an Dich richten, ob Du einer
von denen bist, die gemächlich in der Welt sitzen und sagen:
„ . . . der morgende Tag soll wie dieser sein, herrlich über alle
Maßen" (Jes 56, 12). Vielleicht denkst Du, daß, „weil alles so
141
bleibt von Anfang der Schöpfung an, der Herr seine Verheißung verzieht" (2. Petr 3, 4—9). Aber täusche Dich nicht; denn
„Gott hat einen Tag gesetzt, an welchem er den Erdkreis in
Gerechtigkeit richten wird durch einen Mann, den er dazu
bestimmt hat, und hat allen den Beweis davon gegeben, indem
er ihn auf erweckt hat aus den Toten" (Apg 17, 31). „Denn es
wird geoffenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen" (Röm 1, 18). „Welche Seele
sündigt, die soll sterben" (Hes 18, 4). „Verflucht ist jeder, der
nicht bleibt in allem, was im Buche des Gesetzes geschrieben
ist, es zu tun" (5. Mo 27, 26; Gal 3, 10). — Das sind die wahren
Worte Gottes; wie kannst Du noch ruhig bleiben? Der Bluträcher geht seinen Weg; (4. Mo 35) und findet er Dich außerhalb der Mauern der „Freistätte, so wird Blut für Blut fließen."
In der Tat, solche ernsten Worte sollten Dich aus Deinem traurigen Schlummer aufwecken. Hüte Dich, vor ihnen Dein Ohr
zu verschließen, bis vielleicht, ach, wie entsetzlich! Dein Seil ummer erst dann endet, wenn jede Hoffnung für Dich abgeschnitten ist. Aber, mein teurer Leser, denke nicht, daß ich Dich
zu beruhigen wünsche, nein; ich werde keine Art von Furcht in
Deinem Herzen zu wecken vermögen, die „das Evangelium der
Herrlichkeit des seligen Gottes" nicht mit einem Male beseitigen könnte. Mein einziger Wunsch ist nur, Dich von einem
falschen Frieden hinwegzuschrecken, in welchem Du die Tage
Deines Lebens in törichter Weise zubringst, und der unausbleiblich Deine arme Seele einmal ins ewige Verderben hineinstürzen wird.
Aber vielleicht hast Du begonnen, ernstlich über Deine Seele
und über die Ewigkeit nachzudenken. Vielleicht verurteilt Dich
Dein Gewissen und sagt Dir, daß Du ein verdammungswürdiger Sünder bist und daß es schrecklich ist, in die Hände eines
heiligen und gerechten Gottes zu fallen. Wenn dies der Fall ist,
so trachte nur nach jenem Frieden, den Christus gemacht hat
durch „das Blut seines Kreuzes" (Kol 1, 20). Viele sind, sobald
sie ihre Gefahr zu entdecken beginnen, gleich bemüht, „ihre
eigene Gerechtigkeit aufzurichten", anstatt sich der „Gerechtigkeit Gottes zu unterwerfen" (Röm 10, 3). Ist dieses auch Deine
142
Weise? Vielleicht bist Du sowohl ein religiöser, als auch ein
ehrbarer, sittlicher Mann, vielleicht bist Du stets den Vorschriften der bekennenden Kirche mit allem Fleiß nachgekommen, vielleicht liest Du die Bibel, betest täglich und bist
gern in Gesellschaft derer, die sich oft über religiöse Dinge
unterhalten. Alles dieses ist an seinem Platze recht gut; aber
wie? baust Du den Frieden Deines Gewissens auf die bloße
Verrichtung dieser Dinge? Kannst Du wirklich sagen, daß Du
einen festen, wohlbegründeten Frieden besitzest, der unabhängig von solchen Übungen ist; und daß Du diese nur verrichtest,
weil sie Deinem Herzen Freude bereiten? ') Hattest Du Frieden
mit Gott, bevor Du diese und jene Dinge zu verrichten begannst? Oder verrichtest Du sie, um den Schrei des Gewissens
zu unterdrücken und Dir auf solche Weise einen falschen
Frieden zu verschaffen? Ist dies der Fall, so kannst Du versichert sein, daß Du den wahren Frieden mit Gott noch nicht
gefunden hast. Solche Dinge mögen sehr geeignet sein, um Dir
bei den Menschen, die nur nach dem äußeren Schein zu urteilen
vermögen, einen guten Namen zu verschaffen; aber sie werden
nicht bestehen können vor dem durchdringenden Auge dessen,
der auf das „Herz sieht" (1. Sam 16, 7). Wahrlich, ich bezweifle
es sehr, daß Du ganz zufrieden mit Dir selbst bist. Ja, ich bin
sogar gewiß, daß, wenn jemand Deine inneren Gedanken belauschen könnte, man gewahren würde, daß Dein eigenes
Gewissen Dir oft sagt, daß alles nicht in Ordnung sei. Und
sicher wirst Du nicht glauben, daß es leichter sei, dem gerechten
Richterstuhl dessen, der „ein verzehrendes Feuer" ist (Hebr 12)
zu begegnen, als dem Richterstuhl unseres unerleuchteten Gewissens; denn in der Tat, wir, die wir mit offenen Augen die
1) Der große Unterschied zwischen der menschlichen Religiosität und dem
wahren Christentum besteht darin, daß Religiosität einen Bergungsplatz vo r
Gott sucht und wahres Christentum einen Bergungsplatz i n Gott findet.
(Vgl. 1. Mo 3, 10 mit Ps 32, 7). Adam suchte sich durch seine Feigenblätter und
durch seinen Rückzug hinter die Bäume des Gartens vor Gott zu verbergen; aber
David fand seinen Bergungsplatz in Gott. Der Gedanke, daß ein armer Sünder
in Gott geborgen sei, fließt aus göttlichem Herzen. Der Mensch hätte nie daran
denken können. Sein höchster Gedanke ist, sich durch seine eigenen Werke,
seine Gebete, sein Fasten, seine Zeremonien und milde Gaben, kurz durch all
sein Tun vor der Heiligkeit zu decken, während er, sobald er mit dem Glaubens»
äuge das Kreuz erblickt, in derselben Heiligkeit seine Wohnung und seinen
Ruheplatz erblickt. Das ist die in Röm 3 und 4 vorgestellte Gerechtigkeit Gottes.
Die Seele, die an Jesum glaubt, hat das Vorrecht, zu erkennen, daß die Heiligkeit
Gottes die Basis ihres Friedens ist. Das Kreuz, das diese Heiligkeit offenbart,
sichert den Frieden des Gläubigen.
143
Wahrheit Gottes verwerfen und die Lüge Satans annehmen,
(siehe 1. Mo 3) sind jetzt sehr unzurechnungsfähige Richter
in der Beurteilung dessen, was zum Eingang in die Gegenwart
des Gottes, der Licht und Wahrheit ist, fähig ist. Wenn nun
„unser Herz uns verurteilt", welches nur die auffallendsten
Dinge kennt, wie wollen wir in der Gegenwart dessen bestehen, der „größer ist als unser Herz und alles kennt?" (1. Joh 3,
20). „Alles ist bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen,
mit dem wir es (persönlich) zu tun haben" (Hebr 4, 13). Und
wenn wir mit unserem eigenen Gewissen keinen Frieden erlangen können, wie können wir erwarten, „mit Gott Frieden"
zu haben? (Röm 5, 1). Jedes Ding, das hinter diesem Frieden
zurückbleibt, ist nur eine „Zuflucht zur Lüge" (Jes 28, 17), die
hinweggefegt werden wird, wenn jener schreckliche Tag kommt,
„brennend wie ein Ofen" (Mal 4). Mag große Moralität oder
außergewöhnliche Religiosität das Fundament bilden, alles
muß zusammenstürzen, wenn „der Platzregen herniederfällt
und die Ströme kommen, und die Winde wehen", weil „auf
Sand gebaut ist" (Mt 7, 26. 27). Es mag jetzt alles glatt und
schön mit uns ablaufen; man mag uns als ehrbare, rechtschaffene und religiöse Leute bezeichnen; aber ach! wenn jener
schreckliche Tag anbricht, werden wir finden, daß uns alle
solche Eigenschaften nur Frieden mit den Menschen, aber
keineswegs Frieden mit Gott zu verschaffen vermochten. O
schrick doch nicht, mein teurer Leser, vor der Prüfung Deines
Herzens zurück und sieh genau zu, was der Grund Deiner
Ruhe ist! Ist es der Fels der Zeitalter? Ist Dein Anker geworfen
in das „Inwendige des Vorhangs?" (Hebr 6). Wenn Du wirklich Frieden hast durch die Erkenntnis des gekreuzigten und
auferstandenen Christus, dann hast Du das Ergebnis dieser
Prüfung nicht zu fürchten, sondern kannst Dich vielmehr
dessen erfreuen; denn dieses und nur dieses nennt die heilige
Schrift Frieden mit Gott. Aber wenn Du diesen Frieden nicht
hast, ist es dann nicht eine gesegnete Sache, wenn Du veranlaßt
wirst, jede Zuflucht zur „Lüge", jeden sandigen Boden, jeden
falschen Frieden, Dinge, die unausbleiblich Deine Seele ins
ewige Verderben stürzen, augenblicklich zu verlassen? Täusche
Dich nicht! „Einen anderen Grund kann niemand legen, außer
dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus" (1. Kor 3, 11).
144
Eine andere Zuflucht vor den schrecklichen Gerichten, die bald
die Erde erreichen werden, kann niemand finden, als Christum
im „Inwendigen des Vorhangs" (Hebr 6, 18. 19); einen anderen Frieden kann niemand machen, als der gemacht worden
ist „durch das Blut des Kreuzes", der bereitet ist für alle, welche
glauben wollen (Kol 1, 20; Röm 5, 1). Es wird nicht genügen,
das Glied irgend einer der bekennenden Kirchen zu sein; denn
dort gibt es keine Kirche außer der „Kirche des lebendigen
Gottes" (1. Tim 3, 15), wovon Christus das lebendige „Haupt"
ist (Eph 1, 22) und wahre Gläubige die lebendigen Glieder
sind (Eph. 5, 30) und zu der wir Eingang haben durch lebendigen Glauben.
Du kannst ein Glied irgendeiner Sekte sein, Du kannst der
Predigt des Wortes beständig beiwohnen und zu regelmäßigen
Zeiten am Abendmahl des Herrn teilnehmen, Du kannst ein
eifriger Beschützer des Missionswerkes, der Traktat-und BibelGesellschaften, ein fröhlicher Geber zu milden Stiftungen und
sogar ein beredter Prediger und Verteidiger des Christentums
sein und Dir wegen dieser Dinge selbst bei Christen einen
Namen erworben haben; und dennoch kann Dich im geheimen
Dein Herz verurteilen und Dir zuflüstern, daß alles nicht in
Ordnung sei. Dein Herz und Dein Gewissen können nicht in
Ruhe sein, bis der Friede von Gott Dein Friede ist; und Du
weißt sehr wohl, daß dieser Friede weder auf etwas in Dir,
noch auf etwas, was Du getan hast, gegründet ist. Ach nein;
der Friede mit Gott kann auf keinem anderen Boden ruhen, als
auf dem kostbaren Blute Christi. Ruht hier Dein Friede, dann
bist Du in Sicherheit, während im anderen Falle Du durch Dich
oder durch andere getäuscht wirst.
Du kannst bezüglich Deines Glaubens nicht zu einfach sein;
Du darfst nichts hinzufügen, durchaus nichts, selbst nicht das
Werk des Heiligen Geistes; denn nur das vollbrachte Werk des
Sohnes Gottes ist das Mittel, um Frieden zu erlangen. Nicht
der Heilige Geist hat Frieden gemacht, sondern Christus hat es
getan; und der Heilige Geist wird uns in dieser Weise darüber
belehren; denn Er gibt Zeugnis von Christo und nicht von Sich
selbst. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß der Heilige Geist
und all Seine kostbaren Wirkungen und Früchte für das christ145
liehe Leben durchaus nötig sind; aber als Fundament des Friedens des Sünders kann nur das vollbrachte Werk des Lammes
Gottes bezeichnet werden.
Auf die Frage: „Wie ist denn nun der Friede Gottes zu erlangen?" — antwortet das heilige Wort Gottes: „Nicht durch
Werke der Gerechtigkeit, welche wir getan haben" (Tit 3, 5),
sondern durch den Glauben an den Sohn Gottes, welcher „kam
und Frieden verkündigte" (vgl. Apg 10, 36; Eph 2, 17), „da er
durch das Blut seines Kreuzes Frieden gemacht hat" (Kol 1,20).
„Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben
wir (jetzt) Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesum
Christum" (Röm 5, 1). „Denn es ist kein anderer Name unter
dem Himmel, der unter den Menschen gegeben ist, in welchem
wir errettet werden müssen" (Apg 4, 12).
Aber, mein teurer Leser, vielleicht sagst Du: „Ich glaube an den
Sohn Gottes; ich glaube, daß Er in die Welt kam; daß Er unsere
Sünde auf Sich nahm, daß Er am Kreuze starb und am dritten
Tage wieder auferstand und daß jetzt kein anderer Name
besteht, durch den ein Sünder errettet werden kann, als Sein
Name." — Gut; dieses ist, soweit es reicht, ein rechtgläubiges
Bekenntnis; aber bist Du auch im Genuß der Resultate dessen,
was Dein Mund bekennt? Wenn Du in Wirklichkeit dieses
alles glaubst, dann besitzest Du ewiges Leben und göttliche
Gerechtigkeit; denn „wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das
ewige Leben"; und wiederum: „In diesem (Jesus) wird jeder
Glaubende von allem gerechtfertigt" (Apg 13, 39). Zu behaupten, daß man alles dieses glaube, und dabei seine vollkommene
Rechtfertigung vor Gott nicht zu kennen, ist ein völliger Widerspruch. Wenn ich mich unter jenen „allen, welche glauben",
befinde, so bin ich auch sicher „gerechtfertigt von allem." Gott
spricht so; und daher bin ich verpflichtet, es zu glauben und
mich dessen zu erfreuen. Die Vollkommenheit der Rechtfertigung ist gegründet auf der Vollkommenheit des Werkes Christi.
Der Glaube ergreift dieses und füllt die Seele mit Freude und
Frieden. Es ist sehr wichtig, zu sehen, daß wir das Vorrecht
haben, die Vergebung unserer Sünden zu wissen. Es gibt viele,
die jeden Tag der Woche ihren Glauben „an die Vergebung der
Sünden" versichern, und die es dennoch als Anmaßung bezeich146
nen würden, wenn jemand sagte, er glaube an die Vergebung
seiner Sünden. Wir wissen, daß wir „aus dem Tode in das
Leben hinübergegangen sind."
Ist es eine Anmaßung, dem Worte Gottes zu glauben? Er hat
gesagt: „Wer glaubt, hat (und nicht kann oder wird haben)
das ewige Leben." „Weil ihr Söhne seid, so hat Gott den Geist
seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba,
Vater!" (Gal 4, 6). Ist es nicht eine größere Anmaßung, „Gott
zum Lügner zu machen?" — und dieses tust Du, wenn Du Dich
nicht in der Erkenntnis der völligen Vergebung Deiner Sünden
erfreust. Jesus kam und machte Frieden und schenkte uns ihn
als eine freie Gabe. O möchten doch viele Sünder diese gesegnete Botschaft hören und leben!
Doch vergessen wir nicht, daß diese Gnade Gottes, obgleich sie
zur Rettung allen Menschen erschienen ist, uns, die wir sie
empfangen haben, „unterweist, daß wir, die Gottlosigkeit
und die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht
und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf" (Tit 2, 11, 12).
Wer dies nicht offenbart, hat sicher die Gnade Gottes nicht
völlig verstanden. Der lebendige Glaube an den gekreuzigten
und auferstandenen, lebendigen Sohn Gottes ist die Quelle
und Wurzel, woraus alle guten Werke hervorgehen müssen.
Alles, was nicht diesen Ursprung hat, ist Gott ein Greuel, was
Du selbst oder ein anderer auch davon denken mag, denn „was
nicht aus Glauben ist, ist Sünde" (Röm 14, 23).
Hast Du diesen Glauben, mein teurer Leser, dann wird sicher
auch der Frieden, welcher alle Vernunft übersteigt, nicht fehlen.
Der blindgeborene Bettler
(Joh g)
Ein blindgeborener Bettler! Welch ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Not! Welch ein treffendes Gemälde von dem wirklichen Zustand der jüdischen Nation und von jeder unbekehrten Seele! Es ist ein höchst anziehendes Stück lebendiger
Geschichte — eine Szene aus dem wirklichen Leben. Richten wir
etliche Augenblicke unsere Aufmerksamkeit darauf.
147
Bei Betrachtung von Johannes 9 werden zwei wichtige Fragen
in uns angeregt, nämlich: „Was tat Jesus für mich?" und „Was
ist Jesus für mich?" Diese Fragen sind sehr verschieden und
dennoch eng miteinander verbunden. Wir werden sie beide in
der vor uns liegenden Erzählung erläutert finden.
Am Schluß des 8. Kapitels sehen wir, wie sich der Herr Jesus
der rohen Gewalttätigkeit der Juden entzieht, deren Wut durch
Sein bestimmtes und kräftiges Zeugnis den Gipfel erreicht
hatte. „Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: ehe Abraham ward, bin ich. Da hoben sie Steine auf,
daß sie auf ihn würfen. Jesus aber verbarg sich und ging aus
dem Tempel hinaus." Das war die Vergeltung, die dem hochgepriesenen Herrn für all Seine Gnade und Wahrheit zuteil
wurde. Aber der höchste Grad der Rohheit und Gewalttätigkeit vermochte den Lauf Seines unermüdlichen Dienstes nicht
zu unterbrechen. Der Strom der Güte wälzte sich vorwärts und
ließ sich durch all die Gottlosigkeit des Menschen nicht eindämmen. Und konnte dieser Strom an einem Ort keinen
Kanal finden, so fand er ihn an einem anderen. Fehlte ihm hier
der Ausgang, so suchte er ihn dort. Unbedingt mußte die kostbare Gnade in dem Herzen Jesu irgendwo einen Gegenstand
finden. Ewiglich sei Sein Name gesegnet!
„Und als er vorüberging, sah er einen Menschen, blind von
Geburt. Und seine Jünger fragten ihn und sagten: Rabbi, wer
hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren
wurde? Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt noch
seine Eltern, sondern auf daß die Werke Gottes an ihm offenbar würden. Ich muß die Werke dessen wirken, der mich
gesandt hat, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht,
da niemand wirken kann." So stand es bei diesem gesegneten
Arbeiter. Ungehindert verfolgte er durch alle Feindseligkeit
und Widersetzlichkeit des menschlichen Herzens Seinen Dienstpfad. „So lange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt."
Ja, und dieses Licht sollte leuchten trotz aller Anstrengungen
der Menschen, es auszulöschen. Die Steine der Juden konnten
den göttlichen Arbeiter nicht hindern, die Werke Gottes zu
wirken; und diese Werke sollten an irgendeinem blindgeborenen Bettler, der Seinen Pfad in dieser dunklen und sündigen
Welt durchkreuzte, offenbar werden. Wie gesegnet zu wissen,
148
daß dieses so herrliche Werk Gottes in der Rettung verlorener,
schuldiger und verdammungswürdiger Sünder sich gänzlich
entfaltet hat!
„Als er dies gesagt hatte, spützte er auf die Erde und bereitete
einen Kot aus dem Speichel, und strich den Kot wie Salbe auf
seine Augen, und sprach zu ihm: Gehe hin und wasche dich in
dem Teiche Siloam, (was verdolmetscht wird: gesandt). Da
ging er hin und wusch sich und kam sehend."
Richte auf diesen Vorgang Deine ganze Aufmerksamkeit, mein
teurer Leser. Diese geheimnisvolle Handlung Christi birgt
mehr in sich, als wir uns auf den ersten Blick vorstellen mögen.
Kot auf die Augen eines Sehenden zu streichen, würde die
geeignetste Weise sein, um ihn zu blenden; aber hier öffnet
der Herr Jesus durch dieses Mittel die erblindeten Augen eines
Bettlers. Was sehen wir darin? Gerade das tiefe und kostbare
Geheimnis der Person und des Werkes Christi selbst, wie Er
am Schluß dieses inhaltsschweren Kapitels sagt: „Zum Gericht
bin ich in diese Welt gekommen, auf daß die Nichtsehenden
sehen und die Sehenden blind werden" (V. 39).
Welch ein ernstes Wort! „Zum Gericht bin ich in diese Welt
gekommen." Wie ist das zu verstehen? Kam er nicht zu suchen
und zu erretten, was verloren war? Gewiß, Er selbst versichert
uns dies wiederholt. Warum aber sagt er hier: „zum Gericht?"
Der Sinn ist einfach folgender. Der Zweck Seiner Sendung war
die Erlösung; die moralische Wirkung Seines Lebens war das
Gerichi. Er richtet keinen, und dennoch richtet Er jeden. Das
Leben Christi auf Erden war die kräftigste Probe, die je auf
den Menschen angewendet worden war, oder je angewendet
werden konnte. Deshalb konnte Er sagen: „Wenn ich nicht
gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine
Sünde; jetzt aber haben sie keinen Vorwand für ihre Sünde.
Wenn ich nicht die Werke unter ihnen getan hätte, die kein
anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde. Jetzt aber haben
sie gesehen und gehaßt sowohl mich als auch meinen Vater"
(Joh 15, 22-24).
Es ist sehr nützlich, die Wirkung des Charakters und Lebens
Christi hienieden zu beobachten. Es war das Licht der Welt;
und dieses Licht wirkte in einer zweifachen Weise. Es überführte und bekehrte, es richtete und errettete. Außerdem ver149
blendete es durch seinen himmlischen Glanz alle, die sehend
zu sein glaubten, während es zu gleicher Zeit alle erleuchtete,
die wirklich ihre moralische und geistliche Blindheit fühlten.
Er kam nicht um zu richten, sondern zu erretten; und dennoch
richtete Er, indem Er kam, einen jeden und stellte jeden Menschen auf die Probe. Er war verschieden von allem, was Ihn
umgab, wie das Licht inmitten der Finsternis; und dennoch
rettete Er alle, die das Gericht annahmen und ihren wahren
Platz einnahmen.
Das gleiche gewahren wir beim Anschauen des Kreuzes unseres
Herrn Jesu Christi. „Das Wort vom Kreuze ist denen, die
verloren gehen, Torheit; uns aber, die wir errettet werden, ist
es Gottes Kraft... . Wir aber predigen Christum als gekreuzigt,
den Juden ein Ärgernis, und den Nationen eine Torheit; den
Berufenen selbst aber, sowohl Juden als Griechen, Christum,
Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1. Kor 1, 18. 23, 24). Von
menschlichem Gesichtspunkt aus betrachtet, stellte das Kreuz
ein Schauspiel von Schwachheit und Torheit dar; aber von göttlichem Gesichtspunkt aus angeschaut, war es die Darstellung der
Macht und der Weisheit. Die Juden, die es durch den Nebel
menschlicher Satzungen beschauten, ärgerten sich daran; und
die Griechen, die es von der eingebildeten Höhe der Philosophie
anblickten, stießen es als ein verächtliches Ding von sich. Aber
der Glaube eines armen Sünders, der das Kreuz aus der Tiefe
der bewußten Schuld und des Verderbens betrachtete, fand
darin eine göttliche Antwort auf jede Frage, eine göttliche
Hilfe für jede Not. Der Tod Christi wie Sein Leben richtete
jeden Menschen; und dennoch fanden ihre Rettung darin alle,
die das Gericht annahmen und ihren wahren Platz einnahmen.
Es ist nicht von geringem Interesse, den Keim von diesem allen
in dem Verhalten des Herrn gegen den Blindgeborenen zu
finden. Er strich Kot auf seine Augen und sandte ihn nach dem
Teiche Siloam. Das war „Christus, Gottes Kraft und Gottes
Weisheit." Es war die Anwendung der Lehre von Christo in der
Kraft des Heiligen Geistes durch das Wort. Also muß es stets
sein. Wenn jemand, der sehend zu sein glaubt, diese Lehre
betrachtet, so wird sie seine Augen verblenden; und wenn
jemand, der blind ist, in der Kraft des Heiligen Geistes durch
150
das Wort diese Lehre seinem Herzen zueignet, so wird sie
seine Augen öffnen und mit göttlichem Lichte erfüllen.
Verfolgen wir indes die Geschichte des Blindgeborenen. Kaum
waren seine Augen geöffnet, so wurde er ein Gegenstand des
Interesses für die Umgebung. „Die Nachbarn nun, und die ihn
früher gesehen hatten, daß er ein Bettler war, sprachen: Ist
dieser nicht der, der da saß und bettelte? Einige sagten: Er ist
es; andere sagten: Nein, sondern er ist ihm ähnlich. Er sagte:
Ich bin's." — Die Veränderung war allen offenbar. Er hätte
unbeachtet und unbemerkt in Dürftigkeit und Blindheit gelebt
haben und gestorben sein können; aber er war in eine persönliche Berührung mit dem Sohne Gottes gekommen; und diese
Berührung hatte eine Veränderung zuwege gebracht, die nicht
verfehlen konnte, die Aufmerksamkeit der Umgebung auf sich
zu lenken. So muß es stets sein. Es ist unmöglich, daß jemand
mit Christo in Berührung gekommen sein kann, ohne etwas
zu erfahren, was er nicht verbergen kann vor denen, die ihn
beobachten. Ein persönliches Zusammentreffen mit Christo
ist eine göttliche Wirklichkeit. In dem wirklichen Berühren Jesu
liegt Leben und Macht. Ein einziger Glaubensblick auf den
Heiland der Sünder — den Lebenspender der Toten erzeugt die
staunenswertesten Resultate.
Hast Du, mein teurer Leser, die heilige und geheimnisvolle
Macht dieses Zusammentreffens mit Jesu erfahren? Hast Du
die wunderbare Kraft Seines Anrührens oder Seines Anblicks
gekostet? Sei versichert, daß nichts Geringeres Dir etwas nützen
kann. Du kannst liebenswürdig, moralisch und sogar religiös,
und dennoch durchaus ohne eine göttliche, lebendige, persönliche Verbindung mit Christo sein. Das ist sehr ernst. Wie gern
möchten wir Dich leiten, diesen Ernst zu fühlen! Und wenn Du
wirklich davon überzeugt bist, daß Du, was Dich betrifft,
keine Lebens-Gemeinschaft mit Christo hast, dann laß Dich
inständig von uns bitten, auf Seine Stimme zu lauschen und
Dich in kindlichem Vertrauen zu Ihm zu wenden. Wirf Dich
nur im Glauben auf Ihn, und Deine geistlichen Augen werden
alsbald die Kraft jenes geheimnisvollen Kotes verspüren, womit
Jesus die Augen des Blinden salbte; und alle in Deiner Umgebung werden es erfahren, daß Du bei Jesus gewesen bist.
151
Sei nicht gleichgültig in dieser Sache. Sage nicht: „Ich habe
noch Zeit genug." Jetzt ist die Zeit Gottes. Für Dich gibt es
kein Morgen. Jesus geht jetzt an Dir vorüber. Er wartet, um
Dich mit offenen Armen zu empfangen, um Dich dem Zustande
der Blindheit und der Dürftigkeit zu entreißen, und um Dich
mit den Reichtümern Christi auszusteuern. Dann wirst Du
inmitten Deiner Nachbarn und Freunde ein Zeuge Jesu sein.
Sie werden erkennen, daß es mit Dir nicht mehr ist, wie es
bisher zu sein pflegte, daß eine wirkliche Veränderung stattgefunden hat, daß die Leidenschaften und Begierden, die Gewohnheiten und Einflüsse, die vordem Dich mit despotischer
Gewalt beherrschten, Dich nicht mehr unter ihrer Herrschaft
haben, daß das Böse, wenn es auch gelegentlich zum Vorschein
kommt, seine frühere Macht an Dir verloren hat. Gewiß, es
kann und wird ihnen nicht verborgen bleiben.
Wir fühlen es mit jedem Tage tiefer, daß es der große Zweck
allen Predigens und allen Schreibens sein sollte, die Seele mit
Christo zusammenzubringen. Bevor dieses geschehen ist, kann
bestimmt nichts geschehen. Man mag lange Fredigten halten
und dicke Bände schreiben, so ist dennoch, wenn die Seele des
Sünders nicht in eine wirkliche, lebendige, Leben spendende
Berührung mit dem Sohne Gottes gekommen ist, kein wirkliches, spürbares, bleibendes Resultat erreicht. Der Blindgeborene hätte, obgleich er von allen Anwendungen des jüdischen Systems umringt war, während all seiner Tage in seinen hilflosen
und notleidenden Zustand bleiben müssen. Nichts, außer dem
Namen Jesu hatte irgendwelchen Wert für ihn. So ist es in
allen Fällen. Niemand als Jesus kann dem hilflosen Sünder
Hilfe bringen. Aber selbstverständlich muß ich dann auch in
eine lebendige Verbindung mit diesem göttlichen und allmächtigen Namen gebracht worden sein, um dieser Hilfe teilhaftig zu werden. Ich kann vorangehen und stets sagen:
„Keiner, außer Jesus, kann mir helfen," — ohne dadurch meine
Lage zu verbessern. Auch die Teufel wissen, daß keiner außer
Jesu den hilflosen Sündern Gutes tun kann; aber es nützt ihnen
nichts. Und die Menschen können die nämliche Sache wissen
oder zu wissen vorgeben, und sie können das Bekenntnis als
die Wirklichkeit betrachten und also sich selbst täuschen und
ewig zu Grunde gehen. Es muß ein lebendiges, die Seele mit
152
Christo verknüpfendes Band vorhanden sein, um den Menschen dem Zustande geistlicher Blindheit und Dürftigkeit zu
entreißen; und nicht nur dieses, sondern es muß auch die
Macht dieser lebendigen Vereinigung gepflegt und verwirklicht
werden, um in der Seele die Frische und die Fülle des göttlichen
Lebens aufrechtzuerhalten. „Wie ihr nun den Christus Jesus,
den Herrn, empfangen habt, so wandelt in ihm, gewurzelt
und auferbaut in ihm und befestigt in dem Glauben, so wie
ihr gelehrt worden seid, überströmend in demselben mit Danksagung" (Kol 2, 6. 7).
Hier haben wir die beiden großen, wesentlichen Punkte, nämlich Christus annehmen und dann in Ihm zu wandeln. Das
Christus annehmen begegnet jedem Bedürfnis des Sünders; in
Ihm zu wandeln entspricht vollkommen allen Forderungen des
Heiligen. Es gibt viele, die Jesum empfangen zu haben scheinen, aber nicht in Ihm wandeln. Das ist das Geheimnis der
vielfachen Armseligkeit und Dürftigkeit, dem man unter den
bekennenden Christen begegnet. Da zeigt sich nicht das eingewurzelte Wandeln in Christo. Auch andere Dinge drängen
sich dazwischen. Wir beschäftigen uns oft mit der bloßen
Maschinerie der Religiosität, mit Versammlungen, mit dem
Dienst, mit Menschen und Dingen; und nicht selten sogar mag
es geschehen, daß unsere Arbeit, unser Dienst, sich zwischen
unsere Seelen und Christo stellt. Alle diese Dinge, die an ihrem
Platze sicher gut und notwendig sind, können durch den Betrug
Satans und durch unseren Mangel an Wachsamkeit wirklich
Christum aus unseren Seelen verbannen und sie mit Dürre
und lebloser Förmlichkeit erfüllen.
O mein geliebter christlicher Leser! Laßt uns zu wandeln
trachten in einer dauernden Gemeinschaft mit Jesu. Mögen wir
Ihn in all Seiner Fülle und Kostbarkeit stets unseren Seelen
vorhalten! Dann wird unser Zeugnis bestimmt, klar und
verständlich, und unser Pfad in diesen Tagen oberflächlicher Bekenntnisse ein scheinendes Licht sein.
Doch kehren wir zur Geschichte unseres blinden Bettlers zurück. In den verschiedenen Klassen von Personen, die hier
unseren Blicken begegnen, gewahren wir eine höchst auffallende Charakter-Enthüllung. Der arme Blindgeborene selbst
zeigt einen außergewöhnlichen Ernst, eine bewundernswürdige
153
Einfalt und Aufrichtigkeit. Er erläutert durch sein Betragen
eindringlich den Wert und die Bedeutung eines treuen Nachfolgers, wenn das Licht auf unserem Pfade leuchtet. „Jedem,
der hat, wird gegeben werden", das ist das Motto, das unsere
Erzählung deutlich sichtbar an ihrer Stirn trägt, und das antreibt, die betretene Bahn mit Eifer und Ergebenheit zu verfolgen. Es würde offenbar für das weltliche Interesse des armen
Mannes förderlich gewesen sein, wenn er die Wahrheit dessen,
was an ihm geschehen war, verschwiegen hätte. Er konnte sich
der Wohltat des Werkes Christi erfreuen und dennoch angesichts der Feindseligkeit der Welt den rauhen Pfad des Zeugnisses für Seinen Namen vermeiden. Er konnte sich im Besitz
seines Augenlichts glücklich fühlen und sich zu gleicher Zeit
innerhalb der Schranken eines respektablen Religionsbekenntnisses bewegen. Er konnte die Frucht des Werkes Christi
ernten, und dennoch der Schmach des Bekenntnisses Seines
Namens entfliehen.
Und wie oft begegnen wir solchen Erscheinungen! Ach, wie oft!
Tausende sind darüber sehr erfreut, wenn sie hören, was Jesus
getan hat: aber sie wünschen nicht, Seinem verachteten und
verworfenen Namen gleichförmig zu sein. Sie wünschen, um
uns in einer gebräuchlichen Redensart auszudrücken, sich das
Beste von dieser und der zukünftigen Welt zuzueignen, ein
Gefühl, vor dem jeder aufrichtige Jünger Christi mit Abscheu
zurückschaudern sollte, und eine Vorstellung, die der wahre
Glaube durchaus nicht kennt. Es ist klar, daß der blindgeborene
Bettler, dem der Herr Jesus die Augen aufgetan hatte, von
dergleichen Grundsätzen nichts wußte. Seine Augen waren
geöffnet worden, und er konnte es nicht unterlassen, davon zu
reden und mitzuteilen, wer es getan und wie Er es getan hatte.
Nichts vermochte ihn davon zurückzuhalten. Welch ein Glück!
Es ist ein schreckliches Ding, gemischte Gefühle im Herzen zu
nähren und den Herrn nicht allein den Raum in unserer Seele
ausfüllen zu lassen. Solche Dinge versetzen dem wahren, praktischen Christentum und der treuen Jüngerschaft den Todesstoß. Wenn wir einem verworfenen Christus nachzufolgen begehren, so muß das Herz durchaus frei sein. Der wahre Jünger
muß sein Herz von jedem persönlichen Interesse losgerissen
haben. Denn alle Ziele, die man neben Jesus zu verfolgen
154
trachtet, sind in der Hand Satans nur Mittel, um das Licht der
Wahrheit in den Seelen der Menschen auszulöschen. Es mag
jemand in vielen Dingen unwissend sein, aber wenn er nur
aufrichtig dem Licht folgt, das Gott so gnadenreich auf seinen
Pfad strömen läßt, so wird er sicher mehr empfangen, während
andererseits, wenn um irgendeines Zweckes willen das Licht
gedämpft, die Wahrheit verdeckt und das Zeugnis unterdrückt
wird, eine zunehmende Verdunkelung in der Seele Platz
greifen muß.
Teurer Leser! Richte Deine ernste Aufmerksamkeit auf diesen
Punkt. Siehe zu, daß Du dem empfangenen Licht gemäß handelst. Es ist ein herrliches Ding, wenn jeder frische Lichtstrahl
einen Schritt in der rechten Richtung bewirkt. Und es wird stets
so sein, wenn sich das Gewissen in einem guten Zustand befindet. „Der Pfad des Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe" (Spr 4, 18).
„Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht
sein; wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib
finster sein" (Mt 6, 22). Wie ernst ist diese Warnung für jeden
Nachfolger! „Siehe nun zu, daß das Licht, das in Dir ist, nicht
Finsternis ist" (Lk 11, 34). Wie kann dieses geschehen? Wie
kann das Licht sich in Finsternis verwandeln? Wo nicht dem
Lichte gemäß gehandelt wird, da entsteht Finsternis. Schrecklicher Gedanke! Gib Gott die Ehre, bevor Er die Finsternis
hervorruft und Dein Fuß strauchelt an dunklen Bergen. Wir
kennen keine schrecklichere Gefahr, als ohne ein tätiges Gewissen vertraut zu sein mit der Wahrheit. Ein solcher Zustand
schleudert die Seele in die Hände Satans, während ein waches
Gewissen, ein aufrichtiges Gemüt, ein einfältiges Auge, uns
beständig auf dem heiligen, friedlichen und lichten Wege
Gottes wandeln läßt. Darum sagt der Herr: „Wenn nun Dein
ganzer Leib licht ist und keinen finsteren Teil hat, so wird
er ganz licht sein, wie wenn die Lampe mit ihrem Strahle dich
erleuchtete" (Lk 11, 36). Mit anderen Worten: jemand, dessen
Auge einfältig ist, wird nicht nur Licht für sich selbst besitzen,
sondern er wird auch ein Fackelträger für andere sein, während
dagegen jemand, dessen Auge nicht einfältig und dessen Herz
mit gemischten Gefühlen erfüllt ist, nicht nur für sich selbst
in moralische Finsternis gehüllt ist, sondern sich auch als eine
155
Unehre für den Namen Christi, als ein Werkzeug in der Hand
Satans und als ein Stein des Anstoßes für seine Mitmenschen
kundgibt.
Diese Wahrheit ist in den Tagen oberflächlicher Glaubensbekenntnisse und einer weltlichen Religiosität von äußerster
Bedeutung. Die evangelische Lehre hat eine weite Ausbreitung
gefunden; und während wir alle Ursache haben, für die Lehre
und ihre Ausbreitung wahrhaft dankbar zu sein, haben wir
andererseits nötig, gegen den Gebrauch, den der Teufel davon
machen will, wachsam zu sein. Wir sind von der Überzeugung
tief durchdrungen, daß das selbstgenügsame, oberflächliche
Glaubensbekenntnis in der gegenwärtigen Zeit nichts weiter ist
als ein Anbahnen des Weges für den finsteren und erschrekkenden Unglauben der Zukunft. Wir brauchen eine größere
Tätigkeit des Gewissens. Wir sind von dem Geist des Evangeliums nicht genügend durchdrungen. Der Feind ist zwar nicht
fähig gewesen, das reine Licht des Evangeliums auszulöschen.
Die finstere Wolke der Unwissenheit und des Aberglaubens,
die jahrhundertelang das Christentum in seine Schatten hüllte,
ist hinweggewälzt worden, und der glänzende Strahl der
Lampe himmlischer Offenbarung hat sich über das menschliche
Gemüt ergossen und hat das Dunkel zerstreut. Gott sei dafür
gepriesen! Aber wir sind nicht unempfindlich gegen den Betrug
und die List Satans, noch können wir unser Auge vor der beunruhigenden Tatsache verschließen, daß in der Gegenwart das
evangelische Glaubensbekenntnis ohne ein waches Gewissen
eine der mächtigsten Wirkungen des Feindes ist. Die Lehre von
der Gnade wird weiterhin verkündigt und bekannt; aber anstatt
zur Unterjochung der Natur verwendet zu werden, dient sie
vielmehr dazu, der Selbstbefriedigung einen Rechtsgrund zu
verschaffen. Die evangelische Religion unserer Tage ist ein
sehr leichtes und schwaches Gewebe, das für Sturm und Unwetter nicht passend ist. Wir fürchten, würde die Kirche nochmals von dem heftigen Windstoß einer Verfolgung heimgesucht, daß sich ihre Reihen zum Entsetzen lichten würden;
aber wir sind auch der Meinung, daß dann auch noch eine
Wolke von Zeugen ans Licht treten würde; denn wir sind
davon überzeugt, daß sich unter dem Oberflächlichen noch
vieles birgt, was wirklich echt und wahr ist.
156
Mit einem Wort, wir möchten dem christlichen Leser gern ans
Herz legen, wie wichtig es ist, dem ihm mitgeteilten Licht mit
aufrichtigem Ernst zu folgen. Zu diesem Zweck wenden wir
uns wieder zu dem Blindgeborenen. Nichts vermochte ihn zu
entmutigen; nichts vermochte ihm den Mund zu verschließen;
nichts war imstande, sein Licht auszulöschen. Als „die Nachbarn" fragten: „Ist dieser nicht der, der dasaß und bettelte?"
gab er bereitwillig die Antwort: „Ich bins." Als sie ihn weiter
fragten: „Wie sind deine Augen aufgetan worden?" antwortete er ohne Zögern: „Ein Mensch, genannt Jesus, machte
Kot und salbte meine Augen damit und sprach zu mir: Gehe
hin nach Siloam und wasche dich. Als ich aber hinging und
mich wusch, wurde ich sehend." Als sie ihre Forschungen durch
die Frage: „Wo ist jener?" fortsetzten, sagte er frei heraus:
„Ich weiß es nicht." Weder zögerte er mit seiner Antwort, noch
zeigte er eine vorlaute Schwatzhaftigkeit; sondern er handelte
aufrichtig seinem Licht gemäß. Und gerade das ist nötig. Er
war in persönliche Berührung gebracht worden; und dieses
persönliche Zusammentreffen bildete die solide Grundlage
seines Zeugnisses. Wir sollten nicht um ein Haarbreit über das
Maß der wirklich persönlichen Erkenntnis Christi hinausgehen; aber wir sollten auch nach diesem Maße treu handeln.
Es ist für jeden einzelnen von uns das glückselige Vorrecht,
mit Christo zusammentreffen zu dürfen und unser Bekenntnis
sollte stets das Resultat dieses persönlichen Umgangs sein. Wir
sind in Gefahr, uns in den äußeren Umständen eine Stütze zu
suchen, anstatt uns durch innere Triebe leiten zu lassen. Alle
äußeren Einflüsse aber, von denen der arme Blindgeborene
umgeben war, waren feindlicher Natur und boten ihm keine
Stütze. Aber kühn bekannte er die Wahrheit, und zwar gerade
nach dem Verhältnis seiner eigenen persönlichen Erfahrung,
und nicht darüber hinaus. Er handelte dem empfangenen Licht
gemäß; und in der Folge, wie wir sehen werden, schritt
er weiter.
Betrachten wir ihn in der Umgebung der Pharisäer. Diese durch
blinde Vorurteile beherrschten Männer hatten mit Bedacht ihre
Augen gegen das Licht der Wahrheit geschlossen. Anstatt sich
ruhig niederzusetzen und die reinen und himmlischen Lehren
des gesegneten Herrn, dessen Stimme in ihrer Mitte erklungen
157
war, zu untersuchen, waren sie schon übereingekommen, daß,
wenn jemand Ihn als Christum bekennen würde, er aus der
Synagoge ausgeschlossen werden sollte." Es war daher offenbar unmöglich, daß sie zur Wahrheit gelangen konnten, solange ihr Auge durch die Binde der Vorurteile verhüllt war.
Sie bekannten, sehend zu sein; und deshalb blieben ihre
Sünden. Welch ein ernster Gedanke! „Jesus sprach zu ihnen:
Wenn ihr blind wäret, so würdet ihr keine Sünde haben; nun
ihr aber saget: Wir sehen, so bleibt eure Sünde." Die Fortdauer
der Sünde ist gerichtlich geknüpft an das Bekenntnis, sehen zu
können. Wenn jemand weif?, daß er blind ist, so kann er geöffnete Augen bekommen; aber was kann für einen Menschen
getan werden, der glaubt sehend zu sein, während seine Augen
durch die Binde blinder Vorurteile verhüllt sind? Ach, leider
nichts! Das Licht in ihm ist Finsternis; und wie groß ist diese
Finsternis! Diese Pharisäer konnten sich rühmen, den Sabbath
zu halten und Gott die Ehre zu geben; und dennoch konnten
sie von Christo sagen: „Wir wissen, daß dieser Mensch ein
Sünder ist." So weit trieb sie ihre Religiosität. Der Sabbath
ohne Christum aber ist eine Täuschung. Gott ehren zu wollen
außer durch Christum ist ein schrecklicher Betrug. Und dennoch
zeigt sich dies alles bei den armseligen Pharisäern. Sie wurden
beunruhigt durch das Zeugnis des armen Mannes. Wie gern
würden sie es unterdrückt haben! Mit welcher Hast waren sie
bemüht, durch ihre amtliche Autorität das blendende, beunruhigende, zu verabscheuende Licht auszulöschen! Doch sie
konnten es nicht. Sie griffen zu einem hartherzigen Mittel,
indem sie die Eltern des Blindgeborenen in ihren Dienst zu
ziehen trachteten; aber es war vergeblich. Die Eltern fürchteten
die Juden. Sie wünschten nicht, das Ansehen zu verlieren. Sie
wußten nichts von Christo, nichts von Seinem Werke, noch von
Seiner Person; sie waren nicht bereit, sich Seinetwegen einen
Tadel zuzuziehen. Sie wußten nichts von der wunderbaren
Heilung, die bewirkt worden war. „Er ist mündig", sagen sie,
„fraget ihn, er wird selbst über sich reden. Dies sagten die
Eltern, weil sie die Juden fürchteten" (V. 21. 22).
Welch einen schrecklichen Fallstrick bildet die religiöse Stellung!
Sie zeigt sich stets als ein Hindernis auf dem Wege einer freimütigen Entscheidung für Christum. Wenn ich meinen Schritt
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hemmen muß, um zu überlegen, inwiefern meine religiöse
Stellung, mein Einfluß, meine Ehre durch einen solchen Schritt
berührt wird, dann ist mein Auge nicht einfältig, und mein
ganzer Leib ist Finsternis; dann ist das Licht, das ich bekenne
zu besitzen, Finsternis geworden; und ich werde in der Hand
Satans ein Werkzeug, und in den Wegen der Menschen ein
Stein des Anstoßes sein.
Wie wohltuend ist es, sich von dem dunklen Hintergrund der
Vorurteile und der Herzlosigkeit abwenden und die furchtlose Aufrichtigkeit des blindgeborenen Bettlers betrachten
zu können! Wir müssen bekennen, daß wir dieses offene,
kühne Geständnis bewundern und nachzuahmen wünschen.
Er erkannte freilich nicht viel; aber das, was er erkannte, verwertete er aufs Beste. Er sagte es frei und offen heraus, was
Jesus für ihn getan hatte. „Eines weiß ich", ließ sich dieser
treue Zeuge vernehmen, „daß ich blind war und jetzt sehe."
Diese Tatsache stand trotz allen Widerspruches fest. Alle
Einwendungen der Pharisäer konnten sein Vertrauen zu dem
glücklichen Ereignis, daß seine Augen geöffnet worden waren,
nicht wankend machen. Das war es, was die Kraft seines Zeugnisses ausmachte. Das Zeugnis war an eine einfache und offenbare Tatsache geknüpft. Jener Mensch, welcher vorher saß und
bettelte, stand jetzt da mit geöffneten Augen; und „ein
Mensch, genannt Jesus", hatte dem Blinden das Licht der
Augen gegeben. Welch ein Ereignis! Und dennoch war der
Geheilte so unwissend, aber er war aufrichtig. Er verkündete
die ganze Wahrheit und lieferte in seiner Person den Beweis
davon. Wie gering war seine Erkenntnis in betreff Jesu! Er
wußte nicht, wer Er war, und auch nicht, wo Er war; aber er
wußte und sagte völlig genug, um die Pharisäer zum Erstaunen
in die größte Unruhe zu bringen. Und sein Zeugnis steigerte
sich von Minute zu Minute. Die große Unvernunft seiner
Feinde drängte ihn zu immer hellerem Licht, bis er endlich
in die denkwürdigen und unwiderstehlichen Worte ausbrach;
„Wenn dieser nicht von Gott wäre, so könnte er nichts tun."
Es ist in der Tat ein großer Genuß, diese Erzählung zu lesen.
Es tut dem Herzen wohl, einen aufrichtigen Menschen gegenüber dem religiösen Vorurteil und der Unduldsamkeit in
159
mutigem Kampf zu sehen. Gott möge es geben, daß sich heutzutage noch mancher nach dem Muster dieses blindgeborenen
Bettlers bilde! Wir kennen keinen mächtigeren Damm, um die
wachsenden Fluten des Unglaubens aufzuhalten, als das kühne
und kräftige Zeugnis derer, die irgend etwas erfahren haben
an der Hand Christi. Welche Kraft würde es sein, wenn sie nur
einfach mitteilten, was der Herr an ihnen getan hat, und ihr
Zeugnis gründeten auf das, was ebenso klar und deutlich wie
unwiderlegbar ist! Welche Spitze! Welche Schärfe! In dem uns
vorliegenden Falle sehen wir, daß ein armer, unwissender
Mensch, der einst als blinder Bettler am Wege gesessen hatte,
durch sein Zeugnis die Pharisäer in Bewegung brachte und all
ihren Vernunftschlüssen einen Stoß versetzte. Er erwies sich
ihnen als erdrückender Stein, als eine Bürde, die sie nicht zu
ertragen vermochten. „Du bist ganz in Sünden geboren",
schrien sie, „und du lehrst uns? Und sie warfen ihn hinaus."
Glücklicher Mann! Er war einfach und aufrichtig dem empfangenen Licht gefolgt. Er hatte ein offenes Zeugnis für die Wahrheit abgelegt. Sein Auge war geöffnet worden, um zu sehen,
und sein Mund, um zu zeugen. Es handelte sich hier einfach
um die Wahrheit; und um der Wahrheit willen wurde er
hinausgeworfen. Er hatte die Pharisäer nie beunruhigt während
den Mitmenschen den Ruf als Wohltäter zu sichern. Aber jetzt
war jener blinde Bettler ein mächtiger Zeuge geworden. Worte
der Wahrheit strömten über seine Lippen; Worte, die für sie
der Tage seiner Blindheit und Dürftigkeit. Vielleicht mochten
etliche von ihnen ihm im Vorübergehen stolz und prahlerisch
ein unbedeutendes Almosen zugeworfen haben, um sich bei
zu scharf und eindringend waren, als daß sie Stand zu halten
vermocht hätten; — und darum stießen sie ihn hinaus.
Glücklicher, höchst glücklicher Mann! Dies war der glänzendste
Augenblick in seiner Laufbahn. Diese Menschen hatten, ohne
sich dessen bewußt zu sein, ihm einen wirklichen Dienst
erwiesen. Sie hatten ihn in die ehrenvollste Stellung hineingedrängt, die je ein sterblicher Mensch einzunehmen imstande
ist, eine Stellung der Gleichförmigkeit mit Christo. Und seht
einmal, wie das zärtliche Herz des guten Hirten beim Anblick
seines ausgestoßenen Schafes bewegt wird!
160
„Jesus hörte, daß sie ihn hinausgeworfen hatten, und als er ihn
fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an den Sohn Gottes?" Wie
ungemein rührend ist diese Ansprache! Kaum war das arme
Schaf hart und lieblos aus der Hürde hinausgestoßen worden,
da eilte auch schon der gute Hirte an seine Seite, um ihn auf
jenem Pfad, den er bisher mit einem so kühnen und entschiedenen Schritt betreten hatte, weiter und weiter zu führen.
„Glaubst du an den Sohn Gottes? Er antwortete und sprach:
Und wer ist es Herr, auf daß ich an ihn glaube? Jesus aber
sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der
ist es. Er aber sprach: Ich glaube Herr. Und er huldigte ihm."
Das ist genug. Dieses treue Zeugnis hier verdient eine reiche
Belohnung. Er hatte mit klarer Entscheidung, und zwar dem
empfangenen Lichte gemäß, den Pfad des einfachen, ernsten
Zeugnisses verfolgt; und als die Folge davon war er durch die
Religion dieser Welt ausgestoßen. Er war gezwungen worden,
seinen Platz außerhalb des Lagers einnehmen zu müssen; aber
dort fand Jesus ihn und offenbarte Sich seiner Seele, und über
diesem höchst begünstigten Mann, der als Anbeter zu den
Füßen der Fleisch gewordenen Gottheit lag, war der Vorhang
für immer zerrissen. Welch ein Platz! Welch ein Gegensatz zu
dem Platz, auf dem wir ihn im Eingang unserer Erzählung
fanden! Welch eine Laufbahn! Zuerst ein blinder Bettler, dann
ein ernster Zeuge, und endlich ein erleuchteter Anbeter zu
Füßen des Sohnes Gottes. Wie glücklich und geehrt ist dieser
Mann! Möge der Herr in diesen Tagen kalter Gleichgültigkeit
und oberflächlicher Glaubensbekenntnisse noch viele auf einen
solch erhabenen Platz führen! O wie gesegnet ist ein aufrichtiges, ein treu für Christum lebendes Herz, ein Herz, das
nicht die Resultate berechnet, sondern sich unbeachtet der
Folgen eng an Jesus klammert!"
161
Das Auge des Allmächtigen
(Man lese 4. Mo 23 und 24)
In diesen bemerkenswerten Kapiteln sind wir gleichsam berufen, halt zu machen und zu lauschen, während Jehova dem
Ohr des Feindes kundgibt, welche Gedanken Er betreffs Seines
Volkes hegt. Balak, der König von Moab, ist erschreckt, weil er
sah, „was Israel den Amoritern getan hatte" und dingt den
Bileam, um das Volk zu verfluchen; aber der Herr bedient sich
der Zunge dieses habsüchtigen Propheten, um Seine Gedanken
über Israel auszusprechen. Er wird niemandem gestatten, Sein
Volk zu verfluchen. Er mag mit Seinem Volk im Verborgenen
über manche Dinge zu verhandeln haben; aber er wird einem
anderen nicht erlauben, seine Zunge wider Sein Volk in
Bewegung zu setzen.
Das ist ein wichtiger Punkt. Es macht nichts zur Sache, was der
Feind über das Volk Gottes, oder was dieses über sich selbst
denkt, sondern die Gedanken Gottes über Sein Volk sind allein
maßgebend. Er kennt genau alles, was sie betrifft, alles, was
sie sind, alles, was sie getan haben, alles, was in ihnen ist. Jedes
Ding steht klar geoffenbart vor Seinem alles durchdringenden
Auge. Die tiefsten Geheimnisse des Herzens, der Natur und
des Lebens sind ihm wohlbekannt. Weder Engel, noch Menschen, noch Teufel kennen uns, wie Gott uns kennt. Wir haben
es daher nicht mit dem „Auge" der Engel, der Menschen oder
der Teufel zu tun, sondern mit dem „Auge des Allmächtigen".
Das verleiht dem Herzen einen lieblichen Frieden. Gott sieht
uns, denkt an uns, redet von uns, handelt mit uns auf Grund
von dem, wozu Er selbst uns gemacht hat, und wirkt für uns
nach der Vollkommenheit Seines eigenen Werkes. In dieser
Weise erscheinen vor dem „Auge des Allmächtigen" — in dieser
Weise werden wir gesehen von der „Höhe des Felsens". Wenn
Gott auf Sein Volk herabschaut, so erblickt Er in ihm Sein
eigenes Werk; und es dient zur Verherrlichung Seines heiligen
Namens und zum Preise Seiner Erlösung, daß kein Makel an
denen zu sehen ist, die Sein sind, und die Er aus freier un162
umschränkter Gnade zu Seinem Eigentum gemacht hat. Sein
Charakter, Sein Name und die Vollkommenheit Seines Werkes,
alles ist in dem Zustand und der Stellung derer enthalten, mit
denen Er Sich verbunden hat. In dem Augenblick daher, in
dem der Feind oder der Ankläger auf der Schaubühne erscheint, tritt Gott selbst auf den Plan, hört die Anklage an und
beantwortet sie; und Seine Antwort ist stets gegründet
nicht auf das, was Sein Volk in sich selbst ist, sondern auf
das, was Er mittels der Vollkommenheit Seines eigenen
Werkes aus ihm gemacht hat. Seine Herrlichkeit ist mit den
Seinigen verbunden; und indem Er sie rechtfertigt, hält Er
Seine eigene Herrlichkeit aufrecht. Er stellt Sich selbst zwischen
sie und jede anklagende Zunge. Seine Herrlichkeit fordert es,
daß sie dargestellt sein müssen in all der Anmut, die Er auf sie
gelegt hat. Wenn der Feind kommt, um sie zu verfluchen und
anzuklagen, antwortet Jehova ihm dadurch, daß Er den reichen
Strom Seines ewigen Wohlgefallens ausströmen läßt, das Er
an denen hat, die Er für Sich selbst auserwählt und fähig
gemacht hat, für immer vor Ihm sein zu können.
Nur auf diesem Grunde kann im Hohenlied der Bräutigam im
Blick auf die Braut die Worte ausrufen: „Ganz schön bist du,
meine Freundin, und kein Makel ist an dir" (Hl 4, 7). Sie
selbst, in sich schauend, konnte allerdings nur sagen: „Ich bin
schwarz" (Kap. 1, 5. 6). Ebenso konnte in Joh 13 der Herr
Jesus zu Seinen Jügern sagen: „Ihr seid rein", wiewohl wenig
später einer von ihnen sich verfluchte und schwor, Ihn nicht zu
kennen. Die Braut im Hohenlied und die Jünger in Joh 13 sind
beide von dem „Auge des Allmächtigen" gesehen und beide
von der „Höhe des Felsens" betrachtet. Das erklärt die schönen
Worte: „Ihr seid rein" — und: „Ganz rein." Würden sie von
einem anderen Gesichtspunkte aus beschaut, so würde es
heißen: „Ihr seid unrein" und: „Ganz unrein." So groß ist der
Unterschied zwischen dem, was wir in uns selbst, und dem,
was wir in Christo sind. —
Die beruhigende, rechtfertigende und erhebende Wahrheit tritt
in den vier Aussprüchen Bileams in ungewöhnlichem Glanz
zum Vorschein. Menschlich gesprochen würden wir von dem
mit dem „Auge des Allmächtigen" und von der „Höhe des Fel163
sens" geschauten Israel nie einen solchen herrlichen Anblick
genossen haben, wenn Balak es nicht zu verfluchen getrachtet
hätte. Jehova kann sehr schnell das Auge eines Menschen
öffnen, um die wahre Sachlage bezüglich des Zustandes Seines
Volkes zu erkennen. Er nimmt das Vorrecht in Anspruch, Seine
Gedanken über das Volk bekanntzumachen. Mochten auch
Balak und Bileam samt „allen Fürsten der Moabiter" sich versammeln, um Israel verfluchen und verhöhnen zu hören;
mochten sie auch „sieben Altäre bauen" und auf „jedem Altar
einen Farren und einen Widder opfern"; mochte das Gold und
Silber Balaks auch vor dem habgierigen Blick des falschen
Propheten glänzen, dennoch vermochten alle Mächte der Erde
und der Hölle, und wären sie auch vereint in ihrer finsteren
und schreckenerregenden Schlachtordnung aufgestellt gewesen,
keinen einzigen Hauch von Fluch oder Anklage gegen das
Israel Gottes hervorzurufen. Der Feind hätte ebensogut an der
herrlichen Schöpfung, die der Herr Gott als „sehr gut" angekündigt hatte, einen Flecken aufweisen können, als daß es
ihm gelungen wäre, die Erlösten des Herrn zu verklagen.
O nein; sie erscheinen in all der Anmut, die Er auf sie gelegt
hat; und um sie so zu schauen, ist nur nötig, die „Höhe des
Felsens" zu erklimmen und sie mit dem „Auge des Allmächtigen" zu sehen.
Nachdem wir auf diese Weise dem Leser einen allgemeinen
Überblick über den Inhalt dieser beachtenswerten Kapitel gegeben haben, wollen wir noch in Kürze die besonderen Punkte
hervorheben, die in einer jeden der vier Aussprüche enthalten
sind. Dem Leser wird dadurch Gelegenheit geboten, eine reiche
Grube nützlicher Belehrungen zu entdecken.
1. In dem ersten der vier Aussprüche Bileams sehen wir die
unbeschränkte Absonderung Jsraels klar und deutlich dargestellt: „Wie soll ich verfluchen, den Gott nicht verflucht?
Wie soll ich verwünschen, den Gott nicht verwünscht? Denn
vom Gipfel der Felsen sehe ich es und von den Höhen herab
schaue ich es: Siehe, ein Volk, das abgesondert wohnt und
unter die Nationen nicht gerechnet wird. Wer könnte zählen
den Staub Jakobs und, der Zahl nach den vierten Teil Israels?
Meine Seele sterbe den Tod der Rechtschaffenen, und mein
164
Ende sei gleich dem Ihrigen!*) — Hier wird uns Israel als ein
getrenntes und abgesondertes Volk vor Augen gestellt — als
ein Volk, das nach den Gedanken Gottes über es zu keiner
Zeit, aus keinem Grunde und zu keinem Zweck mit den
übrigen Nationen vermengt oder unter sie gerechnet werden
sollte. „Ein Volk, das abgesondert wohnt." Möge der Leser
dieses allen Ernstes erwägen, sowohl in seiner buchstäblichen
Anwendung auf den Samen Abrahams, als auch in seiner
Anwendung auf das wahre Israel Gottes. Unermeßlich praktische Resultate entströmen diesem wichtigen Grundsatz, —
Resultate, auf die wir in einem so kleinen Aufsatz, wie dieser
ist, nicht näher einzugehen versuchen. Wir bitten bloß den einsichtsvollen Leser, diesen Punkt in seinen Spuren zu verfolgen,
so wie sie in dem Worte gezeichnet sind: „Ein Volk, das abgesondert wohnt."
Aber wenn es Jehova in Seiner großen Gnade wohlgefällt,
Sich mit Seinem Volke zu verbinden, wenn Er es beruft, ein
Volk zu sein, in der Welt „abgesondert zu wohnen" und für
Ihn inmitten derer, die stets „in Finsternis und Todesschatten
sitzen" ein Licht zu sein, so kann Er es doch nur als Sein
Gefolge in einem solchen Zustande haben. Er mußte Sein
Volk so zubereiten, wie Er es haben wollte und wie es zum
Preise Seines großen und herrlichen Namens dienen konnte.
Daher ist in dem zweiten Ausspruch der Prophet genötigt,
den Zustand des Volkes nicht nur wie er nicht, sondern wie er
wirklich war, zu beschreiben. „Nicht ein Mensch ist Gott, daß
er lüge, noch ein Menschensohn, daß er bereue. Sollte er gesprochen haben und es nicht tun, und geredet haben und es
nicht aufrecht halten? Siehe, zu segnen habe ich empfangen,
und er hat gesegnet, und ich kann es nicht wenden. Er erblickt
keine Ungerechtigkeit in Jakob und sieht kein Unrecht in
Israel; Jehova, sein Gott, ist mit ihm, und Jubelgeschrei wie um
einen König ist in seiner Mitte. Gott hat ihn aus Ägypten
herausgeführt; sein ist die Stärke des Wildochsen. Denn da ist
keine Zauberei wider Jakob und keine Wahrsagerei wider
») Um den „Tod der Rechtschaffenen" sterben zu können, muß ich unbedingt
das Lebe n der Gerechten besitzen und an's Licht stellen. Es gibt viele, die
gern diesen Tod sterben möchten, die aber nicht das Leben der Gerechten leben.
Es gibt viele, die sich des Besitzes des Silbers und Goldes Balaks erfreuen, und
dennoch eingereiht sein möchten unter dem Israel Gottes. Eitles Trachten!
165
Israel, Um diese Zeit wird von Jakob und von Israel gesagt
werden, was Gott gewirkt hat. Siehe, ein Volk: gleich einer
Löwin steht es auf, und gleich einem Löwen erhebt es sich!
Es legt sich nicht nieder, bis es den Raub verzehrt und das Blut
der Erschlagenen getrunken hat" (4. Mo 23, 19—24).
Hier befinden wir uns auf einem wahrhaft erhabenen Boden.
Das ist in Wahrheit der „Gipfel des Felsens" — die reine Luft
der „Hügel", wo das Volk Gottes nur mit dem Auge des „Allmächtigen" gesehen wird. In diesem Spruch ist die Segnung
und Sicherheit Israels nicht auf die Treue dieses Volkes, sondern allein auf die Wahrheit und Treue Jehovas gegründet.
„Nicht ein Mensch ist Gott, daß er lüge, noch ein Menschensohn, daß er bereue." Dieses stellt Israel auf einen sicheren
Grund. Gott mußte Sich selbst treu sein. Gibt es irgendeine
Macht, die Ihn an der Erfüllung Seines Wortes und Eidschwurs
zu hindern vermöchte? Gewiß nicht. „Er segnet und ich kann
es nicht wenden." Der vorige Ausspruch brachte es an den Tag,
daß Gott dem Volke nicht geflucht, und hier, daß Er es gesegnet
habe. Das ist ein offenbarer Fortschritt. Da Balak den geldgierigen Propheten von Ort zu Ort führte, ergriff Jehova die
Gelegenheit, immer frischere Züge der Schönheit Seines Volkes
zum Vorschein zu bringen. Es ist daher nicht nur ein abgesondertes, allein wohnendes, sondern auch ein gerechtfertigtes
Volk, von dem es heißt: „Jehova, sein Gott, ist mit ihm und
Jubelgeschrei wie um einen König ist unter ihm." „Er erblickt
keine Ungerechtigkeit in Jakob und sieht kein Unrecht in
Israel." Der Feind mag sagen: „Es gibt dort allezeit Ungerechtigkeit." Ja; aber wer kann es bewirken, daß Gott sie sieht,
wenn es Ihm selbst gefallen hat, sie wie eine dicke Wolke, um
Seines Namens willen auszulöschen? Wenn Er selbst sie hinter
Sich zurückgeworfen hat, wer kann sie wieder vor Sein Angesicht bringen? „Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist der
verdamme?" Gott sieht Sein Volk so durchaus befreit von
allem, was wider sie sein könnte, daß Er Seine Wohnung in
ihrer Mitte aufschlagen und bewirken kann, daß Seine Stimme
unter ihnen gehört werde. Wohlan, wir können daher ausrufen: „Wie viel hat Gott gewirkt!" und nicht: „Wie viel hat
Israel gewirkt?" Sicher würden Balak und Bileam hinlängliche
Ursache gefunden haben, dem Volk zu fluchen, wenn das
166
Werk des Volkes in Frage gewesen wäre. Der Herr sei gepriesen! Sein Volk stellt den Fuß auf das, was Er gewirkt hat;
und das Fundament davon ist daher ebenso unerschütterlich,
wie der Thron Gottes selbst.
3. Im dritten Spruch Bileams sehen wir einen anderen Schritt
vorrücken. Das Volk Gottes ist in seinen Augen nicht nur
abgesondert und gerechtfertigt, sondern auch wirklich „anmutig" und „lieblich". „Wie schön sind deine Zelte, Jakob,
deine Wohnungen, Israel! Gleich Tälern breiten sie sich aus,
gleich Gärten am Strome, gleich Aloebäumen, die Jehova gepflanzt hat, gleich Zedern am Gewässer! Wasser wird fließen
aus seinen Eimern, und sein Same wird in großen Wassern
sein; und sein König wird höher sein alsAgag,und seinKönigreich wird erhaben sein. Gott hat ihn aus Ägypten herausgeführt; sein ist die Stärke des Wildochsen. Er wird die
Nationen, seine Feinde, fressen und ihre Gebeine zermalmen
und mit seinen Pfeilen sie zerschmettern. Er duckt sich, er legt
sich nieder wie ein Löwe und wie eine Löwin; wer will ihn
aufreizen? Die dich segnen, sind gesegnet, und die dich verfluchen, sind verflucht!" (4. Mo 24, 5—9). — Wie wir sehen,
wurde es besser und immer besser um Israel, und schlechter
und immer schlechter um Balak. Sein lauschendes Ohr vernahm nicht nur, daß Israel „gesegnet" wurde, sondern er
mußte es auch anhören, daß er selbst „verflucht" wurde, weil
er dem Volke zu fluchen trachtete.
Aber laßt uns vor allen Dingen, mein teurer Leser, unseren
Blick auf die reiche Gnade richten, die in diesem Ausspruch in
Erscheinung tritt. „Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine
Wohnungen, Israel!" Wenn jemand herabgestiegen wäre, die
Hütten und Wohnungen mit dem Auge des Menschen zu
prüfen, so würde er sie so „schwarz wie die Hütten Kedars"
gefunden haben. Aber mit dem „Auge des Allmächtigen"
betrachtet, waren sie „schön"; und um sie in dieser Gestalt
zu sehen, bedurfte es der „durch Gott geöffneten Augen."
Wenn ich das Volk Gottes vom „Gipfel des Felsen" beschaue,
werde ich es sehen, wie Gott es sieht, nämlich als bekleidet mit
der ganzen Lieblichkeit Christi, vollendet in Ihm, angenehm
in dem Geliebten. Das ist es, was mich fähig machen wird, mit
167
diesem Volk zu wandeln, mit ihm Gemeinschaft zu machen
und mich über seine Spitzen und Angeln, über seine Flecken
und Fehler, über seine Mängel und Gebrechen zu erheben.
Wenn ich das Volk Gottes nicht von diesem erhabenen Standpunkt aus betrachte, wird sich sicher mein Auge auf den einen
oder anderen kleinen Punkt richten, der meine Gemeinschaft
völlig zerstören und meine Zuneigungen beseitigen wird. In
dem folgenden Kapitel sehen wir, in welche bösen Dinge sich
die Kinder Israel stürzten. Änderte dies das Urteil Jehovas?
„Er ist nicht ein Menschensohn, daß er bereue." Er richtete und
strafte sie wegen ihrer Sünde, weil Er heilig ist und an Seinem
Volke nie etwas gutheißen kann, was Seiner Natur entgegengesetzt ist; aber Er konnte niemals Sein Urteil zurückhalten. Er
wußte alles in betreff Seines Volkes, Er kannte jeden einzelnen
und wußte, was er tun würde; aber dennoch sagte Er: „Wie
schön sind deine Zelte, Jakob." Zeigt das eine Geringschätzung
des Bösen? Ein solcher Gedanke wäre Gotteslästerung. Er
konnte sie strafen wegen ihrer Sünden; aber wenn sich ein
Feind naht, um ihnen zu fluchen, oder sie zu verklagen, dann
stellt Er Sich an die Spitze Seines Volkes und sagt: „Ich sehe
keine Ungerechtigkeit;" — „wie schön sind deine Zelte!" Köstliche, anbetungswürdige Gnade! O möchten wir doch tiefer
daraus trinken und ihren reinigenden, erhebenden Einfluß
offenbaren!
4. In dem vierten und letzten Spruch Bileams erklettern wir, sozusagen, die höchste Klippe des „Felsens", von wo aus wir die
Strahlen des vergoldenden Glanzes des Horizonts unterscheiden können. „Und er hob seinen Spruch an und sprach:
Es spricht Bileam, der Sohn Beors, und es spricht der Mann
geöffneten Auges; es spricht, der da hört die Worte Gottes,
und der die Erkenntnis des Höchsten besitzt, der ein Gesicht
des Allmächtigen sieht, der hinfällt und enthüllter Augen ist:
Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich schaue ihn, aber nicht nahe;
es tritt hervor ein Stern aus Jakob und ein Zepter erhebt sich
aus Israel und zerschlägt die Seiten Moabs und zerschmettert
alle Söhne des Getümmels" (4. Mo 24, 15—17). — Dies verleiht
der Szene eine große Vollständigkeit. Es ist hier der letzte
Stein auf das herrliche Gebäude gelegt. Der einsichtsvolle Leser
168
dieser erhabenen Aussprüche muß es gemerkt haben, daß er
während des Lesens im Aufsteigen begriffen war. In dem
Eingangsspruch ist das Volk als abgesondert, „allein wohnend"
gesehen worden; und als dann Balak fortfährt, den entarteten
und habsüchtigen Propheten in der törichten Hoffnung, den
erwünschten Fluch noch hervorzubringen, von Ort zu Ort zu
schieben, finden wir uns selbst von einer Höhe zur anderen
geführt, bis wir endlich auf dem äußersten Gipfel angelangt
sind und die Ebenen der Herrlichkeit in ihrer Länge und Breite,
ja fern über die Grenzen des sterblichen Auges hinaus, überblicken können. Wir hören das Gebrüll des Löwen. Wir sehen
ihn in zermalmender Macht herabstürzen auf alle seine Feinde.
Der Stern aus Jakob geht auf, um nie wieder zu verschwinden.
Der wahre David ergreift das Zepter und besteigt den Thron.
Israel ragt hervor auf der Erde; alle seine Feinde sind bedeckt
mit Schande und ewiger Verachtung.
Mein christlicher Leser! O möchten wir stets auf der „Höhe des
Felsens" verweilen, möchten wir immer „geöffnete Augen"
haben, möchten wir ununterbrochen „Hörer göttlicher Rede"
sein, und die „Erkenntnis des Höchsten" besitzen, und möchten
wir nur sehen mit dem „Auge des Allmächtigen!"
Nahrung für das neue Leben
Es ist gut, jeden Tag mit Gott und Seinem Wort anzufangen.
Dies ist das sichere Zeichen eines geistlichen Lebens. Bringe die
ersten Augenblicke in Seiner heiligen Gegenwart zu und offenbare Ihm Deine ersten Wünsche. Beginne Deinen täglichen
Lauf am Throne der Gnade und weile dort am Abend. Wir
sind nur sicher, wenn wir auf Ihn vertrauen und im Lichte
Seiner Gegenwart wandeln; deshalb beharre durch Gottes
Gnade stets in der Stellung einfacher Abhängigkeit von Ihm.
Es ist eine tiefe Wirklichkeit in der Gemeinschaft mit Gott
durch Sein Wort und die Kraft des Heiligen Geistes. „Wie
süß", sagt der Psalmist, „sind Deine Worte meinem Gaumen!
ja, süßer als Honig meinem Munde!"
169
Wenn unser geistlicher Hunger groß ist, so wachsen wir sicher.
Wir brauchen jeden Tag sowohl geistliche als auch natürliche
Nahrung; aber wir haben mehr Gefahr, die geistliche Nahrung
zu vergessen, als die natürliche; darum ist die Ermahnung so
wichtig: „Wie neugeborene Kindlein seid begierig nach der
vernünftigen, unverfälschten Milch (des Wortes), auf daß ihr
durch dieselbe wachset" (1. Petr 2, 2). Beweise stets, daß Du
von Herzen danach trachtest, daß das Wort süß und angenehm
ist Deinem Munde, daß Du durch es ernährt und befriedigt
wirst, und daß Du mit wirklicher Lust dahin zurückkehrst.
O, daß doch alle Kinder der Familie Gottes, alle Schafe der
Herde Christi sich so sehr nach ihrer geistlichen Nahrung
sehnten, daß sie sich bei allem Vergangenen, Gegenwärtigen
und Zukünftigen zu Gottes Wort wendeten! „Deine Zeugnisse
habe ich mir als Erbteil genommen auf ewig" (Psalm 119, 111).
Das allgemeine Gericht
und das Erscheinen der Heiligen vor dem Richterstuhl Christi
Es gibt wohl kaum einen Gegenstand, der den Christen persönlich berührt und doch so wenig bekannt ist, wie die Lehre
über das allgemeine Endgericht und über das Erscheinen der
Heiligen vor dem Richterstuhl Christi. Man gibt durchgehends
der Annahme Raum, als ob alle Menschen eines Tags vor den
Schranken Gottes erscheinen und dort zur Rechenschaft gezogen werden, und als ob die Heiligen und die Sünder zur
gleichen Zeit gerichtet werden würden. Eine solche Annahme
aber macht es nötig, alle anderen Wahrheiten ihr anzupassen,
oder, was häufiger der Fall ist, der Gegenstand selbst bleibt in
einer unbestimmten Schwebe. „Wie kann ich, wenn ich jetzt
gerettet bin, später gerichtet werden?" ist eine Frage, die oft
erhoben wurde, aber nimmer genügend beachtet worden ist.
Während auf der einen Seite behauptet wird, daß die völlige
Rechtfertigung des Gläubigen erst nach dem Erscheinen vor
170
dem Richterstuhl stattfinde, sucht man sich andererseits zu
überreden, daß der Christ nichts mit dem Richterstuhl Christi
zu schaffen habe.
Inmitten einer solchen Verwirrung ist es unsere Aufgabe, in
Einfalt das, was Gott über diesen Gegenstand in Seinem Wort
geoffenbart hat, zu betrachten und daraus, unter der Leitung
des Heiligen Geistes, Belehrung, Trost und vielleicht auch eine
Warnung zu schöpfen.
Die gewöhnliche Anschauung betreffs eines „allgemeinen
Gerichts" faßt, wie bereits bemerkt, die Voraussetzung in sich,
daß an irgendeinem zukünftigen Tage alle Menschen, die je
gelebt haben oder noch leben werden — sowohl Gläubige als
Ungläubige — zu gleicher Zeit vor den Thron Gottes gestellt
werden würden, um dort gerichtlich ihr bestimmtes und entscheidendes Urteil zu empfangen. Wir haben uns nun die
Frage vorzulegen, ob diese Auffassung durch die Schrift begründet ist, und wenn nicht, wie uns das Wort Gottes über
diesen wichtigen und ernsten Gegenstand belehrt.
Man hat die Stelle: „Es ist den Menschen gesetzt, einmal zu
sterben, danach aber das Gericht" (Hebr 9, 27) oft als genügend und entscheidend angesehen. Wir ersehen daraus allerdings die Bestimmung von seiten Gottes, daß das „Gericht"
auf den „Tod" folgt; aber wir haben zu untersuchen, ob es
irgendeine Ausnahme von dieser allgemeinen Bestimmung
gibt; oder ob sie unumschränkt anzuwenden ist. Diese Stelle
im Hebräerbrief, obwohl sie oft wie oben angeführt wird, ist
nur ein Teil des Gedankens. Im Zusammenhang heißt sie:
„Und ebenso wie es den Menschen gesetzt ist, einmal zu
sterben, danach aber das Gericht, also wird auch der Christus,
nachdem er einmal geopfert worden ist, um vieler Sünden zu
tragen, zum zweiten Male denen, die ihn erwarten, ohne Sünde
erscheinen zur Seligkeit." Die beiden Wörtchen „ebensowie"
und „also" drücken eine Vergleichung aus. Gleichwie es das
Los ist, „einmal zu sterben", so gibt es Ausnahmen gegenüber
denen, welchen „Christus zum zweiten Male ohne Sünde zur
Seligkeit erscheint." Den einen wird Er in Gericht, den anderen
ohne Sünde zur Seligkeit erscheinen, indem die Erscheinung in
„Gericht" derjenigen „ohne Sünde" und „zur Seligkeit"
geradezu gegenübergestellt ist.
171
Prüfen wir indes den Gegenstand etwas näher. Es war sicher
die Bestimmung, daß der sündige Mensch sterben sollte. „Der
Lohn der Sünde ist Tod" (Röm 6, 23). — „Der Tod ist zu allen
Menschen durchgedrungen" (Röm 5, 12). — „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben." — Nichtsdestoweniger zeigen
andere Stellen es deutlich, daß es Ausnahmen gibt. So lesen
wir z. B., daß Elias nicht starb, sondern in einem Wagen gen
Himmel fuhr (2. Kön 2, 11). Wir lesen auch: „Wir werden
nicht alle entschlafen" (1. Kor 15, 51). Und: „...danac h
werden wir, die Lebenden, die überigbleiben, . . . entrückt
werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft" (1. Thess
4, 17). Auch wird Christus als Richter der „Lebendigen" (d. h.
derer, die zur Zeit des Gerichts nicht gestorben sein werden)
und der „Toten" bezeichnet. Und diese Stellen setzen ebenso
klar die Ausnahme hinsichtlich des Todes fest, wie andere
Stellen die Bestimmung aller Menschen hervorheben.*)
Zu Gunsten dieser Ausnahme bezüglich des Gerichts sprechen
vor allem die Worte Jesu, wenn Er sagt: „Wer mein Wort hört
und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und
kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das
Leben hinübergegangen" (Joh 5, 24). Und wer fände hier die
Tatsache, daß der Gläubige „nicht ins Gericht" kommt, nicht
ebenso bestimmt hervorgehoben, wie in der vorher angeführten Stelle des Hebräerbriefes die allgemeine Bestimmung, daß
auf den Tod das Gericht folgt? Auch in Joh 5, 29 wird das
bestätigt. Dort lesen wir, daß alle auferstehen werden. „Es
werden hervorkommen, die das Gute getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber das Böse verübt haben, zur
Auferstehung des Gerichts." Das faßt klar in sich, daß der
gerechte Tote nicht ins Gericht kommen wird.
*) Ist es nicht seltsam, daß angesichts dieser angeführten Stellen fast die
meisten Prediger in ihren Vorträgen beständig versichern, daß alle Menschen
ohne Ausnahme sterben werden? Allerdings geschieht es in der guten Absicht,
den Zuhörern die Wichtigkeit des Glaubens an das Evangelium ans Herz zu
legen. Jedoch ist es nicht immer besser und sicherer, sich, was auch der
Beweggrund sein mag, an die Worte der Schrift zu halten? „Wir werden
nicht alle entschlafen." Und ist es nicht ein weit schrecklicherer Gedanke, daß
etliche in ihren Sünden und Vergehungen fortschreiten und, ohne vorher zu
sterben, gerichtet und in die Verdammnis geschickt werden, als der Gedanke,
daß alle sterben und Jahrhunderte hindurch in ihren Gräbern liegen — eine
Erscheinung, die allerdings bezüglich der großen Masse der Gottlosen stattfinden
wird? Christus wird kommen, um sowohl Lebendig e als Tote zu richten.
172
Wir haben also unseren Gegenstand, bezüglich der Gläubigen
und bezüglich der Welt, von zwei Seiten zu betrachten. Der
Gläubige sollte, da er sieht, daß er nicht ins Gericht kommt,
über diesen wichtigen Gegenstand nicht hinweggehen; denn
andere Stellen betreffs des Richterstuhls Christi, die wir hernach zu betrachten gedenken, werden schon seine ernste Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Unsere nächste Frage ist:
Gibt es, wenn wir die Gläubigen ganz außer acht lassen, für
alle anderen Menschen nur ein einziges allgemeines Gericht? —
Zwei Stellen im Worte Gottes — die eine in Mt 25, die andere in
Offb 20 — behandeln diesen Gegenstand. Wir wollen sie hier
nebeneinander stellen und untersuchen, worin sie voneinander
abweichen.
Mt 25 Offb 20
„Wenn aber der Sohn des
Menschen kommen wird in
seiner Herrlichkeit und alle
Engel mit ihm" (Vers 31).
(Wohin kommt Er? Augenscheinlich auf die Erde, wie
aus dem Folgenden hervorgeht.)
„Vor ihm werden versammelt werden alle Nationen"
(Vers 32). - (Die Toten
werden hier nicht erwähnt.)
„Und er wird sie voneinander scheiden, gleichwie
der Hirte die Schafe scheidet von den Böcken usw."
(Vers 32). (Hier sind zwei
Klassen. Die Schafe gehen
in die Herrlichkeit, die
Böcke in die Verdammnis.)
Und ich sah einen großen
weißen Thron und den, der
darauf saß, vor dessen Angesicht die Erde entfloh und
der Himmel; und keine
Stätte wurde für sie gefunden" (Vers 11).
„Und ich sah die Toten, die
Großen und die Kleinen, vor
dem Throne stehen"
(Vers 12). (Die Lebendigen
werden hier nicht erwähnt.)
„Und wenn jemand nicht
geschrieben gefunden wurde
in dem Buche des Lebens, so
wurde er in den Feuersee
geworfen" (Vers 15). —
(Hier sieht man nur Verlorene).
173
„Dann wird er auch zu
denen zur Linken sagen:
Gehet von mir, Verfluchte,
in das ewige Feuer..., denn
ich hungerte, und ihr gabt
mir nichts zu essen usw."
(Verse 41. 42). - (Hier
findet die Verdammnis wegen der Behandlung statt,
welche Christo, als in Seinem Volke dargestellt, zuteil wurde,während ihre allgemeinen Sünden nicht erwähnt werden.)
„Und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch
wurde auf getan, welches das
des Lebens ist. Und die
Toten wurden nach dem gerichtet, was in den Büchern
geschrieben war, nach ihren
Werken" (Vers 12). - (Hier
werden sie gerichtet nach
ihren allgemeinen Sünden,
und ihre Behandlung betreffs Christi wird nicht
erwähnt.)
Man beachte hier, daß nach der einen dieser Stellen das Gericht
stattfindet, wenn Christus auf die Erde kommt, während nach
der anderen die Erde entflieht, daß ferner hier die nur lebenden
Nationen gerichtet werden und die Toten nicht erwähnt werden,
während dort nur von den Toten und nicht von den Lebenden
die Rede ist, daß in dieser Stelle sowohl der Verlorenen als auch
der Geretteten, während in jenen nur der Verlorenen gedacht
wird, und daß endlich, nach der einen dieser Stellen das Gericht
der Verlorenen wegen der Behandlung Christi in Seinen
Brüdern, und nach der anderen wegen ihrer Sünden überhaupt
Platz greift. — Diese Vergleichung zeigt augenscheinlich, daß
diese beiden Stellen sich nicht auf ein und dasselbe Ereignis
beziehen. Wir denken, später auf den besonderen Platz und
Charakter eines jeden dieser Ereignisse zurückzukommen. Beachten wir für jetzt nur, daß die Schrift es klar hinstellt; 1. daß
die Kirche (d.i. die wahren Gläubigen) nicht ins Gericht kommt,
und daß 2. die Bösen nicht alle zu gleicher Zeit gerichtet werden.
Es kann daher, wie dieses so oft gedacht und ausgesprochen
wird, kein allgemeines Gericht stattfinden.
Richten wir nun unsere Blicke auf das, was in der Heiligen
Schrift geoffenbart ist; und wir werden es gewiß äußerst
wichtig finden, den großen, in Gottes Wort geweissagten
Ereignissen nachzuforschen und wir werden imstande sein,
alles an seinen rechten Platz zu stellen und besser zu verstehen.
174
In erster Reihe betrachten wir die Kirche vor dem Richterstuhl
Christi. Wir erwarten jetzt die Rückkehr unseres Herrn in
einem Augenblicke. „Ja, ich komme bald!" (Offb 22, 20) -
„Der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme
des Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen
vom Himmel; und die Toten in Christo werden zuerst auferstehen. Danach werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben,
zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn
entgegen in die Luft und also werden wir allezeit bei dem
Herrn sein" (1. Thess 4,16. 17). — Dann folgt der Richterstuhl
Christi für die Kirche. Wir haben bereits gesehen, daß der
Gläubige nicht in das sogenannte Gericht kommt; und es ist
ebenso klar, daß seine Rettung vollkommen und unbestreitbar
ist.
„Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat,
hat ewiges Leben" (Joh 5, 24). „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind" (Röm 8, 1). — „Welche
er aber zuvor bestimmt hat, diese hat er auch gerechtfertigt,
welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht"
(Röm 8, 30). — „Wenn aber Kinder, so auch Erben — Erben
Gottes und Miterben Christi" (Röm 8, 17). — „Er hat uns mit
dem Christus lebendig gemacht. . . und hat uns mit auferweckt
und mitsitzen lassen in den himmlischen Ortern in Christo
Jesu" (Eph 2, 5. 6). — „Christus ist einmal geopfert worden,
Vieler Sünden zu tragen" (Hebr 9, 28). — „Wie er ist, sind auch
wir in dieser Welt" (1. Joh 4, 17) — „Dem, der uns liebt und
uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blute"
(Offb 1, 5).
Wie aber kann jemand, von dem so herrliche Dinge gesagt
werden, vor die Schranken des Gerichts geführt werden, um
erst hier seine Errettung zu erfahren? Oder wie können seine
Sünden, die getragen sind, um derentwillen gelitten und Blut
vergossen ist, und die für ewig abgewaschen sind, noch an
einem Gerichtstage gegen ihn geltend gemacht werden? Wie
bereits erwähnt, sagt Gott: „Wer glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht"
(Joh 5,24); und: „Wer wird wider Gottes Auserwählte Anklage
erheben? Gott ist es, welcher rechtfertigt, wer ist, der ver175
dämme? Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der auch
auferstanden ist" (Röm 8, 33. 34).
Dennoch lesen wir in 2. Kor 5, 10: „Wir müssen alle vor dem
Richterstuhl des Christus geoffenbart werden." — Keineswegs
wird also der Gläubige davon ausgeschlossen sein. Wenn ich
vor dem Richterstuhl geoffenbart werde, so wohne ich dem
nicht nur bei, wie dies ein Freund des Richters tun könnte, sondern hier wird dasselbe ausgedrückt wie in Apg 27, 24, wo
wir lesen: „Fürchte dich nicht, Paulus, du mußt vor den Kaiser
gestellt werden." „Richterstuhl" ist hier derselbe Ausdruck
wie „Thron" in Apg 12, 21 und wie „Richterstuhl" in Apg 18,
16—18 und bedeutet einen erhöhten und erhabenen Sitz für
einen Richter oder König. Wenn wir nun in 2. Kor 5, 10 lesen:
„Wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus geoffenbart werden, auf daß ein jeglicher empfange, was er in dem
Leibe getan, nach dem er gehandelt hat, es sei gut oder böse",
so drückt hier das „Wir" unbestreitbar aus, daß der Gläubige
vor dem Richterstuhl erscheinen muß, um dort geoffenbart zu
werden, und zwar mit der ausdrücklichen Beifügung: „Auf
daß ein jeglicher empfange, was er in dem Leibe getan, nach
dem er gehandelt hat, es sei gut oder böse." — Unsere Frage
wird daher sein: Was hat dies für eine Bedeutung bezüglich
derer, die bereits gerettet sind?
Wir dürfen nicht aus dem Auge verlieren, daß, wenn der
Apostel hier von dem Offenbarwerden aller spricht, dies für
uns ein Beweggrund ist, um dessenwillen wir im Werke des
Herrn eifrig sein sollten; denn er sagt: „Darum beeifern wir
uns auch, ob einheimisch oder ausheimisch, ihm wohlgefällig
zu sein; denn wir müssen usw." Es handelt sich also in betreff
unserer um den Dienst. Wir werden, um Gott wohlgefällig zu
sein, zum Eifer ermahnt, weil wir vor dem Richterstuhl Christi
geoffenbart werden müssen. Was aber bedeuten die Worte:
„Auf daß ein jeglicher empfange, was er in dem Leibe getan,
nach dem er gehandelt hat, es sei gut oder böse?"
Untersuchen wir, ob nicht irgendeine andere Schriftstelle uns
über diese Frage Licht verschafft. In bezug auf den Dienst sagt
der Heilige Geist im Brief des Paulus an die Kolosser: „Was
ihr irgend tut, arbeitet von Herzen, als dem Herrn und nicht
den Menschen, da ihr wisset, daß ihr vom Herrn die Vergel176
tung des Erbes empfangen werdet; ihr dienet dem Herrn
Christo. Denn wer unrecht tut, wird das Unrecht empfangen,
das er getan hat; und da ist kein Ansehen der Person"
(Kol 3, 23—25). — Ferner lesen wir in Eph 6, 7—8: „ . . . indem
ihr mit Gutwilligkeit dienet als dem Herrn und nicht den
Menschen, da ihr wisset, daß, was irgend ein jeder Gutes tun
wird, er dieses vom Herrn empfangen wird, er sei Sklave oder
Freier." — Hier steht also das „Empfangen" wiederum mit dem
Dienst in Verbindung; und so gibt es eine Menge Stellen, die
in Beziehung auf den Dienst Gottes von Belohnung reden, wie
unter anderen folgende:
„Denn wer irgend euch mit einem Becher kalten Wassers tränken wird in meinem Namen, weil ihr Christi seid, wahrlich,
ich sage euch, er wird seinen Lohn nicht verlieren" (Mk 9, 41).
„ . . . tut Gutes . . . und euer Lohn wird groß sein" (Lk 6, 35).
„Denn Gott ist nicht ungerecht, eures Werkes zu vergessen
und der Liebe" (Hebr 6,10).
Augenscheinlich hat dies alles nichts mit unserer Errettung zu
tun; aber als Gerettete sind wir alle Gottes Diener; und er
will unseres armseligen, dürftigen Dienstes nicht vergessen,
sondern uns belohnen. Die Ausdrücke, womit er diese Belohnung bezeichnet, sind verschieden; er nennt sie „groß",
„voll", „den Lohn des Erbes", „die Freude des Herrn", „eine
Krone" usw. Wir werden vor dem Richterstuhl Christi geoffenbart, um unseren Lohn zu empfangen. Werke, im Verborgenen verrichtet, sollen öffentlich belohnt werden. Unsere
Brüder mögen uns mißverstanden und getadelt haben — dann
aber wird alles in Ordnung gebracht werden, und wie wir
jetzt Gott völlig offenbar sind, werden wir es dann auch untereinander sein. Alle Selbstsucht und aller Neid wird dort verbannt, und wir werden fähig sein, uns von Herzen über die
Segnungen zu erfreuen, die ein Anderer empfängt. Mögen der
Schreiber und der Leser dieser Zeilen an jenem Tage einen
vollen Lohn empfangen!
Wie aber steht es um das Gegenteil? Darüber wird in der
Schrift nicht so viel gesagt; doch hören wir die Ermahnung.
„Habet acht, daß ihr nicht euer Almosen gebet vor den Menschen, um von ihnen gesehen zu werden; wenn aber nicht, so
habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater, der in den Himmeln
177
ist" (Mt 6, 1). — „ .. . so wird das Werk eines jeglichen offenbar werden; denn der Tag wird es klar machen, weil er in
Feuer geoffenbart wird; und welcherlei das Werk eines jeden
ist, wird das Feuer bewähren. Wenn das Werk jemandes
bleiben wird, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn
empfangen; wenn das Werk jemandes verbrennen wird, so
wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden,
doch so wie durchs Feuer" (1. Kor 3, 13—15). — „Laßt niemand
euch um den Kampfpreis bringen, der seinen eigenen Willen
tut in Niedriggesinntheit und Anbetung der Engel usw."
(Kol 2, 18). — „Halte fest, was du hast, damit niemand deine
Krone nehme" (Offb. 3, 11).
Man sieht deutlich, daß sich diese Stellen auf einen Gläubigen
beziehen, der seine Belohnung einbüßt; und während wir in
2. Kor 5, 10 lesen, daß ein jeglicher empfängt, nachdem er, es
sei gut oder böse, gehandelt hat, finden wir, sobald es sich
um die Kirche handelt, daß nie von der Belohnung des einen
und von der Bestrafung des anderen die Rede ist, sondern daß
der eine eine Belohnung empfangen und der andere Schaden
leiden oder seine Belohnung einbüßen wird. Wenn wir also
unsere Werke aus einem falschen Beweggrund verrichten,
wenn wir auf den Grund (Jesus Christus) Holz, Heu und Stroh
bauen*), wenn wir uns von der Einfalt Christi zu den armseligen Elementen einer menschlichen Religion hinwenden, —
dann werden wir die Belohnung verlieren, die uns zuteil werden
sollte.
Das ist ein ernster Gedanke für die Heiligen Gottes, der sich
nicht auf Verkündiger des Evangeliums und begabte Personen
beschränkt, sondern auf alle Bezug hat. Die Worte sind sehr
deutlich: „Wir müssen alle" — ein „jeglicher" — eines „jeglichen
Werk", usw. — Alle müssen geoffenbart werden vor dem
Richterstuhl Christi. Dort werden wir erkennen, was uns gehindert hat und welches Ziel wir verfehlt haben. O möchten
wir doch jetzt Weisheit genug besitzen, alle Dinge in ihrem
wahren Wert und im Lichte zu erkennen, damit wir unseren
Lohn nicht verlieren!
*) Ganz besonders bezieht sich dies auf das Werk des Predigers des Evan=
geliums. Wenn Seelen wirklich bekehrt sind, so werden si e an jenem Tage,
wie Paulus in 2. Kor. 1, 14 sagt, der „Ruhm" des Evangelisten sein; wenn sie
hingegen nicht bekehrt sind, so wird das Werk verbrennen, und sie werden
somit nicht zum Ruhm des Evangelisten sein.
173
Indes mögen einige denken, daß dieses „Schadenleiden" auf
einen Tadel hinauslaufe und eine Schwierigkeit fühlen in der
Annahme. Allein die Stelle spricht von keinem Verweise. Wir
wissen, welch einen Blick voll Liebe und Gnade der Herr auf
den Petrus warf, als dieser ihn verleugnet hatte, und sicher
wird ein Blick dieses Hochgelobten jedes Herz schmelzen und
jedes Ding in denen, die ihrem Herrn untreu waren, an seinen
rechten Platz bringen. Und wer von uns war stets treu? Aber
die Schrift sagt, daß sie Schaden leiden werden; und sie spricht
von etlichen, die wie durch Feuer gerettet werden, als ob sie
von Holz, Heu und Stroh so umgeben seien, daß sie beim
Erproben des Werkes durch Feuer jedenfalls verzehrt werden
würden, wenn sie nicht aus dem Feuer herausgerissen wären.
Andere haben angenommen, daß der Tod Christi, als das vollkommene Opfer für die Sünde, uns auch als Diener von allen
Folgen unserer Mängel im Dienst befreit habe, daß der Christ
in Christo verborgen sei und darum ein Fehler im Dienst ebensowenig wider uns auftreten könne, als irgendeine Sünde,
und daß daher jede Frucht, als ob wir als Diener
Rechenschaft ablegen müßten, töricht sei, da, selbst im Falle
der Forderung einer solchen Rechenschaft, das Blut Christi
alles beantworten und vor einem Schaden sichern würde.
Aber — spricht die Schrift in dieser Weise? Es ist, wie wir
bereits gesehen haben, völlig wahr, daß der Gerettete für ewig
rettet ist, daß weder er ins Gericht komme, noch seine Sünden,
die alle durch Christum getragen sind, gerichtet werden. Aber
das Wort Gottes sagt auch, daß er geoffenbart werden wird
vor dem Richterstuhl Christi, daß seine Werke offenbar gemacht und im Feuer erprobt werden, und daß, wenn diese seine
Werke bleiben, er Lohn empfangen, wenn sie aber vom Feuer
verzehrt werden, er Schaden leiden wird, während er selbst,
was seine Person betrifft, Rettung findet, jedoch also wie durchs
Feuer (1. Kor 3, 13—15). Das ist die Lehre der Heiligen Schrift.
Und während der Heilige Geist uns einerseits völlig versichert,
daß unsere ewige Errettung unumstößlich ist, so belehrt Er uns
auch andererseits, daß wir unsere Belohnung verlieren werden,
wenn unsere christliche Arbeit nicht die Probe aushalten wird.
Möge der Herr dieses allen unseren Herzen tief einprägen!
179
Noch andere könnten sich vielleicht zu dem Einwand veranlaßt
fühlen, daß dergleichen nicht im Himmel stattfinden könne
und daß die Heiligen, wenn sie gestorben sind, dort ihren Platz
finden.
Die Seelen der entschlafenen Heiligen gehen ins Paradies,
während ihre Leiber sich in den Gräbern befinden. Beim Kommen des Herrn aber werden ihre Leiber „in Herrlichkeit auferweckt" und von ihren Seelen bewohnt sein; und also dem
Herrn in die Luft entgegengerückt, findet ihr Offenbarwerden
vor dem Richterstuhl Christi vielleicht in der Luft statt. Obwohl
freilich der Ort, wo dies geschehen soll, nicht in bestimmter
Weise geoffenbart ist, so sagt doch Christus in Offb 22, 12:
„Ich komme bald und mein Lohn mit mir"; und in Lk 14, 14
lesen wir: „Es wird dir vergolten werden in der Auferstehung
der Gerechten", während Paulus sagt: „Fortan liegt mir bereit
die Krone der Gerechtigkeit, welche der Herr, der gerechte
Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tage; nicht
aber mir allein, sondern auch allen, die seine Erscheinung
lieben" (2. Tim 4, 8).
Wir haben also einen flüchtigen Blick auf den Heiligen vor dem
Richterstuhle Christi geworfen, ein Ereignis, das durch die
Ankunft des Herrn, die wir erwarten,*) eingeleitet wird. Nach
der Aufnahme der Kirche wird der Antichrist völlig offenbar
werden; und dieser Umstand wird der Vorbote jener Trübsal
sein, die niemals in solcher Größe und Strenge die Erde berührt
hat und berühren wird; und dann folgt die Erscheinung unseres
Herrn auf der Erde, wo das erste Gericht der Gottlosen, auf das
wir zunächst unsere Aufmerksamkeit richten müssen, Platz
greifen wird.
Wir lesen, daß der Herr Jesus der Richter der Lebendigen und
der Toten ist; und aus den oben angeführten und nebeneinander gestellten Schriftstellen erhellt es deutlich, daß die Lebendigen und die Toten nicht zu einer und derselben Zeit
gerichtet werden. In Mt 24 und 25 finden wir drei Klassen
erwähnt: — Die „Auserwählten", die „Knechte" und die
*) Wir haben in diesem Aufsatz als bekannt vorausgesetzt, daß die gestor=
benen Gerechten früher auferweckt werden, als die gestorbenen Gottlosen, daß die
Ankunft Christi fü r Seine Heiligen ganz verschieden ist von Seinem Kommen
auf die Erde mi t Seinen Heiligen, und daß die „Kirche" nicht alle Heiligen
einschließt, die je gelebt haben, oder je leben werden.
180
„Nationen"; und wir lesen, bevor von dem Gericht der Nationen die Rede ist, daß der Herr dem bösen Knecht sein Teil
setzen wird mit den Heuchlern, da wird sein das Weinen und
das Zähneknirschen" (Mt 24, 51), und wiederum, daß er in die
„äußerste Finsternis" geworfen wird (Mt 25, 30). Diese Stelle
scheint das Endurteil des unnützen Knechtes zu bezeichnen,
während hingegen andere zur Hochzeit eingehen, die Tür verschlossen wird, und die treuen Knechte zu Herrschern über
viele Dinge gemacht werden und zu „ihres Herrn Freude"
eingehen.
Bemerken wir indes, daß dieses alles durch die Worte angemeldet ist: „Alsbald aber nach der Drangsal jener Tage wird
die Sonne verfinstert werden .. . Und dann werden wehklagen
alle Stämme des Landes, und sie werden den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit Macht
und großer Herrlichkeit (Mt 24, 29—30). Laßt uns dies mit
Aufmerksamkeit beachten, weil es zeigt, daß diese Ereignisse,
nachdem die Kirche weggenommen sein wird, bei der Rückkunft des Herrn auf die Erde stattfinden werden. Wir dürfen
mithin keineswegs erwarten, die Kirche in dieser Szene zu
finden, denn in der Offenbarung sehen wir, daß, wenn die
große Trübsal die Erde berühren wird, die Kirche im Himmel
dargestellt ist.
Aber wenn die Kirche nicht dort ist, wer ist denn dort? Betrachten wir daher:
1. Die Auserwählten (Mt 24, 31), die versammelt werden „von
den vier Winden, von den äußersten Enden der Himmel bis zu
ihren äußersten Enden." Die, welche ein allgemeines Gericht
annehmen, behaupten, daß hier unter den „Auserwählten" alle
inbegriffen seien, die zum ewigen Leben erwählt sind und daß
sie vor dem Gericht aus allen Teilen der Erde und des Himmels
gesammelt werden und später Schafe genannt werden. Allein
erinnern wir uns, daß die Juden oft in der Schrift als die „Auserwählten" bezeichnet sind und dieser Ausdruck hier dieselbe
Bedeutung haben kann und daß ferner diese Stelle nicht von
der Erde und dem Himmel spricht, sondern „von den vier
Winden her, von den äußersten Enden der Himmel bis zu ihren
äußersten Enden." Wenn die „vier Winde" die Erde bezeich181
nen, warum sollten die „äußersten Enden der Himmel bis zu
ihren äußersten Enden" nicht dieselbe Bedeutung haben? Es
liegt keine Verbindung in der Zusammenfügung zweier verschiedener Dinge. Endlich wird der Ausspruch einer Schriftstelle, die ganz deutlich von der Versammlung der Juden
spricht, die Frage entscheiden:
„Und er wird seine Engel
aussenden mit großem Posaunenschall, und sie werden seine Auserwählten
versammeln von den vier
Winden her, von dem einen
Ende der Himmel bis zu
ihrem anderen Ende" (Mt
24, 31).
„ .. . so wird Jehova, dein
Gott, die Gefangenschaft
wenden und sich deiner erbarmen; und er wird dich
wiederum sammeln aus all
den Völkern, wohin Jehova,
dein Gott dich zerstreut hat.
Wenn deine Vertriebenen
am Ende des Himmels
wären, so wird Jehova, dein
Gott, von dannen dich sammeln und von dannen dich
holen" (5. Mo 30, 3-4).
Wie wir sehen, bezieht sich die Stelle im 5. Buch Mose offenbar
nur auf die Erde und auf die Juden; und sollten wir daher
nicht den Schluß machen dürfen, daß die Stelle in Matthäus
dieselbe Bedeutung habe? Dann haben wir:
2) Treue und. untreue Knechte. „Wer ist nun der treue und
kluge Knecht, den der Herr über sein Gesinde gesetzt hat, um
ihnen die Speise zu geben zur rechten Zeit?" (Mt 24, 48. 49). —
Und wiederum: „Wenn aber jener böse Knecht in seinem
Herzen sagt: Mein Herr verzieht zu kommen und anfangen
wird, seine Mitknechte zu schlagen usw." (Mt 24, 45). Diese
Worte scheinen anzudeuten, daß sich jene — ohne Zweifel im
Reiche — in einer Dienststellung befinden; denn das Reich
wird, selbst wenn die Kirche weggenommen ist, fortbestehen.
Ferner finden wir:
3) Jungfrauen, die dem Bräutigam entgegengehen. Offenbar
sind hier Bekenner der Wahrheit bezeichnet, die einen mit, die
anderen ohne öl , die einen gerettet, die anderen nicht. Aber
deutlich sehen wir sie in Verbindung mit dem Reiche der Him182
mel; denn wir sehen sie mit den Worten angeführt: „Alsdann
wird das Reich der Himmel gleich geworden sein zehn Jungfrauen." Endlich begegnen wir:
4) Denen, die an dem in Mt 25, 31 — 46 erwähnten Gericht
teilhaben; und dieses Gericht, als der Gegenstand unserer Betrachtung, fordert unsere ernsteste Aufmerksamkeit. Bereits
im Anfange unserer Abhandlung haben wir seine Hauptzüge
flüchtig betrachtet und gesehen, daß hier nicht von einem allgemeinen, alle Menschen umfassenden Gericht die Rede sein
kann, weil nur die lebenden Nationen eingeführt werden, aber
die Toten nicht erwähnt werden, und weil hier nicht von den
allgemeinen Sünden derer, die gerichtet werden, sondern nur
von ihrer Behandlung gegenüber dem Herrn und Seinen Brüdern die Rede ist. Und um die Stärke und die Eigentümlichkeit
eines solchen Urteils zu erkennen, müssen wir bemüht sein,
uns aus der Schrift klarzumachen, welches der Zustand der
Welt sein wird, der dieses Gericht der Nationen einführt.
Wie wir bereits gesehen haben, wird das Reich der Himmel,
auch nachdem die Kirche hinweggenommen ist, fortdauern und
das Bekenntnis seinen Lauf fortsetzen, und Gott wird unter
dem überhandnehmenden Unglauben und Abfall noch etliche
treue Knechte haben. Aber außerdem gibt Gott, wie wir in
Offb 11 lesen, Seinen zwei Zeugen Macht, und, angetan mit
Säcken, werden sie weissagen. Es wird also augenscheinlich ein
bestimmtes Zeugnis fortbestehen; und jene Zeugen nebst
etlichen, die mit ihnen verbunden sind, mögen vielleicht die in
unserer Schriftstelle angeführten „Brüder" sein, deren Behandlung das Schicksal der Personen entscheidet. Merken wir uns
dazu noch, daß wir in Mt 24,14 lesen: „Und dieses Evangelium
des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis
allen Nationen zu einem Zeugnis, und dann wird das Ende
kommen."
Jedoch dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, daß neben
diesem Zeugnis der Antichrist geoffenbart werden wird, und
daß er sich über alles, was Gott heißt, überheben wird und
trachten wird, angebetet zu werden; und dann werden die,
welche auf des Herrn Seite stehen, weit besser erkannt werden,
als dies jetzt der Fall ist.
183
„Denn dieser Tag kommt nicht, es sei denn, daß zuerst der
Abfall komme und geoffenbart sei der Mensch der Sünde, der
Sohn des Verderbens, welcher widersteht und sich selbst erhöht
über alles, was Gott heißt, oder ein Gegenstand der Verehrung
ist, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst
darstellt, daß er Gott sei. . . Denn schon ist das Geheimnis der
Gesetzlosigkeit wirksam; nur ist jetzt der, welcher zurückhält,
bis er aus dem Wege ist, und dann wird der Gesetzlose geoffenbart werden, den der Herr Jesus verzehren wird durch den
Hauch seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung
seiner Ankunft" (2. Thess 2, 3—8).
Ferner wird, indem der Feind Wunder wirkt, eine Zeit des
Betrugs und der Lüge sein, denn wir lesen in bezug darauf:
„dessen Ankunft nach der Wirksamkeit Satans ist, in aller
Macht und allen Zeichen und Wundern der Lüge und in allem
Betrug der Ungerechtigkeit in denen, die verloren gehen"
(2. Thess 2, 9—10). — „Und die ganze Gewalt des ersten Tieres
übt es vor ihm aus, und es macht, daß die Erde und die darauf
wohnen, das erste Tier anbeten, dessen Todeswunde geheilt
wurde. Und es tut große Zeichen, daß es selbst Feuer vom
Himmel auf die Erde herabkommen läßt vor den Menschen;
und es verführt die auf der Erde wohnen wegen der Zeichen,
welche von dem Tier zu tun ihm gegeben sind" (Offbg 13,
12-14).
Und weiter lesen wir, daß Satan aus dem Himmel geworfen
werden wird; und dann heißt es: „Wehe der Erde und dem
Meere; denn der Teufel ist zu euch herabgekommen und hat
große Wut, da er weiß, daß er wenig Zeit hat. . . Und der
Drache ward zornig über das Weib und ging hin, Krieg zu
führen mit den übrigen ihres Samens, welche die Gebote Gottes
halten und das Zeugnis Jesu haben" (Offbg 12).
Aus diesen Stellen sehen wir, daß der gläubige Überrest in
jenen Tagen von der größten List umringt und den schrecklichsten Verfolgungen ausgesetzt ist. So lesen wir unter anderem, daß niemandem erlaubt ist zu kaufen oder zu verkaufen, es sei denn, daß er das Malzeichen des Tieres an sich
trage. Das wird ein sicherer Prüfstein des Volkes der Nationen
sein. Alle sind genötigt, entweder auf die Seite Satans und
seiner Genossen, oder auf die Seite der verfolgten Brüder
Christi zu treten.
184
Ähnlich würde es vielleicht in einem Lande sein, wenn während
der Abwesenheit des Königs ein Anführer sich die Krone auf
sein Haupt setzen und die große Masse des Volkes um sich versammeln würde. Ohne Zweifel würden dann die treuen Diener
des Königs verjagt und verfolgt werden; und jeder Untertan
hätte Gelegenheit, in der Behandlung dieser Diener seine Gesinnung an den Tag zu legen. Bei Rückkehr des Königs aber
würde ihn weniger die Frage beschäftigen, ob seine Untertanen
ein sittliches Leben geführt haben, als die Frage, ob sie seine
verfolgten Diener aufgenommen und ihre Not gemildert haben;
und selbstverständlich würde der, der ihre Unterstützung versagt hat, eines großen Vergehens schuldig sein.
In dieser Weise wird der Sohn des Menschen, wenn er auf die
Erde zurückkehrt, die Schafe von den Böcken scheiden. Die, die
Seine Verfolgten unterstützt und gepflegt haben, empfangen
ihren Lohn, und die anderen, die diese Hilfe versagt haben,
empfangen ihre Strafe. Dann wird das Urteil sehr wichtig und
bezeichnend sein: „Insofern ihr es einem dieser Geringsten
nicht getan habt, habt ihr es auch mir nicht getan." Wir dürfen
es nicht außer acht lassen, daß diese Seine Brüder Verfolgte
waren; denn Er sagt: „mich hungerte . . . und dürstete .. . ich
war ein Fremdling . . . nackt. .. krank .. . im Gefängnis."
Diese Beschreibung des Gerichts der lebenden Nationen entspricht also, wie wir sehen, genau den Zuständen, die sich bei
der Rückkehr unseres Herrn auf die Erde vorfinden werden,
wie wir dies in anderen Teilen des Wortes Gottes geoffenbart
finden, während wir nur wahrnehmen können, daß ein solches
Urteil auf die Millionen der Toten, die nie etwas von Christo
gehört haben, durchaus unanwendbar sein würde. Vieles ist
geschrieben worden, um diesen Richterspruch mit dem Begriff
eines allgemeinen Gerichts in Einklang zu bringen, indem man
in betreff derer, die das Evangelium gehört haben, die Behauptung aufstellt, daß, wenn jene Gerichteten die Brüder Christi
nicht gut behandelten, sie auch Christum nicht liebten, und
daß, wenn sie Ihn nicht liebten, sie auch nicht an Ihn glaubten, und
daß endlich, wenn sie nicht an Ihn glaubten, sie auch nicht
gerettet sein konnten. Jedoch man denkt nicht daran, daß dieses
auf die Heiden insgesamt angewendet werden könnte.
Aber bevor wir weitergehen, laßt uns beachten, daß das Gericht
der lebenden Nationen, obwohl es noch weit zu liegen scheint,
185
vielleicht nicht mehr fern sein mag. Die jetzt lebenden Nationen
könnten vielleicht jene Nationen sein. Die Kirche kann noch
heute aufgenommen werden; und unmittelbar danach werden
die großen Ereignisse beginnen. Das ist eine ernste Betrachtung
für jeden, der sich mit dem Studium der prophetischen Wahrheit befaßt, und dessen Seele noch nicht gerettet ist. „Da wir
nun den Schrecken des Herrn kennen, überreden wir die
Menschen" (2. Kor 5, 11).
Nach diesem Gericht folgt das tausendjährige Reich; Satan ist
gebunden.
Nach Ablauf des tausendjährigen Reiches beginnt eine kurze
Zeit der Empörung; Satan wird gelöst (Offb 20).
Dann folgt das Gericht der gottlosen Toten (Offb 20). Wie wir
bereits gesehen haben, werden bei diesem Gericht nur die
Toten erwählt; und sie werden wegen ihrer Sünden im allgemeinen gerichtet aus dem, was in den Büchern geschrieben
ist. Das Buch des Lebens ist da; aber wir lesen nicht, daß der
Name von jemand darin gefunden wird.
Hier sehen wir auch, wie anwendbar dieses Gericht aus den
Büchern auf alle gestorbenen Gottlosen sein wird. Etliche
mögen das Evangelium gehört und es verworfen haben; aber
wenn das auch als ihre größte Sünde gegen sie in Anrechnung
gebracht werden wird, so werden sie nichtsdestoweniger
wegen all ihrer Sünde gerichtet werden. Die einen halten das
Gesetz und werden durch das Gesetz gerichtet, die anderen halten
kein Gesetz und werden ohne Gesetz gerichtet. „Denn so viele
ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verlorengehen; und so viele unter Gesetz gesündigt haben, werden
durch Gesetz gerichtet werden" (Röm 2, 12). „Und wenn
jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem Buche des
Lebens; (und niemand wird als darin gefunden genannt) so
wurde er in den Feuersee geworfen."
Wir haben also gesehen, wie vollkommen anwendbar die Beschreibungen der beiden Endgerichte auf die verschiedenen Zustände der Lebendigen und der Toten sind. Wendet man sie
um, so werden sie durchaus nicht zueinander passen. Bringt
man sie an ihren rechten Platz, so ist große Ordung vorhanden.
Folgende Zusammenstellung wird die Reihe der Ereignisse
und die Plätze der Gerichte mehr verdeutlichen:
186
1. Die Heiligen werden aufgenommen, in Wolken dem
Herrn entgegen in die Luft
2. Die Juden in ihrem eigenen
Lande*)
3. Die Entfaltung des verderbten Christentums und das
Offenbarwerden des Antichristen
4. Die große Trübsal . .
5. Christus kommtauf die Erde
6. Christus richtet die Nationen, indem Er einige verschont
1. Thess 4, 16. 17
1. Kor 15, 51. 52;
15, 23
Sach 8, 7, 8
Jes 11, 10-16
• 2. Thess 2, 2- 8
} Mt 24, 14-24
| Sach 14, 4. 5
/ Mt 26, 64
Offb 19, 11-16
7. Er rottet in Seinem Reiche
alles aus, was Ihm mißfällt
8. Satan ist gebunden — das
tausendjährige Reich ... .
9. Satan wird für eine kleine
Zeit gelöst und verführt die
Nationen
10. Christus unterwirft Sich
alles, was Widerstand leistet
11. Auferstehung der gottlosen
Toten
12. Christus richtet das Reich
Gottes auf
13. Gott ist alles in allem . . .
| Jes 25, 6-8
> Jer 23, 5-8
) Offb 20, 1-4
1 Offb 20, 7-8
\ Offb 20, 9-10
\ Offb 20, 5
| 1. Kor 15, 24-28
} 1. Kor 15, 28
Gericht
über die
lebenden
Nationen
Mt 25
Gericht
über die
gottlosen
Toten
Offb 20
*) Es ist möglich, daß die Juden die Rückkehr in ihr Land beginnen, noch
bevor die Kirche weggenommen ist. Dieser Aufsatz mit dieser Fußnote ist 1867
erschienen; inzwischen ist Israel ein Staat geworden und viele Juden aus allen
Teilen der Erde sind inzwischen in ihr Land gekommen. Der Herausgeber, 1964,
187
Es bleibt uns noch übrig, etliche Stellen der Schrift zu prüfen,
die mit der vorhergehenden Folgerung nicht in Übereinstimmung zu sein scheinen.
1. In verschiedenen Stellen lesen wir von dem „Tage des Gerichts", als ob ein Tag und nur ein Tag zum Gericht aller
Menschen bestimmt worden sei.
In einer der Stellen, wo wir diesem Ausdruck begegnen,
(2. Petr 3) wird uns gesagt: „Dies eine aber sei euch nicht
verborgen, Geliebte, daß ein Tag bei dem Herrn ist wie tausend Jahre, und tausend Jahre wie ein Tag." Und in dieser
Stelle haben etliche die Deutung zu finden geglaubt, daß nicht
ein Tag im buchstäblichen Sinne gemeint sei, sondern daß das
Gericht in Mt 24 mit dem Beginn des Tages, und das Gericht
in Offb 20, nach dem Dazwischentreten von tausend Jahren,
erst am Ende dieses Tages Platz greife. Es mag sein; aberscheint
nicht der Ausdruck „Tausend Jahre wie ein Tag" usw. vielmehr
mit dem 9. Verse in Verbindung zu sein, wo von dem Herrn
gesagt wird, daß Er Seine Verheißung nicht verziehe? Sehen wir
indes den Ausdruck: „der Tag des Herrn" etwas genauer an, so
finden wir ihn achtmal im Neuen Testament; aber an sieben
dieser Stellen finden wir ihn ohne Artikel, und man kann auch
übersetzen „ein Tag des Herrn", als die Charakteristik einer Zeit
zur Rechenschafts-Ablegung, ohne daß darin ein bestimmter
Tag oder der Tag verstanden wird. In diesen sieben Stellen
hebt also das Nichtvorhandensein des Artikels die Schwierigkeit auf. Nur 1. Joh 4,17 ist die einzige Ausnahme; dort finden
wir den bestimmten Artikel; denn wir lesen: „Hierin ist die
Liebe mit uns vollendet worden, auf daß wir Freimütigkeit
haben an dem Tage des Gerichts; daß, wie er ist, auch wir sind in
dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe" usw. — Jedoch hier ist
der Gegenstand der Betrachtung nicht das Gericht, sondern die
Liebe; und der Tag des Gerichts ist nur als eine Beleuchtung
dafür eingeführt, was die vollkommene Liebe für uns tut. Dort
mag eine Schwierigkeit in betreff dessen sein, worauf sich
dieser Tag bezieht. Denn wir lesen nirgends, daß die Kirche
weder im Gericht der Lebendigen, noch im Gericht der Toten
gegenwärtig sein wird; — und andererseits haben wir gesehen,
daß die Gläubigen überhaupt nicht ins Gericht kommen. Aber
wir lesen, daß die Heiligen den Herrn begleiten werden, wenn
188
Er kommen wird, um das Gericht auszuüben. „Siehe, der Herr
ist gekommen inmitten Seiner heiligen Tausende, Gericht auszuführen" (Jud 14). Sollte sich nicht die „Freimütigkeit" beziehen auf diese Szene? Und sollte diese Stelle nicht überhaupt
auch eine Verwendung finden gegenüber denjenigen Heiligen,
die während der großen Trübsal auf der Erde sein werden —
ein Ereignis, das auch „Gericht" genannt wird? „Du wirst dich
nicht fürchten . . . Tausend werden fallen an deiner Seite und
zehntausend an deiner Rechten, dich wird es nicht erreichen"
(Ps 91). Vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Jedenfalls
dürfen wir mit Sicherheit schließen, daß diese Stelle durchaus
nicht die Meinung zuläßt, daß der Gottlose und der Gerechte
einem allgemeinen Gericht anheimfallen.
2. „Er hat einen Tag gesetzt, an welchem er den Erdkreis
richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu
bestimmt hat" (Apg 17, 31). Hier ist in der Tat die Festsetzung
eines Tages erwähnt, aber zu welchem Zweck? Nicht um das
ganze Weltall, sondern um die bewohnte Erde zu richten. Das
griechische Wort, welches durch „Erdkreis" übersetzt ist,
kommt fünfzehnmal im Neuen Testament vor; aber nirgends
bezeichnet es das Weltall und schließt nirgends die Toten in
sich ein. Das Wort bezeichnet die bewohnte Erde oder die „Bewohner der Erde". Dazu erklärt diese Stelle bloß, daß Gott
einen Tag festgesetzt habe, an welchem Er (übereinstimmend
mit Mt 25) die Nationen richten wird, ohne die Toten mit
einem Worte zu erwähnen, obgleich auch zweifelsohne ein
anderer Tag zum Gericht der Toten festgesetzt worden ist.
3. „Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Jesu Christo, der da
richten wird Lebendige und Tote, und bei seiner Erscheinung
und seinem Reiche" (2. Tim 4, 1). Man merke sich, daß hier,
sowohl zwei Klassen als auch zwei Perioden erwähnt werden.
Die Lebenden werden, wie wir gesehen haben, bei Seiner Erscheinung und die Toten, nachdem das Königreich aufgerichtet
ist, ganz am Schluß dieses Reiches gerichtet. Dies alles steht in
vollkommener Übereinstimmung mit dieser Stelle.
4. „An dem Tage, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird nach meinem Evangelium, durch Jesum Christum"
(Röm 2,16).
189
Die ganze Stelle heißt: „Denn so viele ohne Gesetz gesündigt
haben, werden auch ohne Gesetz verloren gehen; und so viele
unter Gesetz gesündigt haben, werden durch Gesetz gerichtet
werden .. . an dem Tage, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird usw." Dies ist eine allgemeine Bestimmung,
die sich sowohl auf Juden als auf Heiden bezieht; und es ist
die Rede von dem Verborgenen der Menschen als solcher, ohne
daß irgendwie die Gerechten, die nicht bloß als Menschen behandelt sind, erwähnt werden. Und selbst hier ist es im buchstäblichen Sinne „ein Tag" und nicht „der Tag", wodurch man
beweisen möchte, daß alle „Menschen" an einem Tage gerichtet
würden.
5. „Und die Nationen sind zornig gewesen, und dein Zorn ist
gekommen und die Zeit der Toten, um gerichtet zu werden,
und den Lohn zu geben deinen Knechten, den Propheten und
den Heiligen ... " (Offb 11, 18).
Die Kirche wird hier mit keinem Worte erwähnt — sie ist bereits
vor dieser Szene im Himmel gesehen worden. Auch nachdem
die Kirche hinweggenommen ist, werden noch Propheten und
Heilige auf der Erde sein; und am Ende des Reiches werden
diese belohnt und die Toten gerichtet werden, wie wir schon
gesehen haben. Diese Stelle begünstigt in keiner Weise die
Annahme eines allgemeinen Gerichts; denn sie sagt bestimmt,
daß die „Zeit der Toten, um gerichtet zu werden" gekommen
sei und berührt in keiner Weise die Lebendigen. Auch findet
man hier auf das Bestimmteste, daß die „Knechte, die Propheten und die Heiligen" durchaus nicht gerichtet, sondern
vielmehr belohnt werden. —
6. „Und die Engel, die ihren ersten Zustand nicht bewahrt,
sondern ihre eigene Behausung verlassen haben, hat er zum
Gerichte des großen Tages mit ewigen Ketten unter der Finsternis verwahrt" (Jud 6).
Diese Stelle bezieht sich auf gefallene Engel und sagt nichts von
einem allgemeinen Gericht aller Menschen. Jedoch ist es beachtenswert, daß auch hier, wie oben bereits erwähnt, der bestimmte Artikel fehlt und man die Stelle übersetzen kann:
„Zum Gericht eines großen Tages."
7. „Der Herr wird sein Volk richten" (Hebr 10, 30). Dies
scheint mit der Folgerung, daß die Kirche nicht ins Gericht
190
komme, im Widerspruch zu stehen. Allein man bemerke hier,
daß dies eine aus 5. Mo 32 angeführte Stelle ist, die sich dort
auf die Israeliten bezieht und hier an die hebräischen Bekenner,
und nicht geradezu an die Kirche, als „Sein Volk" betrachtet,
gerichtet ist. Wir werden dies beim Durchlesen des ganzen
Verses bestätigt finden: „Denn wir kennen den, der gesagt
hat: Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr.
Und wiederum: Der Herr wird sein Volk richten." — Unmöglich wird behauptet werden, daß der Herr Seiner Kirche in
Rache begegnen werde. Aber wenn der erste Teil des Verses
sich nicht auf die Kirche anwenden läßt, warum denn der
letzte? Die Stelle scheint einen jüdischen Bekenner im Auge zu
haben, der schließlich abfällt und unter das Gericht Gottes
kommt. Wenn ein heidnischer Bekenner abfiele, so würde auch
er in derselben Weise unter das Gericht Gottes kommen, wenn
auch etliche wenige Worte in dieser Stelle (wie z. B.: „Sein
Volk") durch den Geist Gottes nicht gebraucht worden wären,
wenn Er direkt an alle Bekenner geschrieben hätte, obwohl
derselbe Grundsatz auf alle paßt.
8. „Denn die Zeit ist gekommen, daß das Gericht anfange am
Hause Gottes" (1. Petr 4, 17).
Der Zusammenhang dieser Stelle zeigt es augenscheinlich, daß
sie sich durchaus nicht auf ein End-Gericht, sondern auf ein
Gericht in gegenwärtiger Zeit bezieht. „Die Zeit ist gekommen." Der 12. Vers spricht von einer „Feuerprobe" und fordert
die Heiligen auf, sie nicht als etwas Fremdes zu betrachten,
sondern insoweit sie der Leiden des Christus teilhaftig seien,
sich zu freuen. Dann werden sie, wenn sie im Namen Christi
geschmäht werden, glückselig gepriesen. Sie sollen nicht als
Übeltäter leiden, wenn aber als Christ, sollen sie sich nicht
schämen. „Denn die Zeit ist gekommen, daß das Gericht anfange am Hause Gottes; wenn aber zuerst bei uns, was wird
das Ende derer sein, die dem Evangelium Gottes nicht gehorchen. Und wenn der Gerechte mit Not gerettet wird, wo will
der Gottlose und Sünder erscheinen? Daher sollen auch die,
welche nach dem Willen Gottes leiden, usw." Die Zeit war
gekommen, als Gott es für notwendig fand, Leiden und Trübsal über Sein Haus kommen zu lassen; aber dies alles steht in
keiner Beziehung mit einem zukünftigen Gericht der Heiligen.
191
9. „Gott wird den Gerechten und Gesetzlosen richten" (Pred
3, 17).
Diese aus dem Zusammenhange gerissene Stelle bezeichnet
durchaus kein zukünftiges Gericht sondern das Verfahren
Gottes mit den Heiligen und den Sündern während der Lebenszeit. In der Tat, Gott richtet jetzt Seine Heiligen. Er fordert
uns auf, unsere Wege und Gesinnungen vor Ihm zu richten;
aber wenn wir es versäumen, so tut Er es. „Aber wenn wir uns
selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet. Wenn wir
aber gerichtet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt,
auf daß wir nicht mit der Welt verurteilt werden" (1. Kor 11,
31. 32). Dies hat offenbar nichts mit einem zukünftigen Gericht
zu tun, wir werden jetzt gerichtet, damit wir nicht mit der Welt
verurteilt werden. „So viele ich liebe, die überführe und züchtige ich. Sei nun eifrig und tue Buße" (Offb 3, 19)!
In dieser Weise handelt Gott auch jetzt mit den Versammlungen. Wenn irgendeine von ihnen das Böse gestattet und es
nicht richtet und hinwegtut, so übernimmt Gott das Gericht. So
sagt Er zu den Ephesern: „Tue Buße, und tue die ersten Werke!
Wenn aber nicht, so komme ich dir und werde deinen Leuchter
wegrücken aus seiner Stelle, wenn du nicht Buße tust"
(Offb 2, 5).
Wir schließen hiermit unsere Betrachtung. Noch etliche andere
Stellen mögen diesen Gegenstand berühren; aber die wesentlichen haben wir in Betracht gezogen. Es mögen auch Schwierigkeiten im Einzelnen da sein; aber Schwierigkeiten vermögen
nicht die klaren Bestimmungen der Heiligen Schrift über den
Haufen zu werfen. Es mag sein, daß wir nicht alles verstehen;
aber laßt uns festhalten an dem, was wir, als belehrt von Gott,
bereits verstehen.
*
192
Gottes Gedanken
sind nicht unsere Gedanken
„Und Bileam erhob seine Augen und sah Israel, gelagert nach
seinen Stämmen; und der Geist Gottes kam über ihn. Und er
hob seinen Spruch an und sprach: Es spricht Bileam, der Sohn
Beors, und es spricht der Mann geöffneten Auges; es spricht, der
da hört die Worte Gottes, der ein Gesicht des Allmächtigen
sieht, der hinfällt und enthüllter Augen ist: Wie schön sind
deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel! Gleich Tälern
breiten sie sich aus, gleich Gärten am Strome, gleich Aloe*
bäumen, die Jehova gepflanzt hat, gleich Zedern am Gewässer!
Wasser wird fließen aus seinen Eimern, und sein Same wird in
großen Wassern sein; und sein König wird höher sein als Agag,
und sein Königreich wird erhaben sein. Gott hat ihn aus Ägypten
herausgeführt; sein ist die Stärke des Wildochsen. Er wird die
Nationen, seine Feinde, fressen und ihre Gebeine zermalmen
und mit seinen Pfeilen sie zerschmettern. Er duckt sich, er legt
sich nieder wie ein Löwe und wie eine Löwin; wer will ihn
aufreizen? Die dich segnen, sind gesegnet, und die dich verfluchen, sind verflucht!" (4. Mo 24, 2—9).
Welche herrlichen und treffenden Worte! Welch ein schönes
und liebliches Zeugnis betreffs Israels! Und Jehova Selbst gab
dieses Zeugnis. Der Geist Gottes war auf Bileam — auf jenem
Mann, dessen Augen geöffnet waren. Doch die Worte und das
Zeugnis gewinnen noch an Schönheit und Erhabenheit, wenn
wir untersuchen, welchem Volk sie galten und auf welche Zeit
sie prophetisch deuteten.
Vor den Blicken Bileams hatten sich die Kinder Israel ausgebreitet. Sie waren es, deren Erstgeburt durch das Blut des
Passahlammes vor dem Schwert bewahrt, die durch die mächtige Hand Jehovas erlöst und durchs Rote Meer geführt worden
waren, sie waren es, die am Ufer dieses Meeres, beim Anblick
der Leichname ihrer Feinde, das Sieges- und Befreiungslied zur
Ehre Gottes angestimmt hatten. Der Herr hatte ihnen in reichstem
Maße bewiesen, daß Er ihr Gott war und Seinen, dem Abraham
gegebenen Verheißungen treu blieb. Er war in der Wüste ihr
Führer gewesen, hatte sie gespeist und erquickt, versorgt und
beschirmt, hatte sie aus Todesgefahren errettet und ihre Feinde
geschlagen. Nie war eine so große Treue gesehen, nie eine so
193
herrliche Gnade geschaut worden. Kaum war das Rote Meer
durchschritten, da schauten die Israeliten schon murrend auf
die Fleischtöpfe Ägyptens zurück. Sie verachteten die Liebe
Gottes und vergaßen es in gar kurzer Zeit, daß Seine Barmherzigkeit sie aus dem schweren Joch Pharaos, unter dem sie
jahrelang geseufzt hatten, erlöst hatte. Sie verschmähten das
Manna, das ihnen Gott zur Speise gab, machten dem sanftmütigen Mose fast unerträgliche Mühe und übertraten sogar
das Gesetz Gottes durch Anbetung eines goldenen Kalbes,
noch ehe dieses Gesetz in ihren Händen war. In der Tat, gegenüber einer solchen Treue von Seiten Gottes ist die Geschichte
dieses Volkes beklagenswert.
Und dennoch gibt Jehova dem Volk am Ziel ihrer Pilgerschaft,
an der Grenze des gelobten Landes, ein solches Zeugnis. Man
könnte es wohl begreifen, wenn dieses am Ufer des Roten
Meeres geschehen wäre; aber jetzt am Ende ihrer Reise, nachdem Er sie vierzig Jahre hindurch mit so großer Geduld getragen und vierzig Jahre hindurch ihre Hartnäckigkeit gesehen
hatte, von ihnen sagen zu hören: „Wie schön sind deine Zelte,
Jakob, deine Wohnungen, Israel!" Das übersteigt in der Tat
alle Begriffe. Und dennoch sind es die Aussprüche Gottes.
Waren denn solche Schönheiten und Liebenswürdigkeiten an
Israel zu entdecken? Waren ihre Zelte so schön, ihre Wohnungen so rein? War Jakob so mächtig, daß er die Heiden zu
vernichten vermochte?
Ach! man lese die Geschichte dieses Volkes nur, und man wird
nichts als Sünde, Schwachheit und Untreue finden. Jedoch das,
was wir hören, sind dennoch die Gedanken Gottes über Israel;
es ist Sein Ratschluß, der hier kundgemacht wird; es ist die
Beschreibung des Zustandes, worin Er das Volk erblickt. Und
alles dieses hat seinen Grund in Seiner Verheißung; das Volk
war und blieb Sein Volk; und obwohl Er die Sünden des
Volkes strafte und ihre Ungerechtigkeit fortwährend tadelte,
blieb dennoch Sein Zeugnis: „Wie schön sind deine Zelte,
Jakob, deine Wohnungen, Israel!"
So handelt der Herr; Seine Gnade ist von nichts abhängig.
Israel stand vor Ihm, so wie Er es Sich auserwählt hatte; und
nichts störte Ihn, es so zu betrachten. Seine Gedanken sind
nicht unsere Gedanken. Gottlob, daß es so ist.
194
Und nun, geliebte Brüder! Dies ist zu unserer Belehrung geschrieben. Ist diese Geschichte nicht ein treffendes Bild der
unveränderlichen Treue Gottes gegenüber Seiner Versammlung? Hat die Versammlung sich nicht eben dieser Treue ihres
Herrn zu rühmen, wie einst Israel? Wir wollen es näher untersuchen! Richten wir nur unseren Blick auf den Brief an die
Epheser, und wir finden jenes herrliche Zeugnis, das der Heilige Geist bezüglich des Wesens und Charakters der Versammlung ausstellt. Sie ist vor Grundlegung der Welt auserwählt,
daß sie heilig und tadellos sei vor Gott in Liebe; sie ist so vollkommen eins mit Christo, daß sie die Fülle dessen genannt
wird, der alles in allem erfüllt. Mit Christo auf erweckt, befindet
sie sich in Ihm in den himmlischen örtern. Sie ist das Werk
Gottes, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken. Obschon
sie noch auf Erden wandelt, hat sie in Christo ihren Platz im
Himmel und stellt hier die Wohnstätte oder das Haus Gottes
dar, aufgebaut auf die Grundlage der Apostel und Propheten,
indem Jesus Christus selbst Eckstein ist. Sie hat hienieden die
Verantwortlichkeit, sich als reine Jungfrau zu erweisen, sich
nicht mit der Welt zu vermengen, sondern untereinander die
Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens.
Alles, was sie zu ihrem Wachstum, zu ihrem Tröste und zu
ihrer Ermahnung bedarf, wird ihr in verschiedenen Gaben
dargereicht, die der Heilige Geist in den Gliedern wirkt. Alle
Glieder sind durch einen Geist zu einem Leibe getauft (1. Kor
12, 13), wohl zusammengefügt und befestigt (Eph 4, 16), so
daß sie in allem befähigt sind, ihrer Berufung nachzukommen.
Ohne Flecken und Runzel steht sie bereits in Christo vor Gott.
Und auf welchem Wege hat Gott sie zu solch unaussprechlicher
Herrlichkeit geführt?
Der Sohn Gottes verließ die Herrlichkeit Seines Vaters, um,
gleich einem Kaufmann, jene köstliche und für Sein Herz so
wertvolle Perle zu suchen. Und kaum hatte er sie gefunden,
so verkaufte er alles, was er besaß — Seine himmlische und
irdische Herrlichkeit, Seine Ehre, Seine Macht, sogar Sein
eigenes Leben — um in ihren Besitz zu gelangen. Ja, um den
teuren Preis Seines kostbaren Lebens ist sie Sein Eigentum
geworden. Wieviel Kampf, wieviel Leiden und Schmerzen hat es
195
Ihn gekostet, um sie von der schrecklichen Macht der Sünde
und der Knechtschaft Satans frei zu machen! Aber wie schrecklich groß auch das Leiden war, Er hat dennoch überwunden;
und jetzt ist sie eins, vollkommen eins mit Ihm, so daß weder
Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch
Tiefes noch irgend ein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist,
unserem Herrn" (Röm 8, 38—39).
Aber — laßt uns fragen — ist die Versammlung ihrer Berufung
treu geblieben? Hat sie ihre himmlische Stellung beständig
eingenommen und behauptet? Hat sie die Einheit des Geistes
in dem Bande des Friedens bewahrt? Ach, jeder, der ihre Geschichte im Lichte Gottes betrachtet, wird dies unverzüglich
verneinen müssen. Wie einst Israel, so hat auch sie sich von
Gott abgewandt. Nachdem sie allerlei Verkehrtheiten und Irrlehren eingelassen und in ihrer Mitte geduldet hatte, hat sie
sich auch noch obendrein mit der Welt vereinigt, hat das ganze
römische Reich in sich aufgenommen und sich in zahlreiche
Parteien zersplittert. Das Haus Gottes, das aus lebendigen
Steinen, aus Gliedern des Leibes Christi zusammengefügt sein
sollte, ist einem großen Hause, mit Gefäßen zur Ehre und zur
Unehre gleich geworden, so daß nur Verwirrung und Unordnung dem Auge begegnen. Sie, die einer Kerze auf einem
Leuchter, oder einer Stadt auf einem Berge gleichen sollte,
ist unsichtbar geworden. Wo schaut man da noch ihre einstige
Liebenswürdigkeit und göttliche Schönheit? Ach! sie hat sie
abgestreift durch eigene Schuld.
Fährt Gott aber dennoch fort, sie mit denselben Blicken der
Liebe und Zärtlichkeit anzuschauen? Bleibt Sein Zeugnis über
sie dennoch unverändert das gleiche? O welch ein Glück, daß
wir diese Frage mit Zuversicht bejahen dürfen! Seine Gedanken sind unwandelbar. In Seinen Augen ist die Versammlung, deren Haupt Jesus sie mit Seinem Blute erkauft hat,
noch ebenso vollkommen, wie sie mit Ihm aus dem Grabe
auferstanden ist. Alle wahren Glieder von ihr sind, wie verschieden sie auch voneinander sein mögen, von Ihm gekannt
und mit einer unendlichen Liebe geliebt.
196
Das Wort Gottes lehrt uns dies in treffender Weise. Ungeachtet der vielen Verkehrtheiten der Korinther sagt der
Heilige Geist: „ . . . aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt in dem Namen des Herrn
Jesu und durch den Geist unseres Gottes" (1. Kor 6, 11). Trotz
der unter ihnen herrschenden Uneinigkeit, so daß eine Spaltung in naher Aussicht stand, lesen wir: „denn auch in einem
Geist sind wir alle zu einem Leibe getauft worden" (1. Kor
12, 13). So stand es damals, so steht es jetzt um die Versammlung. „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen."
Jesus ist ihr Haupt, und sie ist Sein Leib. Alle Glieder dieses
Leibes sind mit dem Haupt und so auch untereinander verbunden. So sieht Gott sie an, weil Er sie in Ihm erblickt. Weil
Christus die Versammlung geliebt und Sich selbst für sie hingegeben hat, wird Er sie Sich selbst als eine Versammlung
darstellen, die weder Flecken noch Runzel hat (Eph 5, 27). Und
ebenso, wie Er dereinst das Hochzeitsmahl mit ihr feiern wird,
erblickt Er sie jetzt in voller Schönheit, obwohl sie noch auf
Erden wandelt. Wie viele Mängel Er in ihr auch sehen mag,
wie viele Sünden in ihr auch offenbar werden mögen, so bittet
Er doch immerdar für sie, daß der Vater sie in Seinem Namen
bewahren möge (Joh 17). Wie sehr sich auch ihre Glieder zerstreuen und in die verschiedenartigsten Parteien auflösen und
zersplittern mögen, so betrachtet Er sie doch alle als durch
einen Geist zu einem Leibe getauft. Er wird nie aufhören sie
so anzusehen, wie sehr Ihn auch die Spaltungen betrüben, die
eine so trostlose Erscheinung bilden.
O, welch ein Trost für alle, die darüber ein Verständnis haben!
Dieses glückselige Bewußtsein wird sie fest und standhaft erhalten bei dem betrübenden Anblick der zahllosen Gebrechen,
Sünden und Sekten. Obwohl sie mit Recht trauern und seufzen
werden, wenn sie auf die vielen Parteiungen blicken, die nur
der Unwissenheit, der Selbstsucht und dem eitlen Ruhm ihre
beklagenswerte Entstehung verdanken, so werden sie sich doch
getrieben fühlen, frohlockend anzuerkennen, daß es dennoch die
Versammlung Gottes ist, und daß dennoch alle wahren Glieder
durch einen Geist zu einem Leibe getauft sind. Wie einst von
der Höhe des Felsens das Wort Jehovas herniedertönte: „Wie
schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!" — so
197
wird auch jetzt ihr Ohr durch den Glauben das ermutigende
Zeugnis vernehmen, das Gott von der Versammlung zeugt.
Und dieses Bewußtsein wird ihren Mut stärken, um trotz allen
Widerstrebens der Widerwärtigen nach Gottes wohlgefälligem
Willen zu wandeln und sich von allen Gefäßen zur Unehre zu
reinigen, indem sie sich von allen Parteien fern halten und die
Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens bewahren.
Die Erkenntnis dieser herrlichen, trostreichen Wahrheit, daß
die Gedanken Gottes über die Versammlung, mögen auch die
Zeiten und die Umstände sich ändern, stets unverändert dieselben bleiben, muß unbedingt von den gesegnetsten Folgen
begleitet sein. „Wer diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich
selbst, gleichwie er rein ist" (I.Joh 3,3). Wie wäre es möglich, daß
jemand, der von der Liebe erfaßt ist, sagen könnte: „Nun, dann
kann ich meine eigenen Wege gehen und nach Belieben handeln; denn, da ich einmal angenommen bin, hängt nichts
davon ab, ob ich sündige oder nicht!" Könnte ein wahrer
Christ so sprechen? Wie ernst ist das Wort des Apostels, wenn
er, um die Korinther von der Sünde abzumahnen, ausruft:
„Wisset ihr nicht, daß euer Leib der Tempel des Heiligen
Geistes ist? . . . Denn ihr seid um einen Preis erkauft" (1. Kor
6, 19. 20). Und was ist der Zweck unserer Berufung? Sind wir
nicht berufen, dem lebendigen Gott in allem zu dienen? Dies
muß und wird unbedingt und notwendig das Bedürfnis des
neuen Menschen sein. Das Bewußtsein der unveränderlichen,
unendlichen Liebe und Treue Gottes wird unvermeidlich das
Kind Gottes zu einem heiligen, würdigen Wandel antreiben.
So auch hier. Sobald wir in Wahrheit verstanden haben, daß
die Gedanken Gottes über Seine Versammlung stets unverändert dieselben geblieben sind, wird das ohne Zweifel die
Folge haben, daß wir beim Anblick der Spaltungen und Parteiungen uns tief demütigen und fortan, sei es auch in Schwachheit, diesen Gedanken einer ewigen Liebe durch einen würdigen Wandel zu begegnen trachten. Wir werden dann unmöglich ruhig bleiben können, wenn wir uns sagen müssen,
daß wir in Gemeinschaft mit Gefäßen zur Unehre das Abendmahl des Herrn feiern, oder daß wir Glieder irgendeiner Sekte
sind, da doch nach dem Willen Gottes einerseits Seine Ver198
Sammlung rein und unbefleckt von der Welt bleiben soll, und
andererseits alle Glieder durch einen Geist zu einem Leib
getauft sind. Und ebenso wird man auch um derselben Ursache
willen keine Ruhe haben, wenn man eigenwillig für sich allein
dasteht oder sich nicht mit solchen vereinigen will, die nur als
Gläubige im Namen Christi zusammenkommen. Man wird
dann fühlen, daß man mit allen Christen, wie verschieden und
abweichend auch ihre Meinungen in diesen oder jenen untergeordneten Punkten sein mögen*), eins ist und sich daher auch
als eins offenbaren soll. Selbstredend haben die Glieder eines
Leibes nicht erst nötig, eine Vereinigung herzustellen, um eins
zu werden: sondern sie haben nur die von Gott gewirkte Einheit anzuerkennen und die Einheit des Geistes durch das Band
des Friedens zu bewahren.
Sobald die Gedanken Gottes unsere Gedanken sind (und wenn
sie es nicht sind, so stehen wir, anstatt eins mit Ihm zu sein,
Ihm feindlich gegenüber), werden ohne Zweifel die vielen
Vereine, Gesellschaften, Parteien ec. sich von selbst auflösen,
und wir werden mit anderen Christen jene Einheit hienieden
verwirklichen, um derentwillen der Herr Jesus so rührend zu
Seinem Vater flehte (Joh 17). Und auf diesem Wege würde
sich die Einheit durch das Verharren in der Lehre der Apostel,
in der Gemeinschaft, in dem Brechen des Brotes und in den
Gebeten kundgeben; und man würde es lernen, sich einander in Liebe zu ertragen, und sich in der Gemeinschaft nicht
stören zu lassen trotz der verschiedenen Charaktere, Fehler
und Meinungen der einzelnen Glieder. Warum? Weil wir dann
uns untereinander in Christo beschauen und in dieser Weise miteinander verkehren würden. Dann würde unser verherrlichtes
Haupt der Mittelpunkt unserer Herzen sein können, und wir,
von Seinem Lichte bestrahlt, würden wie Lichter in der Welt
erscheinen und unser Licht leuchten lassen.
Möge der Herr uns allen darüber das Verständnis erleuchten!
Nur dann werden wir aus der Prophezeiung Bileams die herrliche Lehre zu schöpfen vermögen, daß Gottes Gedanken, trotz
aller Wandlungen der Zeiten und der Umstände, stets unverändert dieselben bleiben und daß wir uns stets diesen Ge-
*) Natürlich sind solche, die eine offenbare Irrlehre bekennen, davon
ausgeschlossen.
199
danken entsprechend zu verhalten haben, wenn wir nicht mit
Ihm und Seinem heiligen Wort in Widerspruch kommen
wollen. Trotz des Unglaubens in unseren Tagen, trotz der
traurigen Verwirrung in der Versammlung Gottes und trotz
des allgemeinen Abweichens von der Einfalt des Wortes Gottes,
das man, wie man sagt, nach den jetzigen Bedürfnissen ausbeutet, — trotz all dieser Erscheinungen bleiben die Gedanken
Gottes der Fels, auf dem wir unbeweglich fest stehen können,
und sind die einzige Quelle, die unser Herz mit überschwenglichem Tröste erfüllen kann.
Das Gewissen und die Offenbarung
(Man lese 1. Mo 3, 7—21)
Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Gewissen des
Menschen und der Offenbarung Gottes — ein Unterschied, der
eine sorgfältige Betrachtung verdient. Die Heilige Schrift stellt
ihn in deutlicher Weise vor unsere Augen. Der Mensch
empfing sein Gewissen in seinem Falle und durch seinen Fall.
Diese eine Tatsache genügt, um die wirkliche Natur des Gewissens zu zeigen. Infolge seines Ungehorsams wurde der
Mensch in den Besitz von dem gesetzt, das man Gewissen
nennt, und das einfach die „Erkenntnis des Guten und Bösen"
ist. Vor dem Falle kannte der Mensch nur das Gute. Er bewegte
sich in einer Szene, in der Gott gesagt hatte, daß alles „sehr
gut" sei. Das Böse fand keinen Raum in dieser herrlichen
Schöpfung. Die Spuren der „ewigen Macht und Gottheit"
waren auf allen Seiten sichtbar. Jedes Blatt, jede Blume, jeder
Baum, jeder Strauch, jeder Grashalm — alles stand auf seinem
Platze und legte Zeugnis ab von der Güte Gottes. Jeder Vogel
sang zum Preise seines Schöpfers. Nicht die geringste Spur
eines bösen Elements war in jener Sphäre zu entdecken, über
die der Mensch als Herrscher ausersehen war; und darum
kannte der Mensch auch nichts von dem Unterschied zwischen
„Gutem und Bösem", bis er auf die Stimme des Versuchers
hörte. Kurz, er empfing sein Gewissen in seinem Fall und durch
seinen Fall.
200
Und was war die erste Wirkung des Gewissens? Es sagte dem
Menschen, daß er „nackt" sei. Er hatte vorher nichts davon
gewußt. Das Gewissen deckte es ihm auf. Weiter vermochte es
nichts. Es konnte ihn mit keiner Bedeckung versehen. Es brachte
ihm nur die trostlose Kunde seiner Nacktheit. Es vermochte
dem gefallenen Adam nichts anderes zu berichten; und es hat
nie etwas anderes irgendeinem schuldigen Nachkommen Adams
zu berichten vermocht. „Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie erkannten, daß sie nackt waren" (1. Mo 3, 7).
Das war alles, was sie erlangten, als sie auf die Stimme der
Schlange gehorcht hatten. Sie hatten früher nie an ihre Nacktheit gedacht. Das Gewissen war in Tätigkeit. Die Unschuld
war geflohen, um nie wiederzukehren; und das Gewissen mit
all seinen erschreckenden Kräften war eingetreten, um sie ihren
Zustand fühlen zu lassen und ihre Herzen mit Furcht zu erfüllen.
Und beachten wir es, daß das Gewissen es hier mit ihrem wirklichen, gegenwärtigen Zustand zu tun hatte. Es teilte ihnen
nichts über das mit, was sich auf Gott bezog. Es redete nur
von dem, was in ihnen war. Es brachte keine frohe Botschaft
von außen, keine ermunternde Kunde von dem Dasein einer
über und neben ihnen sprudelnden Quelle, aus der ihre armen,
erschrockenen Herzen hätten Trost schöpfen können. Sie hatten
ihr Gewissen erlangt, nachdem sie der Lüge Satans, der ihnen
Gott zu verdächtigen suchte, ihr Ohr geliehen hatten; und
daher war es unmöglich, daß das Gewissen einen einzigen
Lichtstrahl in ihre beunruhigten Seelen hätte bringen können.
Will man sich von der Wirkung des Gewissens auf den Menschen überzeugen, so hat man nur zu untersuchen, in welcher
Weise er in seinen Besitz gekommen ist. Es gibt etliche, die
meinen, daß das Gewissen, falls es sich selbst überlassen sei,
den Menschen sicher zu Gott hinführen werde. Wie aber wäre
das möglich? Finden wir eine solche Wirkung bei Adam? In
der Tat, wenn je die wahre Wirkung des Gewissens erkannt
werden kann, so stellt sie sich uns in 1. Mo 3 in ganzer
Deutlichkeit vor Augen. Führte das Gewissen den gefallenen
Adam zu Gott hin? Gerade das Gegenteil. Wie wäre es möglich gewesen, daß das, was seinen Ursprung dadurch empfing,
daß der Mensch einer Lüge in betreff Gottes glaubte, je eine
Seele in die Gegenwart Gottes hätte leiten können? Es redete mit
201
ihnen über ihren eigenen Zustand; aber es war außerstande,
etwas über den Charakter Gottes zu berichten. Die Erkenntnis
meines eigenen Zustandes ist eine ganz andere Sache, als die
Offenbarung des Charakters Gottes.
„Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie erkannten,
daß sie nackt waren; und sie hefteten Teigenblätter zusammen
und machten sich Schürzen. Und sie hörten die Stimme Jehovas
Gottes, der im Garten wandelte bei der Kühle des Tages. Und
der Mensch und sein Weib versteckten sich vor dem Angesicht
Jehovas mitten unter die Bäume des Gartens" (1. Mo 3, 7—8).
Das Gewissen erschreckte sie und scheuchte sie von Gott
hinweg. Satan hatte ihnen zugeflüstert, daß Gott nicht gütig
sei, da Er ihnen die Frucht des Baumes der Erkenntnis des
Guten und Bösen vorenthalte. Er verleumdete Gott; und
der Mensch glaubte seiner Lüge. Hier ist die Wurzel der gefallenen Menschheit. Hier ist der alte Stamm, aus dem die
Zweige der verderbten Natur hervorgesprossen sind. Der nicht
wiedergeborene Mensch ist geformt und gebildet aus der Lüge
der Schlange. Nicht nur in seinen Handlungen und Worten
beweist er sich als ein gefallenes Geschöpf. Seine geheimen
Gedanken in bezug auf Gott und seine innersten Gefühle gegen
Ihn sind die bejammernswerten Beweise seines verlorenen
Zustandes.
Nun, mein teurer Leser, erlaube mir, Dir einige Fragen vorzulegen. Welches sind Deine verborgenen Gedanken in bezug
auf Gott? Hältst Du Ihn für einen Gott des Zorns? Würdest
Du es schrecklich finden, allein in Seiner Gegenwart zu sein?
Betrachtest Du Ihn als einen zürnenden Richter, der eine Ursache wider Dich sucht, das Schwert des Gerichts über Deinem
Haupte gefaßt hält und dem Augenblicke entgegenharrt, um
Dich in den Feuersee zu werfen? Wenn das die verborgenen
Gedanken Deines Herzens in bezug auf Gott sind, so kann ich
Dir mitteilen, daß es die gleichen Gedanken waren, die Adam
und Eva veranlaßten, sich hinter den Bäumen des Gartens zu
verbergen. Die Schlange hatte den wahren göttlichen Charakter in ihren Augen verfälscht; und die Folge davon war, daß
sie sich vor Gott fürchteten und bei dem bloßen Schall der
Stimme Gottes davonflohen, um sich zu verbergen. „Ich hörte
deine Stimme im Garten, und ich fürchtete mich; denn ich. bin
202
nackt; und ich versteckte mich" (V. 10). Das ist die Quelle von
all jenen finsteren, trüben und mißtrauischen Gedanken, die
den menschlichen Geist erfüllen in bezug auf den hochgepriesenen Gott, auf den ewigen Brunnquell aller Güte, auf den
Vater der Barmherzigkeit, auf den Gott alles Trostes, auf den,
der den wunderbaren Plan der Erlösung erdachte, offenbarte
und ausführte.
Richten wir jetzt für einige Augenblicke unsere Aufmerksamkeit auf die Weise, in der Gott Sich selbst offenbart. Kaum war
die Lüge Satans in das Herz des Menschen gefallen, so stieg
auch schon „Jehova Gott" hernieder, um Widerspruch dagegen
zu erheben. Es ist von hohem Wert, dies sorgfältig zu erwägen.
Treten wir nahe herzu und horchen wir mit gespannter Aufmerksamkeit auf alles, was sich in dem Garten zutrug. Nehmen
wir es tief in unseren Herzen auf. Vielleicht werden manche
der Meinung Raum geben, daß Jehova Gott herabgestiegen sei,
um den Menschen aus seinem Schlupfwinkel hervorzutreiben,
damit er sein Urteil empfange. Wo aber finden wir solches in
dieser göttlichen Mitteilung? Möge der Leser nur mit Aufmerksamkeit das uns vorliegende Kapitel durchlesen und sich
dann fragen, ob er irgendeinen Grund für eine solche Behauptung gefunden hat. Ach, es steht zu befürchten, daß ein solcher
Gedanke derselben Quelle entspringt, aus der die Furcht
Adams entsprang. Das menschliche Herz deutet mit Bestimmtheit alle Dinge in einer Weise, die Gott zuwider ist. Man veranlasse nun einen nichtwiedergeborenen Menschen, irgendeinen Text auszulegen, oder irgendeine Handlung der Vorsehung zu erklären, und man darf versichert sein, daß er das
eine wie das andere in einer Weise ausführt, die dem göttlichen
Charakter völlig fremd ist. Woher ist diese Neigung gekommen, um so zu handeln? Von dem Feinde Gottes und des
Menschen. Möge sich niemand darüber täuschen. Das natürliche Herz ist mit Haß gegen Gott erfüllt. Es steht unter der
Herrschaft der Lüge Satans. Gehe hin, wohin Du willst; verweile bei jeder Form einer menschlichen Religion, die Dir am
besten zusagt, betrachte den Menschen in jedem Verhältnis,
welches es geben mag, — und Du wirst unter allen Umständen
und ohne Ausnahme finden, daß das menschliche Herz schlechte
Gedanken in bezug auf Gott hat. „Herr, ich kannte dich, daß
203
du ein harter Mann bist", sagte der Mann im Evangelium; und
das ist stets die Sprache des Menschen hinsichtlich Gottes.
Wenn wir jetzt mit Aufmerksamkeit die Szene in jenem Garten
prüfen, so werden wir finden, daß Gott der Herr in der Tat
herniederkam, um dem Feinde zu widersprechen und ihn zu
vernichten, aber auch, um sich des Menschen als eines beschädigten Wesens anzunehmen. Allerdings war der Mensch auch
ein schuldiges, strafwürdiges Geschöpf; und Gott mußte, in
Ausübung seiner moralischen Regierung, ihn ernten lassen,
was er gesät hatte; jedoch müssen wir einen Unterschied
machen zwischen der Regierung Gottes über die Welt und
Seiner Gewalt dem Sünder gegenüber. Es ist deutlich ins Licht
gestellt, daß Gott, der zuerst als der Schöpfer des Menschen
erscheint, jetzt als der Freund des Menschen hervortritt. Er
erscheint, um zu Gunsten des Sünders ins Mittel zu treten, und
um ein ewiges Urteil über die Schlange zu fällen. Die Schlange
war es, die das Unglück herbeigeführt hatte; und sie war es,
deren Haupt zertreten werden mußte. Sie hatte den Menschen
befleckt, und der Mensch mußte sie unter seinen Füßen zermalmen. Sie hatte es gewagt, sich in die Schöpfung Gottes
einzumengen; und von dieser Schöpfung mußte sie den Staub
fressen. Sie hatte Gott beschuldigt, daß Er dem Menschen
eine Frucht vorenthalte, und Gott erklärt, daß Er Seinen Sohn
geben wolle. Mit einem Wort, „Jehova Gott" war, als Er „im
Garten wandelte bei der Kühle des Tages", nur als der Freund
des Sünders erschienen. Er war gekommen, um völligen und
unmittelbaren Widerspruch gegen die Lüge Satans zu erheben.
Er war gekommen, um den Streit aufzunehmen und ihn zu
einer Frage zwischen Sich und der Schlange zu machen. Von
jetzt an werden wir, wenn wir den Strom der Zeit verfolgen,
und den Blick über die Blätter des Wortes Gottes gleiten lassen,
stets eine ununterbrochene Reihe von Handlungen finden, die
berechtigt sind, die schmutzige, gotteslästerliche Verdächtigung,
die der Feind gegen den Charakter Gottes erhob, in das Gesicht
Satans zurückzuschaudern und die mit strahlenden Buchstaben
die Inschrift tragen: „Gott ist Liebe!" — So war es in der Vergangenheit; und wenn wir den Blick auf die Zukunft richten,
wenn wir eine Ewigkeit voller Herrlichkeit gewahren, wo alles
auf der einen Grundlage, nämlich auf dem „Blute des Kreuzes"
204
ruht, dann werden wir den Unterschied zwischen der Lüge
Satans, dem Gewissen des Menschen und der Offenbarung
Gottes einigermaßen verstehen.
Dies alles läßt die große Frage bezüglich der Regierung Gottes
über die Welt gänzlich unberührt. Wie wir wissen, mußte das
Ohr des Weibes lauschen auf die feierliche Erklärung: „Ich
werde sehr groß machen die Mühsal deiner Schwangerschaft,
mit Schmerzen sollst du Kinder gebären; und nach deinem
Manne wird dein Verlangen sein, er aber wird, über dich herrschen" (1. Mo 3, 16), während an Adam das ernste Wort gerichtet wurde: „Weil du auf die Stimme deines Weihes gehört
und gegessen hast von dem Baume, von dem ich dir geboten
und gesprochen habe: Du sollst nicht davon essen, — so sei der
Erdboden verflucht um deinetwillen: mit Mühsal sollst du
davon essen alle Tage deines Lebens; und Dornen und Disteln
soll er dir sprossen lassen, und du wirst das Kraut des Feldes
essen. Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen,
bis du zurückkehrst zur Erde, denn von ihr bist du genommen.
Denn Staub bist du, und zum Staube wirst du zurückkehren"
(1. Mo 3, 17—19)! — Hier haben wir also die alte Schöpfung,
und in ihr den Zustand des Menschen. Arbeit und Schmerzen,
der Tod und der Fluch — das ist das finstere Geleit der alten
Schöpfung und des gefallenen Menschen.
Doch hiermit war die Szene nicht geschlossen. Gott offenbarte
Sich Selbst. Mit heiliger Ehrfurcht auf die „schrecklichen"
Räder der moralischen Regierung Gottes den Blick zu richten,
ist etwas anderes, als zu lauschen auf die süßen Geheimnisse
Seines mit Liebe erfüllten Herzens. Die Regierung Gottes mag
öfter in eine finstere, geheimnisvolle Wolke, die der beschränkte Geist nie zu durchdringen vermag, eingehüllt sein;
aber Seine Liebe erleuchtet in lebhaften Strahlen alles ringsumher. Vor der Regierung Gottes beugt der Glaube das Haupt,
während er sich sonnt im Lichte Seiner Liebe. Wir sind nicht
berufen, die Geheimnisse der Regierung Gottes zu enthüllen;
aber wir haben das Vorrecht, uns Seiner Liebe zu erfreuen.
Wir sind die Untertanen bezüglich der Regierung, und wir sind
die Gegenstände hinsichtlich der Liebe. Jeder Leser sollte sich
klar sein über den Unterschied zwischen Handlungen Gottes
in der Regierung und den Handlungen Gottes im Evangelium.
205
Diese Unterscheidung wird nicht genügend beachtet, und daher
kommt es, daß so viele Seelen verwirrt sind und daß so viele
Stellen der Schrift nicht verstanden und so viele Handlungen
der Vorsehung fälschlich gedeutet werden. Wenn wir nur auf
Gott, als handelnd in Seiner Regierung, unseren Blick richten,
so werden wir Ihn nie kennen. Wenn wir Ihn am Kreuz sehen,
so verstehen wir Seine Liebe und erkennen Ihn als einen „gerechten Gott und Heiland." Welch eine köstliche, beseligende,
belebende Erkenntnis! Wenn unsere Blicke nur auf einer Welt
voll Sünde und Elend, voll Krankheit und Tod, voll Armut und
Unglück ruhen dürften — auf einer Welt, in der wir gar oft den
Gerechten leiden und den Gottlosen triumphieren sehen, wie
könnten wir dann Gott kennenlernen? Unmöglich. Nur im
„Angesicht Jesu Christi" hat Gott Sich selbst dem Herzen des
Sünders geoffenbart. Und ach! wer kann die Glückseligkeit
beschreiben, die jemand, nachdem er unter der zermalmenden
Bürde des anklagenden Gewissens lange geseufzt hat, in den
vollen Strahlen der göttlichen Offenbarung findet! Ja sicher,
für einen solchen, der die Schrecken und die Angst unter den
Geißelungen jenes inneren Anklägers erfahren hat und sich
nun in den Armen der erlösenden Liebe geborgen findet, hat
der Himmel auf Erden begonnen. Wie könnte es anders sein?
Wenn ich finde, daß Gott meine Sache wider Satan, ja, wider
mich selbst übernimmt; wenn ich sehe, wie Er, und zwar in
einer Weise, die Ihn Selbst verherrlicht, meiner straffälligen
Seele Sein liebevolles Herz öffnet, dann muß unausbleiblich
Sein Friede mich erfüllen und unaussprechliche Freude mein
Teil sein.
Wir sehen also im Blick auf Adam, daß das Gewissen ihn erschreckte und ihn antrieb, sich zu verstecken, während die
Offenbarung Gottes sein Herz mit Vertrauen erfüllte und ihn
aus seinem Versteck hervorlockte. Und so ist es in jedem Fall.
Das Gewissen kann niemals einen Menschen mit Gott bekanntmachen. Nur die Offenbarung ist dazu imstande. Das
Gewissen hat es mit dem eigenen Ich, die Offenbarung aber
hat es mit Gott zu tun. Das Gewissen richtet das Auge nach
innen auf uns selbst, die Offenbarung richtet es nach außen
auf Gott. Das Gewissen erschreckt mich durch die Mitteilung
der Tatsache, daß ich nicht bin, was ich sein sollte, während
206
die Offenbarung mich beruhigt durch die Versicherung dessen,
was Gott ist. Ich bin ein Sünder, und Er ist ein Erlöser. Er
begegnet mir in Jesu, und alles ist für ewig in Ordnung gebracht. Als Adam und Eva den lieben Tönen der göttlichen
Offenbarung das Ohr liehen, da verließen sie alsbald ihren
Schlupfwinkel und flogen, sozusagen, in die Arme der göttlichen Liebe, um dort göttliches Leben zu empfangen und mit
göttlicher Gerechtigkeit bekleidet zu werden. Nicht durch die
Hand der Gerechtigkeit wurden sie aus ihrem Versteck getrieben, nein, ein Herz voll Liebe führte sie heraus. Jehova Gott
Selbst war der erste Prediger des Evangeliums; und Adam und
und Eva waren die ersten Zuhörer und wurden beide bekehrt.
Welch ein Prediger! Welche Zuhörer! Welche gesegneten
Früchte!
Und beachten wir es, daß die wahre Stellung, die ein Sünder in
der Gegenwart Gottes einzunehmen hat, stets die eines Hörers
ist. „Hören will ich, was Gott, Jehova, reden wird" (Ps 85, 8).
Den Platz eines Arbeiters einnehmen zu wollen, bevor man
den eines Hörers eingenommen hat, heißt die Ordnung Gottes
umkehren und alles in Verwirrung bringen. Adam versuchte
diesen Weg und ging irre; seine „Werke" waren nur nutzlose
„Feigenblätter". Er konnte weder sein Gewissen befriedigen,
noch seine Furcht verscheuchen. Er mußte lauschen auf die
Stimme Gottes, horchen auf die göttliche Offenbarung. Und
was lehrte ihn diese Offenbarung? Daß trotz allem Gott sein
Freund war, daß gerade Er, den die Schlange als ungütig
dargestellt hatte, im Begriff war, für ihn einen Erlöser und für
den Kopf der Schlange einen Zertreter zu bestimmen. Kein
Wunder, daß er dadurch aus seinem Versteck hervorgelockt
wurde. Die Liebe Gottes gab ihm Vertrauen, so daß er sein
Weib Eva, d. i. die „Mutter aller Lebendigen", nennen konnte.
Und das war nicht alles. „Und Gott der Herr machte Adam
und seinem Weibe Röcke von Teil und bekleidete sie" (V. 21).
Adam war in den Besitz des Lebens und der Gerechtigkeit
dadurch gelangt, daß er die Offenbarung Gottes einfach hörte
und glaubte. Würde er wohl infolge der Eingebung seines
Gewissens dazu gelangt sein? Unmöglich. Wie hätte ein Toter
in den Vergehungen und Sünden für sich göttliches Leben und
göttliche Gerechtigkeit hervorbringen können? Beides konnte
207
nur von Gott kommen. Der Mensch konnte weder das eine
noch das andere erlangen; aber Gott offenbarte beides und
Jer Glaube nahm die Offenbarung auf.
Möge der Herr den Leser befähigen, den Unterschied zwischen
dem Gewissen des Menschen und der Offenbarung Gottes
deutlich zu verstehen! Möge Er ihn die Glückseligkeit genießen
lassen, kindlich einfältig auf dem ewigen Worte Gottes zu
ruhen.
Die unmittelbare
und vollkommene Erlösung
„Einer aber der gehenkten Übeltäter lästerte ihn und sagte:
Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns! Der
andere aber antwortete und strafte ihn und sprach: Auch du
fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? Und wir
zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten wert
sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan. Und er sprach
zu Jesu: Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reiche
kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir:
Heute wirst du mit mir im Paradiese sein" (Lk 23, 39-43).
Welch eine liebliche Szene! Wer hätte sie auf Golgatha erwartet? Wer hätte gedacht, daß dieser Ort des Leidens und
Schmerzes noch ein Schauplatz der Errettung eines Sünders
werden könnte? Wer hätte, als die Übeltäter an ihre Kreuzespfähle geheftet wurden, vermutet, daß einer von ihnen noch
am selben Tage in ungestörtem Genuß bei Jesu im Paradiese sein
werde? Wer hätte die Möglichkeit geahnt, daß einer dieser
Räuber so plötzlich zu einem passenden Paradies-Bewohner
umgewandelt werden könnte? Nein, eine solche unmittelbare,
vollkommene Erlösung, eine so gründliche Liebe übertrifft alles,
was Menschen, ja selbst Engel sich denken können. Wir finden
hier die Gedanken Gottes, wir finden hier das Herz Jesu. Laßt
uns diese Gedanken, dieses Herz näher betrachten und anbeten!
1. Die Geschichte des Übeltäters liefert uns einen Beweis von
der Liebe Jesu. Der Herr hing am Kreuze, beladen mit unseren
Sünden und für uns zur Sünde gemacht. Er trug die ganze
208
Schwere des Zornes Gottes und unterwarf sich dem Gericht, das
uns treffen würde. Er, der Heilige und Gerechte litt und fühlte
diese Leiden in ihrer ganzen Ausdehnung. Er fühlte sie, wie
nie ein Mensch sie fühlen konnte. Er wurde von Gott verlassen,
und es erfüllte sich an Ihm, daß keine Antwort kam auf Sein
Schmerzensgestöhn, wogegen die Väter, die in ihrer Angst zu
Gott geschrieen hatten, Erhörung gefunden hatten (Ps 22). Er
wurde von Gott gestraft um unserer Sünden willen. Ohne
Zweifel gab es Ursache genug für Ihn, mit Sich Selbst beschäftigt zu sein; aber inmitten dieses Leidens vergaß Er Sich so
ganz, daß Er Seine rettende Hand einem zu Ihm rufenden
Sünder entgegenstrecken konnte. Wir finden hier mehr als in
der vorhergegangenen Nacht, wo Er Sein Leiden und Seinen
Kampf vergaß, um Seinen Jüngern zuzurufen: „Euer Herz
werde nicht bestürzt" (Joh 14, 1). Hier stand Er nicht mehr in
der Erwartung der Leiden; ach nein, sie hatten bereits begonnen. Er fühlte sie in ihrer ganzen Schrecklichkeit. Aber kaum
vernahm Sein Ohr den Ruf eines Missetäters, kaum entdeckte
Er in dessen Seele eine Erkenntnis der Sünde und ein aufrichtiges Verlangen nach Erlösung, da vergaß Er die eigenen
Leiden,, um der Not eines armen Sünders ein Ende zu machen.
Er erhörte dessen vertrauensvolle Bitte, und eine unmittelbare
Erlösung war die Folge.
Siehe, das ist das Herz Jesu! Erkenne darin Seine unerforschliche Liebe für Sünder! Diese Liebe gestattete Ihm nicht, einen
schuldbewußten, bußfertigen Sünder einen Augenblick vergeblich harren zu lassen. Sein Verlangen, Sünder zu retten, war
zu mächtig, als daß Er gegen deren Seufzer Sein Ohr verschließen und sie abweisen konnte. Sei es nachts oder in der
Wüste, sei es auf dem See oder am Kreuz. — Sein Herz war
stets willig, Seine Hand stets mächtig, Seine Antwort stets
bereit, um Unglücklichen mit Seiner Hilfe entgegenzukommen.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen"
(Joh 6, 37).
„Aber" — wird man mir vielleicht einwenden — „die Wege
Gottes sind doch sehr verschieden." — Allerdings. Der eine
wird durch ein Wort der Heiligen Schrift, der andere durch
äußere Umstände in seinem Gewissen getroffen; und Gott
gebraucht sogar manchmal die seltsamsten Mittel, um den
209
Sünder zum Stillstehen zu bewegen. Aber wenn man in diesen
verschiedenen Wegen Gottes die Zeit versteht, in der ein sich
selbst erkennender Sünder zögert, um die dargebotene Hand
der Rettung anzunehmen, so erkenne ich dieses entschieden
nicht an. Gott berührt das Gewissen des Sünders, um in ihm
ein Bedürfnis nach Gnade zu wecken und ihn zu Jesu zu
führen; aber wenn der Sünder selbst wirken will und die dargebotene Gnade verschmäht, dann widersteht er der Liebe
Gottes und wird dieses erkennen, sobald er im Glauben zu
Jesu kommt. Alle im Neuen Testament mitgeteilten Bekehrungen haben in kurzen Augenblicken stattgefunden; und das
ist von großer Bedeutung, weil Gott dadurch dem Menschen
jede Entschuldigung abschneidet. Der Missetäter war noch bis
zur Hälfte der Zeit ein Gotteslästerer; denn Matthäus erzählt
uns, daß beide Jesum beschimpften; und ohne die geringste
äußere Vorbereitung wurde sein Herz plötzlich durch die Gnade
getroffen und gab sich Jesu im Glauben hin.
In der Tat, das unmittelbare Entgegenkommen des Herrn liefert
einen Beweis von Seiner Liebe und läßt uns einen tiefen Blick
in Sein Herz tun. Dieser Mensch hätte sicher dann schon Ursache genug gehabt, die Liebe Jesu zu rühmen, wenn der Herr ihm
einen Platz in Seinem Reiche einräumte; aber das genügt Jesu
nicht. Er gibt ihm mehr, als er verlangt: Er begnadigt ihn, und
zwar nicht nach den Gedanken der Menschen, sondern nach
den Gedanken Gottes. Ein Platz in Seinem Reiche war Ihm
eine zu geringe Herrlichkeit für diesen Übeltäter; ihn erst dann
in Seiner Gegenwart zu haben, dauerte Ihm zu lange. Denn das
Reich sollte erst nach Jahrhunderten aufgerichtet werden; und
bis zu diesem Augenblick ist dies noch nicht geschehen.
(S. Apg 1, 6 und Offb 20.) Jesus wußte dies; und Er wollte
nicht, daß der Übeltäter noch so viele Jahre fern von Ihm
zubringen sollte. Noch an demselben Tage wollte Er ihn in
Seiner Nähe haben; noch denselben Abend sollte er mit Ihm
im Paradiese zubringen. Eine längere Trennung gestattete die
Liebe nicht. „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein." —
Unerforschliche Liebe! Das übertraf alle Erwartungen und
Wünsche des unglücklichen Mannes. Noch an demselben Tage
sollte er nicht nur von seinen Qualen befreit, sondern auch mit
Ihm, an dessen Seite er jetzt noch am Kreuze hing, die unaus210
sprechliche Ruhe des Paradieses genießen. Das war ihm vollkommen sicher. Einem solchen Freunde war er noch nicht begegnet. Und solch ein Freund ist Jesus für uns alle. Wie
bedeutungsvoll klingt das Wort: „Mit mir!" — Ja, mit Ihm,
der Sein Leben für uns hingab, der uns durch Sein Blut erkaufte, der uns suchte und fand, der unseren Hilferuf erhörte,
und der uns fortdauernd Gnade um Gnade verleiht; — mit Ihm
sollen wir im Paradiese sein. O unaussprechlich herrliches
Glück!
Wenn wir in Jesu entschlafen, so werden wir, wie wir es hier
deutlich sehen, ins Paradies eingeführt. Für die allgemein herrschende Vorstellung, daß die im Herrn Entschlafenen sogleich
in den Himmel eingehen, bietet uns die Heilige Schrift keinen
Grund. Erst wenn der Herr Jesus, wie Er Selbst sagt, unsere
Stätte in den vielen Wohnungen Seines Vaters bereitet hat,
wird Er wiederkehren und uns dorthin bringen, wo Er ist
(Joh 14). Unser Eintritt ist also nicht durch unseren Tod, sondern durch Seine Wiederkunft bedingt. Dann werden die Entschlafenen aus ihren Gräbern wieder hervorkommen, die Lebenden verwandelt werden und alle mit einem neuen herrlichen Leibe
bekleidet werden (1. Thess 4; 1. Kor. 15). Dann erst, wenn
wir Jesum schauen, wie Er ist und wir Ihm gleich sein werden
(1. Joh. 3, 2), wird die vollkommene Herrlichkeit erfüllt sein.
Bis zu jenem Augenblicke harren die Entschlafenen im Paradies
Seiner Ankunft entgegen und stehen darin den noch lebenden
Heiligen gleich, die gleicherweise auf Seine Erscheinung warten.
Dennoch werden sie im Paradiese glücklich sein. Allerdings
lüftet die Heilige Schrift den Schleier nur in geringem Maße,
das uns gestattet, einen Blick in diese Stätte der Ruhe zu tun;
aber das, was wir davon erfahren, reicht hin, zu wissen, daß
der Zustand der Entschlafenen an diesem Ort überaus glückselig ist. Es war daher ein anbetungswürdiges Wort: „Heute
wirst du mit mir im Paradiese sein." — Stephanus bat den
Herrn, als er Ihn zur Rechten Gottes sah, seinen Geist aufzunehmen (Apg 7, 59. 60). Paulus sagt in 2. Kor 5, 8: „Wir
sind aber gutes Mutes, und möchten lieber ausheimisch von
dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein." Und in Phil 1,
23: „Ich werde aber von beidem bedrängt, indem ich Lust habe,
abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit besser."
211
Aus diesen Stellen sehen wir also, daß unser Leben im Paradies
ein Leben mit Jesu, ein wünschenswertes Leben, sein wird,
ein Leben, das besser ist, als das Leben, das Gewinn ist. Und
kein Wunder! Wir werden dort keine Sünde kennen, keine
Schwachheiten und Gebrechen wahrnehmen und nicht mehr
durch allerlei Umstände gestört werden, sondern es wird eine
ununterbrochene Gemeinschaft mit Jesu sein. Selbst ohne den
Besitz jener vollkommenen Herrlichkeit werden wir in Seiner
Gegenwart glücklich sein und auch als Seelen ohne Leiber mit
vollkommenem Bewußtsein in Jesu unseren Genuß haben und
Ihn loben und anbeten können.
Wenn man mich aber fragt, wie das Verlangen, abzuscheiden
und bei Christo zu sein, mit dem Wunsche, aufgenommen zu
werden ohne zu sterben, zu vereinigen sei, so antwortete ich,
daß dies ganz davon abhängt, wie man die Dinge miteinander
vergleicht. Stellt man das Sterben dem Bleiben auf der Erde
gegenüber, dann wähle ich zu sterben, weil ich dadurch von
allem Irdischen erlöst und die Gemeinschaft mit Jesu ungestört
genießen kann; vergleicht man aber das Sterben mit unserer
Aufnahme durch Christum, so wähle ich die Aufnahme zu
meinem Herrn, indem ich dann auf einmal an der ganzen Vollkommenheit teilhaben werde. Die Erscheinung Christi ist die
Hoffnung des Christen, da der Herr jeden Augenblick kommen
kann und dieser Seiner Ankunft kein Ereignis im Wege steht.
Es ist das den Korinthern geoffenbarte Geheimnis — die herrlichste Epoche, die uns erwartet. Dennoch ist der Zustand im
Paradies ein glückseliger. Welch eine herrliche Aussicht war es
für den armen Übeltäter, dorthin zu gelangen. Hier das Kreuz,
wo er seine gerechte Strafe erduldete, und dort das Paradies,
hier der Schauplatz der Sünde, der Gotteslästerung und des
Greuels, und dort die Wohnung der Seligen in der seligen
Gegenwart Jesu. Welcher plötzliche, vollkommene Wechsel!
Und dieses führt uns zu unserem zweiten Punkt.
2. Die Geschichte des Räubers ist ein Beweis der Vollkommenheit des Werkes Jesu. Ein treffenderer Beweis könnte nicht
gefunden werden. Wir sehen hier, wie ein Mensch, der am Morgen ans Kreuz geheftet wird, weil ihn die menschliche Gesellschaft nicht in ihrer Mitte dulden wollte, und der selbst trotz
der Qualen den lästernden Mund nicht gleich schließen konnte,
212
plötzlich zu einem Himmelsbürger umgewandelt wurde! Seine
Sünden sind mit einem Male so gänzlich hinweggetan, daß die
Gerechtigkeit Gottes nichts mehr an ihm finden kann. Jede
Spur der Sünde, jeder Flecken ist völlig ausgetilgt; denn wäre
dies nicht gewesen, hätte er kein passender Bewohner des
Paradieses sein können. Wäre er nicht ganz gereinigt, nicht
ganz gewaschen, nicht vollkommen gerechtfertigt gewesen,
hätte er unmöglich mit Jesu die Schwelle dieser heiligen Wohnung überschreiten können. Denn dort kann nichts Unreines
eingehen, nichts, was dem Lichte zuwider ist. Wie konnte eine
solche Umwandlung ins Werk gesetzt werden. Bei Gott sind
alle Dinge möglich. Seine Gnade; aber auch nur Seine Gnade
vermag alles. Sie kann den härtesten Sünder, den selbstgerechtesten Menschen in einem Augenblick zu einem Kind Gottes
machen. Sie kann es tun, weil das Werk der Erlösung vollkommen vollbracht und die Schuld bezahlt ist. Aber, wie gesagt, sie nur allein vermag es, weil der Sünder zu nichts fähig
ist. Er ist ganz von Gott getrennt, ein Feind Gottes, ein Kind
des Zorns, ohne Lust zum Guten, ohne Fähigkeit, zu Gott
kommen zu können.
Ja, das Werk der Erlösung ist vollbracht. Nachdem zur Genüge
erwiesen war, daß keine Möglichkeit bestand, den Menschen zu
verbessern, und nachdem sich das Fleisch in seiner ganzen
Feindschaft geoffenbart hatte, sandte Gott Seinen Sohn in
Gleichheit des Fleisches der Sünde (Röm 8, 3) zur Sühnung
für unsere Sünden (1. Joh 4, 10) und machte Ihn, der Sünde
nicht kannte, für uns zur Sünde, auf daß wir in Ihm die Gerechtigkeit Gottes würden (2. Kor 5, 21). Nicht nur die Frucht
des Baumes, sondern der Baum selbst ist in Ihm gerichtet
worden. „Die Strafe zu unserem Frieden lag auf Ihm" (Jes 53).
„Er ist unserer Übertretungen wegen dahingegeben, und unserer Rechtfertigung wegen auf erweckt worden" (Röm 4, 25).
Alle Sünden und die ganze Macht der Sünde legte Gott auf Ihn.
Obwohl Er an Sich selbst rein war, wurde Er am Kreuz von
Gott gestraft und gerichtet, ja sogar von Ihm verlassen. Der
Arm des Richters traf Ihn in ganzer Strenge; den Forderungen
wurde Genüge getan, Seine Gerechtigkeit befriedigt, das Werk
vollendet. Er starb. Der Tod als der Lohn der Sünde wurde
Sein Teil; und die Sünde hat nichts mehr gegen uns zu fordern.
213
Aber das Grab vermochte Ihn nicht zu halten; Er ist auferstanden als das Haupt der neuen Schöpfung, als der zweite
Adam. Die Sünde blieb im Grabe, ihre Herrschaft war vernichtet und der Sünder selbst gerichtet und gestorben. Die
neue Schöpfung begann; die alte war vergangen und alles war
neu geworden. Der alte Mensch war gerichtet, der neue geschaffen in wahrhaftiger Heiligkeit und Gerechtigkeit. Die
Gnade herrschte durch Gerechtigkeit; denn erst, nachdem das
Gericht über die Sünde ganz vollzogen war, konnte die Gnade
Gottes den Sünder durch Teilhaftigkeit an dem Werke Christi
von aller Sünde befreien und in die neue Schöpfung einführen.
Sobald man an Jesum glaubt, ist man durch Sein Blut von aller
Sünde gereinigt, durch Seine Wunden geheilt, durch Seinen
Tod mit Gott versöhnt. Man ist dann der Gerechtigkeit Gottes
teilhaftig; man ist geheiligt, gerechtfertigt, verherrlicht (Röm 8,
30). Ja, was noch mehr ist, man ist dann mit Ihm gestorben
und auferstanden (Röm 6, 5; Eph 2, 5, 6). Der alte Mensch
ist gekreuzigt; und man ist in Christo eine neue Kreatur
geworden.
Und dieses alles ist die Folge des vollendeten Werkes Christi.
„Denn durch ein Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden" (Hebr 10, 14). Dieses eine Opfer
hat uns von allem erlöst und ist der Weg geworden, uns in
das Leben einzuführen. Alles hängt von diesem Werke ab; und
sobald man zu Jesus kommt und sich Ihm übergibt, hat
man Teil an Seinem Werk; im gleichen Augenblick ist der
einstige Sünder in den Augen Gottes so rein, so heilig, so
vollkommen, wie Er Selber ist. Nur eine solche Reinheit, Heiligkeit und Vollkommenheit gestattet uns einen Eintritt in das
Heiligtum. Aus diesem Grunde konnte daher auch der Übeltäter an demselben Tage noch in das Paradies kommen; deshalb war er in einem Augenblicke fähig gemacht worden, mit
Jesu dort zu sein, wo keine Sünde zugelassen werden konnte.
Und so ist es auch jetzt noch. In dem Augenblick, wo jemand
an Jesum glaubt, ist er vollkommen für den Himmel zubereitet.
Wir können nicht reiner werden, als das Blut Christi uns machen
kann; wir können keine größere Vollkommenheit erlangen,
als die, die uns Sein Werk zu verschaffen vermag; denn der
Begriff von Vollkommenheit schließt jeden Gedanken an eine
214
Steigerung aus. Ob man daher seit 30 Jahren, oder erst seit
einer Stunde bekehrt sein mag, so ist man vor Gott nicht mehr
oder weniger rein und heilig. Wohl mag ein Vater in Christo
mehr von der Liebe Gottes verstehen, er mag durch seine
Gemeinschaft mit Gott vieles gelernt und eine Menge göttlicher Tugenden geübt haben, und es mag in dieser Beziehung
zwischen ihm und einem Jüngling oder einem Kind ein großer
Unterschied bestehen; aber in betreff ihres Zustandes herrscht
unter ihnen durchaus keine Verschiedenheit. Das Werk Christi
hat alle vollkommen gereinigt, gerechtfertigt und verherrlicht.
Und obwohl ein Wandel zur Verherrlichung Gottes die natürliche und notwendige Folge sein muß, wenn man die Gnade
Gottes versteht und empfangen hat, so wird man dadurch
dennoch nicht für den Himmel tauglicher. Der Übeltäter kam
ins Paradies, ohne ein einziges Werk verrichtet zu haben. Das
Werk Christi hatte ihn und hat uns vollkommen fähig gemacht,
dort sein zu können. Und darum ist es stets ein Beweis von
der Unkenntnis der Vollkommenheit des Werkes Christi und
der Liebe Gottes, wenn man sein Glück und seinen Frieden von
dem Wandel abhängig machen will. Ein guter Wandel, ich
wiederhole es, ist notwendig und muß dem Verstehen der
Gnade folgen; aber er ist keine Bedingung, um in den Himmel
zu kommen. Dahin kann nur das Opfer Christi uns bringen.
Dieses Werk muß daher unsere einzige Stütze sein; es ist der
Fels, auf den unser Haus gebaut sein muß. Gegen ein solches
Haus kann der Sturmwind wehen,, es wird nicht erschüttert
werden. Dann mag Satan uns unsere Sünden vorhalten, er mag
auf die in uns wohnende Sünde, auf die Wirkungen des Fleisches und auf unsere Unvollkommenheit hinweisen, und stets
werden wir die Antwort geben können: „Wir sind durch ein
Opfer auf immerdar vollkommen gemacht."
Welch ein fester Ruhepunkt für die Seele! Wie auch alles
schwinden und vergehen mag, dieses Werk bleibt! Wie auch
alles dem Wechsel unterworfen sein mag, dieses Werk ist unveränderlich, denn es ist vollkommen. Unser Gefühl mag heute
anders sein als morgen, der Wandel heute besser als gestern,
und die Umstände dieses Augenblicks mögen günstiger sein
als die des vorhergehenden; aber dieses Werk bleibt gestern,
heute und in Ewigkeit dasselbe. Es hat unsere Herzen vom
215
bösen Gewissen gereinigt (Hebr 10, 22) und alles hinweggetan,
was zwischen Gott und uns war. Stützen wir uns also allein
auf dieses Werk; hier ist vollkommene Ruhe und unwandelbarer Friede unser Teil.
Warum sollten wir noch unruhig sein, nachdem Gott dieses
Werk als genügend angenommen und Seinen Sohn in der
Auferstehung gebührend verherrlicht hat? Warum sollte unser
Friede wanken, da Gott das Blut ansieht? Warum sollte uns
Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit erschrecken, nachdem wir in
Christo dieser Gerechtigkeit und Heiligkeit teilhaftig geworden
sind? Vermag dieses alles keine Ruhe und keinen Frieden zu
geben, dann gibt es dazu kein Mittel, da nur das Blut Christi
auf immerdar vollkommen macht. Durch Unruhe, Wankelmut
und Zweifel entehren wir Gott, weil wir dadurch das Werk
Christi als ungenügend bezeichnen und nicht mit dem zufrieden sind, womit Gott zufrieden ist. Laßt uns daher Ihn
vielmehr loben und preisen für die unmittelbare und vollkommene Erlösung, die Er uns bewirkt hat. Laßt uns Ihn anbeten, der uns so lieb hatte, daß Er keinen Schatten von Zweifel
bestehen ließ, alle Fragen beantwortete und jede Ursache zur
Unruhe oder Furcht völlig aus dem Wege räumte.
Die christliche Liebe
„Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebet, auf daß,
gleichwie ich euch geliebt habe, auch ih r einander liebet"
(Joh 13, 34).
Wie schön wird in diesen Worten die Liebe vor uns hingestellt.
Wir sollen einander lieben, wie Christus uns liebte. Und wie
liebte Er uns? Er liebte uns ungeachtet aller unserer Schwachheiten, aller unserer Fehler, und aller unserer Sünden. Er liebte
uns nicht, weil wir nichts von diesen Dingen getan hatten,
sondern trotz aller dieser Dinge. Er besaß eine Liebe, die jede
Schwierigkeit überwand und sich größer als jedes Hindernis
bewies. Viele Wasser, selbst die dunklen Wasser des Todes,
konnten die Liebe Christi nicht schwächen. Er liebte uns und
gab Sich Selbst für uns.
216
Dies ist also unser Vorbild. Wir sollen einander lieben, wie
Christus uns geliebt hat. „Hieran erkennen wir die Liebe, daß
er für uns sein Leben dargelegt hat; auch wir sind schuldig, für
die Brüder das Leben darzulegen" (1. Joh 3, 16). „Geliebte, laßt
uns einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der
liebt, ist aus Gott geboren, und erkennt Gott" (1. Joh 4, 7).
„Hierin ist die Liebe: nicht daß wir Gott geliebt haben, sondern
daß er uns geliebt, und seinen Sohn gesandt hat als eine
Sühnung für unsere Sünden. Geliebte, wenn Gott uns also
geliebt hat, so sind auch wir schuldig, einander zu lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir einander lieben, so
bleibt Gott in uns und seine Liebe ist vollendet in uns" (1. Joh
4, 11-13).
Das ist die christliche Liebe. Sie ist der Ausfluß der göttlichen
Natur in dem Gläubigen. Sie kann sich auf verschiedene Weise
offenbaren. Sie muß zuweilen tadeln, Vorwürfe machen und
strafen. Unser großes Vorbild muß dann und wann so handeln mit denen, die Er dessen ungeachtet liebte mit einer
ewigen und unveränderlichen Liebe. Es ist falsch, anzunehmen,
daß die Liebe blind sei, oder nicht aufrichtig sein könne. Das
müßte Narrheit und nicht Liebe genannt werden. Die wahre
Liebe sieht meine Fehler und kann mir darüber Vorwürfe
machen; sie kann sich mit meinen Fehlern beschäftigen, um
mich von ihnen zu befreien. Sie wird Gelegenheit suchen,
gerade durch meine Fehler und Schwachheiten, sich in ihrer
hohen und heiligen Tätigkeit zu zeigen. „Die Liebe ist langmütig, ist gütig, die Liebe neidet nicht, die Liebe tut nicht groß,
sie bläht sich nicht auf, sie gebärdet sich nicht unanständig, sie
sucht nicht das ihrige, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet
Böses nicht zu, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern
sie freut sich mit der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaub*
alles, sie hofft alles, sie erduldet alles, die Liebe vergeht
nimmer." „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese
drei; die größte aber von diesen ist die Liebe" (1. Kor 13,
4-8. 13).
Doch gibt es auch eine falsche Liebe, im Gegensatz zu dem
lieblichen Gemälde, das im obigen dargestellt ist. Es ist dies die
sektiererische Liebe. Vor dieser haben wir uns zu hüten. Wir
sind einerseits in großer Gefahr, Personen nur aus dem Grunde
217
zu lieben, weil sie dieselben Ansichten wie wir haben; und
andererseits weil ihre Gewohnheiten und Eigentümlichkeiten
uns gefallen; aber keines von beiden ist die christliche Liebe.
Wir können in beiden sehr tätig sein und doch nicht „dem
neuen Gebot" gehorchen — nicht andere lieben, wie Christus
uns liebte. Darin besteht nicht die christliche Liebe, unserp
eigenen Meinungen oder unser eigenes Bild zu lieben, sondern
darin, das Bild Christi, wie wir es auch sehen, zu lieben.
Möge uns der Herr Gnade geben, unsere Herzen allezeit mit
der wahren christlichen Liebe zu beschäftigen und zu unterhalten. Möchten wir tief in den Geist Christi eindringen, so
werden wir Seine Kinder nicht deshalb lieben, weil sie mit uns
übereinstimmen und uns gefallen, sondern weil sie Christo
angenehm sind und Sein gesegnetes Bild zurückstrahlen lassen.
Das verlorene Paradies des Menschen
und das gefundene Paradies Gottes
(Man lese i. Mose 3; Lukas 23, 39—43)
Es gibt wohl wenige Bezeichnungen, mit denen ein großer Teil
der Leser so vertraut ist, wie mit dem eines „verlorenen Paradieses" und eines „wiedererlangten Paradieses". Und in der
Tat sind die so bezeichneten Gegenstände von hoher Bedeutung. Für eine unsterbliche Seele gibt es nichts wichtigeres.
Allein die ungefärbte Wahrheit Gottes stellt diese Dinge in ein
Licht, das viel klarer und einfacher ist, als alle die geschmückten
Darstellungen des Menschen. Die Geschichte des Falles und
der Wiederherstellung des Menschen ist höchst einfach. Durch
Unglauben an das Wort Gottes und Mißtrauen gegen Seine
Güte ging das Paradies des Menschen verloren; durch Glauben
an das Wort Gottes und Vertrauen zu Seiner Güte wurde das
Paradies Gottes gefunden. Statt sich an die Treue Gottes fest
zu klammern und Seiner unwandelbaren Gunst zu vertrauen,
lieh Eva ihr Ohr der Lüge Satans. Statt die gottlosen Einflüsterungen des Feindes augenblicklich von sich zu weisen,
lauschte sie darauf und nahm sie an. Das war der Beginn
alles Unheils.
218
Satan täuschte Eva so sehr, daß sie sowohl an der Güte als auch
an dem Worte Gottes zu zweifeln begann. Sie verließ den
Boden der Abhängigkeit, sie riß sich selbst aus den Händen
Gottes los. Der Unglaube trennt von dem lebendigen Gott und
führt also zum Tode; der Glaube vereinigt mit Ihm und führt dadurch ins ewige Leben. Sobald Eva dem Zweifel des Vaters der
Lüge in ihrem Herzen Raum gab, war ihr Weg ein trauriger und
abschüssiger Weg. Sie glaubte nicht, sie gehorchte nicht, sie
sündigte, sie fiel, und alle ihre Nachkommen mit ihr. Die
Blume Edens war für immer vernichtet; und die ganze Schöpfung lag in Trümmern.
Der Verführer suchte vor allem zuerst durch eine niederträchtige Einschmeichelung ihr Vertrauen zu der Güte Gottes zu
erschüttern. „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr sollt nicht essen
von jedem Baume des Gartens" (1. Mo 3, 1)? Jedenfalls hegt
er hier die Absicht, durch diese Frage einen Zweifel anzuregen.
Das ist ganz der Schlange ähnlich; und das gleicht ganz den
Kunstgriffen, die er auch heutzutage anwendet. Es war, als
hätte er gesagt: „Kann das Liebe sein? Ist das Güte, euch die
Frucht des Baumes vorzuenthalten, wovon der Schöpfer weiß,
daß sie euch wie Götter machen würde? Aber sollte Er auch
wirklich so gesprochen haben? Sollte das wohl Seine Meinung
sein?" — Und ach! Eva wurde wankend. Es war ein folgenschwerer Augenblick. Statt zu bezeugen, daß Gott das schöne
und liebliche Paradies um ihretwegen gemacht habe, ließ sie
die Einflüsterungen des Feindes in ihrem Herzen wirken; sie
riß sich los von der Wahrheit Gottes und umklammerte die
Lüge Satans. Gott hatte gesprochen; sie besaß Sein Wort; und
das hätte genug für sie sein sollen. Es führte Jesum zum S;
ege,
als Er in der Wüste versucht wurde. „Es steht geschrieben",
sagte Er, und dieses Wort war der feste Boden, auf dem Er
den Feind überwand. Aber der Same des Mißtrauens gegen
Gott und der Nachlässigkeit in betreff Seines Wortes war jetzt
in das Herz Evas gestreut; und dieser Same hat in ihren Nachkommen die schrecklichsten Früchte getragen.
Und die Aufmerksamkeit, die Eva dem Feinde schenkte, machte
ihn kühner. Er widersprach geradezu dem Worte Gottes. „Mit
nichten werdet ihr sterben" (V. 4). Welch eine freche Lüge! Es
ist nicht mehr ein schönes Einflüstern. Woran hätte sich Eva
219
erinnern sollen? Hatte Gott nicht deutlich gesagt: „Welches
Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben"? Aber
fragen wir vielmehr: Befinden wir uns nicht oft in derselben
traurigen Lage, wenn wir unsere eigenen Meinungen über das
klare Wort Gottes setzen? Und haben diese unsere Meinungen
nicht denselben Ursprung? Die Einflüsterungen Satans sind
mancherlei Art und bewirken nur zu oft eine Vernachlässigung
oder die praktische Beiseitesetzung der Wahrheit Gottes. —
Indes erhebt Satan nicht nur Widerspruch gegen Gott, sondern
er erfindet auch eine furchtbare, anlockende Lüge, indem er
sagt: „Gott weiß, daß welches Tages ihr davon esset, eure
Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, erkennend Gutes und Böses" (V. 5). Diese Versuchung war zu
stark für die arme Eva; der Hochmut schwellte ihren Busen;
sie verlangte zu sein wie Gott. „Und das Weib sah, daß der
Baum gut zur Speise, und daß er eine Lust für die Augen, und
daß er begehrenswert wäre, um Einsicht zu geben; und sie
nahm von seiner Frucht und aß, und gab auch ihrem Manne
mit ihr, und er aß. Da wurden ihrer beider Augen aufgetan,
und sie erkannten, daß sie nackt waren; und sie hefteten
Feigenblätter zusammen und machten sich Schürzen" (V. 6. 7).
Die entsetzliche Tat war jetzt geschehen. Adam lauschte auf
sein Weib, nachdem diese auf die Schlange gelauscht hatte.
Alles, was je eine Kreatur verlieren konnte, war verloren.
Die Freundschaft Gottes, die Unschuld, die Herrschaft, die
Würde, die Glückseligkeit, alles war mit einem Schlage vernichtet. Das unglückliche Paar hatte ein böses Gewissen; sie
flohen aus der Gegenwart Gottes und trachteten, eine eigene
Gerechtigkeit zusammenzuflicken. Welche traurigen Früchte
des Falles und der gefallenen Natur in allen Zeitaltern!
Jetzt aber tritt Gott auf den Schauplatz. Adam ist erschrocken
und verbirgt sich hinter den Bäumen des Gartens. Die aus
Feigenblättern gemachte Schürze ist, statt ihn zu bedecken, nur
ein Zeugnis seiner Schuld und Schande. „Und Jehova rief den
Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du?" (V. 9). Das war
Gnade, freie Gnade. Adam war verloren und Gott suchte ihn.
Das ist der herrliche Grundsatz der Erlösung. Der Mensch ist
ein verlorener Sünder, und Gott sucht ihn in Liebe. „Denn der
Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten,
was verloren ist" (Lk 19, 10).
220
Im Garten Eden offenbart jetzt Gott, wenn auch noch in Dunkel
gehüllt, den Plan der Erlösung. Des Weibes Samen soll der
Schlange den Kopf zermalmen. Das Heilmittel Gottes gegen
das Verderben der Menschen ist bei der Hand. Wir zweifeln
nicht daran, daß das Wort der Gnade die Herzen des schuldigen Paares erreicht hat. Gott geht bei den gefallenen Engeln
vorüber; Er erbarmt Sich des gefallenen Menschen. Kostbare
Gnade! Der Mensch war von einem mächtigen, ränkevollen
Feind betrogen worden. Mit einem Blick des zärtlichsten Erbarmens schaut Gott auf ihn in seinem gefallenen, verderbten,
elenden und hilflosen Zustande herab. Aber während Sein
Auge voll Mitleid auf ihn herabblickt, ist Sein mächtiger Arm zur
Rettung ausgestreckt. Er versieht den Nackten gnädig mit
einem Gewände, das dem Tode eines anderen sein Dasein
verdankt, so daß die Gefallenen nicht länger nackt sind, weder
in ihren eigenen Augen, noch in den Augen anderer. Die Bekleidung Gottes ist eine wahrhaftige. Er verfolgt Satan als die
Wurzel des Unheils. Er sagt: „Weil du solches getan hast
usw." (V. 14). Aber dem Menschen in seinem gefallenen Zustande darf nicht gestattet werden, zu essen von dem Baume
des Lebens und dadurch ein Leben voller Elend auf Erden zu
verewigen. „Und Gott trieb den Menschen aus und ließ lagern
gegen Osten vom Garten Eden die Cherubim, und die Flamme
des kreisenden Schwertes, um den Weg zum Baume des Lebens
zu bewahren" (V. 24).
Jetzt befindet sich der Mensch außerhalb Edens. Die Sünde hat
ihn über die Grenze des irdischen Paradieses hinausgetrieben.
Die Welt ist für ihn eine Wüste geworden, in der er für sein
tägliches Brot sich abmühen muß. Der Gläubige wird dort
nicht zurückgelassen. Gott führt ihn durch sie gerade dem
Himmel zu; aber das irdische Paradies kann nie wieder erreicht werden. Es ist für den Menschen in seinem gefallenen
Zustande unzugänglich. Die Cherubim und die Flamme des
kreisenden Schwertes bewahren den Weg zum Baum des Lebens.
Der Mensch kann seine Unschuld nie wieder erlangen. Wohl
lesen wir in Ps 26: „Ich wasche in Unschuld meine Hände und
umgehe Deinen Altar, Jehova!" Jedoch bezieht sich dieses
ohne Zweifel auf die geweihten Priester Gottes unter dem
Gesetz, die ihre Hände und Füße in dem Waschbecken
der Reinigung wuschen, bevor sie die heilige Stätte betraten.
221
Die einzige Quelle des Lebens und der Segnung für den mit
Sünde bedeuten Menschen ist jetzt Christus in Auferstehung.
Er ist von Seiten Gottes das einzige Mittel zur Befreiung von
der gefallenen menschlichen Natur und all ihren bitteren
Früchten.
Jetzt könnte, angesichts dessen, was wir in Eden gesehen
haben, die wichtige Frage erhoben werden: Wie konnte der
heilige und gerechte Gott in solcher Gnade dem Menschen,
einem Sünder, begegnen, der Ihm nicht gehorcht und Ihn verunehrt hatte. Das ist in der Tat eine Frage, die persönlich jedes
Kind Adams betrifft. In der Weissagung: „Er wird dir den
Kopf zermalmen und du, du wirst ihm die Ferse zermalmen"
liegt die Antwort. In diesen Worten ist, obwohl sie noch
dunkel sind, das große Werk der Erlösung, das auf Golgatha
vollbracht wurde, vorbildlich dargestellt. Der Heiland Jesus
Christus, Er, der Gerechte für die Ungerechten, litt und starb
am Kreuze, damit Er uns zu Gott führe. Das Gewicht des Zornes
Gottes fiel an unserer Statt auf Ihn, Christus starb für Sünder.
Auf Grund des Werkes Christi, das, wie Gott voraussah, auf
Golgatha vollbracht werden sollte, wirkte Er durch Seine
Gnade in den Herzen des ersten gefallenen Paares. Er vergab
ihnen ihre Sünde und segnete sie mit Seinem Heil kraft der
zuvor erkannten Blutvergießung Jesu, Seines eingeborenen
Sohnes.
Das Kreuz ist sowohl der Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes,
als auch, von Adam bis zu uns, der Ausdruck der Rechtfertigung aller Wege Gottes in betreff der vergebenden Liebe und
Barmherzigkeit. „ ... zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen
des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden unter der
Nachsicht Gottes; zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der
jetzigen Zeit, daß er gerecht sei und den rechtfertige, der des
Glaubens an Jesum ist" (Röm 3, 25, 26). Dieses ist der einzige
Boden, auf dem Gott dem Sünder in Frieden, in Gnade und in
Liebe begegnen kann. Aber hier kann Er ihm begegnen übereinstimmend mit Sich Selbst. Christus hat am Kreuze Gott so
vollkommen verherrlicht und die Sünde so völlig ausgelöscht,
daß es nun eine gerechte Sache ist, wenn Gott dem Sünder, der
glaubt, in vollkommener Gnade begegnet und ihm das gewährt, was Er Christo schuldig ist. Fern von dem Garten Eden
222
stellte Gott durch Vorbilder und Schatten das große Werk, das
Er auf Golgatha zu vollbringen beabsichtigte, vor die Seele des
Menschen: alle, die während jener Periode Gott glaubten,
gemäß der Offenbarung, die Gott von Sich Selbst gegeben
hatte, wurden gerechtfertigt auf Erden und hatten, kraft des
Opfers Christi, Anspruch auf das Paradies Gottes im Himmel.
Aber die förmliche Darstellung dieser herrlichen Wahrheit
blieb der feierlichen Szene auf Golgatha selbst vorbehalten.
Dort finden wir die vollständige Umänderung, des in Eden gefällten Urteils, und zwar in den Worten, die der Herr an den
bußfertigen Schacher richtete: „Heute wirst du mit mir im
Paradiese sein." Dort finden wir auch den völligen Widerspruch aller falschen Darstellungen Satans. Er flüsterte den
Menschen zu, daß Gott sie nicht wirklich liebe und daß Er
ihnen eine Frucht ihres eigenen Gartens mißgönne; aber die
Antwort Gottes vom Kreuze her lautete: „Ich gebe freiwillig
meinen geliebten Sohn hin, daß er für meine Feinde sterbe."
An dem Platz, wo der Same des Weibes in schrecklichem
Kampfe dem Verleumder Gottes und dem Verführer des Menschen begegnete, wurde die Verheißung Gottes erfüllt und Sein
hier gefällter ernster Urteilsspruch förmlich umgeändert in betreff derer, welche glauben. Dort wurde das Haupt der Schlange
zertreten und seine ganze Macht vollständig und für immer
vernichtet. Und dort wurde ein neuer und lebendiger Weg aufgeschlossen, auf dem Gott zu dem Menschen mit den reichsten
Segnungen herniedersteigen und auf dem der Mensch zu Gott
emporsteigen kann in der Freiheit, Vollkommenheit und Annahme Christi Selbst.
Die Bekehrung des Räubers am Kreuz war die Veranlassung
einer völligeren Offenbarung dieser herrlichen Wahrheiten.
Der Herr bezeugt dem Unglücklichen in den klarsten Ausdrücken, daß er noch an demselben Tage mit Ihm im Paradiese
sein würde. In dem Augenblick, als der Herr Jesus das Gericht
Gottes über die Sünde für uns ertrug und den Weg zum Paradies droben öffnete, wurden auch die Augen dieses Mannes
erleuchtet, damit er sich als einen verlorenen Sünder und Jesum
als den Erretter sehen konnte. Sein Herz war jetzt für Christum
aufgeschlossen und seine ganze Seele mit dem Gedanken an
den heiligen Dulder neben ihm erfüllt.
223
Was den Räuber betrifft, so haben wir ein leuchtendes und
wahres Beispiel des Gnadenwerkes Gottes in uns; während wir
in der Person Jesu an seiner Seite das große Gnadenwerk
Gottes für uns erblicken. Aber obwohl diese Wahrheiten nebeneinander zur Schau gestellt werden, so sind sie doch völlig voneinander verschieden. Und dennoch sind sie unzertrennlich miteinander verbunden. Das Gnadenwerk in dem Herzen eines
Sünders ist gegründet auf das Werk Christi für den Sünder.
Der Geist ist es, welcher der Seele die Herrlichkeit der Person
und die Vollkommenheit des Werkes Christi offenbart. Die
Bekehrung des armen Räubers ist ein bewundernswertes Beispiel dieser Wahrheit. Kurz bevor der Wechsel stattfand, legte
er ein kräftiges Zeugnis für Jesum ab, verurteilte sich selbst
und seinen Gefährten und strafte die ganze Welt Lügen.
„Dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan." Aber es scheint
auf den ersten Blick bemerkenswert, daß, obwohl er ein solches
Zeugnis von dem sündlosen Dulder und von sich, dem vornehmsten der Sünder, ablegt, er nicht um Vergebung seiner
Sünden bittet. Wie können wir das erwarten? Ohne Zweifel
nahm Ihn die Fülle und Herrlichkeit der Person Christi gänzlich
in Anspruch. Nur für Christum und für nichts anderes hatte
er ein Auge. Augenscheinlich war sein Gewissen erwacht und
aufrichtig. „Auch du fürchtest Gott nicht", ruft er seinem unbußfertigen Gefährten zu, „da du in demselben Gericht bist.
Und wir zwar mit Recht; denn wir empfangen, was unsere
Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan."
Er hat jetzt nur einen Gedanken, nur einen Wunsch, nämlich,
daß sein Teil mit Christo sein möchte.
O welch eine Szene stellt in diesem Augenblick Golgatha vor
unsere Augen! Die Stätte ist umringt von einer Menschenmasse jeglichen Schlages. Die Welt ist dort repräsentiert und
wird durch ihren Fürsten angeregt, den sterbenden Heiland zu
schmähen und zu lästern. Auch die beiden Übeltäter stimmen,
als ihr Ohr die Lästerung vernimmt, zu Anfang dieser schrecklichen Szene mit in das Urteil der Menge ein. Aber einer von
ihnen wird bekehrt. — Ein Herz ist gebrochen. — Er zeugt von
Ihm und sucht Seine Segnung. Welch ein Labsal für das leidende Herz Jesu. Der Himmel hat dieses Labsal gesandt. Die
Erwähnung des „Paradieses" erinnert den von Gott verlassenen
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Dulder an die Stätte, wo Er bald sein wird. Christus hat Seinen angemessenen Platz in dem Herzen des Neubekehrten.
Alles muß diesem zum Besten dienen. Die Frucht Gottes, als
der Weisheit Anfang, ist vor seinen Augen. Das Licht Gottes
strahlt in seine Seele hinein. Jedes Ding wird jetzt in einem
ganz neuen Licht geschaut. Die Sünde, die Heiligkeit, die Gerechtigkeit, Gott, er selbst, Christus, sein Mitschuldiger — alles
dieses wird in einem Lichte gesehen, das die Dinge so zeigt, wie
sie sind. Aber der leidende, sterbende Heiland an seiner Seite ist
der eine große Punkt, woran sein Auge hängt, und, o kostbarer
Glaube! er wirft sich an das Herz Jesu. „Gedenke meiner, Herr,
wenn du in deinem Reiche kommst." Obwohl er in allen
Ängsten des Kreuzes war, denkt er dennoch nicht an sich;
obwohl er durch den Glauben in Jesu den Herrn erkennt, bittet
er dennoch nicht um Milderung seiner körperlichen Leiden. Er
bittet Ihn nur, sich seiner in Seinem Reiche zu erinnern. O
welch eine heilige Absonderung im Herzen von dem Ich, von
der Sünde, von den Leiden, ja von allem, nur nicht von Jesu,
dem Haupt des kommenden Reiches!
Aus der Bitte des sterbenden Übeltäters geht vollkommen klar
hervor, daß er glaubte, der Herr werde wiederkommen, und
zwar in Macht und Herrlichkeit. Dieses war um so bemerkenswerter, da sich an dem gekreuzigten Jesus nicht die geringste
Spur von Macht oder Herrlichkeit kund gab. Doch der Glaube
sieht, wie Gott sieht. Seine eigenen Jünger hatten Ihn verlassen
und verleugnet; aber der arme Räuber erkannte Ihn an. Er
glaubte, daß Sein Reich, das ein Gegenstand des Spottes und
der Verachtung gewesen war, wiederkommen werde, obschon
gerade in diesem Augenblick der König verworfen wurde und
sterbend zwischen zwei Räubern hing. Wie bewundernswert
ist der Glaube! Doch er war von Gott belehrt; und dieses
erklärt alles. In wenigen Augenblicken überschreitet er weit das
Maß der Erkenntnis dessen, was die Apostel in betreff der
Wahrheit erkannten. Er glaubt an die Auferstehung; er glaubt,
daß Jesus auferstehen und in voller, königlicher Herrlichkeit
wiederkommen werde.
In der Antwort des Herrn wird sein Glaube vollkommen gerechtfertigt. Er hatte sich an das Herz des Heilands geworfen;
und die Hilfsquellen dieses Herzens wurden ihm dann und
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für immer geöffnet. Der Herr offenbart Sich Seinem sterbenden
Heiligen mehr, als ein König. Er ist ein König, aber Er ist noch
mehr. Er ist ein Heiland; Er ist Jesus, der Erlöser. „Heute wirst
du mit mir im Paradiese sein." Welch ein kostbares Zeugnis
für das Ohr eines sterbenden Heiligen! Und welche Gnade für
den vornehmsten der Sünder. Er hatte nicht nötig, bis zu dem
Augenblicke zu warten, wo die Herrlichkeit des Königs offenbart werden und jedes Auge Ihn sehen sollte, sondern „heute"
und „mit mir", — das waren die gnadenreichen Worte des
Heilandes Jesu. Es war ein gegenwärtiges Heil. Und von diesem
schimpflichen Kreuz kam er in ein weit heiligeres, glückseligeres und glänzenderes Paradies, als dasjenige war, das unsere
Eltern durch Übertretung verloren hatten.
„Aber" — könnte jemand fragen — „ist denn die Seele bei jeder
Bekehrung so unmittelbar für den Himmel bereit gemacht, wie
dies bei dem bußfertigen Räuber am Kreuze der Fall war?"
Gewiß, ohne Zweifel. Der Zustand des Gläubigen in Christo
und sein Rechtsanspruch auf den Himmel sind von Anfang an
dieselben. Seine Erfahrungen mögen tief unter seiner Stellung
stehen; und er mag nicht zu allen Zeiten fähig sein, seine
Rechtsansprüche klar zu erkennen; aber dennoch sind sie stets
dieselben. „Wer den Sohn hat, hat das Leben." Jeder Gläubige
hat Christum; und etwas Höheres gibt es nicht.
In der Predigt des Evangeliums ist der Sünder eingeladen,
gerade so wie er ist, zu Christo zu kommen. Er ist, wie auch
der Gemütszustand, wie auch die Geschichte seines vergangenen Lebens sein mag, aufgefordert, wo und wie er ist, dem
Zeugnis Gottes bezüglich Seines geliebten Sohnes zu glauben,
im Glauben auf Christum zu schauen, mit aufrichtigem Herzen
zu Ihm zu kommen, der gesagt hat: „Wer zu mir kommt, den
werde ich nicht hinauswerfen." Alle, die kommen, finden Aufnahme; niemand wird abgewiesen. Sie mögen hernach eine
Zeitlang in Gesinnung und Wandel umherirren, so hat dennoch
der Herr gesagt: „Ich will niemanden hinausweisen/'
Das Evangelium verrät keinen Gedanken, als ob der Sünder,
damit er für den Heiland geeignet sei, etwas tun, etwas fühlen,
oder etwas sein müsse. Der Sünder ist als verloren bezeichnet.
Geringeres gibt es nicht. In diesem schrecklichen Zustand wird
er eingeladen, aufgefordert, ja dringend gebeten, auf Jesum zu
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schauen, um gerettet zu sein. „Wendet euch zu mir und werdet
gerettet, alle ihr Enden der Erde; denn idi bin Gott und keiner
sonst" (Jes 45, 22). — Der Sünder findet Rettung nicht für das
Hinaufschauen und nicht nach dem Hinaufschauen, sondern im
Hinaufschauen. War es der erste, zweite oder dritte Blick auf
die eherne Schlange, wodurch der sterbende Israelit neues
Leben empfing? Wir wissen alle, daß es der erste Blick war.
Wenn er nur aufblickte, so lebte er. Und gerade so ist es in
bezug auf den verlorenen Sünder. Wenn er zu Jesu gläubig
emporblickt, so ist er gerettet. Und laßt uns wohl beachten,
daß das, was ihm begegnet, das „Heil Gottes" ist, das jegliche
Segnung einschließt. Hier beginnt der Gläubige seine Ewigkeit
mit dem gesegneten Sohne Gottes, wenn er auch nicht gleich
an demselben Tage ins Paradies gehen mag. Er mag seine hohe
Berufung aus dem Auge verlieren und Handlungen begehen,
die mit seinem neuen Leben und mit Ihm, der dessen Quelle
ist, im Widerspruch stehen; aber dennoch bleibt das Leben
unveränderlich dasselbe. Christus ist das Leben des Gläubigen;
und nimmer kann das Leben Christi berührt werden. Dies alles
ist von dem Augenblick an völlig wahr, wo der Sünder dem
Zeugnis Gottes in bezug auf Jesum glaubt. Der Gläubige selbst
mag es bezweifeln; „aber Aas Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. Dies aber ist das Wort, welches euch verkündigt worden
ist" (1. Petr 1, 25).
Der bußfertige Räuber am Kreuz liefert uns zu diesen kostbaren Wahrheiten ein schlagendes Beispiel. Was war er? War
er ein sittlicher Mann? Nein. Ein religiöser Mann? Nein. Was
denn? Soviel wir wissen, war er ein Räuber und erlitt gerade
jetzt die letzte Strafe des Gesetzes für seine Verbrechen. Dennoch blickte er, durch die Gnade dazu zubereitet, auf Jesum,
indem er rief: „Gedenke meiner, Herr!" — und fand Rettung
am Fluchholze. Seinem brechenden Auge begegnete ein Blick
vollkommener Liebe, und sein Herz fand die Versicherung eines
gegenwärtigen Heils. Vor seiner Bekehrung hatte er nichts
Gutes getan; und sicher hatte er nachher keine Gelegenheit
dazu. Er konnte vor seinem Tode weder getauft werden, noch
teilnehmen am Tische des Herrn. Er war ans Kreuz genagelt.
Soviel wir wissen, ging er von der Erde in den Himmel, ohne
sich irgendeiner guten Handlung rühmen zu können. Und
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dennoch war er von dem Augenblick an, wo er an Jesum
glaubte, zubereitet, Ihm im Paradiese begegnen zu können.
Und so handelt die wunderbare Gnade Gottes gegen jeden
armen, verlorenen Sünder, der an Jesum glaubt. Gepriesen sei
Sein Name dafür! Außer Jesu bedürfen wir nichts; wir haben
Alles in Ihm, wir haben Ihn von dem Augenblicke an, wo wir
zu glauben beginnen. Hätte der Räuber noch hundert Jahre
nach seiner Bekehrung gelebt, und hätte er einen Überfluß an
guten Werken aufzuweisen gewußt, so würde er allerdings, als
Belohnung für die dem Herrn frei geleisteten Dienste eine weit
reichere Krone erlangt haben, aber nie würde er fähiger geworden sein für das reine Licht des Paradieses Gottes im
Himmel.
Schließlich möchte ich fragen: „Ist auch mein Leser also vorbereitet, so bereit, den gegenwärtigen Schauplatz in irgendeinem Augenblick zu verlassen und emporzusteigen zu dem
vollkommenen Lichte der Gegenwart Gottes im Himmel? Wenn
der Herr Jesus jetzt im Begriff wäre, zu kommen, oder wenn,
wie in vorliegendem Fall, das Auge im Tode zu brechen und
der Pulsschlag des Herzens zu stocken begönne, würde dann
die Stunde des Scheidens eine glückliche oder trostlose sein?
Diese Frage ist ernst und wichtig. Es ist eine Frage, die einmal
früher oder später vor unsere Seele treten muß. In einem solchen Augenblicke ist ein bloßes Bekenntnis geringer als gar
nichts. Es ist nur ein Blendwerk und ein Zeugnis unserer
Heuchelei. Christus Selbst und nur Christus verleiht dem
Sünder die Fähigkeit für das Paradies Gottes. Nichts anderes
besaß der arme Räuber; und nichts anderes bedurfte er.
Wisse denn, mein Leser, daß in uns durchaus nichts Gutes
wohnt, und daß, wenn wir nicht in dem Kleide eines anderen
vor Gott erscheinen, unser Platz für immer in der äußersten
Finsternis sein wird. Stehen wir nicht in der Fülle Christi vor
Gott, so haben wir alles verloren; wir haben den Himmel verloren, Christum verloren, die Seele verloren, ja alles und für
immer verloren. Drum sage mir: Ist Jesus Dein — Dein durch
den Glauben? Gibt es noch eine Ungewißheit betreffs dieser
Frage in Deiner Seele? O dann säume nicht, ruhe nicht, schlafe
nicht, bis Du Dich völlig in Sicherheit siehst durch den Glauben
an das Blut des Lammes, das reinigt von aller Sünde. Hast Du
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Dich erkannt und verurteilt als einen durchaus verdammungswürdigen Sünder? Glaubst Du dem Zeugnis Gottes bezüglich
der Person und des Werkes Christi? Ist dies der Fall, so bist
Du sicher gerettet. Christus Selbst ist dann Dein Eigentum. Er
gab für uns Sein Leben hin. Er ist jetzt der vollkommene Ruhepunkt Deiner Seele. „Glaube nur", und Er wird für immer und
ewig Deine Krone, Deine Freude und Herrlichkeit sein. „Denn
also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen
Sohn gab, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe,
sondern ewiges Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht
in die Welt gesandt, auf daß er die Welt richte, sondern auf
daß die Welt durch ihn gerettet werde" (Joh 3, 16. 17). „Und
es geschah eine Stimme aus der Wolke, welche sagte: Dieser
ist mein geliebter Sohn, ihn höret" (Lk 9, 35).
Der Sabbath und der Tag des Herrn
„Das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die
Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden" (Joh 1, 17).
Diese Worte sind von großem Wert bei der Betrachtung des
oben genannten Gegenstandes. Sie zeigen uns den Unterschied
zwischen der alten und der neuen Ordnung. Das Gesetz fordert,
ohne etwas zu geben, Jesus Christus offenbart Gnade und
Wahrheit, wodurch Er den Menschen in den Stand setzt, Gott
verherrlichen zu können. Das Gesetz verheißt Leben mit der
Bedingung des Gehorsams, Jesus gibt das Leben ohne Bedingung, ein Leben, das sich durch Gehorsam offenbart. Das Gesetz
verurteilt, verdammt, verflucht, Jesus befreit von Fluch und
Verdammnis. Dies alles läßt uns die Unmöglichkeit erkennen,
das Gesetz zu erfüllen. Wie kann ein Toter Früchte des Lebens,
wie kann ein fleischlicher, unter die Sünde verkaufter Mensch
Früchte des Geistes hervorbringen? Und zu einem solchen sagt
das Gesetz: „Tue dies, und du wirst leben!" — ein Beweis., daß
der Mensch tot ist. Nicht um den Menschen in das Leben einzuführen, sondern um ihm die Erkenntnis seines toten Zustandes zu verschaffen, wurde das Gesetz von Gott gegeben.
Zugleich aber diente es auch als Mittel zur Absonderung Israels.
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Gott wählte Sich, um die Heiligkeit Seines Namens zu wahren,
Israel aus und trennte es durch das Gesetz von anderen Völkern.
Dies zeigt uns, daß das Gesetz eigentlich nur Israel, einem für
Gott abgesonderten Volk, gegeben war. Die Heiden waren
nicht unter dem Gesetz. Aber in Israel finden wir das Gepräge
der Geschichte der Menschheit; seine Übertretungen liefern den
Beweis, daß niemand fähig ist, das Gesetz zu halten. Israel
stand unter dem Fluch des Gesetzes; aber Paulus ruft den
Christen aus dem Judentum zu: „Christus hat uns losgekauft
vom Fluche des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden
ist" (Gal 3, 15). „Also ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christum hin, auf daß wir aus Glauben gerechtfertigt würden. Da aber der Glaube gekommen ist, sind wir
nicht mehr unter einem Zuchtmeister" (V. 24, 25). Also sind
wir nicht nur von dem Fluch des Gesetzes freigemacht, sondern
auch von dem Gesetz selbst. Auch beweist der Apostel dies
deutlich in Röm 7, wo er sagt, daß man entweder Christum
oder das Gesetz zum Manne habe, und daß man, an Christum
glaubend, durch den Leib Christi dem Gesetz gestorben sei.
Christus ist für jeden Glaubenden des Gesetzes Ende (Röm 10,
4). Da nun der gläubig gewordene Jude vom Gesetz befreit
ist, so ist selbstverständlich der Gläubige aus den Heiden, der
nie unter dem Gesetz gestanden hat, durch den Glauben kein
Sklave des Gesetzes geworden. Die so allgemeine Ansicht, daß
man zwar von dem Fluch des Gesetzes, nicht aber von dem
Gesetz selbst befreit sei, zeigt sich daher im Lichte der Heiligen
Schrift als völlig irrtümlich. Es ist eine erwiesene Tatsache, daß
niemand das Gesetz erfüllen kann; und deshalb macht sich
jeder einer Übertretung schuldig und stellt sich unter den Fluch,
sobald er das Gesetz erfüllen will. Wie man es auch betrachten
mag, stets folgt der Fluch auf die Übertretung.
Wenn man sich also in bezug auf die Heiligung des Sabbaths
auf das Gesetz beruft, so stellt man sich auf einen jüdischen
und durchaus nicht evangelischen Standpunkt. Man wendet
sich nach Sinai zurück, während Christus uns durch Offenbarung der Gnade und Wahrheit vollkommen erlöst hat. Vergeblich wird man im Neuen Testament einen Grund für eine
solche Anschauungsweise suchen; vielmehr sagt hier der Apostel im entgegengesetzten Sinn ganz ausdrücklich: „So richte
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euch nun niemand über Speise oder Trank, oder in Anerkennung eines Festes oder Neumondes, oder von Sabbathen, die
ein Schatten der zukünftigen Dinge sind, der Körper aber ist
Christus" (Kol 2, 16. 17). „Ihr beobachtet Tage und Monate
und Zeiten und Jahre. Ich fürchte um euch, ob ich nicht etwa
vergeblich an euch gearbeitet habe" (Gal 4, 10. 11). „Der eine
hält einen Tag vor dem anderen; der andere aber hält jeden
Tag gleich" (Röm 14, 4). Und die letzteren nennt Paulus die
Starken, jene ersteren die Schwachen. Er beweist also, wie
hieraus hervorgeht, tatsächlich, daß er vom Gesetz frei ist und
benutzt diese Freiheit gegenüber denen, die unter dem Gesetz
waren, wiewohl er sie in ihrer Schwachheit tragen will.
Im allgemeinen richten sich solche, welche auf einer strengen
Sabbathfeier bestehen, meistens unwillkürlich nach ihrer persönlichen Anschauung. Je nach den Umständen erlaubt sich
der eine dieses, der andere jenes. Keiner hält sich in allem an
die Vorschriften des Gesetzes. Macht man darauf aufmerksam,
so wird das Evangelium als Deckmantel gebraucht, ohne zu
bedenken, daß dadurch das ganze System umgestürzt wird.
Wer an der sogenannten Entheiligung des Sabbaths Anstoß
nimmt, wer dem, der sich einer solchen Entheiligung schuldig
macht, gleich das Gesetz vorhält, muß sich natürlich selber dem
Gesetz in allen Teilen unterwerfen und darf sich weder die
geringste Abweichung erlauben, noch bei einer etwaigen Übertretung sich auf das Gesetz berufen. Dies würde ganz willkürlich und eigenwillig sein und weder vor Gott noch vor den
Menschen einigen Wert haben. Will man in dieser Beziehung
sich auf das Gesetz berufen, so stellt man sich bei Übertretung desselben unter den Fluch; und die augenscheinliche Abweichung besteht doch wohl darin, daß man den Samstag, den
siebenten Tag der Woche, in den Sonntag, den ersten Tag der
Woche, zu verwandeln für gut befunden hat. Die Heilige Schrift
gibt nicht die geringste Anleitung dazu, sondern bezeichnet
vielmehr den Unterschied ganz deutlich mit den Worten: „Aber
spät am Ende des Sabbaths, in der Dämmerung des ersten
Wochentages usw." (Mt 28,1). Keineswegs ist hier der siebente
Wochentag in den ersten verwandelt. Der Sabbath war vorüber,
der erste Tag der Woche begann. Der erste Tag bezeichnet eine
ganz neue Ordnung; es ist der Tag eines neuen Zeitabschnitts,
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nämlich des der Auferstehung. Auch finden wir in der Apostelgeschichte, daß der Sabbath fortbestand und die Apostel an diesem Tage in der Synagoge lehrten, während sie sich am ersten
Wochentage zum Brotbrechen versammelten. Will man den im
Gesetz gebotenen Sabbath feiern, so muß dieses selbstverständlich am Samstag geschehen, keinesfalls aber am ersten
Wochentage, dem herrlichen Tage der Auferstehung. Geschieht
dies, so erniedrigt man diesen Tag zu einem Tag der ersten
Schöpfung und knüpft ihn an die Erde. Man richte sich doch in
allem nach der Schrift, und man verwirre nicht den schönen
Zusammenhang ihrer herrlichen Grundsätze.
Viele andere, welche die oben angeführten Widersprüche
einigermaßen begreifen, rechtfertigen ihre Anschauung betreffs
der Sabbathfeier durch die Behauptung, daß das Gebot einer
solchen Feier im Gesetz nur eine Wiederholung des bei der
Schöpfung gegebenen Gebotes sei und daß jener Ruhetag, den
Gott lange vor der Gesetzgebung einsetzte, ohne Widerrede
beobachtet werden müsse. Laßt uns diese Behauptung etwas
näher beleuchten. Wir lesen in 1. Mo 2: „So wurden vollendet
der Himmel und die Erde und all ihr Heer; und Gott hatte am
siebenten Tage sein Werk vollendet, das er gemacht hatte, und
er ruhte am siebenten Tage von all seinem Werk, das er
gemacht hatte; und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte
ihn, denn an demselben ruhte er von all seinem Werk, das
Gott geschaffen hatte, indem er es machte." — Hier findet sich
nicht die mindeste Andeutung, daß der Mensch den Sabbath
heiligen soll. Ein solches Gebot wäre auch, da Adam und Eva
nichts zu tun hatten, als sich in Gott zu freuen, ganz und gar
zwecklos gewesen. Es wird uns hier nur gesagt, daß Gott ruhte,
weil Sein Werk vollbracht war. Weil es nichts mehr zu tun gab,
so ruhte Er, der in sechs Tagen alles geschaffen hatte, am
siebenten Tage. Alles war vollendet und vollkommen, alles war
sehr gut, alles war gerade so, wie Er es gemacht hatte; und von
diesem Werk ruhte Er. Das Schöpfungswerk war vollbracht;
Gott hielt einen Ruhetag.
Das ist der wahre Charakter des Sabbaths. So viel uns die
Heilige Schrift darüber sagt, ist dies der einzige Sabbath, den
Gott gefeiert hat. Wohl lesen wir, daß das Gebot Gottes, den
Sabbath zu halten, an den Menschen gerichtet wurde und der
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Mensch dieses Gebot übertrat; aber die Worte: „Gott ruhte",
finden wir nur bei der Schöpfung. Im Gegenteil sagt der Herr
Jesus ausdrücklich: „Mein Vater wirkt bis jetzt und ich wirke."
— Im eigentlichen Sinn des Wortes kann der Sabbath erst dann
gefeiert werden, wenn alle Arbeit vollendet ist. Er konnte nur
gefeiert werden inmitten einer unbefleckten Schöpfung, einer
Schöpfung, wo nichts von Sünde zu entdecken war. Gott kann
nicht ruhen, wo die Sünde wohnt. Man schaue um sich, und
man wird begreifen, daß Gott in der gegenwärtigen Schöpfung
nicht ruhen kann. Die Dornen und Disteln, verbunden mit den
Tausenden jener niederbeugenden, demütigenden Früchte verkünden es mit lauter Stimme: „Gott muß wirken; Er kann
nicht ruhen." Kann Er einen Ruheplatz haben inmitten der
Seufzer und Tränen, der Beschwerden und Leiden, der Krankheiten und des Todes, der Untreue und der Schuld einer verderbten Welt? Kann Er unter solchen Umständen Sabbath
halten? Unmöglich. Die Heilige Schrift sagt es uns unzweideutig, daß Er von der Schöpfung an bis jetzt unaufhörlich und
ohne zu ruhen wirkt. Von dem Fall Adams an bis zur Menschwerdung Christi wirkte Gott, von der Menschwerdung bis zum
Kreuze wirkte der Sohn Gottes, und vom Pfingstfeste an bis
jetzt wirkt der Heilige Geist. —
Und in der Tat, während der Herr Jesus auf Erden war, gab es
für Ihn keinen Sabbath. Allerdings vollendete Er Sein Werk
vollkommen; aber wo brachte Er Seinen Sabbath zu? Im Grabe.
— Der Herr Jesus, Gott, geoffenbart im Fleische, der Herr des
Sabbaths, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der
Erde, Er brachte den Sabbath in dem finsteren und schweigenden Grabe zu. Hat das keine Bedeutung? Haben wir nichts
daran zu lernen? Kann dieser Tag, an dem der Sohn Gottes im
Grabe lag, in Ruhe und Frieden und in dem Bewußtsein, daß
es nichts mehr zu tun gebe, gefeiert werden? Unmöglich. Wir
haben weiter keinenBeweis für die Unzulässigkeit derSabbathfeier nötig. Es mag unser Erstaunen erregen, daß Er, der Heilige
Gottes, gerade am Sabbath im Grabe lag; aber ach! die Ursache
ist offenbar: Der Mensch ist ein gefallenes, verdorbenes, schuldiges Geschöpf. Sein schrecklicher Gang auf dem Wege der
Sünde hat in der Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit sein
Ende gefunden. Der Stein vor dem Grabe des Herrn bildet den
Schlußstein in der Geschichte des Menschen.
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Was aber tat der Mensch, während Jesus im Grabe lag? Er
feierte den Sabbath. Sonderbare Widersprüche! Christus liegt
im Grabe, um Genugtuung für einen entheiligten Sabbath zu
leisten; und der Mensch feiert den Sabbath, als ob der Sabbath
nie gebrochen wäre. Ach! es war der Sabbath des Menschen,
nicht der Sabbath Gottes; ein Sabbath ohne Christum, eine
leere, kraftlose, wertlose Form. —
Die Tatsache, daß Christus am siebenten Tage im Grabe lag,
liefert uns den unwiderlegbaren Beweis, daß der Sabbath der
ersten Schöpfung angehört, jener Schöpfung, deren Ende
Christus durch Seinen Tod geworden ist. Der erste Mensch war
verloren; und Christus machte diesem Zustand durch Seinen
Tod ein Ende. Mit Seiner Auferstehung begann eine neue
Schöpfung. Er ist das Haupt dieser neuen Schöpfung,
und die Gläubigen sind die Glieder. „Das Alte ist
vergangen; siehe, alles ist neu geworden." Der erste Wochentag wurde zugleich der erste Tag der neuen Schöpfung. Am
Sabbath blieb der Herr im Grabe, ein sprechendes Zeugnis, daß
noch nicht an Ruhe zu denken sei: aber sobald der Sabbath
vorüber war, sehen wir Ihn am ersten Wochentage aus dem
Grabe steigen — ein lebendiges Zeugnis, daß Gott das vollbrachte Werk Christi als gut anerkannte. Das ist jetzt der Tag des
Lebens, der Freude, der Ruhe; denn alles ist vollbracht, und
nichts ist mehr zu tun übriggeblieben. Dieser Tag führt uns in
den Himmel und in die himmlischen Reiche ein. Welch ein treffendes Bild der Gnade! Es heißt jetzt ebensowenig:„SechsTage
sollst du arbeiten und am siebenten Tage sollst du ruhen!",
als: „Tue dies, und du wirst leben!" Nein, jetzt heißt es: „Ruhe,
und dann gehe an deine Arbeit!" oder: „Lebe, und dann bringe
die Früchte des Lebens hervor!" Herrliches Evangelium! Das
läßt uns aus freier Brust Atem holen. Nicht länger brauchen
wir zu seufzen unter der unerträglichen Bürde eines unerfüllbaren Gesetzes, sondern wir können, da wir des Lebens Gottes
teilhaftig sind und Seine Kraft besitzen, in Freiheit Gott verherrlichen, der uns von der Sünde erlöst und von den Fesseln
Satans befreit hat.
Das also ist die wahre Bedeutung des ersten Wochentages.
Welch ein weites Feld herzerhebender Betrachtungen eröffnet
uns dieser Tag! Er ruft uns gleichsam zu: „Alles ist vollbracht;
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Gott hat das Werk Seines Sohnes angenommen, und darin
möget ihr ruhen." — Dieser Tag verkündigt uns, daß Sünde,
Tod und Verdammnis im Grabe geblieben sind und daß Leben
und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht worden sind. Es ist
das Licht jener herrlichen, himmlischen Ruhe, die wir bald mit
Jesu genießen werden. Wir sind mit Christo gestorben und
haben aufgehört, Kinder des ersten Adam zu sein. Wie könnten wir nun noch den Tag der ersten Schöpfung feiern? Dadurch würden wir nur unseren herrlichen Standpunkt in der
neuen Schöpfung verleugnen. Aber welch ein herrliches Vorrecht ist es andererseits, sich am ersten Tag der Woche mit den
Brüdern versammeln zu dürfen, um als Glieder Seines Leibes
über die vollbrachte Erlösung zu frohlocken! Wie herrlich ist
es, nach dem Vorbilde der ersten Christen gerade an diesem
Tage zusammenzukommen, um den Tod des Herrn zu verkündigen! Wie geziemt es sich, an diesem Tage Seiner Auferstehung
an Seinem Tische versammelt zu sein, zum Gedächtnis Seines
Todes und Seines vollbrachten Werkes! Der Herr ist gestorben,
gestorben für uns; das ist es, was uns das Brot und der Kelch
zurufen. Der Herr ist auferstanden; Er lebt für uns! das ist die
laute Verkündigung des ersten Tages der Woche. Welch ein
reicher Trost, während wir an Seinem Tisch versammelt sind!
Ja wahrlich, der erste Tag der Woche kann nicht hoch genug
geschätzt werden. Zweimal erschien der Herr an diesem Tage
Seinen Jüngern, als sie in dem Obersaal beisammen waren
(Joh 20). An diesem Tage versammelten sich die ersten Jünger,
um das Brot zu brechen (Apg 20, 7); und in der Offenbarung
wird dieser Tag der „Tag des Herrn" genannt (Offb 1, 10).
Daraus geht deutlich hervor, daß es in der Absicht des Herrn
liegt, daß wir an diesem Tage ruhen und unser Zusammenkommen nicht versäumen. Er hat uns nicht ein Gebot, sondern
das herrliche Vorrecht gegeben, uns an diesem Tage vorzugsweise mit Seinem Wort zu beschäftigen und, von allem abgesondert, uns in unsere himmlischen Segnungen zu vertiefen.
Dieser Grundsatz ist von großem Gewicht. Es ist ein Vorrecht,
eine Gnade Gottes, daß wir am ersten Tag der Woche ruhen
dürfen. Er hat uns durch die allgemeine Einrichtung der Verhältnisse, in denen wir leben, in den Stand gesetzt, dies tun zu
können, ohne äußere Verluste zu leiden. Es ist durchaus keine
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Sünde, wenn wir am Tage des Herrn arbeiten; denn wo kein
Gebot ist, da ist auch keine Übertretung. Am Sonntag arbeiten
ist ebensowenig Sünde wie am Montag arbeiten, weil für den,
der die Freiheit versteht, alle Tage gleich sind. Jemanden, weil
er am Sonntag gearbeitet hat, von der Geineinschaft der Gläubigen auszuschließen, würde eine verkehrte Handlung sein.
Paulus sagt: „Wer den Tag achtet, achtet ihn dem Herrn"
(Röm 14, 6). Wir können aus Liebe für den Herrn uns freiwillig alles Arbeitens an Seinem Tage enthalten; aber wir dürfen nie vergessen, daß es der Tag der Auferstehung ist, der Tag
des Lebens, der Tag, auf den kein Gesetz Anspruch machen kann.
Möge daher niemand einen Christen mit dem eisernen Joch des
Gesetzes an den siebenten Tag binden, während es sein herrliches Vorrecht ist, den ersten Tag zu feiern! Möge niemand
ihn aus dem Himmel, wo er ruhen kann, auf eine dem Fluch
unterworfene Erde bringen, wo keine Ruhe zu finden ist.
Aber da es ein uns von Gott geschenktes Vorrecht ist, am ersten
Tage zu ruhen, so ist es nötig zu untersuchen, ob wir uns dieses
Vorrechtes in angemessener Weise bedienen, ob wir es schätzen, oder ob wir es mit gleichgültigen Blicken betrachten. Denn
wenn der Herr uns das Vorrecht geschenkt hat, von unserer
Arbeit ruhen zu dürfen, wenn Er uns die Gelegenheit gegeben
hat, uns versammeln zu können, wird es da wohl zu Seiner
Ehre, zu Seiner Verherrlichung dienen, wenn wir dieses Vorrecht, diese Gelegenheit unbenutzt lassen? Werde ich Ihn verherrlichen, wenn ich meine tägliche Arbeit am Sonntag verrichte, während meine Brüder um Seinen Tisch versammelt
sind? Oder sollte Er es gutheißen, wenn ich mich mit einem
von harter Arbeit ermüdeten Körper, halb schlafend, in der
Versammlung einfinde? Nein, sicher nicht. Nun, das ist genug,
um die Bedeutung dieses Tages zu begreifen.
„Aber" — wenden vielleicht etliche ein — „weil es doch keine
Sünde ist, am Sonntag zu arbeiten, warum sollte ich es denn
gänzlich einstellen?" Ach! Kennt Ihr, liebe Brüder, keine höheren Beweggründe für euren Wandel, als Gesetz? Das wäre in
der Tat beklagenswert und würde beweisen, daß Ihr noch nicht
tief in den Geist des Evangeliums eingedrungen seid. Alles,
was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde. Das Essen ist keine
Sünde an und für sich; aber es kann für mich zur Sünde
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werden, wenn ich es nicht zur Ehre Gottes tue. Und könnt Ihr
mir mit aufrichtigem Herzen versichern, daß Ihr am Tage des
Herrn Eure Arbeit zu Seiner Ehre im Glauben verrichtet? Ihr
werdet es nicht können; und darum bitte ich Euch, doch nicht
die Vorrechte gering zu schätzen, die Gott Euch gegeben hat!
Allerdings können Umstände obwalten, wo es nötig ist, zu
arbeiten, und wo man es mit völliger Ruhe und in dem Bewußtsein tun kann, daß es dem Herrn wohlgefällig ist. Aber in
einem solchen Fall wird man es schmerzlich fühlen, durch die
Umstände gezwungen zu sein, auf ein so herrliches Vorrecht
verzichten zu müssen. Befindet man sich in einer Stellung,
wo man genötigt ist, am Sonntag zu arbeiten, dann sollte es,
wie glänzend diese Stellung auch sein mag, doch unser Bestreben sein, daraus befreit zu werden oder der Zeit entgegenzuharren, wo der Herr uns daraus erlöst. Es kommt dabei stets
auf die Stellung des Herzens an. Wenn man das uns von Gott
verliehene Vorrecht nach seinem Wert schätzt und, jenachdem
es die Umstände einigermaßen zulassen, mit Sorgfalt benutzt,
dann wird man sicher nicht beschuldigt werden, daß man die
Freiheit zum Vorwande für das Fleisch gebrauche. Aber der
Beweggrund zur Arbeit ist ein durchaus sündlicher, wenn man
sie verrichtet, um mehr Geld zu verdienen, oder um am folgenden Tag etwas weniger zu tun zu haben. Dann ist Habsucht,
Bequemlichkeit oder Mißtrauen gegen die Durchhilfe Gottes
die Quelle, als ob Er, der uns die Ruhe gestattet, nicht auch
dafür sorgen würde, daß wir durch diese Ruhe an dem Notwendigen keinen Mangel leiden. In diesem Falle gebraucht man
die Freiheit zu einem Vorwand für das Fleisch und bedient sich
des Wortes Gottes, um seine eigene verkehrte Handlungsweise
zu rechtfertigen. Ach, leider gibt es viele Christen, die so handeln. Aber sie können überzeugt sein, daß sie den Herrn
betrüben. Und leider gibt es auch solche, die durch ihr Arbeiten
am Tage des Herrn ihre christliche Freiheit an den Tag legen
wollen. Wenn Gott Freiheit zur Ruhe gibt, wie töricht ist es
dann, durch Arbeiten seine Freiheit an den Tag legen zu wollen!
Und außer, daß man durch ein solches Verfahren seine Gleichgültigkeit gegen die Vorrechte Gottes kundgibt und Gott dadurch betrübt, versündigt man sich auch gegen solche Brüder,
die einer gesetzlicheren Auffassung über diesen Tag zugetan
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sind. Es würde natürlich töricht sein, wenn man sich stets an
solchen stören wollte, die in allem, was nach ihrer Meinung am
Tage des Herrn zu tun verboten ist, Anstoß und Ärgernis
nehmen; denn dadurch würde man sich, angesichts der großen
Meinungsverschiedenheit in diesem Punkt, gänzlich zu einem
Sklaven des Menschen machen und sich schließlich unter ein
noch schwereres Gesetz stellen, als das vom Sinai. Wir sind
Knechte Gottes, aber nicht Sklaven der Menschen. Und deshalb
kann ich mich, wo ich in meinem Innern sicher bin, Gott verherrlichen zu können, keineswegs dem Urteil der Menschen
unterwerfen. Jedoch sollen wir, soviel wie möglich, alle Ursachen zum Ärgernis zu beseitigen suchen, namentlich denen
gegenüber, die ihre Freiheit zum Nutzen des Fleisches gebrauchen. Überdies steht für uns alle geschrieben: „Wer den
Tag achtet, achtet ihn dem Herrn."
Wir müssen daher einander völlige Freiheit in dergleichen
Dingen lassen. Es ist eine Sache des Gewissens. Willst du den
Sabbath halten, ich werde mich nicht daran ärgern; aber dann
ärgere auch du dich nicht, wenn ich den Tag des Herrn achte
und mich durch kein Gesetz binden lasse. Meine Frage an dich
wird immer sein: „Kannst du mir deine Meinung durch die
Schrift beweisen?" Und dann halte ich es für meine Pflicht,
dein Gewissen zu unterweisen. Beharrst du bei deiner Meinung, so wirst du gewiß manchen Genuß entbehren, weil das
Verständnis der Bedeutung des Tages des Herrn in enger Verbindung mit dem Erkennen der Freiheit in Christo, dem wahren
und vollen Inhalt des Evangeliums, steht. —
Und solange andere fortfahren, an diesem Tage, sei es aus
Habsucht, Bequemlichkeit oder Unglauben, sei es in der verwerflichen Absicht, ihre Freiheit bekunden zu wollen, ihre
gewöhnliche Arbeit zu verrichten, so beweisen sie nur, daß sie
die Bedeutung des Tages des Herrn nicht verstehen und die
Vorrechte Gottes gering achten. Möge der Herr uns allen Weisheit und Licht schenken, um Sein Wort und Seinen Willen zu
verstehen und diesen Willen mit einem Herzen voll Glauben
und Liebe zu erfüllen.
238
Der Schatten des Apfelbaumes
„Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein
Geliebter inmitten der Söhne. Ich habe mich mit Wonne in
seinen Schatten gesetzt; und seine Frucht ist meinem Gaumen
süß. Er hat mich in das Haus des Weins geführt und sein Panier
über mir ist die Liebe" (Hl 2, 3. 4).
Der in dieser schönen Stelle vorausgesetzte Seelenzustand ist
der einer vollkommenen Ruhe und Freude. Hier hat die Seele
nicht nur teilweise Ruhe — etwa Ruhe für einen Tag, für einen
Monat oder für ein Jahr, sondern sie hat eine wirkliche Ruhe in
Christo gefunden — eine Ruhe, die ihrem Charakter nach göttlich und ihrer Dauer nach ewig ist. „Ich habe mich .. . gesetzt."
Welch eine beachtenswerte Stellung! Hier gibt es keine Arbeit
mehr für den Sünder; hier beginnt eine Fülle von Arbeit für
den Heiligen, für den Diener. Hier zeigen sich nicht mehr die
Beschwerden in den Ziegelhütten Pharaos; hier nimmt die
reiche Tätigkeit in dem Weinberg Christi ihren Anfang. Die
Arbeit des Gläubigen beginnt nach der Ruhe, nicht vorher.
Und diese Ruhe findet sich „in seinem Schatten." Sie findet
sich nicht in dem Schatten meiner Werke, meiner Gefühle,
meiner Formen, meiner Erfahrungen, auch nicht in dem Schatten gewisser Regeln, Lehren oder Einrichtungen, wie wertvoll,
wahr und wichtig sie auch sein mögen. Alle diese Dinge haben
ihren besonderen Platz und ihren besonderen Wert, aber wir
sollten es nie wagen wollen, uns in ihren Schatten zu setzen;
denn in diesem Fall würden sie sich nicht besser erweisen als
der Wunderbaum Jonas, der in einer Nacht hervorsproß und in
einer Nacht verdorrte. Nein, mein Leser; Christus muß es sein
— nur Christus und stets Christus. Was mich betrifft, muß ich
„sitzen" und meine Ruhe, meinen Rastplatz, meinen Schutz
und meine Befriedigung „in seinem Schatten" gefunden haben.
Dann ist alles jetzt und für immer an seinem Platze.
Und — möchte ich fragen — wie viel Schutz genießt eine Seele,
die nur in Christo ihren Ruhepunkt hat? Gerade so viel, wie
Christus imstande ist, zu gewähren. Wenn ich im Schatten
eines Baumes oder eines Felsens sitze, so erfreue ich mich des
Schutzes gegen die brennenden Sonnenstrahlen in dem Grade,
239
wie der Baum oder der Felsen mich beschatten kann. Wenn
daher die Seele durch Glauben in dem Schatten Christi ruht, so
ist nur die eine Frage: Wie viel Schutz kann Er gewähren? Der
Glaube kennt die Antwort.
Nun, mein Leser, bist Du in dem Genuß des Schattens des
Apfelbaumes? Pflückst Du die reife Frucht, die in vollen
Büscheln um Dich herum hängt? Erlaubst Du es Jesu, Dich in
„das Haus des Weins" einzuführen? Findest Du, daß „Sein
Panier über Dir" Liebe ist? Sei versichert, daß die Seele „im
Haus des Weins" und in „Seinem Schatten", und sonst
nirgends, gedeihen kann. O möchtest Du dies in Deinen glücklichen Erfahrungen tagtäglich beweisen! Möchte Christus Dein
bestes Teil sein! Möchtest Du Dich mit stets wachsendem Verlangen von Ihm nähren! Möchtest Du noch mehr kosten von
der lebendigen Frische Seiner Gnade und dadurch zum Eifer,
zur Kraft und zu persönlicher Ergebenheit geleitet werden, bis
Du gerufen wirst, Deinen Platz für immer neben dem Baume
des Lebens einzunehmender inmitten des Paradieses Gottes ist!
*
240
Inhalts-Verzeichniß des Jahrgangs 1867. | Seite |
Das kananäische Weib | 1 |
Warum öffnest Du nicht? | 14 |
Jesus unser Prophet, unser Hohepriester und unser König. | 19 |
Ein göttliches Heilmittel für menschliche Trauer | 20 |
Gedanken über den Gottesdienst und das Amt bes heiligen Geistes | 21 |
Die goldenen Fäden | 36 |
Stromaufwärts | 37 |
Das Gebet | 38 |
Woran kann man die Leitung des Heiligen Geistes wahrnehmen | 39 |
Verschiedene Bemerkungen gegenseitige Abhängigkeit, in den Erbauungsstunden | |
Unmöglich möglich | 47 |
Ruhe für das Herz | 55 |
Ihr seid vollendet in Ihm" | 60 |
Wir sind dem Gesetz gestorben | 61 |
Ihr seid vollendet in Ihm". (Fortsetzung) | 79 |
Eine gesegnete Mischung | 81 |
Ein Wort für alle, welche unsern Herrn Jesum Christum | 95 |
Die Thätigkeit Christi für sein Volt | 102 |
Ihr seid vollenbet in Ihm." (Fortsetzung). | 104 |
Ein auffallender Gegensatz | 117 |
Die Abnahme im geistlichen Leben | 125 |
Glaube und Demuth | 131 |
Das Buch und die Seele | 140 |
Jhr seid vollendet in Ihm." (Schluss) | 143 |
Jesus Christus, die einzige Triebfeder, Weisheit und Kraft | 145 |
Mache Dich auf und ziehe gen Bethel | 150 |
Der sterbende Räuber | 158 |
Der sterbende Räuber. (Schluss) | 165 |
Seid Niemand irgend etwas schuldig" | 172 |
Welches sind die Kinder der Weisheit. | 183 |
Frieden durch Glauben. | 185 |
Warum öffnest Du nicht?
„Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an; wenn jemand meine
Stimme hört und die Tür auftut, zu dem werde ich eingehen
und das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir." (Offb
3, 20.) Diese Worte richtet Jesus an die Versammlung in
Laodicäa; und Er richtet sie auch an den Sünder. Ja, es wäre
möglich, daß der Herr auch an das Herz des einen oder anderen meiner Leser geklopft und vergeblich geklopft hätte.
Und eben an solche wende ich mich mit der ernsten Frage:
„Warum öffnest du nicht?"
Ich will versuchen, einige Ursachen zu bezeichnen, die im allgemeinen den Menschen hindern, dem Herrn das Herz aufzuschließen. Viele kennen Ihn nicht, der da sagt: „Ich stehe an
der Tür und klopfe an." — Willst Du, mein teurer Leser,
wissen, wer Er ist? Er ist Jesus, der Sohn Gottes, der Seine
Herrlichkeit verlassen hat, um Sünder selig zu machen. Seine
Liebe war so groß, daß Er Sich in Elend und Jammer hineinstürzte und den Zorn Gottes trug, um vor Dein Herz treten und
rufen zu können: „Tue mir auf!" O wenn Du Seine Liebe
kanntest, Du würdest nicht einen Augenblick länger zögern,
Ihm die Tür Deines Herzens aufzuschließen. Du würdest Dich
sicher wundern, wenn Du den König an der Tür eines Bettlers
stehen sähest mit der Bitte, sie ihm zu öffnen. Und wenn Du
Ihn kanntest, der klopfend an Deiner Tür steht, sicher, Du
würdest in Anbetung niedersinken; denn Er kann sagen: „Hier
ist mehr als Salomo!" Er ist der König der Könige und dei
Herr der Herren. „Ihm ist alle Gewalt gegeben im Himmel und
auf Erden", vor Ihm werden sich einmal alle Knie beugen;
und alle Zungen werden bekennen, daß Er der Herr ist. Könntest Du wohl jemanden Dein Herz geben, der eine höhere
Würde besäße, als Jesus? Kennst Du jemanden, der höher und
erhabener ist, der mehr Liebe hat, und der mit weniger Eigennutz Dich sucht, als Jesus? Er hat Dich nicht nötig; und dennoch sucht Er Dich. O sicher, wenn Du Ihn kanntest, Du würdest ungesäumt Dein Herz vor Ihm aufschließen.
Bei vielen ist Weltsinn die Ursache, daß sie Ihm nicht das Herz
öffnen. Sie wissen sehr wohl, daß, wenn sie Jesu den Eintritt
20
gestatten, sie auch berufen sind, Ihm zu dienen. Sie wissen,
daß Er gesagt hat: „Niemand kann zwei Herren dienen." Sie
möchten Ihn zwar gern besitzen, um mit Ruhe an den Tod
denken zu können; aber um Seinetwillen die Welt ganz preiszugeben und auf ihre Genüsse gänzlich zu verzichten, eine
solche Forderung ist zu groß. Wie? zu groß? Aber weißt Du
denn nicht, daß „diese Welt vergeht mit ihrer Lust?" Glaube
mir, daß das, was Dich zurückhält, nur Schein ist, dessen Täuschung Du gar bald erfahren wirst, nur eine Seifenblase, deren
schillernde Farben Dein Auge verblenden, die aber zerplatzen
wird, sobald Du diese Erde verlassen mußt. Und dafür verzichtest Du auf jenes ewige Glück, das Jesus Dir geben will?
O ich bitte Dich, lausche doch auf die Stimme dessen, der Dich
so freundlich ruft; denn „was wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewänne, aber seine Seele einbüßte?"
Andere berufen sich in verkehrter Weise auf ihre Ohnmacht,
als auf die Ursache, warum sie nicht öffnen. Sie sagen: „Ich
möchte wohl gerne; aber ich kann nicht." O mein teurer Leser!
Wenn es sich um die Ohnmacht des Menschen handelt, dann
versichere ich Dir, daß ich sie aus Erfahrung kenne; ja, ich bin
überzeugt, daß die Ohnmacht des Menschen größer ist, als
jene meinen, die sagen: „Ich kann nicht!" — Das Bild, das der
Herr hier gebraucht, stellt uns die Ohnmacht des Menschen
deutlich vor Augen; denn wäre der Mensch imstande, sich selbst
helfen zu können, dann würde das Kommen Jesu unnötig
sein; aber eben weil der Mensch ein hilfloses Geschöpf ist,
darum steht Er an der Tür und klopft. Doch das Bewußtsein
der Ohnmacht wird bei vielen nur zum Ruhekissen gebraucht.
Und in vielen Fällen kommen die Worte: „Ich kann nicht!"
von den Lippen solcher, deren Gewissen über ihren Zustand
erwacht ist, so daß sie mit Furcht an die Ewigkeit denken, die
sich dann aber durch allerlei Dinge zurückhalten lassen, bei
Jesu ihr Heil zu suchen, und sich sogar freuen, einen Vorwand
gefunden zu haben, der einen Schein von Wahrheit an sich
trägt — einen Vorwand, der nach ihrer Meinung vor Gott und
Menschen Gültigkeit hat. Aber wie entsetzlich wird es für sie
sein, wenn sie in der Ewigkeit erfahren werden, daß nicht ihre
Ohnmacht die Ursache ihres Verlorenseins ist, sondern daß sie
21
diesen Vorwand nur gebraucht haben, um ruhig vorangehen
und in ihrem Zustande bleiben zu können. Ist dieses •. „Ich
kann nicht!" auch Dein Vorwand, mein Leser? Hast auch Du
Dich etwa vielleicht schon seit Jahren hinter diesem Schilde
verborgen? O, dann bitte ich Dich, einmal mit aufrichtigem
Ernst zu erwägen, wie schrecklich es ist, daß Du in all dieser
Zeit Jesu widerstanden und Ihn verhindert hast, Dich zu retten.
Ein einfältiges Herz, das Verlangen nach Jesu hat, denkt an
eine solche Ohnmacht nicht, sondern freut sich zu hören, daß
jemand da ist, der Liebe und Macht genug besitzt, um erretten
zu können. „Siehe ich stehe an der Tür und klopfe an!" — ruft
der Herr auch Dir zu; und solange Du nicht öffnest, widerstehst Du Ihm.
Bei noch anderen muß die Ursache darin gesucht werden, daß
sie fürchten getadelt und abgewiesen zu werden. Sie sind es,
die da sagen: „Meine Sünden sind zu groß und es sind zu
viele." Ist dies wirklich Deine aufrichtige Meinung? Ist dies
wirklich das Gefühl Deines Herzens? Ach! leider gebrauchen
viele die Größe ihrer Sünden, so wie andere ihre Ohnmacht
ebenfalls zu einem Vorwande, um ihr Herz für Jesu geschlossen zu halten. Wenn Du es aber aufrichtig meinst, wohlan,
dann ist Jesus der einzige, der Dir in einem solchen Zustand
helfen kann. Zu welchem anderen Du auch Deine Zuflucht
nehmen magst, so wird doch alles vergeblich sein. Die Anstrengungen die Du machst, um Dich selbst zu ändern,
werden ohne Erfolg bleiben. Die Reinheit, die ein heiliger
Gott fordert, ist keineswegs dadurch zu erlangen, daß man
etwas weniger sündigt, oder etwas besser lebt, oder etwas mehr
betet, oder etwas dieser Art verrichtet. Oder fürchtest Du Dich,
im Hinblick auf Deine Sünden, dem heiligen und reinen Jesus
die Tür Deines Herzens zu öffnen? Fürchtest Du Dich, Ihn
einzulassen in eine solche unreine Wohnung? Willst Du vielleicht versuchen, erst alles selbst in Ordnung zu bringen und
dann die Tür zu öffnen? Aber dann würdest Du keinen Jesus
mehr nötig haben. Je unreiner Du bist, desto mehr brauchst
Du einen Heiland. Der Herr selbst will alles in Ordnung bringen; Du hast nichts zu tun, als mit Bewunderung und Anbetung anzuschauen, wie der Herr Jesus imstande ist, Dich, den
Verlorenen, zu retten, Dich, den Gottlosen, in den Augen
22
Gottes zu rechtfertigen. Du wirst durch Dein Wirken und
durch Deine Anstrengungen dem Herrn nur hinderlich sein
und Ihm entgegenwirken. Er weiß alles, Du brauchst vor Seinem Auge nichts zu verbergen. Er weiß, wie gottlos und unrein
Du bist; und dieses verhindert Ihn nicht, bei Dir anzuklopfen,
sondern es ist für ihn um so mehr ein Grund, daß Er Dir mit
Nachdruck zuruft: „Tue mir auf!" Denke nicht, daß Er bei
Deinem Anblick überrascht werden wird; denn Er sagt: „Ich
kenne deine Werke!" Zögere daher nicht länger, sondern tue
Ihm noch heute auf. Er hat nirgends in Seinem Wort die
Menge und Größe der Sünden bezeichnet, aus denen Er die
Seelen befreien kann. Er, der klopfend an Deiner Tür steht,
ruft Dir zu: „Wenn Eure Sünden wie Scharlach sind, wie
Schnee sollen sie weiß werden." (Jes 1, 18.)
Wieder begegnet man anderen, die dem Herrn nicht öffnen,
weil sie Ehre und Ansehen bei den Menschen einzubüßen
fürchten. Sie haben recht; denn der Herr Jesus selbst sagt:
„Wenn ihr von der Welt wäret, so würde die Welt das Ihrige
lieben; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch
aus der Welt auserwählt habe, darum haßt euch die Welt."
(Joh 15, 19.) Sobald die Jünger dem Herrn folgten, haben sie
dieses erfahren; und jeder, der Ihn kennenlernt und Ihm nachfolgt, macht diese Erfahrung. So lange man in der Welt lebt,
wird man von ihr geachtet und geehrt; doch sobald man auf
die Stimme Jesu lauscht und das Herz vor Ihm aufschließt,
nimmt alles eine andere Gestalt an; dann ist Verachtung Dein
Teil, dann sind jene, die Dich früher liebten, plötzlich Deine
Feinde geworden; und jene, die Dich einst priesen als einen
Mann, mit dem etwas anzufangen sei, überschütten Dich mit
Schimpfnamen, beklagen Dich wegen Deines Brütens und betrachten Dich als für die Welt verloren. Dann hören alle Begünstigungen meistens auf; und mancherlei Arten von Verlusten sind zu beklagen. Siehst Du? dies alles können die Folgen sein, wenn man Jesum aufnimmt, wenn man Ihm das Herz
öffnet. Aber, mein Freund, bedenke einmal, was solchen Erscheinungen gegenübergestellt ist. Der Herr Jesus sagt: „Wer
überwindet, dem werde ich geben, mit mir auf meinem Throne
zu sitzen." (Offb 3, 21.) — Hier das Kreuz, dort die Herrlichkeit; hier Verachtung, dort ein Thron. Wie vieles ich auch um
23
Jesu willen zu leiden haben mag, ja wäre es selbst, daß meine
eigenen Hausgenossen mich hassen werden; dies ist alles nicht
zu vergleichen mit dem, was Jesus für Sünder aufgeopfert hat.
„Er, der er reich war, ist um deinetwillen arm geworden, damit du durch seine Armut reich würdest." (2. Kor 8, 9.) Er hat
den Zorn Gottes getragen, um Dir einen Thron geben zu
können. Wenn die ewige Herrlichkeit und die Rettung Deiner
Seele Dir mehr am Herzen liegt, als eine kurze Zeit der Ehre
und als ein kurzer Genuß der Vorteile von Seiten der Menschen, dann laß Dich nicht zurückhalten, sondern öffne Ihm
Dein Herz, der an Deiner Tür steht und anklopft.
Noch anderen kommt der Besuch Jesu zur ungelegenen Zeit.
Sie wollen ihr Herz öffnen; aber jetzt noch nicht. Sie sind
heute noch mit anderen Dingen beschäftigt. Die Aussichten
dieses Lebens sind gerade jetzt so schön; die Gelegenheit bietet
sich gerade jetzt an, um etwas genießen zu können, worauf sie
verzichten müßten, wenn sie Jesum jetzt Eintritt gestatteten.
Sie denken: „Es wird wohl noch eine gelegenere Zeit kommen,
und dann werde ich auf tun; für jetzt gehe hin/' Denkst Du
auch so, mein teurer Leser? Ach, dann beklage ich Dich; denn
eine gelegenere Zeit wird nie kommen. Und auch könnte es
wohl das letzte Mal sein, daß Jesus bei Dir anklopft; es
könnte das letzte Jahr, der letzte Tag, die letzte Stunde sein,
daß Du noch hier in der Zeit der Gnade lebst. Jesus, Dein
Freund, sagt: „Mache mir auf!" — der Teufel, Dein Feind,
sagt: „Warte bis morgen!" Auf wessen Stimme willst Du
lauschen? Jesus sucht Deine ewige Errettung, der Teufel Dein
ewiges Verderben. O bedenke dies und verwirf jeden Aufschub, „jetzt ist der Tag des Heils!" Jetzt ist Jesus noch bereit,
Dich selig zu machen. Morgen hat Dich vielleicht schon der
Tod von dieser Erde hin weggerafft; und dann ist alles zu spät.
Endlich denken noch andere, daß es für sie gerade nicht so
sehr nötig sei, dem Herrn das Herz zu öffnen. Schrecklicher
Selbstbetrug! Denn für welchen Menschen sollte Jesus nicht
nötig sein? Mein teurer Leser! Vielleicht hast auch Du bisher
der Meinung Raum gegeben, daß Du so gottlos nicht seiest,
wie mancher andere. Vielleicht hält man Dich allgemein für
einen religiösen, braven Mann, so daß Du nicht einsiehst.
24
warum Du Dich bekehren solltest; ja, vielleicht zürnst Du gar
denen, die Dich auf Dein Seelenheil aufmerksam machen. Es
kann möglich sein, daß sich noch gottlosere Menschen finden
lassen, als Du bist; aber auch vielleicht solche, die braver und
religiöser sind, als Du. Wäre dieses das Merkzeichen, ob man
einen Heiland braucht oder nicht, dann möchtest Du vielleicht
recht haben. Aber das ist es nicht, worauf es ankommt.
Saulus, der an pharisäischer Heiligkeit viele übertraf, mußte
ebensogut wie der Räuber am Kreuze einen Jesus haben, um
in den Himmel kommen zu können. Und das gilt auch für Dich.
Du denkst vielleicht genug zu besitzen; und das dachten die
Laodicäer auch; doch der Herr sagt ihnen, daß sie arm, blind
und bloß seien. Ach, laß Dir Deine Augen durch den Herrn
öffnen, und siehe Deinen Zustand. Menschliche Religiosität
und Ehrbarkeit ist vor Gott nicht genügend; nur das Werk
Christi vermag Gott zu befriedigen. Vor Gott ist niemand gu)
von Natur; vor Ihm sind alle Menschen verwerflich; und niemand, wie religiös er auch gewesen sein mag, hat je auf Erden
gelebt, der vor dem Urteil Gottes bestehen kann. Willst Du
es wagen, diesem Urteil entgegenzugehen? Fürchtest Du Dich
nicht vor einem Gott, dem Du Rechenschaft geben mußt? Ein
einziger unreiner Gedanke, ein einziges gottloses Wort, eine
einzige verkehrte Tat ist genug, um vor Gott nicht bestehen
zu können. O betrüge Dich selbst nicht, mein teurer Leser! Du
hast ebenso gut einen Heiland nötig, wie ein anderer. Er steht
an Deiner Tür und klopft an. O mache Ihm doch auf; wirf
Dich als ein armer Sünder zu Seinen Füßen und Du wirst
leben.
Und nun, mein Leser, welche Ursache Dich auch von Jesu
zurückhalten mag, und welche Entschuldigung Du auch vorbringen magst, — ich komme nochmals mit der Frage: „Warum
öffnest Du nicht?" Wer Du auch seiest, und in welcher Stellung
Du Dich auch befindest — Du hast Jesum nötig. Er allein kann
Dich selig machen. Und Er kann dich vollkommen selig machen. Er weiß zu allen Dingen Rat. Dein Zustand kann nicht
so schrecklich sein, oder Er kann und will Dich daraus erlösen.
O gehe darum zu Ihm, zu dem einzigen Arzt der Seele, und
sei versichert, daß niemand, der zu Ihm kommt, hinausgeworfen werden wird.
25
Jesus, unser Prophet,
unser Hoherpriesrer und unser König
Wie wir in Luk 10,39 lesen, saß Maria zu den Füßen Jesu und
hörte Sein Wort, indem sie Ihn als ihren Propheten, als Den
erkannte, der aus dem Schoß des Vaters gekommen war, um
den Vater zu offenbaren.
In Joh 11, 32. 33 finden wir, wie Maria, von ihrer Trauer
niedergebeugt, Jesu weinend zu Füßen fällt und wie Er mit ihr
weint. Hier erkennt sie Ihn als ihren Hohenpriester und findet
in Ihm jemanden, der Mitleiden hat mit ihren Schwachheiten.
Da sie Gnade und Hilfe nötig hatte, naht sie sich mit Freimut
Ihm, der voll von Gnade und Wahrheit ist.
In Joh 12, 3 salbt Maria die Füße Jesu, und „das Haus wurde
von dem Geruch der Salbe erfüllt". Wie lieblich der sich ausbreitende Wohlgeruch sein mochte, so war er doch nicht so
lieblich, wie ihr Glaube für das Herz ihres Herrn war. Ja, der
Glaube war nach Seiner Wertschätzung so kostbar, daß Er
laut erklärte, der Wohlgeruch ihres Glaubens werde bekannt
werden, wohin irgendwie der Schall des Evangeliums dringen
werde.
Matth 26, 12. 13. „Sie hat es zu meinem Begräbnis getan."
Ihr Glaube verstand gewiß das, was die Jünger nicht verstehen
konnten. Sie sah Ihn als das Lamm, geschlachtet für die Sünde
des Volks; und indem sie, wie es mir scheint, über Seinen Tod
und Sein Begräbnis hinweg auf Seine Auferstehung schaute,
salbte sie Ihn als den König in Zion; denn dies ist der Charakter, in dem wir Ihn unmittelbar nach Seinem Einzüge in Jerusalem finden und der hier in Schwachheit darstellt, was Er hernach in der Macht und Herrlichkeit der Auferstehung erfüllen
wird.
Möchte unser Glaube unseren von der Erde verworfenen und
verachteten Herrn in allen diesen Seinen kostbaren Ämtern
erkennen, und zwar sitzend zu Seinen Füßen, um zu lernen,
weinend zu Seinen Füßen in der Gewißheit Seines Mitgefühls
in all unseren Trübsalen, und hinschauend mit Wonne nach
jener Zeit, wo Er als König der Könige und als Herr der Herren
geoffenbart sein wird und wir mit Ihm regieren in Herrlichkeit.
26
Ein göttliches Heilmittel
für menschliche Trauer
Die Auferstehung Jesu ist das Heilmittel Gottes für alle
Krankheiten dieser Wüste. (Siehe Mark 16.) Die Jünger befanden sich in jenen Tagen in großer Unruhe und Herzenstraurigkeit. „Diese ging hin und verkündigte es denen, die mit
ihm gewesen waren, welche trauerten und weinten." (V. 10.)
Sie waren ihres Herrn und Meisters beraubt worden. Der sie
umgebende Schauplatz war für sie eine Wildnis. Jesus war
abwesend; und der schönste Platz in dem großen Weltenraum
ist, wenn Er nicht da ist, nur eine Wüste für das Herz, das
Ihn liebt. Nur Seine Gegenwart machte die Wüste lieblich;
und „wie das Licht des Morgens, wenn die Sonne aufgeht,
ein Morgen ohne Wolken; von ihrem Glänze nach dem Regen
sprießt das Grün aus der Erde". (2. Sam 23, 4.) Daher ist die
Lieblichkeit unserer Hoffnung, daß wir „noch über ein gar
Kleines" bei Ihm sein werden. Und dieses ist auch der Wunsch
Seines eigenen Herzens, das voll von Liebe ist. „Vater, ich
will, daß die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir seien,
wo ich bin; auf daß sie meine Herrlichkeit schauen, die Du
mir gegeben hast." (Joh 17, 24.)
Ein auferstandener Christus begegnet daher allen Bedürfnissen
1. eines beladenen und trauernden Herzens, (V. 3, 4.)
2. eines beunruhigten, sich entsetzenden Geistes, (V. 5, 6.)
3. eines erschrockenen, bestürzten Gemüts, (V. 8.)
4. einer beraubten, trauernden und weinenden Liebe. (V. 10.)
Dann ist der auferstandene Jesus die Kraft, das Evangelium zu
predigen, Teufel auszutreiben, Schlangen zu zertreten und
Kranke zu heilen. Schließlich sehen wir den auferstandenen,
siegreichen, aufgefahrenen Christus sitzen zur Rechten Gottes,
indem Er stets den Charakter des Wirkenden behauptet. „Jene
aber gingen aus und predigten allenthalben, indem der Herr
mitwirkte und das Wort bestätigte durch die darauf folgenden
Zeichen." (V. 20.)
27
Gedanken* über den Gottesdienst
und das Amt des Heiligen Geistes
„Alle Dinge aber wirkt ein und derselbe Geist, einem jeglichen
insbesondere austeilend, wie er will" (1. Kor 12, 11).
1. Die Gegenwart Gottes in der Versammlung.
Die Lehre von der Innewohnung des Heiligen Geistes in dem
„Leibe", der Kirche, sowie von Seiner Gegenwart und Obergewalt in den Versammlungen der Heiligen erschien mir bereits seit vielen Jahren, wenn auch nicht wie die erhabene
Wahrheit der Ausgießung selbst, so doch als eine der wichtigsten Wahrheiten, welche die Tatsache der Ausgießung kennzeichnen. Diese Wahrheit zu verneinen ist einer der bedeutendsten Züge des in unseren Tagen sich kundgebenden Abfalls.
Dieses Gefühl hat sich bei mir keineswegs vermindert, sondern
steigert sich vielmehr in dem Maße, wie die Zeit voranschreitet.
Obwohl ich völlig anerkenne, daß unter allen Parteien und
Benennungen vielgeliebte Kinder Gottes zu finden sind, und
obwohl ich mein Herz gegen jedes Kind Gottes offen zu halten
wünsche, muß ich doch freimütig bekennen, djß mir eine Gemeinschaft mit irgend einer aus bekennenden Christen besiehenden Körperschaft, welche anstatt der obersten Leitung des
Heiligen Geistes die eine oder die andere kirchliche Form unterschiebt, ebenso unmöglich sein würde, wie wenn ich als geborener Israelit an der Aufrichtung eines goldenen Kalbes an
die Stelle des lebendigen Gottes hätte teilnehmen sollen. Wie
tief aber ist in dieser Beziehung die Christenheit gesunken!
Und da wegen dieser Sünde und vieler anderen Greuel das
Gericht über die Christenheit verhängt ist, so vermögen wir
unseren Dank nur mit Trauer und mit dem demütigenden Bewußtsein zu opfern, daß auch wir Anteil an dieser Sünde hatten, und daß wir in Christo einen Leib mit einer großen Zahl
*) Auszüge au? einigen Briefen, die zunächst an eine bestimmte Versamm*
lung gerichtet waren, dann aber auf vielseitiges Verlangen gedruckt worden sind.
Der beschränkte Raum dieser Blätter nötigt uns, die Briefe nur auszugsweise
dem Leser vorzuführen. Anmcrk. d. Übers.
28
von Christen bilden, die bis heute noch in diesem Zustande
verharren und sich sogar dessen rühmen. Wie groß aber auch
die Schwierigkeiten sein mochten, die eine Trennung von diesem Übel begleiten, und denen wir alle mehr oder weniger begegnet sind, so haben sie doch weder meine Überzeugung bezüglich dieses Übels zu erschüttern vermocht, von dem mich
Gott in Seiner Gnade hat ausgehen lassen, noch das "Verlangen
in mir wachgerufen, zu jener Art von menschlicher und amtlicher Autorität zurückzukehren, die sich gewisse Personen anmaßen und dadurch der bekennenden Welt jenes Kennzeichen
aufdrücken, wodurch das bald über sie hereinbrechende Gericht beschleunigt wird.
Aber, geliebte Brüder, da unsere Überzeugung von der Wahrheit und Wichtigkeit der Lehre von der Gegenwart des Heiligen Geistes nicht zu fest sein kann, so erlaubt mir, Euch zu
erinnern, daß die Gegenwart des Heiligen Geistes in den Versammlungen der Heiligen eine Tatsache ist. Wir bedürfen
hierzu eines einfältigen Glaubens. Wir sind sehr geneigt, es zu
vergessen; und dieses Vergessen oder das Nichterkennen
dieser Wahrheit ist die Haupt-Ursache, daß wir uns versammeln, um in der Gegenwart Gottes zu sein, und lebte,
während wir versammelt sind, das Bewußtsein in uns, daß
Gott wirklich gegenwärtig ist, welch eine gesegnete Wirkung
würde diese Überzeugung auf unsere Seelen ausüben! Ist es
doch eine unleugbare Tatsache, daß, so wie wirklich einst
Christus bei Seinen Jüngern auf der Erde war, ebenso wirklich
jetzt der Heilige Geist in den Versammlungen der Heiligen
gegenwärtig ist. Wenn Seine Gegenwart in irgend einer Weise
durch unsere Sinne wahrgenommen werden könnte, wenn
unser Auge Ihn zu schauen vermöchte, wie die Jünger einst
Jesum sahen, welche ernsten Gefühle würden uns erfüllen
und unsere Herzen beherrschen! Gewiß, eine feierliche Stille,
eine ehrfurchtbezeugende Aufmerksamkeit, ein volles Vertrauen zu Ihm — kurz alles, was dem Gliede einer solchen
Versammlung geziemt, würde die unausbleibliche Folge sein.
Wie könnte dann, wenn also die Gegenwart des Heiligen
Geistes unseren äußeren Sinnen enthüllt wäre, irgend eine
Voreiligkeit, wie konnten Gefühle des Neides oder der Aufregung sich kundgeben! Aber sollte die Wirklichkeit Seiner
29
Gegenwart weniger Einfluß auf uns ausüben, weil ihre Wahrnehmung eine Sache des Glaubens und nicht des Schauens ist?
Ist Er, weil Er unsichtbar ist, weniger wirklich gegenwärtig?
Die arme Welt ist es, die Ihn nicht empfängt, weil sie Ihn
nicht sieht; aber wollen wir den Platz der Welt einnehmen
und den unsrigen aufgeben? Der Herr Jesus sagt: „Ich werde
den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Sachwalter
geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht
sieht, noch ihn kennt, Ihr aber kennet ihn; denn er bleibt bei
euch und wird in euch sein." (Joh 14, 16. 17.)
„Ihr aber kennet ihn!" Wie sehr wäre es zu wünschen, daS
dieses in der Tat der Fall sei! Ich gewinne mehr und mehr die
Überzeugung, daß das große etwas, das uns mangelt, nichts
anderes ist, als der Glaube an Seine persönliche Gegenwart.
Haben, wir nicht alle schon Zeiten verlebt, wo Seine Gegenwart in unserer Mitte als eine Tatsache verwirklicht war? Und
wie gesegnet waren solche Momente! Wohl möglich, daß in
Zwischenräumen kein begabter Bruder den Mund öffnete;
aber wie wurden solche Augenblicke angewendet? Man harrte
feierlich auf Gott. Da zeigte sich nirgends eine unruhige Bewegung, um zu erfahren, welcher Bruder beten oder reden
würde, da vernahm das Ohr kein geräuschvolles Blättern in
den Bibeln oder Liederbüchern, um zum Lesen oder Singen
etwas Passendes zu finden, da regten sich im Herzen keine
ängstlichen Gedanken darüber, was die Anwesenden von
einem solchen Schweigen denken möchten. Gott war da. Jedes
Herz war mit Ihm beschäftigt. Und hätte in einem solchen
Augenblick jemand den Mund geöffnet, nur um das Schweigen
zu brechen, so würde man es sicher als eine wirkliche Störung
bezeichnet haben. Und wie gehoben fühlten sich unsere Seelen,
wenn endlich durch ein Gebet, das den Wünschen und Gefühlen aller Anwesenden Ausdruck verlieh, oder durch ein
Lied, in das jeder mit ganzer Seele einstimmen konnte, oder
durch ein Wort, das sich mit Macht an unsere Herzen wandte,
die Stille unterbrochen wurde! Und obwohl beim Vorschlagen
der Lieder, beim Beten und Reden verschiedene Personen tätig
gewesen waren, so war es doch augenscheinlich „ein und derselbe Geist", der sie in diesem Dienst so geleitet hatte, als
30
habe man sich darüber vorher verständigt und jedem einzelnen
seinen Platz angewiesen. Menschliche Weisheit würde einen
solchen Plan nie zur Ausführung gebracht haben. Die Harmonie war göttlich, es war der Heilige Geist, der durch die
verschiedenen Glieder tätig war, um die Anbetung auszudrücken, oder um den Bedürfnissen aller Anwesenden zu genügen.
Und warum sollte es nicht immer so sein? Ich wiederhole es,
geliebte Brüder: die Gegenwart des Heiligen Geistes ist eine
Tatsache, nicht Bloß eine Lehre. Und sicher, wenn Er bei
unseren Zusammenkünften in unserer Mitte gegenwärtig ist,
so gibt es keine Tatsache von größerer Bedeutung, als eben
diese. Ps ist eine Tatsache, die alles andere ausschließt und die
alles übrige in der Versammlung charakterisieren sollte. Hier
handelt es sich nicht nur um eine Verneinung. Die Gegenwart
des Heiligen Geistes bezeichnet nicht nur, daß die Versammlung nicht nach einer menschlichen, zum Voraus bestimmten
Ordnung geleitet werden darf, sondern richtet auch an uns
die Mahnung, daß, wenn der Heilige Geist gegenwärtig ist,
Er auch die Versammlung leiten muß. Seine Gegenwart will
auch nicht sagen, daß ein Jeder nach Belieben einen Dienst in
der Versammlung einnehmen kann. Nein, gerade das Gegenteil. Freilich darf keine menschliche Beschränkung stattfinden;
aber wenn der Geist Gottes gegenwärtig ist, so darf niemand
in dem Gottesdienste einen Platz einnehmen, der ihm nicht
von Gott angewiesen ist und für den Er ihn nicht befähigt hat.
Die Freiheit des Dienstes besteht darin, daß der Heilige Geist
frei wirken kann, durch welchen er will. Aber wir sind nicht
der Heilige Geist; und wenn die widerrechtliche Besitznahme
Seines Platzes durch eine einzelne Person ein unerträgliches
Ding ist, was soll man dann zu einer solchen Anmaßung
seitens einer bestimmten Anzahl von Personen sagen, welche
handeln, weil sie meinen, die Freiheit dazu zu haben, statt zu
wissen, daß sie sich dem Willen des Heiligen Geistes zu unterwerfen haben. Ein wirklicher Glaube an die Gegenwart des
Heiligen Geistes würde alle diese Dinge in Ordnung bringen.
Man soll nicht zu schweigen wünschen oder sich des Wirkens
aus dem Grunde enthalten, weil dieser oder jener Bruder
gegenwärtig ist. Lieber würde ich sehen, daß Unordnungen
31
aller Art zum Vorschein kämen, damit sich der wahre Zustand
der Dinge ans Licht stellte, als daß dieser Zustand verborgen
bliebe wegen der Anwesenheit irgend einer Person. Es wäre
zu wünschen, daß die Gegenwart des Heiligen Geistes auf eine
solche Weise verwirklicht würde, daß niemand zum Reden den
Mund öffnete, es sei denn durch die Macht und unter der
Leitung des Heiligen Geistes, und daß das Gefühl Seiner
Gegenwart uns also von allem fernhalten möchte, was Seiner
und des Namens Jesu, der uns versammelt, unwürdig ist.
In einer Stelle des Alten Testaments lesen wir die Ermahnung:
„Bewahre deinen Fuß, wenn du zum Hause Gottes gehst, und
nahen, um zu hören, ist besser, als wenn die Toren Schlachtopfer geben, denn sie haben keine Erkenntnis, daß sie Böses
tun. Sei nicht vorschnell mit deinem Munde, und dein Herz
eile nicht, ein Wort vor Gott hervorzubringen; denn Gott ist
im Himmel und du bist auf der Erde; darum seien deiner
Worte wenige." (Pred 5, 1. 2.) Wenn die Gnade, in welcher
wir stehen, uns einen freien Zugang zu Gott gegeben hat, so
dürfen wir sicher diese Freiheit nicht durch voreiliges, unehrerbietiges Reden mißbrauchen. Das Bewußtsein, daß der
Heilige Geist in unserer Mitte ist, sollte ein wichtigerer Beweggrund zu einer heiligen Scheu und zu einer gottseligen
Furcht sein, als der Gedanke, daß Gott im Himmel ist, und
wir auf der Erde sind. „Deshalb, da wir ein unerschütterliches
Reich empfangen, laßt uns Gnade haben, durch welche wir
Gott wohlgefällig dienen mögen mit Frömmigkeit und Furcht."
(Hebr 12, 28.)
2. Die Auferbauung der Kirche durch die Guben.
Indem ich den oben angeregten Gegenstand weiter verfolge,
wünsche ich, meinen Lesern einen Auszug aus einem Traktat
vorzulegen, der vor mehreren Jahren von einem sehr lieben
Bruder in der Form eines Zwiegesprächs abgefaßt worden ist.
E. Ich habe vernommen, daß Sie jedem Bruder die Fähigkeit
zutrauen, in der Versammlung der Heiligen zu lehren.
W. Durch eine solche Behauptung würde ich den Heiligen Geist
leugnen. Niemand ist fähig, in der Versammlung der Heiligen
lehren zu können, es sei denn, daß Gott ihm zu diesem Zweck
besondere Gaben verliehen habe.
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E. Gut; aber Sie glauben doch, daß jeder Bruder, wenn er es
kann, das Recht hat, in der Versammlung zu reden.
W. Nein, sicher nicht. Ich spreche jedem, wer es auch sei, dieses
Recht ab. Nur Gott der Heilige Geist hat dieses Recht. Ein
Mensch mag von Natur sehr begabt sein, reden und sogar gut
reden zu können; aber wenn er „dem Nächsten nicht zum
Guten, zur Erbauung gefallen" kann, (Röm 15, 2.) so hat ihn
der Heilige Geist nicht zum Reden befähigt. Wenn ein solcher
es aber dennoch tut, so verunehrt er Gott, seinen Vater, betrübt den Heiligen Geist, verachtet die Kirche Christi und
offenbart nur seinen eigenen Willen.
E. Welche besondere Ansicht aber haben Sie über diesen
Punkt?
W. Meinen Sie, daß es eine besondere Ansicht von meiner
Seite sei, wenn ich glaube, daß, da die Kirche Christo angehört, Er ihr auch Gaben zu ihrer Auferbauung und Leitung
verleiht, damit nicht etwa noch so schön Vorgetragenes nutzlos sein würde, und ihre Aufmerksamkeit schlecht geleitet und
ihre Zeit übel angewandt wird?
E. Gewiß; ich räume dieses ein, und ich wünsche nur, daß
man noch mehr nach diesen Gaben Gottes streben und mit
größerer Sorgfalt alle anderen Mittel bekämpfen möchte, wie
sehr menschliche Beredsamkeit sie auch in Kredit zu bringen
suchen mag.
W. Ich behaupte auch, daß der Heilige Geist Gaben austeilt,
welchem Er will, und zwar solche Gaben, wie es Ihm gefällt,
daß ferner die Heiligen so untereinander verbunden sein sollten, daß die Gaben eines Bruders die Ausübung der Gaben
eines anderen nicht hindern, und daß schließlich den kleinsten
Gaben die Tür ebensowohl geöffnet sein sollte, wie den
größten.
E. Das versteht sich von selbst.
W. Nun, das läßt sich nicht so bestimmt sagen; denn weder in
der Landeskirche noch bei anderen Sekten findet man das
ausgeübt, was wir in 1. Kor 14 lesen. Zudem behaupte ich,
daß keine Gabe, um tätig zu werden, der Weihe seitens der
Kirche bedarf. Ist sie von Gott, so wird Er sie auch bestätigen,
und die Heiligen werden ihren Wert anerkennen.
33
E. Erkennen Sie denn ein angeordnetes Amt nicht an?
W. Wenn Sie damit sagen wollen, daß in jeder Versammlung
die, welche Gaben zur Erbauung von Gott empfangen haben,
sich in beschränkter Zahl vorfinden und von den anderen anerkannt werden, so räume ich dieses ein; wenn Sie aber ein
ausschließliches Amt im Auge haben, so verneine ich Ihre
Frage entschieden. Unter einem solchen Amt oder Dienst verstehe ich die Anerkennung bestimmter Personen, die den Platz
von Lehrern so ausschließlich einnehmen, daß die Ausübung
der Gaben irgend eines anderen ordnungswidrig erscheinen
würde. So würde man es z. B. in der Landeskirche und in den
meisten Kapellen anderer Benennungen als eine Unordnung
bezeichne, wenn ein Dienst durch zwei oder drei wirklich vom
Heiligen Geist begabte Personen ausgeführt würde.
E. Auf was gründen Sie aber diese Unterscheidung?
W. Auf Apg 13, 1. Ich sehe, daß dort nur fünf Personen
waren, die der Heilige Geist als Lehrer anerkannt hatte:
Barnabas, Simeon, Lucius, Manaen und Saulus. Ohne Zweifel
waren es nur diese fünf Männer, von denen in allen Versammlungen die Heiligen erwarteten, daß sie reden würden.
Dies war ein anerkannter aber kein ausschließlicher Dienst;
denn als Judas und Silas kamen, (Kap. 15, 32.) konnten sie
ohne Schwierigkeit unter diesen anerkannten Lehrern ihre
Plätze einnehmen und deren Zahl vermehren.
E. Aber in welcher Beziehung würde dieses stehen zum Vorschlagen eines Liedes, oder zu einem Gebet oder dem Vorlesen
eines Schriftabschnitts?
W. Dieses sollte, wie alles Übrige, der Leitung des Heiligen
Geistes anheimfallen. Es ist nicht genug zu beklagen, wenn
jemand aus eigenem Antrieb ein Lied vorschlägt, ein Gebet
spricht oder einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift in einer
Versammlung vorliest, ohne durch den Heiligen Geist dazu
geleitet zu werden. Wenn jemand in der Versammlung der
Heiligen handelt, so bekennt er dadurch, daß er vom Heiligen
Geist dazu geleitet und angetrieben sei; und wenn dieses
Bekenntnis ein unwahres ist, so begeht er eine sehr vermessene Handlung. Wenn die Heiligen wissen, was die Gemeinschaft ist, so werden sie auch wissen, wie schwierig es ist,
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die Versammlung durch Gebet und Gesang zu leiten. Sich an
Gott zu wenden im Namen der Versammlung, oder der Versammlung ein Lied vorzuschlagen als das Mittel, um vor Gott
ihren wahren Zustand auszudrücken, das bedarf sicher der unmittelbarsten Leitung von Seiten Gottes.
Unter einem solchen Gesichtspunkt wurde der bezeichnete
Gegenstand von einem Bruder betrachtet, der einer der ersten
Arbeiter unter denen war, die bereits seit beinahe dreißig
Jahren bestrebt waren, sich im Namen Jesu zu versammeln.
Als Stützpunkt des Hauptgedankens in diesem Traktat, nämlich, daß Gott niemals alle Heiligen dazu bestimmt, an dem
öffentlichen Dienst des Wortes teilzunehmen, oder die Andacht der Versammlung zu leiten, wünsche ich die Aufmerksamkeit der Leser auf 1. Kor 12, 29. 30. zu lenken, wo wir
lesen: „Sind etwa alle Apostel? alle Propheten? alle Lehrer?
Haben alle Wunderkräfte? Haben alle Gnadengaben der Heilungen? Reden alle in Sprachen? Legen alle aus?" — Diese
Stellen würden keinen Sinn haben, wenn nicht dadurch klar
ans Licht treten sollte, daß solche Dienstleistungen in der Versammlung nur durch einzelne ausgeübt werden. Der Apostel
hatte vorher gesagt: „Und Gott hat etliche in der Versammlung gesetzt: erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens
Lehrer, sodann Wunderkräfte, sodann Gaben der Heilungen
usw." Und dann fragt er: „Sind alle Apostel? usw." Also
selbst in dem Teile der Heiligen Schrift, der bis ins einzelne die
Obergewalt des Heiligen Geistes betreffs der Austeilung und
Ausübung der Gaben in dem Leibe, der Kirche, behandelt, in
jenem Teil, auf den man sich, und zwar mit Recht, beruft, um
zu beweisen, daß die Freiheit des Dienstes in der Kirche von
Gott selbst eingesetzt ist, gerade in diesem Teil wird uns gesagt, daß nicht alle Brüder von Gott begabt sind, sondern daß
Er etliche in der Versammlung dazu bestimmt hat.
Wenden wir uns jetzt zu Eph 4. Man hat in betreff der Möglichkeit, nach den in 1. Kor 12 und 14 angegebenen Grundsätzen handeln zu können, Zweifel erhoben, da etliche der hier
aufgezählten Gaben nicht mehr vorhanden sind. Ich hege
solche Zweifel nicht, und ich beschränke mich darauf, an die,
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welche sie haben, die Frage zu richten, ob sich in der Heiligen
Schrift etwa andere Grundsätze vorfinden, nach denen wir
handeln können. Wenn aber solche nicht vorhanden sind,
welche Macht gestattet uns dann, nach Grundsätzen zu handeln, die nirgends in der Heiligen Schrift zu finden sind? Doch
kein Zweifel dieser Art kann bestehen im Blick auf Eph 4,
8—13, wo wir lesen: „Darum sagt er: Hinaufgestiegen in die
Höhe hat er die Gefangenschaft gefangen geführt und den
Menschen Gaben gegeben . .. Und er hat die einen gegeben
als Apostel, und andere als Propheten, und andere als Evangelisten, und andere als Hirten und Lehrer, zur Vollendung
der Heiligen: für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung
des Leibes des Christus." So lange Christus einen Leib auf der
Erde hat, der der Dienstleistungen solcher Männer bedarf,
reicht Er diesen die Gaben Seiner Liebe dar zur Nahrung und
Unterhaltung dieses Leibes, Seiner Braut, bis „wir alle ihm
entgegen gerückt werden" usw.
Also durch den Dienst lebender Menschen, die für diesen
Dienst gegeben und berufen sind, sorgt Christus für Seine
Herde und ernährt sie; und ebenso wirkt durch diesen Dienst
der Heilige Geist in dem durch Ihn bewohnten Leibe. Vielleicht
treiben etliche dieser Männer ein Gewerbe (Paulus war ein
Zeltmacher); vielleicht sind sie sehr weit davon entfernt, irgend
welche Ansprüche auf ein kirchliches Amt oder auf eine
offizielle Stellung machen zu können. Aber für Christum sind
sie um deswillen nicht weniger geeignet, Seine Heiligen zu
erbauen und ihre Seelen zu nähren; und die wahre Weisheit
der Heiligen besteht darin, daß sie die Gaben da, wo Christus
sie hingestellt hat, zu unterscheiden und sie an dem Platz anzuerkennen vermögen, den Er ihnen an Seinem Leibe angewiesen hat. Wer sie in dieser Weise anerkennt, der erkennt
Christum an. Weisen wir sie ab, so begehen wir ein Unrecht
an uns selbst, und wir verunehren Christum.
Erinnern wir uns aber auch daran, daß Christus diese Gaben
dem ganzen Leibe gegeben hat, daß wir aber nicht den ganzen
Leib ausmachen. Gesetzt, die Kirche stellte noch, wie zur Zeit
der Apostel, sichtbarlich eine Einheit dar, so könnte es dennoch der Fall sein, daß in dem einen Ort kein Evangelist und
an dem anderen kein Hirte oder Lehrer zu finden sei. Aber
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wievielmehr muß dies jetzt, wo die Kirche so sehr zersplittert
und zerteilt ist, für die kleinen Versammlungen wahr sein,
deren Glieder hier und da im Namen Jesu zusammenkommen.
Trägt etwa der Herr Jesus keine Sorge mehr für Seine Kirche,
weil sie in diesem Zustande ist? Wer wagt dieses zu behaupten? Versagt Er ihr die so notwendigen und nützlichen Gaben?
Keineswegs. Aber wir finden sie in der Einheit des ganzen
Leibes, und es ist nötig, daß wir uns stets daran erinnern. Alle
Gläubigen in N. bilden die Kirche oder Versammlung in diesem Orte; und man findet vielleicht Evangelisten, Hirten und
Lehrer unter jenen Gliedern des Leibes, die sich noch äußerlich
zur Landeskirche bekennen oder sich in der Mitte der Methodisten oder anderer Parteien befinden. Welchen Vorteil ziehen
wir aus ihrem Dienst? Und wie können die Heiligen, die sich
mit ihnen versammeln, die Gaben benutzen, welche Gott in
unserer Mitte ausgeteilt hat? —
Ich stelle Euch, geliebte Brüder, diese Gedanken vor Augen,
um Euch zu zeigen, wenn unter den siebzig oder achtzig, die
sich in N. im Namen des Herrn versammeln, keine oder nur
etliche Seiner Gaben vorhanden sind, wie wir sie in Eph 4 finden, daß der Umstand, in dieser Weise versammelt zu sein,
die Zahl dieser Gaben aus sich selbst nicht vermehren wird.
Ein Bruder, den Christus selbst nicht zu einem Hirten oder
Evangelisten bestimmt hat, wird es auch dadurch nicht werden, wenn er anfängt, sich da zu versammeln, wo die Gegenwart des Heiligen Geistes und die Freiheit des Dienstes anerkannt werden. Und wenn, weil menschliche Einschränkungen
beseitigt sind, diejenigen, welche Christus nicht als Hirten,
Lehrer oder Evangelisten Seiner Kirche gegeben hat, sich dennoch eine solche Stellung aneigenen und darin handeln, —
wird das zur Auferbauung dienen? Nein, im Gegenteil, es
wird nur Verwirrung hervorbringen; und „Gott ist nicht ein
Gott der Unordnung, sondern des Friedens, wie in allen Versammlungen der Heiligen". (1. Kor 14,33.) Wenn solche Gaben
in unserer Mitte fehlen, so laßt uns unsere Armut bekennen;
wenn wir zwei oder drei von ihnen besitzen, so laßt uns mit
Dank erfüllt sein; laßt uns sie an der Stelle, die Gott ihnen
angewiesen hat, anerkennen und beten, um zahlreichere und
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bessere Gaben und Dienste zu erhalten. Aber hüten wir uns
vor der Voraussetzung, als ob die Handlung eines Bruders, den
der Herr nicht in diese Stellung gesetzt hat, eine Gabe zu ersetzen imstande sei. Die einzige Wirkung einer solchen Handlung ist, den Geist zu betrüben und ihn zu hindern, durch die
zu wirken, die er ohne dieses im Dienste der Heiligen gebrauchen möchte.
Ein glücklicher Gedanke beschäftigt mich beim Schluß dieses
Briefes. Wenn die Stellung, in der wir uns befinden, gar nicht
mit der Heiligen Schrift in Übereinstimmung wäre, so würden
solche Fragen wohl schwerlich in unserer Mitte erhoben werden. Wenn alles eingerichtet und durch ein menschliches
System geregelt ist, so daß die durch einen Bischof, oder
durch eine kirchliche Behörde, oder durch eine Versammlung
angestellten Personen sich in ihren Amtspflichten nur nach
einer vorgeschriebenen Form zu richten haben, dann haben
solche Fragen keinen Grund. Die Schwierigkeiten unserer
Stellung beweisen durch ihren Charakter, daß diese Stellung
von Gott ist. Ja, und Gott, der uns durch Seinen Geist und
mittels Seines Wortes dahin geleitet hat, ist vollkommen
genügend und wird uns in den Schwierigkeiten nicht versäumen, sondern wird uns zu unserem Heil und zu Seinem
Ruhme hindurchgehen lassen. Laßt uns nur einfältig, demütig
und bescheiden sein. Machen wir auf keine Sache Anspruch,
die wir nicht besitzen, und maßen wir uns nichts an, wozu
Gott uns nicht befähigt hat.
5. Woran kann man die Leitung des Geistes wahrnehmen?
a) Verneinende Merkmale
Bevor ich zu dem speziellen Gegenstand dieses Briefes übergehe, wünsche ich, mich über zwei Punkte klar auszudrücken.
Der erste betrifft den Unterschied zwischen dem Dienst und
dem Kultus oder dem eigentlichen Gottesdienst. Ich nehme
hier das Wort „Gottesdienst" in seinem ausgedehntesten
Sinne, als bezeichnend die verschiedenen Arten, in denen sich
der Mensch an Gott wendet; und dazu gehört das Gebet, das
Bekenntnis und das, was hauptsächlich den Gottesdienst ausmacht, nämlich die Verehrung und die Handlung des Dankes
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und des Lobes. Die wesentliche Verschiedenheit zwischen dem
Dienst und dem Gottesdienst besteht darin, daß im Gottesdienst der Mensch mit Gott, und im Dienst Gott mit dem
Menschen durch Seine Diener redet. Unser einziges, aber völlig
genügendes Recht, um Gottesdienst halten zu können, ist uns
durch jene überschwengliche Gnade verliehen, die uns durch
das Blut Jesu so nahe zu Gott gebracht hat, daß wir jetzt
Gott als unseren Vater erkennen und anbeten, und daß wir
Gott zu Königen und Priestern gemacht sind. In dieser Beziehung sind sich alle Heiligen gleich; der schwächste wie der
stärkste, der, welcher viele Erfahrungen gemacht hat, und der,
der noch ein kleines Kind ist, alle haben einen gleichen Anteil
an diesem Vorrecht. Der begabteste Diener Christi hat kein
größeres Recht, Gott zu nahen, als der Unwissendste der Heiligen, unter denen er seine Dienste ausübt. Wenn wir das Gegenteil annehmen, würden wir das Verfahren gutheißen, dem
man nur zu sehr in der Christenheit huldigt, indem man einen
Priester- oder Predigerstand zwischen der Kirche und Gott
eingesetzt hat. Wir haben einen großen Hohenpriester. Christus ist der einzige Hohepriester; und an Ihm haben alle Heiligen einen gleichen Anteil. Auch könnte ich mich nicht der
Meinung hingeben, daß in einer Versammlung von Christen
nur die befugt seien, Lieder vorzuschlagen, zu beten, Gott zu
loben und Ihm den Dank darzubringen, welche Gott befähigt
hat zu lehren, zu ermahnen oder das Evangelium zu predigen.
Warum könnte der Heilige Geist Sich nicht anderer Brüder
bedienen, um sowohl durch das Vorschlagen eines Liedes den
wahren Ausdruck der Anbetung der Versammlung kundzugeben, oder durch ein Gebet die wirklichen Wünsche und wahren Bedürfnisse derer auszudrücken, deren Organ und deren
Mund sie bekennen zu sein? Und wenn Gott es für gut findet,
in dieser Weise zu handeln, wer sind wir, daß wir Seinem
Willen widerstehen? Erinnern wir uns indes stets daran, daß,
wenn diese Handlungen des Gottesdienstes nicht das ausschließliche Vorrecht derer sein können, welche Gaben besitzen, sie doch der Leitung des Heiligen Geistes untergeordnet
und durch die in 1. Kor. 14 enthaltenen Grundsätze beherrscht
sein müssen, nach denen alle Dinge mit Ordnung und zur
Auferbauung geschehen sollen.
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Der Dienst, d. h. der Dienst des Wortes, in dem Gott mittels
Seiner Diener zu den Menschen redet — ist das Resultat der
Verleihung von Gaben, die einem Bruder übertragen sind, und
für deren Anwendung er Christo gegenüber verantwortlich ist.
In betreff unseres Rechts, Gottesdienst halten zu können, sind
wir uns alle gleich; in betreff der Verantwortlichkeit unseres
Dienstes sind wir uns verschieden, „da wir verschiedene Gnadengaben haben, nach der uns verliehenen Gnade. . ." (Röm
12, 6.) Diese Stelle zeigt uns deutlich die Verschiedenheit
zwischen Dienst und Gottesdienst.
Der zweite Punkt ist die Freiheit des Dienstes. Der wahre,
schriftgemäße Gedanke der Freiheit des Dienstes begreift
nicht nur die Freiheit in der Ausübung der Gaben, sondern
auch ihre Entfaltung in sich. Sie zeigt, wie wir in unseren
Versammlungen die Gegenwart und Leitung des Heiligen Geistes bis zu dem Punkte anerkennen, daß wir Ihm, wenn Er
durch irgend einen Bruder wirkt, kein Hindernis in den Weg
legen; es ist daher völlig klar, daß die erste Entfaltung einer
Gabe das Werk des Geistes sein muß, in dem Er durch Brüder
zu wirken beginnt, deren Er Sich vorher nicht bedient hat.
Jeder entgegengesetze Grundsatz würde nach meiner Meinung
ein Eingriff in die Vorrechte der Kirche und in die Rechte des
Heiligen Geistes sein. Aber eben in diesem Falle, wenn die
Kinder Gottes sich auf einem Grundsatz versammeln, der dem
Heiligen Geiste die Freiheit läßt, den einen Bruder zum Vorschlagen eines Liedes, einen anderen zum Beten und einen
dritten zum Ermahnen oder Lehren anzutreiben, so ist Gelegenheit zur Voreiligkeit und Selbstgefälligkeit vorhanden und
die Versuchung nahe, außer der völligen Leitung des Heiligen
Geistes zu handeln. Wie wichtig ist es daher, den Unterschied
zwischen dem, was vom Fleische ist, und dem, was vom Geiste
ist, zu erkennen! Ich verabscheue den Mißbrauch, den man
leider nur zu oft mit Ausdrücken wie: „Dienst des Fleisches"
und „Dienst des Geistes" macht; jedoch enthalten sie, wenn
man sie richtig anwendet, eine wichtige Wahrheit. Jeder Christ
hat zwei Quellen von Gedanken, von Gefühlen, von Beweggründen, von Worten und Werken in sich, und diese beiden
Quellen werden in der heiligen Schrift das „Fleisch" und der
„Geist" genannt. Unsere Tätigkeit in den Versammlungen der
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Heiligen gehen aus der einen oder der anderen dieser beiden
Quellen hervor. Es ist daher wichtig, hier ein scharfes Unterscheidungsvermögen zu haben. Die, welche beständig oder
auch nur gelegentlich in den Versammlungen tätig sind, sollten sich selbst in dieser Beziehung ernstlich prüfen. Auch ist
dies eine durchaus wesentliche Sache für alle Heiligen; denn
wir sind ermahnt, die Geister zu prüfen, ob sie aus Gott sind,
eine Ermahnung, wodurch die Versammlung verantwortlich
gemacht wird, das, was von Gott ist, anzuerkennen, und das,
was aus einer anderen Quelle ist, durch Verwerfung zu bezeichnen.
Ich möchte jetzt die Aufmerksamkeit des Lesers auf etliche der
besonderen Merkmale lenken, mit deren Hilfe wir die Leitung
des Geistes von der Anmaßung und Nachahmung des Fleisches unterscheiden können. Zunächst mache ich auf mehrere
Dinge aufmerksam, die uns keineswegs ermächtigen, an der
Leitung der Versammlung der Heiligen teilzunehmen.
1. Wir sind nicht ermächtigt zu handeln, bloß aus dem Grunde,
weil Freiheit vorhanden ist. Die Sache ist so klar, daß es kaum
nötig ist, Worte darüber zu verlieren; und dennoch haben wir
es so nötig, daran erinnert zu werden. Gerade der Umstand,
daß keinem Bruder irgend ein äußeres Hindernis im Wege
steht, um in der Versammlung tätig sein zu können, bietet
solchen, deren einzige Fähigkeit es ist, lesen zu können, die
Gelegenheit dar, eine geraume Zeit in Anspruch zu nehmen,
indem sie ein Kapitel nach dem anderen lesen und ein Lied
nach dem anderen vorschlagen. Jedes Kind, das lesen gelernt
hat, könnte dasselbe tun. Ein Kapitel vorzulesen ist leicht;
aber unterscheiden zu können, welches Kapitel zum Vorlesen
geeignet und welcher Augenblick dazu passend ist, ist eine
andere Sache. Ebenso ist es nicht schwer, ein Lied vorzuschlagen; aber die Auswahl eines Liedes, das wirklich die Anbetung
der Versammlung in sich schließt und ausdrückt, ist ohne die
Leitung des Heiligen Geistes eine Unmöglichkeit. Als ich vor
vielen Jahren in einer Versammlung war, wo am Tische des
Herrn eine ganze Reihe von Kapiteln vorgelesen und ebensoviele Lieder gesungen wurden, während vielleicht nur ein einziges Mal durchs Gebet die Danksagung dargebracht wurde,
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habe ich mich fragen müssen, ob wir wirklich versammelt gewesen seien, um den Tod des Herrn zu verkündigen, oder ob
uns der Zweck geleitet habe, uns im Lesen und Singen zu vervollkommnen. Gott sei gepriesen, daß solche Mißgriffe jetzt
weniger vorkommen; aber wir haben immer nötig, uns ins
Gedächtnis zu rufen, daß die Freiheit, in den Versammlungen
tätig zu sein, uns noch nicht berechtigt, hier nach Willkür zu
handeln.
2. Man ist auch nicht ermächtigt, in Augenblicken zu handeln,
weil es gerade kein anderer Bruder tut. Das Stillschweigen als
solches ist nicht immer eine Wirksamkeit des Geistes und
kann ebensogut wie jede andere Sache zur Form werden; doch
ist das Schweigen viel mehr wert als das Reden oder Handeln
nur aus dem einzigen Grunde, die Stille zu unterbrechen. Ich
weiß wohl, daß dies gar oft geschieht, weil man an anwesende
Personen denkt, die den Weg nicht mit uns gehen, oder wohl
gar nicht bekehrt sind, und weil man ihretwegen sich über
das Schweigen unbehaglich fühlt. Und in der Tat, wenn
die Versammlung oft eine solche Armut an den Tag legt, so
ist das sicher eine Mahnung Gottes, die Ursache eines solchen
Schweigens zu untersuchen; aber nie darf ein Bruder sich berechtigt glauben, zu reden, zu beten oder ein Lied vorzuschlagen, und zwar aus dem einzigen Grunde, um etwas zu tun.
3. Ferner sind unsere Erfahrungen und unsere persönliche
Stellung nicht die sicheren Führer in betreff des Anteils an
der Wirksamkeit inmitten der Versammlung der Heiligen.
Vielleicht ist einmal ein bestimmtes Lied für meine Seele
köstlich gewesen; vielleicht habe ich es einmal mit großem
Genuß der Gegenwart des Herrn singen gehört; aber soll ich
daraus schließen, daß ich berufen sei, dieses Lied in der ersten
Versammlung, der ich wieder beiwohne, vorzuschlagen? Möglicherweise steht es in keiner Beziehung zu dem gegenwärtigen
Zustand dieser Versammlung. Vielleicht ist es gar nicht einmal
die Absicht des Geistes, daß überhaupt ein Lied gesungen
werde. „Leidet jemand unter euch Trübsal? er bete. Ist jemand
gutes Mutes? er singe Psalmen." (Jak 5, 13.) Ein Lied soll
die Gefühle derer ausdrücken, die versammelt sind; im anderen Falle werden sie, wenn sie singen, nicht aufrichtig sein.
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Und wer, außer jenem, der den gegenwärtigen Zustand kennt,
wird ein geeignetes Lied finden können? Ebenso verhält es
sich mit dem Gebet. Wenn jemand in der Versammlung das
Gebet spricht, so tut er es als das Organ der Bitten und als
der Mund der Bedürfnisse aller. Ich kann mich mittels des
Gebets vor dem Herrn einer Bürde entledigen, die nur auf
mir lastet; aber sie in der Versammlung zu erwähnen, würde
unpassend sein. Vielleicht würde ich durch eine solche Handlung alle meine Brüder in denselben Zustand herabziehen, in
dem ich mich befinde. Andererseits auch kann meine Seele
vollkommen glücklich in dem Herrn sein; ist dies aber von
der Versammlung nicht zu sagen, so werde ich nur dann fähig
sein, ihre Bedürfnisse vor Gott bringen zu können, wenn ich
mich mit ihrem Zustand eins mache. Mit einem Wort, wenn
ich durch den Geist geleitet werde, in der Versammlung zu
beten, so darf dies nicht sein, wie in einer Kammer, wo sich
außer dem Herrn und mir niemand befindet, und wo meine
eigenen Bedürfnisse und meine eigenen Genüsse den Hauptgegenstand meiner Gebete und Danksagungen bilden, sondern
ich brauche die Fähigkeit, dem Herrn die Bekenntnisse abzulegen und Ihm jene Wünsche und die Danksagung vorzutragen, die mit dem Zustand derer übereinstimmen, deren Mund
ich sein werde, indem ich mich an Gott wende. Es ist einer
der größten Mißgriffe, in die wir verfallen können, wenn wir
uns einbilden, daß unser Ich und das, was sich auf unsere
Person bezieht, maßgehend sei bei der Leitung der Versammlung der Heiligen. So kann ein Abschnitt aus der Heiligen
Schrift meine Seele sehr erquickt und rnir Nutzen gebracht
haben; allein es folgt daraus noch nicht, daß ich diesen Abschnitt am Tisch des Herrn oder in anderen Versammlungen
der Heiligen vorlesen soll. Auch mag irgend ein besonderer
Gegenstand mich beschäftigen oder vorher beschäftigt haben,
und zwar zum Nutzen meiner Seele; aber dennoch kann es
sein, daß dies durchaus nicht der Gegenstand ist, auf den
Gott die Aufmerksamkeit der Heiligen im allgemeinen lenken will. Man verstehe mich indes recht. Ich leugne nicht, daß
man sich mit irgend einem Gegenstande beschäftigt haben
kann, mit dem man sich nach dem Willen Gottes nicht auch
mit den Heiligen beschäftigen sollte. Vielleicht ist dies häufig
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oder wohl gar gewöhnlich bei den Dienern des Herrn der Fall;
aber ich fürchte, es nicht kräftig genug hervorzuheben, daß an
und für sich der Umstand, in irgend einer Weise beschäftigt
gewesen zu sein, keine genügende Leitung ist. Wir können
Bedürfnisse haben, welche die Kinder Gottes im allgemeinen
nicht haben; und auch können ihre Bedürfnisse nicht die unsrigen sein.
Auch möchte ich noch hinzufügen, daß der Geist mich nicht
zur Angabe eines Liedes antreiben wird, weil es meine besonderen Ansichten ausdrückt. Es kann sein, daß die Heiligen, die
versammelt sind, über gewisse Punkte der Auslegung nicht
die gleiche Meinung haben. Wenn in diesem Falle etliche unter
ihnen Lieder auswählten, in der Absicht, ihre besonderen Meinungen auszudrücken, so könnte wie gut und wahr diese
Lieder sonst auch sein möchten, es möglich sein, daß andere
Glieder der Versammlung nicht mitsingen könnten. In einer
Versammlung werden die Lieder, die der Heilige Geist angibt,
der Ausdruck der Gefühle aller sein. Laßt uns daher zu jeder
Zeit in der Versammlung bestrebt sein, die „Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens", und erinnern
wir uns, daß das Mittel, dahin zu gelangen, dies ist, daß wir
wandeln „mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe." (Eph 4.)
Wir dürfen es überhaupt nie außer acht lassen, daß, wer auch
immer das Organ oder der Mund der Versammlung sein mag,
es stets beim Gesang, beim Gebet und, mit einem Wort, bei
dem Gottesdienst die Versammlung ist, die mit Gott redet;
und demzufolge kann der Gottesdienst nur dann wahr und
aufrichtig sein, wenn er ein treuer Ausdruck des Zustandes
dieser Versammlung ist. Gepriesen sei Gott, daß Er durch Seinen Geist, wie Er es oft tut, einen höheren Ton hören lassen
kann, der in allen Herzen einen Widerhall findet, und daß Er
auf diese Weise dem Gottesdienst einen erhabeneren Charakter verleiht. Aber wenn sich die Versammlung nicht in dem
Zustand befindet, um auf diesen Ton eine Antwort geben zu
können, so gibt es nichts Peinlicheres, als einen Bruder zu
hören, der in den wärmsten Ausdrücken Lob und Anbetung
darbringt, während die Herzen der anderen traurig, kalt und
zerstreut sind. Stets sollte derjenige, der dem Gottesdienst
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der Versammlung Ausdruck gibt, die Herzen seiner Umgebung
vor sich haben, denn sonst nimmt er nicht seinen wahren Platz
ein. Anders verhält es sich in bezug auf den Dienst; hier redet
Gott zu uns; und darum ist der Dienst nicht wie der Kultus
oder Gottesdienst durch unseren Zustand beschränkt, sondern
kann stets einen höheren Grad annehmen. Wenn ein Bruder,
der im Dienst gebraucht wird, wirklich, während er redet, der
Mund Gottes ist, wie er es sein sollte, so kann es oft geschehen, daß uns Wahrheiten vorgestellt werden, die wir bisher noch nicht empfangen haben, oder solche, die aufgehört
haben, mit Macht auf unsere Seelen zu wirken. Wie klar ist
es, daß in dem einen wie in dem anderen Falle, ja in allen
Fällen, der Geist Gottes der alleinige Leiter sein muß!
Indes gedenke ich im nächsten Briefe die bestimmte Leitung
des Geistes noch etwas näher zu beleuchten. Bisher habe ich
nur die negative oder verneinende Seite dieses Gegenstandes
vorgestellt.
4. Woran kann man die Leitung des Heiligen Geistes
wahrnehmen?
b) Bejahende Merkmale
Wer es versuchen wollte, bei der Erweckung oder der Bekehrung einer Seele die Wirkungen des Heiligen Geistes festzustellen, der würde dadurch nur seine eigene Unwissenheit verraten und zugleich jene Souveränität des Geistes leugnen, die
uns in den wohlbekannten Worten angekündigt wird: „Der
Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen; aber du
weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; also ist
jeder, der aus dem Geiste geboren ist." (Joh 3, 8.) Dennoch ist
die Heilige Schrift reich an Beispielen, die dazu dienen können,
die aus dem Geiste und die nicht aus dem Geiste geboren sind
zu unterscheiden. Und eben dies ist der Zweck dieses Briefes.
Ich hoffe vor der Gefahr, von dem Platz des Heiligen Geistes
widerrechtlich Besitz zu nehmen, bewahrt zu bleiben; denn
wer vermöchte die Art und Weise Seiner Wirkungen in den
Seelen derer genau zu bestimmen, die Er antreibt, in der Versammlung tätig zu sein, sei es beim eigentlichen Gottesdienst
oder bei Ausübung irgend eines Dienstes inmitten der Heiligen? Aber obwohl es nutzlos und anmaßend sein würde, eine
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wahre und völlige Entscheidung über diesen Gegenstand treffen zu wollen, so bietet uns die Heilige Schrift dennoch hinreichende Belehrungen über die Merkmale eines wahren Dienstes; und auf etliche der einfachsten und verständlichsten
dieser Merkmale möchte ich jetzt gern die Aufmerksamkeit
meiner Leser richten. Wir werden darin solche Belehrungen
finden, die sich auf den Gegenstand des Dienstes beziehen,
und solche, welche die Beweggründe bezeichnen, die uns zum
Dienst anregen oder uns irgendwie an der Leitung der Versammlungen der Heiligen teilnehmen lassen. Die Belehrungen,
die sich auf den Gegenstand des Dienstes beziehen, verleihen
jenen, die in dieser Beziehung tätig sind, einen Prüfstein, mit
dem sie sich selbst beurteilen können. Diese Belehrungen
werden auch dazu dienen, die Gaben zu zeigen, die Christus
Seiner Kirche für den Dienst des Wortes verliehen hat. —
Mit Hilfe der Belehrungen, welche die Beweggründe zeigen,
die uns zum Dienst anregen, werden alle Heiligen das zu
unterscheiden vermögen, was aus dem Geiste ist und was
einer anderen Quelle entspringt. Diese Belehrungen werden
denen, welche diese Gabe besitzen, behilflich sein, die wichtige Frage zu entscheiden, wann sie reden und wann sie schweigen sollen. Meine Seele zittert, wenn ich an meine Verantwortlichkeit denke, indem ich über einen solchen Gegenstand
schreibe, aber mich ermutigt das Bewußtsein, daß „unsere
Fähigkeit von Gott kommt", und daß in bezug auf das Wort
Gottes „alle Schrift nütze ist zur Lehre, zur Überführung, zur
Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf
d~ß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke
völlig geschickt." (2. Tim 3, 16. 17.) Möge der Leser daher die
folgenden Zeilen nach dieser vollkommenen Richtschnur prüfen und von Gott weise gemacht sein, um alles, was irgend
diese Probe nicht aushält, zurückzuweisen.
Der Heilige Geist leitet nicht durch ein blindes Antreiben
oder mittels unvernünftiger Eindrücke, sondern dadurch, daß
Er das geistliche Verständnis geradeso mit den Gedanken
Gottes erfüllt, wie sie in dem geschriebenen Worte enthüllt
sind. In den ersten Zeiten der Kirche gab es allerdings Gaben
von Gott, deren Anwendung nicht an das geistliche Verständnis geknüpft sein konnte. Ich will nur an die Gabe, in Spra46
chen zu reden, erinnern, wenn kein Ausleger zugegen war;
und es scheint, daß, da diese Gabe in den Augen der Menschen
bewundernswürdiger und auffallender als jede andere war,
die Korinther es sehr liebten, sie auszuüben und zu zeigen.
Der Apostel tadelt sie dieserhalb mit den Worten: „Ich danke
Gott, ich rede mehr in einer Sprache, als ihr alle. Aber in der
Versammlung will ich lieber fünf Worte reden mit meinem
Verstände, auf daß ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in einer Sprache. Brüder! seid nicht Kinder
am Verstände, sondern an der Bosheit seid Unmündige, am
Verstände aber seid Erwachsene." (1. Kor 14, 18—20.) Das
geringste also, was man von denen, die einen Dienst ausüben,
erwarten kann, ist, daß sie die Schrift kennen und das Verständnis der Gedanken Gottes haben, so wie diese in dem
Worte geoffenbart sind. Freilich kann die Erkenntnis des Wortes bei einem Bruder vorhanden, und nicht mit einer Gabe des
Vortrags oder nicht mit der Fähigkeit, sie anderen mitteilen
zu können, verbunden sein; aber was hätten wir, ohne die
Erkenntnis zu besitzen, mitzuteilen? Sicher versammeln die
Kinder Gottes sich nicht von Zeit zu Zeit im Namen Jesu, daß
man ihnen rein menschliche Gedanken vorstellen oder ihnen
das wiederholen soll, was andere geredet oder geschrieben
haben. Ganz bestimmt sind die Kenntnis der Schrift und das
Verständnis ihres Inhalts ganz unentbehrliche Dinge zum
Dienst des Wortes. Wir lesen in Mt 13, 51. 52: „Jesus spricht
zu ihnen: Habt ihr dieses alles verstanden? Sie sagen zu ihm:
Ja, Herr! Er aber sprach zu ihnen: Darum ist jeder Schriftgelehrte, der im Reiche der Himmel unterrichtet ist, gleich einem
Hausherrn, der aus seinem Schatze Neues und Altes hervorbringt." — Als der Herr Jesus auf dem Punkte stand, Seine
Jünger auszusenden, damit sie Seine Zeugen seien, „öffnete
er ihnen das Verständnis, um die Schriften zu verstehen."
(Lk 24, 45.) Und wie oft lesen wir, daß Paulus, wenn er den
Juden predigte, sich mit ihnen über die Schriften unterhielt.
(Apg 18, 2—4.) Wenn sich dieser Apostel an die Römer als an
Christen wendet, die fähig waren, sich einander zu ermahnen,
so tut er es, weil er zu ihnen sagen kann: „Ich bin aber, meine
Brüder, auch selbst von euch überzeugt, daß auch ihr selbst
voll Gütigkeit seid, erfüllt mit aller Erkenntnis und fähig,
47
auch einander zu ermahnen." (Röm 15, 14.) Jene Teile der
Heiligen Schrift, die ausdrücklich von der Tätigkeit des Geistes
in der Versammlung reden, zeigen uns deutlich, daß diese
Tätigkeit nicht mit Ausschluß des Wortes stattfinden soll.
Wir lesen u. a. in 1. Kor 12, 8: „Einem wird durch den Geist
das Wort der Weisheit gegeben, einem anderen aber das Wort
der Erkenntnis nach demselben Geiste." Ebenso sagt der
Apostel beim Aufzählen der Dinge, durch die er und andere
sich als die Diener Gottes ausweisen, die Worte: „In Erkenntnis .. . im Worte der Wahrheit . . . durch die Waffen der
Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken." (2. Kor 6, 6—7.)
Und wenn wir untersuchen, woraus diese Waffenrüstung besteht, so werden wir finden, daß die Wahrheit einen Gürtel
um die Lenden bildet und daß das Wort Gottes das Schwert
des Geistes ist. (Eph 6, 14—18.) Auch sagt der Apostel, indem
er auf das, was er den Ephesern bereits geschrieben hat, anspielt: „Woran ihr im Lesen merken könnt mein Verständnis
in dem Geheimnis des Christus." (Eph 3, 4.) Und wenn der
Apostel die Heiligen antreibt, sich gegenseitig zu ermahnen, so
ruft er ihnen mit allem Nachdruck zu: „Laßt das Wort des
Christus reichlich in euch wohnen in aller Weisheit euch gegenseitig lehrend und ermahnend mit Psalmen, Lobliedern
und geistlichen Liedern, Gott singend in euren Herzen in
Gnade." (Kol 3, 16.) Ebenso sagt er im Brief an Timotheus:
„Wenn du dieses den Brüdern vorstellst, so wirst du ein guter
Diener Jesu Christi sein; auf erzogen durch die Worte des
Glaubens und der guten Lehre, welcher du genau gefolgt
bist." (1. Tim 4, 6.) Auch fügt er die Ermahnung hinzu: „Bis
ich komme, halte an mit dem Vorlesen, mit dem Ermahnen,
mit dem Lehren. Bedenke dieses sorgfältig; lebe darin, auf daß
deine Fortschritte allen offenbar seien. Habe acht auf dich
selbst und auf die Lehre, beharre in diesen Dingen. Denn
wenn du dieses tust, wirst du sowohl dich selbst erretten, als
auch die, welche dich hören." (Tim 4, 13. 15. 16.) Im zweiten
Briefe wird Timotheus mit den Worten ermahnt: „Und was
du von mir in Gegenwart vieler Zeugen gehört hast, das vertraue treuen Männern an, die tüchtig sein werden, auch andere
zu lehren." (2. Tim 2, 2.) Und wiederum: „Befleißige dich,
dich selbst Gott bewährt darzustellen als einen Arbeiter, der
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sich nicht zu schämen hat, der das Wort der Wahrheit recht
teilt." (V. 15.) Unter den Eigenschaften, die erforderlich sind,
um ein Bischof oder Aufseher zu sein, finden wir im Brief
an Titus folgende: „anhangend dem zuverlässigen Worte nach
der Lehre, auf daß er fähig sei, sowohl mit der gesunden
Lehre zu ermahnen, als auch die Widersprechenden zu überführen." —
Aus all diesem geht klar hervor, daß die Kirche nicht immer
durch einzelne Bruchstücke der Wahrheit, die, wenn man sich
dazu gedrungen fühlt, vorgestellt werden, ernährt werden
kann. Nein, sondern der Heilige Geist will Sich, um die Heiligen Gottes zu weiden, zu nähren und zu leiten, solcher Brüder bedienen, deren Seelen aus Gewohnheit geübt sind durch
die Betrachtung des Wortes, und die „vermöge der Gewohnheit geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten sowohl als auch des Bösen." (Hebr 5, 14.) Darum ist, wie bereits gesagt, Erkenntnis des Wortes Gottes das geringste, das
man von jemandem erwarten kann, der irgend einen Dienst
in der Kirche tut.
Diese Erkenntnis genügt jedoch nicht. Das Wort Gottes muß
auch in einer Weise auf das Gewissen der Heiligen gebracht
werden, daß es ihren gegenwärtigen Bedürfnissen entspricht.
Daher ist es nötig, entweder den Zustand der Heiligen durch
Umgang kennenzulernen, oder vielmehr direkt von Gott geleitet zu werden; und dieses wird der Fall sein bei Brüdern,
die als Evangelisten, Hirten oder Lehrer jene Gaben besitzen,
die Christus Seiner Kirche geschenkt hat. Gott allein kann sie
diejenigen Teile der Wahrheit finden lassen, die das Gewissen
erreichen und den Bedürfnissen der Seelen entsprechen werden; Er allein kann sie fähig machen, diese Wahrheit so darzustellen, daß sie ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Heilige Geist
kennt in der Versammlung die Bedürfnisse aller im allgemeinen und eines jeden im besonderen; und Er kann die, welche
sprechen, gerade die Wahrheit reden lassen, die, mögen sie
den Zustand der Zuhörer kennen oder nicht, passend und
nötig ist. Wie wichtig ist es daher, sich ohne Rückhalt und
aufrichtig dem Geiste zu unterwerfen!
Nichts kennzeichnet den Dienst des Geistes mehr, als wenn
er seine Quelle in der persönlichen Anhänglichkeit an Christum
49
hat. „Liebst du mich?" Diese Frage wurde dreimal an Petrus
gerichtet, zu der Zeit, als er den Auftrag erhielt, die Herde
Christi zu weiden. „Die Liebe Christi drängt uns", sagt Paulus. Wie sehr unterscheidet sich dieses von den vielen Beweggründen, die uns seitens der Natur beeinflussen könnten! Wie
wünschenswert wäre es, wenn wir jedesmal bei Ausübung
eines Dienstes mit gutem Gewissen sagen könnten: „Nicht
die Eitelkeit, nicht die Macht der Gewohnheit, auch nicht jene
Ungeduld, die das Nichtstun nicht ertragen kann, nein, alles
dieses war nicht die Triebfeder meines Handelns, sondern
vielmehr die Liebe für Christum und Seine durch Blut erkaufte
Herde." — Sicher fehlte diese Triebkraft jenem schlechten
Knecht, der das Talent seines Herrn in die Erde vergraben
hatte.
Überdies wird der Dienst des Geistes, und jede andere durch
denselben Geist gewirkte Handlung in der Versammlung sich
stets durch ein tiefes Gefühl der Verantwortlichkeit gegen
Christum auszeichnen. Laßt mich, meine Brüder, eine Frage
an Euch richten. Ich nehme den Fall an, daß jemand am Ende
einer Versammlung die Frage an uns richten würde: „Warum
hast du gerade dieses Lied vorgeschlagen, warum dieses Kapitel gelesen oder gar darüber gesprochen, warum in dieser
Weise gebetet?" — würden wir dann mit einem ruhigen Gewissen antworten können: „Mich trieb dazu die aufrichtige
Überzeugung, daß es der Wille des Herrn sei, so zu handeln?"
Würden wir dann sagen können: „Ich wählte gerade dieses
Lied in der gewissen Überzeugung, daß es der Absicht des
Geistes entsprach, dieses Lied zu singen. Ich las gerade dieses
Kapitel oder sprach gerade über diesen Abschnitt, weil ich vor
Gott klar und bestimmt den Dienst erkannte, den mein Herr
und Meister mir aufgetragen hatte? ich betete gerade in dieser
Weise in dem vollen Bewußtsein, durch den Geist Gottes berufen zu sein, jene Segnungen zu erflehen, welche den Inhalt
meines Gebets ausmachten?" Würden wir, teure Brüder, eine
solche Antwort imstande sein zu geben? Oder handeln wir nicht
vielmehr oft ohne irgend ein Gefühl unserer Verantwortlichkeit gegen Christum? „Wenn jemand redet, so rede er als
Aussprüche Gottes", sagt Petrus; und dieses bezeichnet nicht,
daß jemand nur, was natürlich auch der Fall ist, nach der
SO
Schrift, sondern vielmehr, daß er als Aussprüche Gottes reden
soll. Wenn ich nicht sagen kann: „Gott hat mich in dem, was
ich in diesem Augenblicke in der Versammlung hören lasse,
unterwiesen, und Sein Wille ist es, gerade jetzt zu reden",
so soll ich schweigen. Natürlich kann jemand, der sich in dieser Beziehung sicher weiß, sich dennoch irren; und es ist die
Sache der Heiligen, das Gehörte nach dem Worte Gottes zu
beurteilen; aber nichts als die völlige Überzeugung vor Gott,
daß Gott ihm etwas zu tun oder zu reden gegeben hat, sollte
für einen jeden die Triebfeder des Redens oder Handelns in
den Versammlungen der Heiligen sein. Würden unsere Gewissen stets unter dieser Verantwortlichkeit handeln, so würde
dies allerdings in vielen Dingen ein Hindernis sein; aber zu
gleicher Zeit würde Gott Seine Gegenwart frei offenbaren
können, die durch ein unzeitiges Handeln von unserer Seite
so oft gehindert wird.
Wie bestimmt tritt dieses Gefühl der unmittelbaren Verantwortlichkeit gegen Christum bei dem Apostel Paulus in den
Vordergrund! „Denn wenn ich das Evangelium verkündige",
— sagt er — „so habe ich keinen Ruhm, denn eine Notwendigkeit liegt mir auf; denn wehe mir, wenn ich das Evangelium
nicht verkündigte! Denn wenn ich dies freiwillig tue, so habe
ich Lohn, wenn aber unfreiwillig, so bin ich mit einer Verwaltung betraut." (1. Kor 9, 16. 17.) Und wie rührend sind
die an dieselben Christen gerichteten Worte: „Und ich war
bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern."
(1. Kor 2, 3.) Welch ein Tadel gegen die Leichtfertigkeit des
Herzens, und die Voreiligkeit, womit wir leider nur zu oft
das heilige Wort unseres Gottes behandeln. Der Apostel sagt:
„Wir verfälschen nicht, wie die vielen, das Wort Gottes, sondern als aus Lauterkeit, sondern als aus Gott, vor Gott, reden
wir in Christo." (2. Kor 2, 17.)
Schließlich möchte ich noch einen anderen Punkt berühren.
„Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit."
(2. Tim 1, 7.) Einen Geist der Besonnenheit! Es ist möglich,
daß jemand wenige oder gar keine menschlichen Kenntnisse
besitzt, daß er unfähig ist, sich in einer schönen oder gar
richtigen Weise ausdrücken zu können, daß es ihm an diesem
51
allem mangelt; aber dennoch kann er ein „guter Diener Jesu
Christi" sein. Aber es ist nötig, daß er einen Geist der Besonnenheit habe. Und da gerade dieser Gegenstand berührt ist,
so möchte ich bei dieser Gelegenheit gern an eine Sache
erinnern, an die ich oft mit Betrübnis denke. Ich meine nämlich die Verworrenheit, die sich, wenn es sich um die Personen
der Gottheit handelt, so oft in den Gebeten einzelner Brüder
kundgibt. Wenn ein Bruder sich im Anfang des Gebets an
Gott den Vater wendet und Ihn im Verlaufe anredet als Den,
der gestorben und auferstanden ist, oder wenn er sein Gebet
an Jesum richtet und Ihm am Ende dankt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt habe, dann möchte ich
mich wirklich fragen: „Kann der Geist Gottes solche Gebete
wirken?" — O wie sehr haben alle, die bei dem Gottesdienst
tätig sind, den Geist der Besonnenheit nötig, um solche Verwirrungen zu vermeiden! Keiner von ihnen glaubt, daß der
Vater auf Golgatha gestorben ist, und daß Christus Seinen
Sohn in die Welt gesandt hat. Wo findet sich nun der ruhige,
besonnene Geist, der die, die sich als die Kanäle des Gottesdienstes der Heiligen gebrauchen lassen, charakterisieren soll,
wenn ihre Sprache geradezu das ausdrückt, was sie selbst nicht
glauben und was widersinnig sein würde, zu glauben! Möge
daher der Herr uns den Geist der Kraft, der Liebe und der
Besonnenheit in reichem Maße geben!
5. Verschiedene Bemerkungen über die gegenseitige Abhängigkeit der Heiligen in den Erbauungsstunden und über einige
andere Punkte.
Meine Bemerkungen in diesem Brief werden weniger zusammenhängend sein, als die in den vorhergehenden Zeilen, indem
ich die Absicht habe, verschiedene Punkte hervorzuheben, die
in Verbindung mit den bereits behandelten Gegenständen nicht
gut erörtert werden können.
Zunächst erlaube ich mir, daran zu erinnern, daß alles, was in
einer Versammlung gegenseitiger Erbauung geschieht, die
Frucht der Gemeinschaft sein muß. Wenn ich z. B. ein Kapitel
aus dem Worte Gottes lesen will, so soll ich nicht lange meine
Bibel durchblättern, um ein passendes Kapitel zu finden, sondern, vorausgesetzt, daß ich das Wort mehr oder weniger
52
kenne, es ist nötig, daß der Geist Gottes mir den Abschnitt,
den ich vorlesen soll, ins Herz gebe. Ebenso verhält es sich mit
dem Vorschlagen eines Liedes. Es darf nicht geschehen, weil
ich den Augenblick zum Gesang herangerückt glaube und weil
ich im Liederbuch ein Lied, das mir gefällt, gesucht habe,
sondern es ist nötig, daß mich der Geist, insoweit ich den
Inhalt der vorhandenen Lieder kenne, an eins erinnert und
mich antreibt, es vorzuschlagen. Das Durchblättern der Bibeln
und der Liederbücher von Seiten mehrerer Brüder, um ein
passendes Kapitel oder Lied zu suchen, trägt ganz den
Schein an sich, als ob es darauf abgesehen sei, den wahren
Charakter einer vom Heiligen Geiste abhängigen Versammlung gegenseitiger Erbauung zu beseitigen. Freilich mag mich
meine unvollkommene Kenntnis des Inhalts zwingen, die Bibel
oder das Liederbuch zur Hand zu nehmen, um das mir durch
den Geist ins Herz gegebene Kapitel oder Lied zu suchen;
aber mich sollte stets das Gefühl leiten, daß man in der Abhängigkeit von dem Heiligen Geiste versammelt ist, um sich
gegenseitig zu erbauen.
Haben wir nun das soeben Gesagte wohl begriffen, so wird
selbstredend daraus folgen, daß, wenn man einen Bruder seine
Bibel oder sein Liederbuch öffnen sieht, man wissen wird, daß
er es in der Absicht tut, ein Kapitel vorzulesen oder ein Lied
vorzuschlagen. Das aber sollte jeden anderen Bruder hindern,
in ähnlicher Weise handeln zu wollen, bevor jener seine Absicht ausgeführt oder wieder aufgegeben hat; und dieses leitet
mich zu dem Gegenstand gegenseitiger Abhängigkeit, worauf
ich die Aufmerksamkeit meiner Leser lenken möchte. —
In 1. Kor. 11 handelt es sich in betreff der Korinther nicht um
den Dienst, sondern um die Art und Weise, wie sie das Abendmahl des Herrn feierten. Die Frage hinsichtlich des Dienstes
wird in Kapitel 14 erörtert; aber die innere Wurzel der Unordnung zeigte sich in beiden Fällen. Die Korinther unterschieden
nicht den Leib des Herrn; und darum war ein jeder mit seiner
eigenen Person beschäftigt. „Denn ein jeder nimmt beim Essen
sein eigenes Abendmahl vorweg." (V. 21.) Und daraus folgte
natürlich: „Und der eine ist hungrig, der andere ist trunken."
Der Grundsatz des Ichs brachte hier Früchte zum Vorschein,
die so sichtbar und verabscheuungswürdig waren, daß sie selbst
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das natürliche Gefühl verletzten. Aber wenn ich zur Versammlung gehe oder mich dort befinde und nur an das Kapitel oder
das Lied denke, das ich vorzulesen oder vorzuschlagen beabsichtige, oder mich, mit anderen Worten, mit der Stellung beschäftige, die ich beim Gottesdienst einnehmen will, so ist
ebenso in geistlichen Dingen das Ich der Mittelpunkt, um den
sich alle meine Gedanken und Beschäftigungen drehen, als
wenn ich, wie die Korinther in natürlichen Angelegenheiten,
ein Abendessen herbeigetragen hätte und es genösse, während
mein armer Bruder, der sich nichts zu verschaffen vermag,
hungrig weggehen würde. Wir sind versammelt in der Gemeinschaft des einen Leibes Christi, und zwar geweckt, belebt, belehrt und beherrscht durch den einen Geist; und die
Gedanken unserer Herzen sollten in der Versammlung nicht
auf das Mahl, das ich zu genießen habe, und nicht auf die
Stellung, die ich einzunehmen habe, sondern auf die Güte und
bewundernswürdige Gnade dessen gerichtet sein, der uns der
Bewahrung des Heiligen Geistes anvertraut hat. Un d sicher
wird der Heilige Geist, wenn wir uns Ihm demütig unterwerfen,
einen jeden die Handlung und den Platz anweisen, die für ihn
passen, ohne daß eine fieberhaft aufregende Vorbereitung in
uns stattfinden muß. Jeder Christ ist nur ein Teil des Leibes
Christi, und wenn die Korinther dieses zu begreifen und zu
verwirklichen vermocht hätten, so würde sicher der, welcher
mit Speise versehen war, auf die, welche keine Speise hatten,
gewartet und die Speise mit ihnen geteilt haben. Ebenso werde
ich, wenn meine Seele die kostbare Einheit des Leibes verwirklicht und ich den niedrigen Platz eines Einzel-Gliedes einnehme, mich in der Versammlung vor übereiltem Sprechen
hüten, wodurch andere Heilige verhindert würden, es zu tun.
Wenn ich fühle, daß ich im Auftrage des Herrn ein Wort zu
reden oder irgend einen Dienst auszuüben habe, so sollte ich
mich dennoch stets daran erinnern, daß andere ebenfalls einen
gleichen Ruf vom Herrn erhalten haben können, und sicher
werde ich ihnen dann nicht im Wege stehen. Vor allem aber
sollte ich, wenn irgend ein Bruder bereits sein Buch geöffnet
hat, um einen Abschnitt des Wortes vorzulesen, oder ein Lied
anzugeben, warten, bis er seine Absicht ausgeführt hat, und
ich sollte nicht ihm zuvorzukommen suchen. Die Worte:
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„Wartet aufeinander", kann man hierauf sicher ebensogut anwenden, wie auf das Essen; und in Kapitel 14 werden die
Glieder der Versammlung zu einer solchen gegenseitigen Unterwerfung aufgefordert, daß, selbst wenn einer der Propheten
unter ihnen redete und der andere eine neue Offenbarung
empfing, der erste „schweigen" sollte. Überhaupt würde, wenn
wir unseren Platz an dem Leibe und die Einheit des Leibes
besser verwirklichten, das Wort: „Jeder Mensch sei schnell zum
Hören, langsam zum Reden", (Jak 1, 19.) uns leiten, aufeinander zu warten.
Erinnern wir uns stets daran, daß der Zweck unserer Zusammenkunft die Erbauung ist. Wir finden dies deutlich in
1. Kor 14. In Kapitel 12 haben wir den Leib Christi. Er ist
Christo als Seinem Herrn unterworfen und ist hienieden, kraft
der Innewohnung und Wirkung des Heiligen Geistes, der
Zeuge dieser Oberhoheit Christi, welcher jedem insbesondere
Seine Gaben austeilt, wie Er will. Dieses Kapitel schließt mit
der Bezeichnung der verliehenen Gaben, als Apostel, Propheten
usw., die Gott in ihren verschiedenen Stellungen zum Nutzen
und Dienst des ganzen Leibes in der Kirche eingesetzt hat. Es
wird uns anempfohlen, „um die größeren Gnadengaben zu
eifern"; aber in Kapital 13 wird uns ein vortrefflicherer Weg
gezeigt, und das ist die Liebe, ohne welche die herrlichsten
Gaben nichts sind, und welche die Ausübung der Gaben leiten
muß, wenn überhaupt die Erbauung das Resultat sein soll.
Und hierüber handelt das 14. Kapitel. Da die Gabe der Sprachen in den Augen der Menschen die meiste Bewunderung
erregte, so zeigte sich bei den Korinthern in hohem Grade die
Sucht, sie zur Schau zu tragen. Statt der Liebe, die die Auferbauung aller sucht, war die Eitelkeit beschäftigt, um glänzende
Talente zu zeigen. Die Gabe der Sprachen war in der Tat eine
Gabe des Heiligen Geistes; und es ist für uns, geliebte Brüder,
eine ernstlich zu erwägende Sache, wenn wir sehen, daß die in
den Gaben für den Dienst geoffenbarte Macht des Geistes getrennt sein kann von der lebendigen Leitung desselben Geistes
in der Ausübung dieser Gaben. Diese Leitung kann nur da
gefühlt werden, wo das Ich beiseitegesetzt ist, wo Christus
alles für die Seele ist. Der Zweck des Heiligen Geistes ist nicht,
die armen irdischen Gefäße, die im Besitz Seiner Gaben sind,
55
zu ehren, sondern durch die Auferbauung Christum selbst zu
verherrlichen, der diese Gaben darreicht, damit die Empfangenden mit Gnade, Demut und Verzichtleisten auf sich selbst
davon Gebrauch machen sollen. Wie herrlich tritt bei dem
Apostel Paulus dieses Verzichtleisten auf seine eigene Person
in den Vordergrund! Im Besitz aller Gaben, blieb er dennoch
aller Prunksucht fern. Und mit welcher Herzenseinfalt war er
bemüht, seinen Herrn zu verherrlichen und die Heiligen zu
erbauen! „Ich danke Gott, ich rede mehr in einer Sprache, als
ihr alle. Aber in der Versammlung will ich lieber fünf Worte
reden mit meinem Verstände, auf daß ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in einer Sprache." (1. Kor. 14,
18 — 19.) — Welche Kraft haben die aus der Feder eines solchen
Mannes hervorkommenden Worte des Heiligen Geistes: „Alles
geschehe zur Erbauung." (1. Kor 14, 26.) „Also auch ihr, da
ihr um geistliche Gaben eifert, so suchet, daß ihr überströmend
seid zur Erbauung der Versammlung." (1. Kor 14, 12.)
Vor allen Dingen muß jeder Diener, um treu zu sein, nach den
Vorschriften seines Herrn und Meisters handeln. Es kann nicht
genug hervorgehoben werden, daß, wenn ich in der Versammlung der Heiligen tätig sein will, nichts weniger zum Antriebe
dazu nötig ist, als die vollkommene und ernste Überzeugung
in meiner Seele und vor Gott, daß dieses der wirkliche Auftrag
und Wille meines Herrn ist. „Denn ich sage durch die Gnade,
die mir gegeben ist, jedem, der unter euch ist, nicht höher von
sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern so zu
denken, daß er besonnen sei, wie Gott einem jeden das Maß
des Glaubens zugeteilt hat." (Röm 12, 3.) Das mir von Gott
verliehene Maß des Glaubens soll das Maß von dem sein, was
ich tue; und Gott wird dafür sorgen, daß Seine Diener, indem
Er ihnen das Maß des erforderlichen Glaubens darreicht, das
tun können, was sie nach Seinem Willen tun sollen. Eine feste
und aufrichtige Überzeugung, daß es so der Wille Gottes ist,
kann also allein mich ermächtigen, als Sein Diener sowohl in
der Versammlung als auch anderswo tätig zu sein.
Da nun aber mit diesem Grundsatz Mißbrauch getrieben werden könnte, so hat Gott auch hier durch jene Vorschrift vorgebeugt, die wir in der Stelle finden: „Propheten aber laßt
zwei oder drei reden, und die anderen laßt urteilen." (1. Kor
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14, 29.) Das wird ein Zügel gegen derartige Mißbräuche in der
Versammlung sein. Zunächst ist es an mir, zu beurteilen und
zu wissen, ob der Herr mich beruft, zu reden oder auf irgend
eine andere Weise in der Versammlung tätig zu sein, aber
nachdem ich geredet oder gehandelt habe, ist es an meinen
Brüdern zu urteilen; und in den meisten Fällen werde ich mich
ihrem Urteil unterwerfen müssen. Es wird in der Tat eine
höchst seltene Erscheinung sein, daß sich ein Diener Christi
ermächtigt fühlt, in seinem Wirken fortzufahren, wenn dieses
von seinen Brüdern mißbilligt wird. Wenn Gott mich beruft,
zu reden oder zu beten in den Versammlungen, vorausgesetzt,
daß meine Überzeugung, berufen zu sein, von Ihm ist, so ist
es klar, daß es Ihm ebenso leicht ist, die Herzen der Heiligen
zu lenken, daß sie meinen Dienst anerkennen und sich mit
meinen Gebeten zu vereinigen, wie es Ihm leicht ist, mein
eigenes Herz zu einem solchen Dienst fähig zu machen. Wenn
es wirklich der Geist ist, der mich zum Wirken antreibt, so
wohnt der Geist auch in den Heiligen; und in neunundneunzig
Fällen unter hundert wird der Geist in den Heiligen durch
irgend einen Bruder auf meinen Dienst antworten. Wenn ich
daher wahrnehme, daß mein Wirken in den Versammlungen,
anstatt die Heiligen zu erbauen, für sie eine Last ist, so muß
ich daraus schließen, daß ich mich in betreff meiner Stellung
täusche und daß ich nicht berufen bin, also tätig zu sein. Gesetzt nun aber, daß nicht der Zustand eines wirkenden Bruders, sondern der der Versammlung der Grund wäre, daß sein
Dienst eine Zeitlang nicht gebilligt wurde, gesetzt, daß dieser
Bruder weit geistlicher wäre als die Versammlung, so daß
diese seinen Dienst weder verstehen noch würdigen könnte!
In diesem höchst seltenen Falle würde dieser Diener Christi
sich vielleicht prüfen müssen, ob er nicht etwas zu lernen habe,
um zu sein, wie sein Herr und Meister, der lehrte und „das
Wort zu ihnen richtete, wie sie es zu hören vermochten",
(Mark 4, 33.), oder ob er nicht etwa der Gesinnung des Paulus
bedürfe, der sagen konnte: „Wir sind in eurer Mitte zart gewesen, wie eine nährende Mutter ihre eigenen Kinder pflegt,"
(1. Thess 2, 7.) und wieder: „Ich habe euch Milch zu trinken
gegeben, nicht Speise; denn ihr vermochtet es noch nicht; aber
ihr vermöget es auch jetzt noch nicht." (1. Kor 3, 2.) — Wenn
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nun aber, trotz dieser mit Sorgfalt und Einsicht geübten Zartheit, der Dienst dieses Bruders auch fernerhin nicht anerkannt
wird, so wird das sicher eine Prüfung für seinen Glauben sein.
Aber dennoch würde es, da die Erbauung der Zweck jedes
Dienstes ist, und die Heiligen unmöglich durch einen Dienst,
der sich ihrem Gewissen nicht empfiehlt, erbaut werden können, ohne Nutzen sein, ihnen einen solchen Dienst aufzubürden, abgesehen davon, ob der Zustand des einen Bruders oder
der Versammlung die Schuld der Nicht-Anerkennung trägt.
Der allgemeine Zustand der Schwäche oder der Krankheit
eines Körpers kann die Verrenkung eines Gelenkes herbeiführen; in einem solchen Falle würde man dadurch, daß man
das verrenkte Glied zur Erfüllung seiner Verrichtungen zwingen wollte, den Zustand des Körpers keineswegs verbessern.
Daß dieses Glied nicht tätig sein kann, ist freilich beklagenswert; aber der einzige Weg, es wieder herzustellen, wird sein,
daß man ihm volle Ruhe gewährt, während man durch andere
Mittel die Genesung des Körpers zu fördern strebt. Ebenso
verhält es sich in dem von uns angeführten Falle. Die Ausübung eines Dienstes da fortsetzen zu wollen, wo er, selbst
wegen des schlechten Zustandes der Versammlung, nicht anerkannt wird, würde zu den traurigen Erscheinungen nur noch
Verwirrung hinzufügen und sie dadurch verschlimmern. Der
Diener des Herrn wird finden, daß es dann weise ist, zu
schweigen, oder, sollte sein Herr ihm in dieser Weise Seinen
Willen kund tun, anderswo seinen Dienst auszuüben.
Andererseits, geliebte Brüder, laßt Euch ernstlich vor jener
Schlinge warnen, die Satan in seiner List so gern zu unserem
Schaden zu legen sucht, nämlich vor dem Geiste lieblosen
Kritisierens über das, was in der Versammlung vorfällt. Die
Anstrengungen des Feindes gehen immer dahin, uns von einem
Extrem ins andere zu treiben. Wenn wir nämlich zu einer Zeit
durch Gleichgültigkeit gesündigt haben, indem wir für das,
was in der Versammlung geschah, fast kein Auge hatten, so
ist es oft mehr als wahrscheinlich, daß wir zu einer anderen
Zeit gerade der entgegengesetzten Klippe zusteuern. Der Herr
wolle uns in Seinem Erbarmen davor bewahren! Nichts zeigt
so sehr einen beklagenswerten Zustand an, und nichts kann so
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sehr der Segnung hemmend in den Weg treten, als ein Geist
lieblosen Richtens und Kritisierens. Wir versammeln uns, um
Gott anzubeten, und um uns einander zu erbauen, und nicht
in der Absicht, um einen wirkenden Bruder zu beurteilen und
um zu entscheiden, ob ein solcher Bruder seinen Dienst in
einer fleischlichen Weise ausübt und ob ein anderer durch den
Geist betet. Wenn das Fleisch sich offenbart, ist es nötig, daß
es gerichtet wird; aber es ist eine traurige und demütigende Sache,
es in der Versammlung unterscheiden und richten zu müssen,
anstatt uns, was unser glückseliges Vorrecht ist, der Fülle unseres göttlichen Herrn und Heilands zu freuen. Hüten wir uns
daher vor dem Geiste des Richtens! Es gibt sowohl geringe als
mehr hervorragende Gaben; und wir kennen den, der den
Gliedern des Leibes, die uns die schwächeren zu sein scheinen,
eine um so reichlichere Ehre verleiht. Die Handlungen eines
Bruders in der Versammlung sind nicht geradezu alle fleischlich, weil er bis zu einem gewissen Punkte fleischlich wirksam
ist; und in dieser Beziehung würde es für uns alle von Nutzen
sein, die Worte eines der geachtetsten Diener des Herrn unter
uns ernstlich zu erwägen. „Es ist vor allen Dingen nötig", sagt
er, „daß wir zunächst die Natur unserer Gabe prüfen, und dann
ihr Maß. Was das Maß betrifft, so glaube ich, daß manche
Gabe nicht anerkannt wird, weil der Bruder, der sie empfangen
hat, bei deren Ausübung das Maß überschreitet. „ .. . es sei
Weissagung, so laßt uns weissagen nach dem Maß des Glaubens". (Röm 12, 6.) Alles was außerhalb dieser Grenzen liegt,
ist vom Fleisch. Der Mensch stellt sich dann in den Vordergrund; die Sache wird gefühlt und die Gabe verworfen, weil
der wirkende Bruder sich nicht mit dem Maße seiner Gabe
begnügt hat. Weil aber sein Fleisch wirkt, so darf man sich
nicht wundern, daß das, was er sagt, als fleischlich verworfen
wird. Ebenso verhält es sich bezüglich der Natur der Gabe.
Wenn ein Bruder, der eine Gabe des Ermahnens hat, zu lehren
beginnt, so wird es sicher an der Erbauung mangeln. Ich
möchte sehr wünschen, daß jeder Bruder, der im Dienst des
Wortes tätig ist, auf diese Bemerkung sein Augenmerk richtete,
weil vielleicht bei dem Mangel an Treue seiner Zuhörer kein
anderes Mittel vorhanden ist, um in dieser Beziehung klar zu
werden.
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Diese Worte sind zunächst an solche gerichtet, die einen Dienst
ausüben; aber ich führe sie hier an, damit wir, geliebte Brüder,
nicht alles, was ein Bruder redet oder tut, als fleischlich bezeichnen, weil wir darin irgend etwas Fleischliches erblicken.
Laßt uns mit Dank alles anerkennen, was vom Geiste ist, indem wir es, selbst in dem Dienst und den Handlungen einer
und derselben Person, von jeder anderen Sache unterscheiden!
Es gibt noch zwei oder drei kleine Einzelheiten, die ich hier in
der Einfalt brüderlicher Liebe kvirz zu berühren wünsche. Zunächst möchte ich die Aufmerksamkeit meiner Leser auf die
Austeilung des Brotes und Weines am Tisch des Herrn lenken.
Einerseits wäre es sehr wünschenswert, wenn Brot und Wein
nicht beständig und ausschließlich von denselben Brüdern ausgeteilt würde, als ob ein kirchlicher Unterschied vorhanden sei;
aber andererseits finde ich nichts in der Schrift, das irgend
einen Bruder ermächtigen könnte, das Brot zu brechen oder
den Kelch darzureichen, ohne die Danksagung darzubringen.
In Mt 24, 26. 27; Mk 14, 22. 23; Lk 22, 19 und 1. Kor
11, 24 wird uns gesagt, daß der Herr danksagte, als Er das
Brot brach und den Kelch nahm; und in 1. Kor 10, 16 wird
uns der Kelch, als der Kelch der Segnung und der Danksagung
bezeichnet. Wenn nun die Heilige Schrift unser Führer sein
soll, ist es dann nicht augenscheinlich, daß der, welcher das
Brot bricht und den Kelch nimmt, auch zu gleicher Zeit die
Danksagung verrichten muß? Und wenn nun jemand unter
uns sich zur Danksagung unfähig fühlt, sollte das nicht für
ihn eine Ursache sein, sich zu fragen, ob er berufen sei, das
Brot und den Wein auszuteilen?
Ferner sollten wir alle betreffs der Aufsicht und der Leitung in
den Versammlungen sowie betreffs der so notwendigen Befähigungen derer, die inmitten der Heiligen irgend einen
Dienst ausüben, die Kap. 1. Tim 3 und Tit 1 mit betendem
Herzen betrachten. Das erste dieser beiden Kapitel enthält in
Vers 6 etwas ganz Besonderes, und es kann für uns alle von
großem Nutzen sein, uns daran zu erinnern: „Nicht ein Neuling, damit er nicht, aufgebläht, ins Gericht des Teufels verfalle." Es kann der Fall sein, daß sich die Berufung Gottes und
die Gabe Christi/ wie im Alten Testament bei Jeremias, bei
60
einem jugendlichen Mann wie Timotheus finden, und die an
Timotheus gerichteten Worte: „Niemand verachte deine Jugend", würden in einem solchen Fall auch jetzt am Platze
sein. Aber die Worte: „Nicht ein Neuling", waren gerade an
Timotheus gerichtet. Seine Jugend sollte keineswegs für solche
ein Anlaß zum Wirken sein, in denen sich weder die Gnade
noch die Gabe fand, die ihm zuteil geworden waren. Schon das
Gefühl natürlicher Schicklichkeit verlangt es, daß ein Jüngling
weit eher den Platz der Unterwürfigkeit als den des Regierens
einnimmt. Wir finden im ersten Brief Petri in dieser Beziehung
eine vortreffliche Ermahnung, die leider, wie mir's scheint, nicht
genug beherzigt wird. „Gleicherweise ihr Jüngeren seid den
Älteren unterwürfig; alle aber seid gegeneinander mit Demut
fest umhüllt; denn Gott widersteht den Hochmütigen, den
Demütigen aber gibt er Gnade." (1. Petr 5, 5.)
Möge der Herr in Seiner Gnade uns allen geben, geliebte Brüder, daß wir in Demut vor Ihm wandeln, auf daß unsererseits
nichts das Werk des Heiligen Geistes in unserer Mitte hemme
und störe!
*
Der Herausgeber dieser Briefe erlaubt sich noch, einige kurze
Bemerkungen beizufügen.
1. Wenn ein Bruder in der Versammlung betet und sich an
Gott wendet mit den Worten: „Mein Gott!" so hat ihm sicher
der Heilige Geist diese Worte nicht eingegeben. Wir sollten
uns stets erinnern, daß der Geist an diesem Platze niemanden
antreibt, persönlich für sich zu beten, sondern, daß Er den
Betenden, als den Mund der Versammlung, mit allen Brüdern
auf den gleichen Boden stellt.
2. Wenn ein Gebet oder eine Danksagung lange Darstellungen
bestimmter Lehren enthält, so kann ich auch darin keineswegs
eine Wirkung des Heiligen Geistes erkennen. Wer betet, redet
mit Gott und nicht mit seinen Brüdern; und es geziemt uns
durchaus nicht, Gott eine Predigt zu halten.
3. Ich bezweifle es, daß die Handlungen beim Gottesdienst,
die immer nach derselben Ordnung geschehen, sich stets der
Leitung des Geistes erfreuen. Will es z. B. der Heilige Geist,
61
daß jede Versammlung durch ein Gebet geschlossen werde,
ohne welches es niemand wagen dürfte, sich zu erheben, um
nach Hause zu gehen? Ohne Zweifel ist ein Schlußgebet jedenfalls passend und an seinem Platze, wenn Gott es ist, der es
eingibt. Ist dies aber nicht der Fall, so ist das Gebet eine armselige Form, die nicht mehr Wert hat als eine Liturgie.
Die goldenen Fäden
2. Mose 39, 3.
„Und sie plätteten Goldbleche und man zerschnitt sie zu Fäden, zum Verarbeiten unter den blauen und unter den roten
Purpur, und unter den Karmesin und unter den Byssus."
In dem „gezwirnten Byssus" haben wir ein Vorbild von der
fleckenlosen Menschheit des Herrn Jesu Christi; und in den
„goldenen Fäden" ein ebenso treffendes und schönes Vorbild
von Seiner Gottheit. Der Geist Gottes liebt es, in dieser Weise
die Person und das Werk Christi darzustellen. Jedes Vorbild,
jede Figur, jede Ordnung der mosaischen Gebräuche, alles
duftet von dem Wohlgeruch Seines kostbaren Namens. Wie
scheinbar unbedeutend der eine oder andere Umstand auch
sein mag, so ist er nach dem Urteil des Heiligen Geistes dennoch unaussprechlich köstlich, wenn er nur irgend etwas von
Christo ausdrückt.
Der „blaue und der rote Purpur, der Karmesin und der Byssus"
stellen die verschiedenen Züge der vollkommenen Menschheit
Christi dar; aber die Weise, in welcher der goldene Faden
unter diese Stoffe, aus denen das Priesterkleid Aarons bestand, gewirkt wurde, verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Der Faden von Gold wurde so künstlich unter jene
anderen Stoffe gewirkt, daß er mit ihnen unzertrennlich verbunden und dennoch wieder vollkommen von ihnen unterschieden war. — Die Anwendung von all diesem auf den
Herrn Jesus ist von hohem Interesse. In den verschiedenen
Szenen, die uns das Evangelium mitteilt, können wir leicht
62
diese seltene und schöne Vereinigung der Menschheit und
Gottheit, und zu gleicher Zeit das geheimnisvolle Hervortreten der einen und der anderen deutlich erkennen.
Schauen wir z. B. Christus auf dem See Genezareth. Mitten
im Sturm war Er „auf einem Kopfkissen eingeschlafen." Welch
herrliches Bild von Seiner vollkommenen Menschheit! Aber
im nächsten Augenblick erscheint Er in der ganzen Größe Seiner
Majestät und Gottheit; und als der unumschränkte Beherrscher des Weltalls stillt Er den Wind und beruhigt den See.
Betrachten wir Ihn ferner in dem Falle, wo sich die Einnehmer
der Doppeldrachme an Petrus wenden. Als der höchste Gott,
der Besitzer des Himmels und der Erde, legt Er Seine Hand
auf die Schätze des Meeres und sagt: „Sie sind mein!" und
nachdem Er erklärt hat, daß Ihm das Meer gehört, verändert
Er plötzlich Seine Sprache und verbindet Sich, Seine vollkommene Menschheit offenbarend, mit Seinem armen Jünger
durch die rührenden Worte: „Diesen nimm und gib ihn für
mich und dich." — Welche gnadenreichen Worte.
Richten wir ferner unseren Blick auf Ihn am Grabe des Lazarus. Er seufzt und weint; diese Seufzer und Tränen dringen
aus den Tiefen einer vollkommenen Menschheit hervor. Dann
aber erhebt Er als die Auferstehung und das Leben Seine
Stimme zu dem Ruf: „Lazarus, komm heraus!" — Beides —
Seine Gottheit und Seine Menschheit — tritt hier in voller
Klarheit vor uns.
Und noch viele andere Szenen des Evangeliums könnten als
Erläuterung der Verbindung der goldenen Fäden mit dem
„blauen und roten Purpur, dem Karmesin und dem Byssus"
dienen; und das ist die Verbindung der Gottheit mit der
Menschheit in der geheimnisvollen Person des Sohnes Gottes.
Es ist für unsere Seelen stets nützlich, mit dem Herrn Jesus,
als dem wahrhaftigen Gott und dem wahrhaftigen Menschen
beschäftigt zu sein.
O möchten doch unsere Herzen solche Belehrungen zu schätzen wissen! Nichts vermag die Frische des geistlichen Lebens
zu erhalten, als eine stete, ununterbrochene Gemeinschaft mit
der Person Christi.
63
Stromaufwärts
Ein Christ kann in seinem Lauf unmöglich stehen bleiben, denn wir gehen gegen den Strom dieser Welt;
sobald wir stehen bleiben, zieht uns die Strömung notwendigerweise mit sich fort. Fährt man mit dem Strom, so ist es
nicht nötig zu rudern, man kommt von selbst, und zwar sehr
rasch vorwärts; aber ein Abgrund ist das Ziel. Um gegen den
Strom zu fahren, muß man beständig rudern, blickt man aber
nach oben, so geht's auch von selbst. — Ich stelle mir die
Sache in folgender Weise vor: Der Herr Jesus ist oben bei
der Quelle angekommen und Er zieht das Schiffchen mittels
eines Seils, das nur für das Auge des Glaubens sichtbar ist.
(Vergl. Hebr 6, 11-20 und 12, 1-3. 4 ff.) - Der Heilige Geist
ist mit uns im Schiffchen, Er hält das Steuerruder und spricht
mit uns durch die Heilige Schrift von der herrlichen Person
Jesu, von den Freuden und Herrlichkeiten, die wir am Ziel der
Reise finden werden. (Joh 14, 15-20. 25. 26; 16, 12—15 und
1. Joh 2, 20. 27).
So lange nun unser Auge auf Jesum gerichtet ist, sehen wir,
wie straff das Seil angezogen ist, um uns zu ziehen; unsere
Ohren merken auf die köstlichen Worte, die unser Steuermann
uns sagt; und durch diese beiden Mittel unterstützt, bewegen
wir die Ruder, ohne es zu merken. Sie scheinen uns so leicht
wie Federn zu sein; der Weg ist kurz, das Herz glücklich,
alles geht gut. — Sehen wir hingegen rechts oder links vom
Schiffchen auf die Größe der Wellen und die Stärke der
Strömung, so verlieren wir das Seil und Ihn, der es zieht, aus
den Augen; und weil wir uns nach unten gegen das Wasser
bücken, so hindert uns dessen Geräusch, die Worte unseres
Steuermanns zu verstehen. Das aber betrübt Ihn; unsere Arme
lassen die Ruder sinken und unsere Blicke, die ihre Richtung
geändert haben, begegnen den Schiffen, die mit dem Strom
fahren. Diese sind voll gutgekleideter und lustiger Leute, die
uns zurufen: „Kommt mit uns, hier belustigt man sich sehr!"
Ach! wie oft waren wir in Gefahr, in eins dieser Schiffchen
zu springen, wenn der Steuermann uns nicht ergriffen hätte,
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damit wir das Haupt erheben und unsere Ohren öffnen möchten, um Seine köstlichen Belehrungen über die Person Jesu
und die Dinge, die wir bald sehen werden, zu vernehmen, —
denn die Zeit ist nahe! F. P.
Das Gebet
Die Fürbitte setzt immer voraus, daß wir nahe genug bei Gott
sind, um in den Interessen der Kirche mit Gott zu sein. Das
Interesse, das wir an dem Zustand der Heiligen und an dem
ganzen Leibe — der Kirche — nehmen, ruft Gebet und Fürbitte
bei uns hervor, und ein Ringen, das die Seele mit dem Herrn
Jesu in Seiner Zuneigung für die Kirche aufs innigste vereinigt.
Befinden wir uns für das Wohl der Kirche im Kampfe mit
geistlichen Mächten in himmlischen Oertern, (Eph. 6, 10) so
macht das Gebet den größten Teil des Kampfes aus. Ein
Christ, der in ringendem Gebet über die Angelegenheiten der
Kirche viel mit dem Herrn verkehrt, hat mehr gearbeitet und
Früchte gebracht, als andere durch viele äußere Anstrengungen. Wenn mehr Treue unter uns vorhanden wäre, mehr
wahres Interesse für die Förderung des Glaubens der Heiligen
und für den Fortschritt des Evangeliums, so würde viel mehr
gewirkt werden durch unsere Gebete, als durch unsere Gegenwart und unsere tätige Dazvvischenkunft.
Was läßt mich Interesse nehmen an der Kirche, wenn nicht der
Geist Christi in mir die Quelle ist? Wenn ich das Interesse
verstehe, das Christus für Seine Kirche hat, so wird das die
Wirkung hervorbringen, daß ich mich mit Ihm darüber unterhalte; und Christus antwortet auf meine Gebete, weil Er die
Kirche liebt und sie auf Seinem Herzen trägt. „Er hat die Versammlung geliebt und sich selbst für sie dahingegeben"; Er
nährt und pflegt sie; „denn wir sind Glieder seines Leibes,
von seinem Fleische und von seinen Gebeinen." (Eph 5,
22—33.) Ich sehe die Vertraulichkeit und die heilige Freiheit
mit Jesu in vielen Stellen der Heiligen Schrift dargestellt. Als
Jesus in einem Gesicht den Ananias aufgefordert hatte, einen
Mann namens Saulus von Tarsus zu suchen und ihm die
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Hände aufzulegen, antwortete Ananias: „Ich habe von vielen
von diesem Manne gehört, wieviel Böses er deinen Heiligen
in Jerusalem getan hat. Und hier hat er Gewalt von den
Hohenpriestern, alle zu binden, die deinen Namen anrufen."
(Apg 9, 13—16.) Dieser Zug stellt die Vertraulichkeit des
Herrn Jesu mit den Seinigen, sowie das Interesse ins Licht,
das Er an der Kirche nimmt. — Wir haben noch ein anderes
Beispiel der Vertraulichkeit im Buch der Apostelgeschichte. In
Kap. 23, 11 stellt sich Jesus vor Paulus und sagt ihm: „Sei
gutes Mutes! Denn wie du von mir in Jerusalem gezeugt hast,
so mußt du auch in Rom zeugen." — Ferner spricht Paulus
von einem Kampf, den er für die Treuen zu Kolossä zu bestehen habe. (Kol 2.) Denn jeder Vorteil, den man erlangt,
kann als ein Sieg über den Feind betrachtet werden. Die Wirkung der Macht des Heiligen Geistes ist, die Kirche zu stützen,
damit Satan sie nicht überwinden kann. Wenn die Arme
Moses sanken, so war Amalek der Sieger; und wenn sie gehoben blieben, war Josua der stärkere. So ist es noch jetzt
in unserem Kampf. Israel kämpfte und wußte nichts von diesem Gebetskampf. Wenn es Dinge gibt, die für uns von
Interesse sind, so sieht man Satan sie angreifen. Wenn ich
mich beklage über den, der das Werkzeug des Bösen ist, so
ist das ein Gedanke des Fleisches. Der Geist setzt mich in die
direkte Beziehung zum Herrn, um Ihm zu sagen, wie jener
Hauptmann: „Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht
gesund."
Gedanken
Ein Christ sah ein Gemälde, das den Tod vorstellen sollte.
Der Maler hatte durch ein Skelett, neben dem ein Mann mit
einer Sense stand, den Tod darstellen wollen.
Der Christ bemerkte, daß er den Tod, wenn er ihn bildlich
darstellen sollte, anders malen würde; und auf die Frage,
wie er dies tun würde, antwortete er, daß er einen Mann mit
goldenem Schlüssel malen würde, weil der Tod ihm die Pforten des Lebens aufschlösse!
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Man hört so oft von Gott als dem „lieben Gott" reden,
während Er in der Schrift nie so genannt wird. Die Christen
sollten, dünkt mich, Gott nie anders nennen, als Ihn die
Schrift nennt.
Mancher möchte wünschen, schon jetzt diesen Leib der
Schwachheit nicht mehr zu haben, aber in diesem Falle würde
man vergessen, daß unser jetziger schwacher Zustand nötig
ist, damit die Kraft Gottes darin vollbracht würde.
Der Teufel handelt immer im Gegensatz zu Christo. Er stellt
uns die Sünde als einen Himmel voll süßer Genüsse vor, und
überläßt uns nach der Sünde ihren schmerzlichen Folgen. Der
Herr Jesus warnt uns vor der Sünde als einem Betrug, und
wenn wir uns dennoch vergessen, dann tilgt er die Folgen
der Sünde durch Seine Fußwaschung wieder aus.
„Denn das Leben ist für mich Christus und das Sterben Gewinn." Paulus hat nicht gesagt, daß er wünsche, daß es so
bei ihm sein möchte, sondern er sagt, daß es so bei ihm sei,
und zwar das eine ebenso gewiß wie das andere. Man kann
glauben, daß das Sterben Gewinn ist, ohne sagen zu können,
daß das Leben für mich Christus ist. Philipper 1, 21.
Unmöglich — möglich
Wenn wir unsere Blicke auf die vielen Erfindungen richten, die
seit einem halben Jahrhundert in die Erscheinung getreten sind,
und noch von Tag zu Tag durch neue vermehrt werden, so
müßte man fast sagen, daß für die Welt nichts Unmögliches
mehr besteht. Was noch vor drei Jahren als ein Hirngespinst
erschien, gehört jetzt schon zu den alltäglichen Dingen; was
noch vor einem halben Jahrhundert als ein Wunder betrachtet
wurde, wird jetzt bereits wieder als unvollkommen beiseitegestellt; was ehemals als unmöglich bezeichnet wurde, ist jetzt
möglich geworden. Das Neue verdrängt im Fluge das Alte. Wo
irgend eine Idee auftaucht, da sind gleich Menschenhände dabei, sie auszuführen.
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Aber wie sehr es auch den Nachkommen Kains geglückt sein
mag, die Welt zu verschönern und sie mit allem, was den
Sinnen gefällt, zu versehen, und wie viele Denkmäler ihnen
auch für ihre Werke errichtet sein mögen, so gibt es doch
eine Sache, die für sie unmöglich ist, zu erlangen. Alle Anstrengungen der Menschen bis zu diesem Augenblick sind an ihr
gescheitert; für die Errettung der Seele haben sie kein Mittel
ausfindig zu machen gewußt, um sich dieser Sache rühmen zu
können. Die Wissenschaft, die Weisheit der Menschen brüstete
sich von jeher sehr; und mit gespannter Aufmerksamkeit
lauschten Tausende auf ihre hochklingenden Aussprüche in der
sehnlichsten Erwartung, etwas unter ihren aufgeschichteten
Schätzen betreffs dieser wichtigen Frage zu entdecken. Aber
ach! unmöglich vermochte die Weisheit dieser Welt Gott in
Seiner Weisheit zu erkennen; man verwarf das Licht, das Gott
vom Himmel sandte; man kreuzigte den Herrn der Herrlichkeit, man tappte umher in der tiefsten Finsternis. Zwar richtete
man unzählige Systeme auf; aber keines war imstande, über
die Frage der Ewigkeit Licht zu verbreiten; keines konnte dem
Gewissen Ruhe, wahre Ruhe geben in der Stunde des Todes.
Wie viel Neues die Weisheit daher auch hervorgerufen haben
mag, so hat sie es doch nicht dahin gebracht, den Boden der
Unsicherheit, auf dem die Füße ihrer Anhänger gestellt sind,
zu zertrümmern und durch ein unerschütterliches Fundament
zu ersetzen. Hätte die Frage der Jünger: „Wer kann dann
errettet werden?" ihr Ohr berührt, sie hätten zu allen Zeiten
nur die Antwort geben können: „Bei Menschen ist dies unmöglich." (Mt 19, 25-26.)
In der Tat, der Mensch mag die überraschendsten Erscheinungen zutage fördern; aber eine einzige Seele in den Himmel zu
bringen, das überschreitet weit die Grenzen seiner Macht. Sobald er mit seiner Weisheit dieses Gebiet betritt, wird seine
Ohmacht und Unwissenheit bloßgestellt. Ach! sowohl die
klaren Zeugnisse der Heiligen Schrift, als auch die täglichen
Erfahrungen aller Menschen, die selig zu werden wünschen, beweisen es unzweideutig, daß alle eigenen Anstrengungen des
Menschen nutzlos und eitel sind. Sie sind nichts als tote Werke
und verraten es mit ganzer Deutlichkeit, daß der arme Mensch
in seinem Stolze dem Zeugnisse Gottes nicht glaubt. Und ist
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es nicht genug, wenn der Herr Jesus selbst betreffs der Errettung die Worte sagt: „Bei Menschen ist dies unmöglich"? Die
Jünger schenkten diesem Wort, ohne Einrede dagegen zu erheben, völligen Glauben; denn Petrus sagte: „Siehe, wir haben
alles verlassen und sind dir nachgefolgt; was wird uns nun
werden?" O, möchten doch alle, in deren Herzen ein Verlangen
nach Errettung durch die Gnade geweckt worden ist, gleich
diesem Jünger mit einfältigem Herzen dem Worte des Herrn
glauben!
Glaubst Du, mein teurer Leser, daß es „bei Menschen unmöglich ist"? Glaubst Du, daß alle Deine Arbeit ohne Frucht bleibt,
und daß alles, was Du zur Erlangung Deiner Seele anwendest,
Dich um keinen Schritt näher bringt? Ja, das Wort: „Bei
Menschen ist dies unmöglich", ist sicher nicht geeignet, den
Menschen in seinem Wahn und in seinem Hochmut zu stärken;
denn wie weit er es auch in seinen Künsten und Wissenschaften im Reich der Natur gebracht haben mag, so zeigt er
doch in dieser Beziehung nichts als Ohnmacht und Unwissenheit. Hier wird er seines ganzen Ruhmes entkleidet; und während er in fieberhafter Anstrengung bemüht ist, sich durch
sein Tun ein Anrecht auf den Himmel zu erwerben, ruft ihm
eine Stimme zu: „Halt! Alle deine Werke nützen nichts; alle
Deine Bestrebungen, Anstrengungen und Spendungen sind
eitel und wertlos in den Augen Gottes!" — O, wie manchem,
dessen Gewissen durch diese Worte erschüttert wird, entsinkt
die Stütze, auf die er sich lehnte und die er als untrüglich
erachtete, wie mancher sieht sein Gebäude, an dem er seither
mit so vieler Mühe gearbeitet hat, in Trümmer stürzen, wie
mancher, der bisher Trost fand in dem Gedanken, nicht mehr
fern vom Reiche Gottes zu sein, sieht sich auf einmal zurückgesetzt, ohne Hoffnung, ohne Gott!
Der reiche Jüngling im Evangelium, der in der Meinung zu Jesu
gekommen war, daß noch irgend etwas, um das ewige Leben
zu erlangen, getan werden könnte, ging betrübt hinweg, als er
vernahm, daß er trotz all seines Tuns und trotz Beobachtung der
Gebote nicht vollkommen sei. Er hatte in der Tat vieles getan.
Er konnte sagen: „Alles dieses habe ich beobachtet von meiner
Jugend an." Und hätte es für ihn noch etwas zu tun gegeben,
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um für sein Herz mehr Sicherheit und Gewißheit betreffs des
ewigen Lebens zu erlangen, so würde er es willig ausgeführt
und den an ihn gestellten Anforderungen mit eigener Aufopferung genügt haben. Die Jünger selbst waren darüber verwundert, daß jemand, der so vieles getan hatte, noch nicht
sagen konnte, daß er errettet sei. Das zeigt uns unzweideutig
die Frage: „Wer kann dann errettet werden?" Ach! „bei Menschen ist dies unmöglich." Und ist dies eine Wahrheit in
bezug auf jemand, der brav und tugendhaft war, der sich
kühn seiner Treue betreffs der Beobachtung der Gebote
rühmen konnte, ach! wie viel mehr ist es dann anzuwenden auf die, die sich nicht dieser Dinge rühmen könne, sondern sich vielmehr den Sündern und Übertretern beizählen müssen, auf solche, die sich, hinschauend auf ihr Leben,
schuldig fühlen gegenüber den Geboten Gottes, und die bei
dem Gedanken an das gerechte Gericht zitternd zurückschrecken.
Es ist wahr, daß es in dem äußeren Leben und Wandel einen
Unterschied gibt, daß der eine Mensch sittlicher und ehrbarer
wandelt als der andere; und sicher ist dies, insoweit es sich
auf das Leben auf Erden bezieht, beachtenswert. Aber in bezug
auf das ewige Leben fällt unter den Menschen jeder Unterschied weg. Alle stehen vor derselben geschlossenen Tür.
Hunderte und Tausende mögen es versuchen, sie zu öffnen, —
sie wird geschlossen bleiben. Für alle heißt es: „Bei Menschen
ist dies unmöglich." Kein Gebet, keine Träne, keine Reue,
keine Tugend, nein, nicht der höchste Grad der Sittlichkeit
kann sie öffnen. Schrecklich, aber wahr! Pharao mit seinem
Heer hinter ihm, das Rote Meer vor ihm, das ist die traurige
Lage des Menschen. Und so unmöglich es für den Israeliten
war, das Rote Meer durchschreiten zu können, so unmöglich
ist es für den Sünder, sich die Tür des Himmels zu öffnen.
Hast Du wohl einmal mit Ernst über diese Dinge nachgedacht,
mein teurer Leser? Dann wirst Du auch sicher, angesichts
Deines trostlosen Zustandes von Natur, mit Angst und Schmerz
an Deine Brust geschlagen haben. Alle Hoffnungen auf Rettung, sobald es sich um das Tun des Menschen handelt, ist
verschwunden. Vergeblich sucht er einen Ausweg, vergeblich
strengt er sich an, seine Füße aus dem Schlamm der Sünde
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herauszuziehen; von allen Seiten tönt ihm das Wort entgegen:
„Bei Menschen ist dies unmöglich."
Aber siehe! für Israel durchbrach ein Lichtstrahl die Finsternis.
Gott, der den Notschrei des armen Volkes vernommen hatte,
kam hernieder und spaltete die Fluten des Roten Meeres. Ein
Pfad wurde gebahnt, damit das Volk der Macht des gewaltigen
Feindes entrinnen konnte; und die Fliehenden, die soeben noch
vergeblich einen Ausweg gesucht und geschrieen hatten: „Unmöglich! Unmöglich!" — empfingen jetzt die Botschaft: „Aber
bei Gott sind alle Dinge möglich." Das was unmöglich war, ist
möglich geworden. Welch kostbare Wahrheit!
Es ist wahr, jeder natürliche Mensch ist in der Gewalt des
Fürsten dieser Welt, und zu seinen Füßen wälzen sich die
Wellen des Todes. Was kann er tun, um der Macht eines
solchen schrecklichen Feindes und dem Zorn eines gerechten
Gottes zu entfliehen? Nichts. „Bei Menschen ist dies unmöglich." Aber Gott in Seiner Gnade konnte etwas tun; denn „bei
ihm sind alle Dinge möglich". Und Er hat für den Sünder
einen Weg zum Entrinnen bereitet; Er hat das Unmögliche
möglich gemacht, Er gab Seinen Sohn. Jesus ist der Weg, die
Wahrheit und das Leben; Er kam auf die Erde, starb am
Kreuze, verließ das Grab, fuhr auf gen Himmel und rief den
Seinigen zu: „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten."
Durch Ihn ist der Himmel zugängig gemacht; Er hat die Tür
geöffnet. Jetzt kann niemand sagen: „Es ist unmöglich." Aber
es ist nur möglich durch Jesum. Für die Kinder Israel gab es
nur einen Weg zum Entrinnen; es war der Weg, den Gott
gebahnt hatte. Jeder Unterschied war zu Boden gefallen. Und
ebenso verhält es sich jetzt mit den Sündern. Vor Gott stehen
sie alle auf gleichem Boden, sowohl der Mörder am Kreuz, der
sein Leben in Sünden zugebracht hatte als auch der reiche
Jüngling, der sagen konnte: „Alles dieses habe ich beobachtet
von meiner Jugend an." Für beide galt das Wort: „Bei Menschen ist dies unmöglich." — Und dennoch entdecken wir in
ihnen einen bedeutenden Unterschied. Der Mörder am Kreuz
erkannte, daß es ihm unmöglich sei, errettet zu werden; darum
wandte er sich an Jesum, der ihm mit den Worten entgegenkam: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Der reiche
Jüngling kam zwar ebenfalls zu Jesu, aber nicht mit dem
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Bedürfnis, Gnade zu empfangen, und nicht mit der Überzeugung, daß es ihm unmöglich sei, errettet zu werden; und
darum ging er betrübt hinweg.
Mit einem Worte, mein teurer Leser: So lange der Mensch
denkt, es sei ihm Rettung „möglich", sagt Gott: „Unmöglich";
aber sobald der Mensch im Gefühl seines Unvermögens sagt:
„Unmöglich"; ruft ihm Gott mit Macht zu: „Möglich." Ja, bis
zu diesem Punkt der Hoffnungslosigkeit muß es mit dem
Menschen kommen; erst dann öffnen sich die Arme Jesu, um
den Verlorenen aufzunehmen, um ihm zu zeigen, daß das bei
den Menschen Unmögliche bei Gott möglich ist.
Ruhe für das Herz
„Seid um nichts besorgt; sondern in allem lasset durch Gebet
und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kund werden; und der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt,
wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christo Jesu."
(Phil 4, 6. 7.) Fürwahr, das gibt dem Herzen wahre Ruhe! In
welchen Umständen wir uns auch befinden, welche Sorgen
unser Herz auch erfüllen mögen — der Herr, unser Gott, fordert uns auf, zu Ihm unsere Zuflucht zu nehmen. Er ist völlig
bereit und auch mächtig genug, alles auf Sich zu nehmen. In
Seiner zärtlichen Liebe gegen uns will Er mit uns tauschen. Er
will unsere Sorgen nehmen und uns Seinen Frieden geben.
Welch ein herrlicher Tausch! O, wie unaussprechlich gut ist Er!
Er will nicht, daß eine einzige Sorge unser Herz beschweren
soll. Er will, daß unser Herz ebenso frei von Sorgen sein
soll, wie unser Gewissen frei ist von Schuld. Anstatt unserer
Sünde gab Er uns Seine Gerechtigkeit, und anstatt unserer
Sorgen will Er uns Seinen Frieden geben.
Mit welch einer anbetungswürdigen Güte ist doch der Herr
mit uns beschäftigt! Er bemüht Sich mit unseren Torheiten
und Mängeln, um uns davon zu befreien, und Er bemüht Sich
mit unseren Sorgen und Kümmernissen, um uns davon zu
entlasten und unsere Herzen mit Seinem seligen Frieden zu
erfüllen. Er sagt uns ausdrücklich und in einer für jeden deutlichen Sprache: „Gib mir deine Sorgen, welcher Art sie auch
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sein mögen, ob klein oder groß, ob sie auf dein persönliches,
häusliches oder öffentliches Leben Bezug haben; gib sie mir,
und ich will dir dafür meinen Frieden geben, der jede Vernunft übersteigt." Herrliche Gnade! O, möchten unsere Herzen
allezeit eine völlig geziemende Antwort darauf geben! Warum
wollen wir unsere Sorgen, die doch nur eine schwere Bürde
für uns sind, für uns behalten, wenn Gott sie haben will?
Warum wollen wir selbst für uns sorgen, wenn Gott es tun
will? Er denkt allezeit an uns. Niemand hat noch getan, was
Er tat. Er, der große und herrliche Gott, der Schöpfer des
Himmels und der Erde, hat die Haare unseres Hauptes gezählt.
Welch eine Liebe! Welch eine Zärtlichkeit! Fürwahr, wir können uns Ihm anvertrauen; unsere Herzen können ruhig sein
inmitten all der Stürme dieses Lebens und Seinem Namen
lobsingen.
„Ihr seid vollendet in Ihm"
Kol 2, 10.
Gegenüber der Neigung vieler Seelen, den Frieden des Gewissens auf etwas zu gründen, was sie in und bei sich selbst
wahrnehmen, sowie angesichts der steten Schwankungen, der
Unbeständigkeit und Unzulänglichkeit eines solchen Friedens
ist es von unberechenbarer Bedeutung, den wirklichen, wahren
und unerschütterlichen Grund zu kennen, auf dem allein ein
dauernder, beständiger Friede seinen Stützpunkt hat. Wo
anders aber könnte die Seele diesen Grund finden, als nur in
dem vollbrachten Werke Christi? Das ist der wahre, unbewegliche Boden, den Gott selbst gelegt hat, ein Fels, der den
Stürmen trotzt und dem Platzregen und den Strömen widersteht. (Mt 7, 25.) Es ist der alleinige Grund, auf dem wir
Gott stets mit einem guten Gewissen und einem mit Ruhe erfüllten Herzen nahen können. Jeder andere Grund des Friedens, wie vernünftig und sicher er auch zu sein scheinen mag,
ist trüglich und nichtig. Sowohl das Wort Gottes als auch die
täglichen Erfahrungen des Gläubigen liefern dafür unwiderlegbare Beweise.
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Und dennoch ist leider bei so vielen Seelen die Neigung vorherrschend, den Grund ihres Friedens weit lieber in den trügerischen Erfahrungen ihres eigenen Herzens, in ihrer Buße, in
ihren Gebeten und ihren Tränen, in ihren Gefühlen und ihren
Vorsätzen, in ihrer Erkenntnis, ihren Werken und in zahllosen
anderen Dingen zu suchen, als in Christo und nur in Ihm
allein. Und was ist die Folge? Der Friede kann nicht wirklich
und dauernd sein, sondern ist nur Schein und stetem Wechsel
und mannigfachen Störungen unterworfen. Wie konnte auch
von Seiten des Menschen etwas imstande sein, das „Gewissen
vollkommen zu machen", oder bewirken, daß „kein Gewissen
von Sünden" mehr vorhanden wäre? (Hebr 9, 9; 10, 2.) Eine
solche gesegnete Wirkung hat nur das Werk Christi, weil es
göttlich und mithin vollkommen ist; und hat die Seele durch
den Glauben in diesem Werk ihren Stützpunkt gefunden, so
ist der Friede für immer gesichert, das Gewissen entlastet und
das Herz an jener Stätte, wo die göttliche Gerechtigkeit betreffs unserer Sünden gänzlich befriedigt und Gott selbst verherrlicht ist, in glückselige Ruhe versetzt. Nur von dieser Stätte
aus vermag Gott uns zu segnen und in vollkommener Gnade
mit uns zu handeln.
Diese gesegnete Wahrheit sollte allen Fleiß in uns erwecken,
jeden menschlichen Grund zu verlassen, jede fleischliche Stütze
zu verwerfen und nur auf das vollbrachte Werk Christi unser
völliges Vertrauen zu setzen. Je tiefer wir in diese Wahrheit
eindringen, desto bestimmtere Schranken werden wir den Einbildungen unserer selbstgerechten Herzen entgegenstellen und
um so unzweideutiger werden wir Gott die Ihm allein gebührende Ehre geben. Wo anders finden wir eine so deutliche
Offenbarung dessen, was der Mensch und was Gott ist, als in
dem Kreuz Christi? Von hier aus dringen dem armen, entblößten und verdammungswürdigen Sünder die Strahlen einer
göttlichen Liebe und Treue, Gnade und Gerechtigkeit im herrlichsten Glänze entgegen; ja, hier begegnet das Auge des Mühseligen und Beladenen allem, was für ihn erforderlich ist, daß
er für immer und mit einem völlig glücklichen Herzen in der
heiligen und gesegneten Gegenwart Gottes seinen Platz einnehmen darf.
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Es wird daher für unsere Leser von nicht geringem Interesse
sein, wenn wir in diese große und herrliche FundamentalWahrheit ein wenig näher eingehen. Möge es geschehen unter
der Leitung des Heiligen Geistes, der allein fähig ist, uns
wahrhaft zu erleuchten.
1.
Zunächst möchte ich einige kurze Augenblicke bei dem Zustand
des Menschen von Natur verweilen. Ein klares Verständnis
über diesen Punkt zu besitzen, mit anderen Worten, das Urteil
Gottes in dieser Beziehung zu kennen, ist wichtig und notwendig. Hier handelt es sich nicht um das, was der Mensch
selbst von sich hält und wie er über sich urteilt, sondern allein
um das, wie Gott ihn betrachtet und beurteilt. Nur das Urteil
Gottes ist maßgebend. Der Mensch urteilt nach dem, was vor
Augen ist, nach dem äußeren Schein; aber Gott ist ein „Beurteiler der Gedanken und Gesinnungen des Herzens, und kein
Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben."
(Hebr 4, 12. 13.) Das menschliche Urteil unterscheidet ehrbare
und ruchlose, treue und gewissenlose, gütige und hartherzige,
religiöse und gottlose Menschen; und diese Unterschiede sind,
nach dem Maßstabe der menschlichen Gerechtigkeit und insoweit es sich um das Leben auf dieser Erde handelt, auch in der
Tat vorhanden. Wer wollte das Dasein löblicher und anerkennenswerter Eigenschaften unter den Menschen leugnen?
Aber welchen Wert haben alle menschlichen Vorzüge und Tugenden vor Gott, wenn es sich um die himmlische Herrlichkeit
handelt? Nicht den geringsten. Das Urteil Gottes ist in dieser
Beziehung bestimmt und entscheidend; denn wir lesen: „Denn
es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes." (Röm 3, 23.) Und wiederum: „Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tue, da ist auch nicht einer."
(Röm 3, 12.) In den Augen der Menschen war Saulus ein
„Eiferer für Gott" (Apg 22, 3) und tadellos hinsichtlich der
Gerechtigkeit im Gesetz; aber in den Augen Gottes war er ein
„Lästerer und Verfolger und Gewalttäter". (1. Tim 1, 13.) Vor
Gott ist der Mensch ein unwürdiges Geschöpf. Mag er in sorg75
loser Leichtfertigkeit und träger Gleichgültigkeit, oder in dünkelhaftem Selbstvertrauen und stolzer Eigengerechtigkeit dahin gehen, er ist und bleibt ein Sünder.
Und dennoch, wie schwer ist es dem natürlichen Herzen, dies
zu erkennen! Ja, ohne Licht von oben ist eine solche Erkenntnis undenkbar. Nie wird es der eigengerechte Mensch einräumen, daß alle seine Werke ihm auf ewig den Himmel verschließen und die Pforten der Hölle öffnen. Ob auch Gott gesagt hat: „Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von
seiner Jugend an", (1. Mo 8, 21 vergl. Jer 17, 9) so fährt doch
der Mensch fort, nach eingebildeten Guttaten zu haschen und
sich ihrer zu rühmen. Zu seiner Rechtfertigung zählt er Sünden
und Vergehungen auf, deren er sich nicht schuldig gemacht hat
wie andere. Er ist kein Mörder, kein Ehebrecher, kein Dieb,
kein Lästerer, und er glaubt, deshalb schon ein Anrecht auf
den Himmel zu haben. Welche eitle Verblendung und Selbsttäuschung! Trotz allen Anmaßungen des eitlen Herzens bezeichnet Gott den Menschen einfach als einen Sünder, als
einen Feind Gottes, als einen Gottlosen, (Röm 5, 6—10) als
einen Lügner, (Ps 116, 11) als tot in seinen Sünden und Vergehungen, als ein Kind des Zornes, (Eph 2, 1—3) als einen Verlorenen; (Röm 2, 12) und in diesem Zustande wird er nach
Ablauf des Tages der Gnade vor den Richterstuhl Christi gestellt und gerichtet werden. (Mt 12, 36; Röm 14, 12.) Es ist
„dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das
Gericht"; (Hebr 9, 27) und „kein Lebendiger ist vor ihm gerecht". Und wäre auch nur das gegebene Gesetz das einzige
Maß der Forderungen Gottes, so würde sicher rchon „jeder
Mund verstopft werden und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sein". (Röm 3, 19.)
Es kann daher nicht stark genug betont werden, daß jeder
Mensch von Natur, ob Jude, Heide oder Christ, vor Gott als
Sünder erfunden und darum schuldig und verloren ist. Die
]uden, obwohl sie unter Gesetz und in Erkenntnis Gottes
waren, haben sich auf jeder Stufe ihrer Geschichte als ein undankbares, trotziges und halsstarriges Volk erwiesen; und
ohne alle Gerechtigkeit vor Gott tragen sie auf ihren Stirnen
den göttlichen Urteilsspruch: „Verflucht sei, wer nicht aufrecht
hält die Worte dieses Gesetzes, sie zu tun; und das ganze
76
Volk sage: Amen!" (5. Mo 27, 26.) Was aber die Heiden, als
ohne Gesetz und ohne Erkenntnis Gottes und Christi betrifft,
so finden wir in Röm 1, 18—32 eine wahre Schilderung ihres
hoffnungslosen Zustandes; und in ähnlicher Weise wird uns
in 2. Tim 3, 1—5 der Zustand derer charakterisiert, welche,
lebend in der „wohlangenehmen Zeit" der Gnade, unter dem
Namen von Christen, „die eine Form der Gottseligkeit haben,
ihre Kraft aber verleugnen". Mit einem Wort, alle, ohne Unterschied, sind schuldig, alle sind verloren.
Das ist das einfache und bestimmte Urteil des göttlichen Wortes, ein höchst demütigendes, aber, da es „unmöglich ist, daß
Gott lüge", ein völlig wahres Urteil. Doch der Mensch bedarf
der göttlichen Gnade, um sich unter ein solches unumstößliches
Zeugnis zu beugen. So lange er sich und sein Leben nach dem
Licht seiner eigenen Erkenntnis mißt, unterscheidet er in und
an sich Gutes und Böses; und indem er sich des einen rühmt
und das andere abzulegen sich anmaßt, glaubt er einen passenden Weg zum Eingang in den Himmel entdeckt und gefunden
zu haben. Wie schnell aber zerrinnen und verfliegen die dicken
Nebel seiner eitlen Vorspiegelungen, wenn der Lichtglanz der
Gerechtigkeit Gottes in seine Seele dringt und all sein Tun,
Dichten und Trachten des eingebildeten Schmuckes entkleidet!
Dann sieht er, wie die Überlegungen seines Herzens, die Worte
seiner Lügen und die Werke seiner Hände ganz und gar von
der Sünde befleckt und verunreinigt sind: ja, dann ist er zu
dem demütigenden Bekenntnis gezwungen, daß er nichts getan
hat und nichts zu tun vermag, um die Herrlichkeit Gottes zu
erreichen. Und das ist die Wahrheit nach dem unumstößlichen
Urteil Gottes. Der Mensch ist ohne Leben und mithin ohne
Kraft. Die Quelle ist verderbt; wie könnte etwas Gutes daraus
hervorsprudeln? Der Mensch ist in Sünden geboren und lebt
in Sünden; er verwirft das Böse, und dennoch übt er es aus;
er rühmt das Gute, und dennoch vollbringt er es nicht. Das
düstere Gemälde, das der Apostel in Eph 2, 1—3 über den
natürlichen Menschen entwirft, zeigt nicht einen einzigen Lichtpunkt. Er zeichnet ihn hier in seinem moralischen Zustand vor
Gott als völlig verderbt, blind und tot, und darum als gänzlich
verloren. Und kein Heilmittel ist in der Hand des unglücklichen Menschen; nirgends zeigt sich ihm ein Ausweg zum Ent77
rinnen. In seinem wirklichen Zustand, in seiner wahren Gestalt
muß er dem heiligen und gerechten Gott begegnen. Kann er
etwas anderes erwarten, als jenes schreckliche, niederschmetternde Wort: „Weichet von mir, ihr Übeltäter?" Kann er den
Armen einer ewigen und qualvollen Verdammnis ausweichen,
die sich ihm entgegenstrecken, um seine arme Seele für immer
zu umschlingen? Ach! „es ist furchtbar, in die Hände des
lebendigen Gottes zu fallen!" (Hebr 10, 31.)
Und, geliebter Leser, welches wird Dein Los sein? Machst Du
etwa eine Ausnahme von der göttlichen Regel? Hat die Sünde
ihren Stempel nicht auch auf Deine Stirn gedrückt? O, täusche
Dich nicht! Traue nicht den Vorspiegelungen Deines eitlen,
törichten Herzens! Dein Wandel mag nach dem Maßstabe
menschlicher Gerechtigkeit tadellos sein; Deine Tugenden und
guten Eigenschaften mögen Dir das ehrende Lob der Menschen
einbringen; aber Gott allein ist es, der Dich durchschaut, beurteilt und richtet. Willst Du es wagen, in die Hände dessen
zu fallen, der ein „verzehrendes Feuer" ist?
Aber gibt es denn gar kein Mittel zur Errettung aus diesem
schrecklichen Zustande? Gewiß, Gott sei ewig dafür gepriesen!
Aber dieses Rettungsmittel liegt nicht in der Hand des schwachen Menschen, sondern in der Hand des allmächtigen Gottes.
Gott selbst ist die Quelle dieser Errettung; aus Ihm sprudeln
ihre lebendigmachenden Ströme hervor. Nicht die fruchtlose
Untersuchung dessen, was ich zu tun habe, um gerettet zu
werden, sondern nur die Frage: „Was hat Gott zu meiner Rettung getan?" findet hier ihren göttlich bezeichneten Platz. Die
Sünde auszuüben war meine Sache, von der Sünde und ihren
Folgen zu erretten ist ausschließlich die Sache Gottes. Er hat
für arme, verderbte und verlorene Sünder in Christo Jesu eine
ewige und vollkommene Erlösung vollbracht. Er hat es getan
nach Seinem Wohlgefallen, nach Seiner Erbarmung, Seiner
Liebe und um Seines Namens willen; und darum hat die Erlösung des Sünders ihre unversiegbare Quelle in Gott selbst.
Der Mensch erhebt stets, bewußt oder unbewußt, seine Stirn
in Empörung wider Gott und weigert sich hartnäckig, den an
ihn gestellten weisen und gerechten Anforderungen Genüge
zu leisten. Er ist, wie die Schrift sagt, „unverständig, ungehor78
sam, irregehend; er dient mancherlei Lüsten und Vergnügungen,
führt sein Leben in Bosheit und Neid, verhaßt und einander
hassend". (Tit 3, 3.) Wird man sich nicht mit Abscheu und
Ekel von einer Quelle abwenden, die nur schmutziges, stinkendes Wasser aussprudelt? Und eine solche Quelle war und
ist das menschliche Herz im Angesicht des heiligen und gerechten Gottes. Konnte Sein alles durchdringendes Auge hier etwas
entdecken, das Ihn hätte anziehen, anspornen und bewegen
können, die rettende Hand auszustrecken? Kann der so tief
gesunkene, völlig verderbte Mensch Ansprüche auf irgendwelche Segnungen erheben? Keineswegs. Der alleinige Beweggrund Gottes zur Rettung des Sünders ruht in dem eigenen
Wohlgefallen Gottes, in Seiner eigenen grenzenlosen Liebe und
Gnade, in Seinem unergründlichen Erbarmen.
Für diese herrliche Wahrheit liefert die Heilige Schrift unwiderlegbare Beweise. Wir finden in Hebr 10, 8—10, wo der
Herr Jesus redend eingeführt wird, die beachtenswerten Worte:
„Schlachtopfer und Speisopfer und Brandopfer und Opfer für
die Sünde hast du nicht gewollt, noch Wohlgefallen daran gefunden . .. Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun. . .
durch welchen Willen wir geheiligt sind durch das ein für
allemal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi." Nur als
Vorbilder hatten die Opfer des alten Bundes ihre Bedeutung
und ihren Wert. Gegenüber einer wirklichen, tatsächlichen Erlösung waren sie ohne Kraft. Das vergossene Blut aller in der
ganzen Schöpfung lebenden Tiere hätte nicht die kleinste
Sünde zu tilgen, geschweige denn einen Sünder zu erretten
vermocht. Wie konnte daher Gott Wohlgefallen haben an
Opfern, die der Ausführung Seiner Gnadenabsichten nicht
entsprachen? Aber — o wunderbare Liebe! — Er hatte Wohlgefallen an unserer Errettung; und darum tritt der Herr Jesus
in Seinem Erbarmen in die Welt mit den Worten: „Siehe, ich
komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun." Und durch das
„einmal geschehene Opfer seiner selbst" hat Er diesen Willen
erfüllt und eine „ewige Erlösung" (Hebr 9, 12) und eine vollkommene Reinigung von Sünden vollbracht. „Das Blut Jesu
Christi reinigt uns von aller Sünde." (1. Joh 1, 7.)
Aber noch an einer anderen Stelle bezeugt der Herr, daß die
Errettung des Sünders ihren Ursprung in dem Willen Gottes
79
hat. Er sagt in Joh 17, 4: „Ich habe dich verherrlicht auf der
Erde; Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben
hast, daß ich es tun sollte." ~ Welch ein festes Fundament
trägt unsere Errettung! Sie ist weder aus dem Willen des
Menschen hervorgegangen, noch durch die Hand des Menschen vollbracht, sondern sie verdankt ihren Ursprung allein
dem Willen Gottes, ist vollbracht durch den Sohn Gottes und
zugleich bezeugt und bestätigt durch den Geist Gottes. (Hebr
10, 15.) Sie ist göttlich in ihrer Quelle, göttlich in ihrer Vollbringung, göttlich in ihrer Bestätigung. Und darum ist das
Werk Christi die einzige und wahre Freistatt für den verlorenen Sünder; nur dieses Werk ist sein sicherer Bergungsort
am Tage des Zorns und sein lieblicher Ruheplatz in Zeit und
Ewigkeit. Welch eine gesegnete Wahrheit!
Wenn aber nun die Errettung des Sünders ihren alleinigen
Ursprung, ihre einzige Quelle in dem Willen oder Wohlgefallen Gottes hat, so vermochte auch nur die Macht Seiner
Liebe und Seines Erbarmens die Schleusen zu öffnen, um die
Ströme lebendigen Wassers hervorbrechen zu lassen. „Denn
also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen
Sohn gab, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren
gehe, sondern ewiges Leben habe." (Joh 3, 16.) Waren es
Gerechte und Gütige, für die diese unendliche Liebe tätig war?
Nein! Für gottlose, feindselige und verlorene Sünder sandte
Gott Seinen eingeborenen Sohn. „Also hat Gott die Welt
geliebt." Nicht erst dann, nachdem unsere Errettung eine vollendete Tatsache war, setzte sich diese Liebe in Tätigkeit, nein,
sondern unsere Errettung selbst ist, da wir noch Sünder und
Feinde waren, das Werk dieser Liebe. „Gott erweist seine Liebe
gegen uns darin, daß Christus, da wir noch Sünder waren, für
uns gestorben ist." (Röm 5, 8.) „Gott aber, der reich ist an
Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns
mit dem Christus lebendig gemacht." (Eph 2, 4.) „Hierin ist
die Liebe: nicht daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er
uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnimg für
unsere Sünden .. . — Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt
hat." (1. Joh 4,10. 19.) Wie klar und bestimmt bezeugen diese
80
und viele andere Stellen, daß Gott die Liebe ist, und daß unsere
Errettung diese Seine Liebe zur Quelle hat!
Nichts aber verleiht dieser Liebe einen bestimmteren Ausdruck als das Kreuz Christi; und nirgends tritt das unergründliche Erbarmen Gottes so lebendig an den Tag, wie bei einem
erlösten Sünder. „Gott hat seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben." (Röm 8, 32.) Die
Errettung in ihrer ganzen Ausdehnung trägt das unverkennbare Gepräge Seiner vollkommenen Liebe. Hat der verlorene
Sünder etwas hinzugefügt? Hat er etwa den Glanz des auf
Golgatha vollbrachten Werkes Christi durch irgend eine Beifügung von seiner Seite erhöht? Ach! nichts als seine Sünden
und Vergehungen konnte er für dieses glorreiche Werk bringen; alles andere tat Gott, der die Armut, die Blöße, das Verderben des Menschen kannte und nichts erwartete und nichts
suchte, als dessen Sünden. Ja, Gott allein hat nach dem Wohlgefallen Seines Willens gehandelt und, geleitet durch Seine
unendliche Liebe und Sein unergründliches Erbarmen, ein vollkommenes Werk der Erlösung vollbracht.
Und die Pforten des Himmels sind jetzt weit geöffnet. „Die
Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen."
(Tit 2, 11.) Teurer Leser! Hast Du diese gesegnete Wahrheit
an Deinem Herzen noch nicht erfahren, dann nahe ohne
Zögern zu Gott, nahe zu Ihm, wie Du bist, als ein armer, verlorener und verderbter Sünder; und sicher, Du wirst bei Ihm
eine vollkommene Gnade und eine ewige Erlösung finden,
nahe zu Ihm mit der ganzen Sündenbürde, die zentnerschwer
auf Deinem Gewissen lastet; und gewiß, Du wirst aus eigener
Erfahrung einstimmen können in die Worte des Psalmisten:
„Glückselig der, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde
zugedeckt ist! Glückselig der Mensch, dem Jehova die Ungerechtigkeit nicht zurechnet und in dessen Geist kein Trug ist."
(Ps 32, 1, 2.) Mag Deine Sünde groß und überströmend sein,
so ist doch die Gnade weit überschwenglicher. (Röm 5, 20.)
Darum nahe zu Ihm, denn Du begegnest einem Gott, dessen
Herz nicht erst durch Dein Gebet und Flehen zum Mitgefühl
und Erbarmen erweicht werden muß, sondern der Wohlgefallen an Deiner Rettung hat und völlig bereit ist, Dich mit der
innigsten Liebe und dem herzlichsten Erbarmen zu empfangen.
81
Er selbst sucht Dich und ladet Dich ein; Er fordert Dich auf
durch den Mund des Apostels: „Laß dich versöhnen mit Gott!"
(2. Kor 5, 20.)
Möge der Herr uns alle befähigen, die Wirksamkeit und Tragweite des Opfers Christi immer tiefer zu ergründen! Möge Er,
indem wir die heiligen Schriften erforschen, die Überzeugung
tief in unsere Herzen prägen, daß wir es nicht mit dem unsicheren Wort eines Menschen, sondern mit dem untrüglichen
Wort des wahrhaftigen Gottes zu tun haben. Nur wenn die
sich widersprechenden Gefühle und die menschlichen Vernunftschlüsse und Meinungen zum Schweigen gebracht sind
und unser Glaubensauge in dem Lichte und der Kraft des
Heiligen Geistes auf das vollbrachte Werk Christi gerichtet ist,
nur dann werden unsere Gewissen von aller Furcht befreit und
unsere Herzen in Ruhe sein.
2.
Die Gedanken eines Sünders, dessen Gewissen erwacht ist,
richten sich zuerst auf seine Sünden und Vergehungen. Das
Licht Gottes durchbricht die finsteren Schatten seiner Seele; und
in diesem Licht erkennt er, daß Er Gott auf tausendfache
Weise verunehrt und beleidigt hat. Der Gedanke an die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes und an das ewige Gericht füllt
sein Herz mit Furcht und Entsetzen. Er fühlt, daß er „ihm auf
tausend nicht eins antworten kann". (Hi 9, 3.) Was wird die
Ewigkeit für ihn in ihrem dunklen Schöße bergen? Was
anderes als den ewigen Tod, die ewige Verdammnis? Und
nirgends zeigt sich seinem ängstlichen Blick ein Ausweg, um
diesem schrecklichen Los zu entrinnen, nirgends ein Mittel, um
nur ein Sümmchen seiner unberechenbaren Sündenschuld zu
tilgen und in irgend einer Weise den heiligen und gerechten
Gott zu befriedigen. Wohl traut sich in solcher Lage noch
mancher die Fähigkeit zu, die Bahn des Bösen verlassen und
sein Leben bessern zu können; wohl legt mancher mit einer
Energie, deren seine Natur fähig ist, Hand ans Werk, um
gute, Gott wohlgefällige Früchte hervorzubringen; aber ach,
die in ihm wohnende Sünde setzt allen seinen Anstrengungen
eine mächtige, unübersteigliche Schranke entgegen. Er seufzt
82
und kämpft; aber es sind die wirkungslosen Seufzer und
Kämpfe eines mit starken Ketten gebundenen Sklaven; er will
das Gute und trachtet den Anforderungen Gottes zu genügen;
aber es ist das Wollen und das Trachten eines verurteilten
Gefangenen hinter Schloß und Riegel. Und mit jedem Tage
drängt sich mächtiger und fühlbarer seiner Seele die trostlose
Überzeugung auf, daß er „fleischlich und unter die Sünde verkauft" ist, und daß er „sich selbst Zorn aufhäuft für den Tag
des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes,
welcher einem jeden vergelten wird nach seinen Werken .. .
an dem Tage, da Gott das Verborgene der Menschen richten
wird .. . durch Jesum Christum." (Röm 2, 5—16.)
Armer, verblendeter Mensch! Deine Anstrengungen legen
offenes Zeugnis ab von der Unkenntnis bezüglich Deines wirklichen Zustandes und sind ganz und gar geeignet, Deine Blöße
und Deine Ohnmacht noch völliger ins Licht zu stellen. Und
selbst vorausgesetzt, daß Dein Streben, das Leben zu bessern,
von einem glücklichen Erfolg gekrönt wäre, würdest Du dann,
im Blick auf die vorher begangenen, unzähligen Sünden, aufhören, Gottes Schuldner zu sein? Könntest Du hinfort mehr
tun, als Du schuldig bist zu tun, um durch einen Überschuß
guter Werke die Sünden der Vergangenheit zu sühnen? Wird
nicht Deine Sündenschuld offen bleiben und wider Dich zeugen? „Aber", sagst Du, „Gott ist doch gnädig." Ohne Zweifel,
Sein Name sei bis in alle Ewigkeit dafür gepriesen! Aber nie
wird Er auf Kosten Seiner Gerechtigkeit gnädig sein; nie in
Gnaden handeln, während Er Seine Gerechtigkeit beiseite
setzt. Das ist unmöglich. Und dennoch wird, bewußt oder unbewußt, von vielen Seelen eine solche Gnade erwartet und
erfleht. Wollte aber Gott einem derartigen Verlangen genügen,
so müßte Er Sich selbst verleugnen und aufhören, Gott zu sein.
Unleugbar übersteigt die Oberschwenglichkeit Seiner Gnade
alle menschlichen Begriffe; aber es ist eine Gnade, die in der
völlig befriedigten und verherrlichten Gerechtigkeit Gottes
ihren sicheren Ruhepunkt findet — eine Gnade, welche „herrscht
durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum,
unseren Herrn." (Röm 5, 21.) Und auf diese Gnade möchte ich
hier vornehmlich die Aufmerksamkeit meiner Leser richten.
83
I
Von dem Augenblick an, wo ein Sünder sich vor Gott wirklich
schuldig und verloren fühlt, erwacht in seiner Seele das Verlangen nach Gnade; und je tiefer und gründlicher jenes Bewußtsein ist, desto mächtiger und wahrer ist auch dieses Verlangen. Er mag zwar von jeher im allgemeinen die Gnade als
wünschenswert betrachtet haben; aber erst jetzt, wo er sie so
nötig braucht, erkennt er ihre Notwendigkeit. Nur ein schuldbewußter, verurteilter Verbrecher weiß die Gnade wahrhaft
zu würdigen. Und wo findet der verdammungswürdige Sünder
eine Gnade, die alle seine Sünden zudeckt und vergibt, und
die ihn nach allen Seiten hin sicherstellt? Wo anders als in
Christo Jesu? Außer Christo muß Gott jedem Sünder, und
wäre er auch der tugendhafteste, vorzüglichste Mensch auf
Erden, in Gerechtigkeit und Gericht entgegentreten; in Christo
aber, und ob auch seine Sünden noch so zahlreich und himmelschreiend sein mögen, begegnet Er ihm in vollkommener,
überschwenglicher Gnade. Wer in Ihm Gott sucht, der findet
den Gott, der Gottlose rechtfertigt, (Röm 4, 5.), und zwar auf
dem Grunde Seiner vollkommenen Gerechtigkeit. Und wie
ist dies möglich? Richte Deinen Blick auf das Kreuz Christi,
und Du findest eine völlige Lösung dieser Frage.
Durch die Sünde ist Gott von Seiten des Menschen auf jegliche
Weise verunehrt worden. Der Mensch hat alles, was in Gott
ist und worin Er Sich ihm geoffenbart hat, mit Füßen getreten
und der Mensch steht jetzt mit einem schuldbeladenen Gewissen vor einem verunehrten, aber völlig heiligen und gerechten Gott. Und vor einem solchen Gott ist der Platz des Sünders
unbeschreiblich schrecklich. Kein menschlicher Verstand vermag die Tiefe seines Elends zu ergründen; kein menschliches
Auge kann die finsteren Todesschatten durchbrechen, die die
Größe seines Jammers bergen. Aber gerade auf dieser Stätte
des Elends und des Jammers sah ihn die Liebe Gottes; ihn zu
retten, war der Beschluß Seiner Liebe, Seines Erbarmens. Aber
wie war dies möglich? Wie konnte Gott in Gnade handeln,
solange Seine Gerechtigkeit nicht voll befriedigt war? Ach! die
Ströme einer vollkommenen, göttlichen Gnade, die der Sünder
brauchte, waren gehemmt durch den mächtigen Damm einer
vollkommenen, göttlichen Gerechtigl<eit. Wo war ein Ausweg?
84
Nur die Liebe Gottes fand die Lösung dieser verhängnisvollen
Frage. „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun!"
So sprach der Sohn Gottes (Ps 40). Ja, es war jemand da, der
Macht und Liebe besaß, um den wohlgefälligen Willen des
Gottes der Liebe erfüllen zu können, einer war da, der bereit
war, von der mächtigen Hand der Gerechtigkeit den Todesstoß
zu empfangen, damit aus dem Herzen eines gerechten und in
allen seinen Forderungen befriedigten Gottes die Fluten einer
überschwenglichen Gnade ungehindert hervorströmen konnten; und dieser eine war der eingeborene, vielgeliebte Sohn
Gottes. Außer Ihm war niemand im Himmel und auf Erden,
der den Platz des Sünders einnehmen und Tod und Gericht,
den wohlverdienten Lohn des Sünders, auf sich nehmen
konnte, um auf diese Weise die Gerechtigkeit Gottes völlig zu
befriedigen. Ach, welch eine anbetungswürdige Gabe der
Liebe Gottes für gottlose und feindselige Sünder! Tausend und
aber tausend Welten sind nichts gegen eine solche Gabe. Die
Liebe Gottes zeigt sich in ihren glänzendsten Strahlen gegenüber einem Geschöpf, das abgefallen ist und die freche Stirn
der Empörung wider Ihn erhebt. Eine größere Probe konnte
diese Seine Liebe nicht bestehen; über ihr Maß hinaus gibt es
keine Liebe weder im Himmel noch auf Erden. In ihrer Bemühung, bis zur Stätte des Todes herabzusteigen und hier den
verlorenen, feindseligen Sünder zu ergreifen, gleicht sie einem
blendenden Strahl auf dunklem Grund. Kein höherer Beweis
von der Größe einer Liebe konnte geliefert werden. Mit Recht
ruft der Apostel aus: „Kaum wird jemand für einen Gerechten
sterben; denn für den Gütigen möchte vielleicht jemand zu
sterben wagen. Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin,
daß Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben
ist." (Röm 5. 7—8.) — Ja, die Gerechtigkeit Gottes ist in all
ihren Forderungen zufriedengestellt; die „Gnade herrscht durch
Gerechtigkeit"; und der Gläubige kann mit völliger Zuversicht
seinen Blick auf das Kreuz richten und mit einem glücklichen
Herzen ausrufen: „Der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat; wie wird er
uns mit ihm nicht auch alles schenken?"
Christus nahm also nach dem wohlgefälligen Willen Gottes
und in Seiner eigenen Liebe unseren Platz auf Golgatha ein.
85
Dort belud Er Sich mit unseren Sünden; dort erlitt Er an
unserer statt den Tod und das Gericht, Er, „der Gerechte für
die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe." (1. Petr 3,18.)
„Er ist einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart
worden, zur Abschaffung der Sünde durch seine Opfer," (Hebr
9, 26.) Um unserer Übertretungen willen war er verwundet
und um unserer Missetaten willen zerschlagen. Die Strafe zu
unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist
uns Heilung geworden." (Jes 53, 5.) Er war im Gericht für
unsere Sünden, Er trug den Zorn, den wir verdient hatten. —
„Ohne Blutvergießen ist keine Vergebung", (Hebr 9, 22) sagt
die Schrift; und darum war es nötig, daß zur Tilgung unserer
Sünden Sein Blut floß, das Blut des Lammes Gottes. „Das
Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller
Sünde". (1. Joh 1, 7.) „Mit seinem eigenen Blute ist er ein für
allemal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte". (Hebr 9, 12.) — Bis zu jener Zeit war
der Weg zum Heiligtum verschlossen; der Anbeter mußte
draußen bleiben. Jetzt aber hat der Glaubende „Freimütigkeit
zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut ]esu, auf dem
neuen und lebendigen Wege, den er uns eingeweiht hat durch
den Vorhang, das ist sein Fleisch." (Hebr 10, 19. 20.) Das
Lamm Gottes vergoß auf Golgatha Sein Blut, hauchte Seinen
Geist aus, und der Vorhang zerriß von oben bis unten und
öffnete auf diese Weise den Weg in die unmittelbare und unverhüllte Gegenwart Gottes. Jeder, der jetzt einfach im Glauben an dieses kostbare Blut naht, hat hier ungehinderten
freien Zutritt. Er betritt dann einen Weg, auf dem auch
Christus „mit seinem eigenen Blute" in das Heiligtum eingegangen ist, und wird um dieses Blutes willen hier ebenso willkommen sein, wie Christus selbst. In der ganzen Vortrefflichkeit Christi nimmt er mit ihm Platz im Heiligtum, um für
immer bei Ihm zu sein und im Genuß Seiner Herrlichkeit mit
allen Erlösten zu Seinem Lobe ausrufen zu können: „Dem, der
uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in
seinem Blut, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu
Priestern seinem Gott und Vater, ihm sei die Herrlichkeit und
die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit", (Offb 1, 5. 6.)
Und wie unendlich groß ist der Wert Seines kostbaren Blutes!
86
Denn kraft dieses Blutes werden wir auf ewig mit Ihm unseren
Platz in Seiner Herrlichkeit haben, auf ewig uns in Seiner
Liebe erfreuen und auf ewig Ihn preisen und anbeten. Noch in
jener letzten Nacht richtete der Herr bei Gelegenheit der
Feier des Abendmahls die Blicke Seiner betrübten Jünger auf
dieses Sein Blut, indem Er sagte: „Dieses ist mein Blut, das
des neuen Bundes, welches für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden." (Mt 26, 28.) Auf einen festeren, sichereren Boden konnte Er die Füße der Seinigen nicht stellen.
Nicht mit Silber oder Gold sind sie erlöst worden, sondern
„mit dem kostbaren Blute Christi, als eines Lammes ohne
Fehl und ohne Flecken", (1. Petr 1, 18. 19.) — eines Lammes,
das für die Erlösten selbst in der Herrlichkeit ein Gegenstand
ihres Lobes und ihrer Anbetung sein wird, indem sie zu Seinen
Füßen niedersinken und das neue Lied anstimmen: „Du bist
würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn
du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft durch
dein Blut aus jedem Geschlecht und Sprache und Volk und
Nation." (Offb 5, 9.) Dort werden sie den vollen Wert dieses
kostbaren Blutes verstehen. Dort, durch das Blut in völlige
Sicherheit, in die unmittelbare Gegenwart Gottes gebracht,
wird ihr Lob ohne Mißton und des Gegenstandes würdig sein.,
dem es gewidmet ist. Ja, dort wird nimmer ihr Lob enden,
wenn auch „Blitze und Stimmen und Donner" aus dem
Throne Gottes hervorbrechen (Offb 4, 5.) und in zerstörender
Wirkung die Erde und ihre Bewohner schrecken.
Das Blut Christi ist also das alleinige Mittel, durch das die
Gerechtigkeit Gottes völlig befriedigt ist, und durch das alle
unsere Sünden getilgt sind. Welche Segnungen bereitet dieses
kostbare Blut dem Glaubenden! „Es öffnet ihm", wie jemand
gesagt hat, „die glänzenden Perlentore des Himmels und
verschließt ihm für immer die finsteren Pforten der Hölle; es
öffnet die ewigen Quellen der errettenden Liebe Gottes und
löscht die Flammen des brennenden Sees aus; es reißt ihn wie
einen Brand aus dem Feuer, reinigt ihn von jedem Flecken der
Sünde und stellt ihn, in Kleidern von fleckenlosem Glanz, in
die unmittelbare Gegenwart Gottes." — Ja, das ist für jeden
Glaubenden die gesegnete Frucht des auf Golgatha vollbrachten Werkes Jesu Christi. Doch vergessen wir es nicht, daß es
87
nur und allein Sein Werk ist. Es ist frei von aller menschlichen
Mitwirkung, und darum auch frei von allen menschlichen
Mängeln und Gebrechen; es ist ein göttlich vollkommenes
Werk. Wer unter den geschaffenen Wesen hätte ihn auch darin
unterstützen können? Ach, unsere Sünden waren groß genug,
um die grauenhaften Schatten jener Stunde der Finsternis heraufzubeschwören, die Seine reine Seele mit Angst und Bestürzung erfüllte; unsere Übertretungen waren zahlreich genug,
um Ihn am Kreuz die ganze Schrecklichkeit eines göttlichen
Gerichts fühlen zu lassen; und das Maß unserer Ungerechtigkeit war voll genug, um die Wellen des Todes bis zur höchsten
Höhe anschwellen zu lassen und über sein Haupt zu wälzen.
Er mußte diesen bitteren, schrecklichen Kelch allein trinken,
mußte sich allein dem gerechten Zorn Gottes über unsere
Sünden aussetzen und Sein Haupt allein beugen unter dem
wuchtigen Schlag der Hand einer göttlichen Gerechtigkeit. Ach!
nie wird der Sterbliche fähig sein, die Tiefen der Schrecken
dieses furchtbaren Todes auch nur annähernd zu ergründen.
Und hätte es jemand wagen wollen, Ihm auf diesem Wege zu
folgen, so würden sicher die zermalmenden Arme eines ewigen
Todes ihn für immer umschlungen haben. Doch, vermochte
Ihn der Tod zu halten, Ihn, der selbst das Leben ist? Keineswegs. Nachdem durch das Opfer Seiner selbst der göttlichen
Gerechtigkeit völlig genügt und unsere Schuld getilgt war, hat
„Gott ihn auferweckt und zu seiner Rechten gesetzt". Ihm
allein gebührte dieser Platz; denn Er, „gehorsam bis zum Tode,
ja, bis zum Tode am Kreuz", (Phil 2, 8.) konnte sagen: „Ich
habe dich verherrlicht auf der Erde." (Joh 17, 4.) Und gerade
diese Seine Auferstehung und Seine Aufnahme bei Gott sind
für den Glaubenden der unumstößliche Beweis und die sichere
Bürgschaft, daß das Opfer Christi angenommen und Gott zufrieden gestellt ist, daß die Sünde weggenommen und der
Sünder völlig gerechtfertigt ist. „Er ist unserer Übertretung
wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden." (Röm 4, 25.) Da gibt es keine Sünde mehr,
die ihn verdammen, keine Sünde, die je noch eine Scheidewand
zwischen ihm und Gott aufrichten könnte, das Blut Christi
hat alle Sünden abgewaschen, die ganze Schuld getilgt und
zugleich Gott vollkommen verherrlicht.
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Ja, Gott ist in dem Werke Christi vollkommen verherrlicht;
und auf diese Verherrlichung Gottes sollten wir vor allen
Dingen unser Auge richten. Wie sehr wird dieses von den
Gläubigen vernachlässigt! Die erste, unser ganzes Interesse
fesselnde Frage lautet: „Welches ist unser Teil in diesem
Werke?" Und sicher hat diese Frage ihre volle Berechtigung;
denn von ihrer Beantwortung hängt die Ruhe unseres Gewissens ab. Aber manche Seelen überschreiten kaum die
Grenze dieser Frage und verraten dadurch nur ihre Selbstsucht und Undankbarkeit. Sie vergessen, daß das Kreuz noch
eine Seite von tieferer Bedeutung hat, eine Seite, die nicht die
Versöhnung des Sünders, sondern vielmehr die Verherrlichung
Gottes hervortreten läßt. Ein treffendes Vorbild liefert uns in
dieser Beziehung das 16. Kapitel des 3. Buches Mose in den
beiden Böcken des großen Versöhnungstages der Kinder
Israel. Das Los bestimmte den einen Bock für den Herrn, den
anderen für das Volk. Der erste Bock stellte die Rechte Jehovas fest und hielt, ungeachtet der Übertretungen des Volkes,
Seine Beziehungen zum Volk aufrecht, während die Hand
des Hohenpriesters auf das Haupt des anderen Bokkes die Missetaten und Übertretungen des Volkes legte
und ihn dann, als den Träger der Sünden des Volkes, in die
Wüste trieb. Diese beiden Tatsachen finden wir vereinigt und
verwirklicht in dem Opfer Christi. Die Darstellung des Charakters und der Majestät Gottes nimmt darin den hervorragendsten Platz ein. Der Tod Christi hat die Herrlichkeit Gottes festgestellt, und alle Seine Rechte wieder geltend gemacht.
Da ist kein Zug in dem Charakter Gottes, der nicht in der
völligsten Klarheit in dem Opfer Christi geoffenbart und
verherrlicht wäre. Seine Wahrheit, Seine Majestät, Seine Gerechtigkeit gegenüber der Sünde, Seine unendliche Liebe und
unermeßliche Barmherzigkeit gegenüber dem Sünder, kurz
alles, was in Gott ist, findet in dem Kreuzestode Jesu die
herrlichste Entfaltung. Der Tod Jesu allein setzt- Gott in den
Stand, gegen den Sünder, mit Aufrechthaltung der ganzen
Autorität Seiner Gerechtigkeit und göttlichen Würde, in vollkommener Liebe und Gnade handeln zu können. Nur das
Kreuz Christi allein bahnte in einer gotteswürdigen Weise
dem gewaltigen Strom der Gerechtigkeit und den erquicken89
den Fluten der Gnade einen Weg, sich ungehindert in den
Ozean der Liebe Gottes gegen den verlorenen Sünder stürzen
zu können. „Gerechtigkeit und Friede haben sich geküßt."
(Ps 85, 10.) Der Herr Jesus verließ die Herrlichkeit, die Er
bei dem Vater hatte, damit der Vater auf der Erde verherrlicht werde; Er machte Sich selbst zu nichts, damit Gott, völlig
befriedigt in Seinen Rechten und Forderungen, in der ganzen
Fülle Seiner Liebe und Gnade Seinen durch die Sünde verderbten Geschöpfen begegnen könnte. Und also vollkommen
verherrlicht, kann Gott jetzt gegen alle, die Ihm nahen, nach
dem Wert des kostbaren Blutes Christi handeln.
Anbetungswürdige Liebe! Der Damm der Gerechtigkeit Gottes ist göttlich durchbrochen; ungehindert ergießen sich die
breiten Ströme der Gnade dem gefallenen Menschen zu. „Siehe,
jetzt ist die wohlangenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des
Heils!" (2. Kor 6, 2.) Auf das Haupt unseres zur Sünde gemachten Herrn lagerte sich das niederdrückende Gericht der
Gerechtigkeit Gottes, damit der Sünder jetzt sich der überschwenglichen göttlichen Liebe erfreue; auf Ihn wälzte sich
der Fluch in seiner ganzen Schrecklichkeit, damit der Sünder
jetzt die Fülle des Segens genieße. Und Er Selbst sucht jetzt
die elenden Sünder und ruft ihnen in Seiner erbarmenden
Liebe zu: „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen; und ich werde euch Ruhe geben." (Mt 11, 28.) Und
von den Lippen Seiner Apostel hören wir die ermunternden
Worte: „Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch versöhnen mit
Gott!" (2. Kor 5, 20.) — und wiederum: „Wen da dürstet, der
komme; und wer da will, nehme das Wasser des Lebens
umsonst." (Offb 22, 17.) Wie unvergleichlich ist diese Liebe!
Wer faßt ihre Höhe und Tiefe, ihre Länge und Breite?
In welch erhebender Weise stellt uns der Herr Selbst in Seinem
Gleichnis vom verlorenen Sohn diese Liebe und Gnade vor
Augen! Kaum erblickt das Auge des Vaters den unglücklichen
Sohn in der Ferne, so eilt er ihm entgegen, umarmt und küßt
ihn sehr, kleidet ihn und führt ihn an seinen Tisch; und weder
überhäuft er ihn wegen seiner Sünden mit Vorwürfen, noch
stellt er irgend welche Bedingungen betreffs seiner Aufnahme.
Mag auch der bußfertige Sohn, wie es sich für ihn geziemte,
90
seine Sünden bekennen, aber der Vater berührt sie nicht mit
einem Wort. Sein Herz fließt über von Liebe und Gnade und
ist erfüllt mit einer Freude, die nur in einem Vater- oder
Mutterherzen wohnen kann. Was anders hätte da für den
Sohn übrig bleiben können, als daß auch er sich mit ungeteilter Wonne der Liebe und des Glückes seines Vaters erfreute! Wie hätte er noch trauern können, da über die Lippen
des Vaters die Worte drangen: „Lasset uns essen und fröhlich
sein!" Und was anderes bleibt dem armen, elenden, gottlosen
und feindseligen Sünder übrig, als anzunehmen, was die erbarmende göttliche Liebe ihm aus Gnaden darreicht? Ach! der
Mensch von Natur ist in Wahrheit ein armer, hilfsbedürftiger
Sünder; nur die Liebe und die Gnade des erbarmenden Gottes
kann ihn retten und glücklich machen. In der Dahingabe Seines eingeborenen und geliebten Sohnes ist Gott der ganzen
Armut und Hilfsbedürftigkeit des Sünders in vollkommener
Weise begegnet, (Apg 13, 38.) so daß dieser weiter nichts zu
tun hat, als diese frohe Botschaft zu hören und zu glauben.
Paulus konnte auf die Frage des zitternden Kerkermeisters:
„Ihr Herren, was muß ich tun, auf daß ich errettet werde?" —
keine andere Antwort geben, als: „Glaube an den Herrn Jesum Christum, und du wirst errettet werden, du und dein
Haus." (Apg 16, 30. 31.) Und überall begegnen unsere Blicke
in der Heiligen Schrift dem Zeugnis, daß es nur des einfachen
Glaubens an Jesum Christum bedarf, um Seiner Errettung
teilhaftig zu werden. „Denn wir urteilen, daß ein Mensch
durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke."
(Röm 3, 28; Gal 2, 16.) „Dem aber, der nicht wirkt, sondern
an den glaubt, der die Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube
zur Gerechtigkeit gerechnet." (Röm 4, 5.) „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit
Gott durch unseren Herrn Jesum Christum." (Röm 5, 1.) „Das
Evangelium ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden."
(Röm 1, 16.) „Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet. . ."
Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem
Sohne nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der
Zorn Gottes bleibt auf ihm." (Joh 3, 18. 36.) „Ohne Glauben
ist es unmöglich, ihm wohlzugefallen." (Hebr 11, 6.)
91
Alle diese und viele andere Stellen zeigen klar und bestimmt,
daß nur der Glaube an Christum der einzige Weg ist, um an
dem köstlichen Heil teil zu haben! Jeder andere Weg ist ausgeschlossen, jede andere Anstrengung völlig nutzlos. Jene
Israeliten, die ihres Ungehorsams wegen durch den Biß feuriger Schlangen vergiftet waren, brauchten zu ihrer Heilung
einfach auf die durch Mose erhöhte Schlange aufzuschauen;
und ebenso haben die gottlosen Sünder, um gerettet zu werden, nur den einfachen Glauben an den erhöhten Christus
nötig. Hierin liegt das einzige Heilmittel verborgen, eine Torheit für die menschliche Vernunft, aber die Kraft Gottes für
den Glauben. Der Glaube gleicht einer Hand, die sich mit der
festen Überzeugung öffnet, das Ersehnte zu empfangen. Der
Glaube hat die Gewißheit, daß er sich an den Gott wendet,
der die Liebe ist und der Seinen eingeborenen und geliebten
Sohn für gottlose und verlorene Sünder dahingegeben hat,
und daß er sein Auge auf den wahrhaftigen Gott richtet,
dessen Wort Ja und Amen ist, und das den Apostel zu dem
Zeugnis drängt: „Das Wort ist gewiß und aller Annahme
wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder
zu erretten." (1. Tim 1, 15.) Kurz, alles, was der schuldbeladene, verdammungswürdige, verlorene Sünder braucht, findet
der Glaubende in überströmender Fülle in Christo, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Christus ist sein Lösegeld,
sein Stellvertreter, seine Versöhnung, sein Friede, sein Leben,
seine Gerechtigkeit, sein Alles; denn „der Anführer unserer
Errettung ist durch Leiden vollkommen gemacht worden."
(Hebr 2, 10.) In diesen göttlichen Vollkommenheiten bietet Er
Sich dem Sünder an, ladet ihn ein zu kommen und alles umsonst zu nehmen, und handelt mit ihm, wie groß und unzählig seine Sünden und Vergehungen auch sein mögen, in vollkommener Gnade und Liebe.
Doch ach! wie gering ist die Zahl derer, die bereit sind, sich
mit Gott versöhnen zu lassen! Wie wenige erkennen, gleich
dem verlorenen Sohn, mit einem bußfertigen, angsterfüllten
Herzen ihr Leben voller Sünde, ihren hoffnungslosen Zustand
und ihr schreckliches Ende! Nur der, der dem Zeugnis Gottes
über den Menschen glaubt und sein Elend erkennt, wird sich
aufmachen und Gnade und Erbarmen suchen; nur der, welcher
92
Bedürfnis nach Hilfe und Rettung fühlt, wird sich von Herzen
zu Dem hinwenden, der die Liebe ist, und gegen dessen Bitten
bisher sein Ohr taub und sein Herz gefühllos geblieben ist.
Und was wird der Erfolg seines Kommens sein? Zu seiner
unbeschreiblichen Freude und zu seinem ewigen Trost vernimmt er die Wahrheit, daß Gott schon lange zuvor an ihn
gedacht, daß Er Seinen eingeborenen vielgeliebten Sohn für
ihn dahingegeben hat, daß Er alle seine Sünden auf das vor
Grundlegung der Welt zuvorerkannte, fehl- und fleckenlose
Lamm Gottes gelegt und an Ihm sein Gericht vollzogen hat;
er vernimmt, daß die Gerechtigkeit Gottes befriedigt, das
Werk der Versöhnung vollbracht und jede Frage zwischen
Gott und ihm göttlich gelöst ist. Er fühlt sein Gewissen von
einer zermalmenden Bürde entlastet und sein Herz mit himmlischem Frieden erfüllt; und zu den Füßen Jesu sinkend, betet
er an. Was könnte ihn auch noch beunruhigen? Er hat Jesum,
Ihn, den die Liebe Gottes umsonst schenkte, in seinem Herzen
durch Glauben aufgenommen; und seine Seele erfreut sich der
glücklichen Gewißheit, daß alle seine Übertretungen vergeben
und seine Missetaten für immer bedeckt sind, daß er von allen
seinen Sünden so rein gewaschen ist, wie das Blut Christi die
Kraft dazu besitzt, und daß seine Versöhnung von Gott geschätzt wird nach dem Wert dieses kostbaren Blutes. Jede
Anklage gegen' ihn muß verstummen, denn Gott selbst ist es,
der ihn rechtfertigt. Er ruht auf dem Werke Dessen, der alle
seine Sünden auf Sich genommen hat, der das Gericht für ihn
erduldet und alles, alles gut gemacht hat; und mit einem glücklichen und dankerfüllten Herzen kann er sagen:
Wo ist meine Sund' geblieben?
Christus starb an meiner Statt.
Meinen Freibrief, längst geschrieben,
Christi Blut versiegelt hat.
Ganz gereinigt,
Ihm vereinigt,
Der zur Rechten Gottes ist;
Der den Weg zum Heiligtum
Mir geweiht zu Seinem Ruhm.
93
Kann der Kläger noch bestehen,
Da zur Rechten Gottes jetzt
Er des Menschen Sohn muß sehen,
Auf den Thron von Gott gesetzt?
Alle Klagen,
Abgeschlagen,
Sind dort außer Kraft gesetzt.
Vor dem Lamm auf Gottes Thron.
Geht der Kläger stumm davon.
Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, der mit dem bereits Gesagten in enger Verbindung
steht, und ohne dessen Verständnis der Friede des Glaubenden, der auf dem Versöhnungswerk Christi ruht, nur zu bald
wieder erschüttert werden wird. Da bei einem erleuchteten
Gewissen zuerst die erkannten Sünden und Vergehungen
ihren Druck auf das Herz ausüben und den Mund zu einem
Notschrei öffnen, so ist es auch zunächst nur das Bewußtsein
der durch das Blut Jesu bewirkten Versöhnung und Rechtfertigung, das der Seele Ruhe und Frieden gibt. Das Auge des
Glaubens, durch die Gnade geöffnet, erblickt in dem Kreuz
Christi die Hand jener sich erbarmenden Liebe, welche die
Sündenschuld gänzlich durchstreicht und die schwarzen Punkte
des vergangenen Lebens für immer hinwegwischt. Die Sonne
einer überschwenglichen Gnade sendet ihre belebenden, erquickenden Strahlen in die finstere Nacht eines mühseligen
und beladenen Gewissens; und in namenloser Freude erhebt
sich das Herz, von jedem Druck befreit, zum Lobe und zur
Anbetung Dessen, der zur Rettung des Sünders in diese Welt
gekommen ist. Jedoch, wenn der Gläubige auf diesem Punkte
stillsteht, wird der Ton dieser Freude gar bald wieder herabgestimmt und einem ängstlichen Seufzen öffnen sich Tür und
Tor; denn nach kurzen, flüchtigen Augenblicken entdeckt die
Seele zu ihrem Schrecken jene bisher unerkannte Quelle aller
bösen Gedanken, Worte und Werke, die im Fleische wohnende
Sünde. Ach, wie viele Seelen, die sich der Gewißheit der Vergebung ihrer Sünden erfreuten, aber jene Verderben spru94
delnde Quelle nicht erkannten, sind durch das Böse, das sie
kurz nach ihrer Bekehrung in sich gewahrten, von neuem
in Unruhe und Verlegenheit gebracht worden! Hatten sie doch
der Meinung Raum gegeben, daß infolge ihrer Bekehrung
auch das in ihnen wohnende Böse beseitigt, oder doch wenigstens Kraft in ihnen vorhanden sein würde, um es überwinden
und nach und nach gänzlich ausrotten zu können. Und sind
sie sogar nicht nach dieser Richtung hin belehrt worden? Zeigt
nicht eine große Zahl christlicher Schriften und Lehrbücher
das geflissentliche Bestreben, jene schriftwidrige Meinung
zu verbreiten, als ob ein tägliches Absterben der Sünde stattfinde und die Verbesserung und Umwandelung des alten
Menschen auf solche Weise erzielt werden könne? Ach, welche
Selbsttäuschung und Unkenntnis! Das „Ersäufen des alten
Menschen durch tägliche Reue und Buße" wird sich stets als
eine nutzlose, vergebliche Anstrengung erweisen; die alte Natur bleibt, was sie ist, das Fleisch wird nie seinen Charakter
verleugnen und jedem Veredlungsversuch entschieden widerstreben. Mag auch in den ersten Tagen der Bekehrung das
glückselige Bewußtsein der Sündenvergebung alle Gefühle und
Neigungen des Herzens so sehr in Anspruch nehmen, daß die
Begierden und Leidenschaften des Fleisches regungslos verstummen, so wird doch, je nachdem die hochgestimmten Saiten des Rettungsjubels allmählich ihre • Spannkraft verlieren,
auch die alte Natur wieder ihre Ansprüche fühlbar machen.
Und die enttäuschte Seele macht dann die demütigende Erfahrung, daß das Fleisch, jetzt wie einst im unbekehrten Zustande, dieselben alten Leidenschaften und Begierden in sich
trägt, und sieht sich sogar, da sie sie in jenem Licht,
welches „alles offenbar macht", (Eph 5, 13) erblickt, zu dem
trostlosen Bekenntnis gezwungen, daß das Herz ehedem nie
eine solche Hartnäckigkeit und Bosheit an den Tag gelegt
habe. Wie könnte es anders sein, da doch die Strahlen der
Sonne des neuen Tages bis in die verborgensten Schichten
des Herzens eingedrungen sind und hier den feinsten Staub
zeigen?
Und was wird die Folge solcher Entdeckungen sein? Der Frieden flieht, die Freude verstummt, die Folter der Angst und der
Unruhe kehrt in das Herz zurück. Die Seele kämpft und ringt,
95
der Mund öffnet sich zu flehentlichem Gebet und Anhalten;
neue Vorsätze werden gefaßt, neue Gelübde abgelegt; aber
ach! das Böse behauptet hartnäckig seinen Platz; und das
Absterben macht nicht nur keine Fortschritte, sondern im Gegenteil ruft jede Anstregung dieser Art die schlummernden
Elemente des Bösen zu wilder Empörung wach. „Als das
Gebot kam, lebte die Sünde auf/' (Röm 7, 9.) Was anders
vermöchten solche trostlose Erscheinungen in einem ernsten,
aufrichtigen Herzen hervorzubringen, als eine Unruhe, die
sich bis zur Verzweiflung steigert?
Freilich wissen oberflächliche und leichtfertige Gemüter ohne
große Sorge über solche Schwierigkeiten hinwegzukommen.
Entweder verbergen sie ihren wahren Zustand vor anderen,
oder sie lauschen auf die Sprache derer, die in gewissenloser
Leichtfertigkeit die Entdeckungen ihrer Sünden, ihrer Ohnmacht
und ihrer Dürre als die Frucht einer gründlichen Erkenntnis
und mithin als den wahren Zustand eines erfahrenen Christen bezeichnen, und die sich sogar nicht schämen, die Bosheit
ihres Herzens mit dem heiligen, fleckenlosen Gewände des
Wortes Gottes zu bedecken. So hat doch nach ihrer Meinung
selbst der Apostel Paulus über sich die Worte aussprechen
müssen: „. . . ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. . . . das Wollen ist bei mir vorhanden; aber das Vollbringen dessen, was recht ist, finde ich nicht. . . . das Gute,
das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht
will, dieses tue ich." (Röm 7, 14. 18. 19.) Ach! diese Seelen
verstehen nicht, daß solche Erfahrungen unter dem Gesetz
und nicht unter der Gnade gemacht werden. Wie äußerst
mangelhaft aber würde unsere Errettung sein, wenn wir, obgleich wir von der Vergebung unserer Sünden überzeugt sind,
hinsichtlich der in uns wohnenden Sünde nur bis zu dem
trostlosen Bewußtsein ihrer Herrschaft über uns gelangen
könnten, einer Herrschaft, von der uns keine Macht zu befreien vermöchte! Wie unvollkommen würde das Resultat des
Werkes Christi sein, wenn, im Blick auf unsere Gefangenschaft
und Sklaverei in der Sünde, auf die Frage des bekümmerten
Herzens: „Ich elender Mensch! wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?" keine befriedigende Antwort zu finden wäre! Könnte auf diesem Wege in dem Werke Christi
96
jene so wichtige Absicht Gottes, ein „Eigentums-Volk, eifrig
in guten Werken" zu haben, je erreicht werden? Nimmermehr,
sondern unausbleiblich würden die himmlischen Pilger wie
einst das irdische Volk Gottes, die Kinder Israel, das Zeichen
der Verwerfung an ihren Stirnen tragen und aus dem Munde
Gottes die Worte vernehmen: „Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herz und Ohren!" (Apg 7, 51.) „Ein Volk
irrenden Herzens sind sie. Aber sie haben meine Wege nicht
erkannt." (Ps 95,10.)
Ach, wie trügerisch sind die Überlegungen und Vernunftschlüsse des menschlichen Herzens! Würden die Seelen bei
der Entdeckung der im Fleische wohnenden Sünde mit einem
einfältig glaubenden Herzen auf die untrüglichen Unterweisungen des Wortes Gottes lauschen, so würden sie auch sicher
zu der Überzeugung gelangen, daß der Gott aller Gnade über
jene unreine Quelle ebenso bestimmt entschieden hat, wie
über das, was aus ihr hervorsprudelt. Allein anstatt sich der
alleinigen Leitung dieses Wortes anzuvertrauen, tragen sie
vielmehr in eitler Selbstverblendung ihre eigenen menschlichen Anschauungen in das Wort hinein, deuten es nach den
Erfahrungen ihrer unfreien und irrenden Herzen und rufen
auf diesem Wege die schriftwidrigsten Grundsätze ins Leben.
Ach! von Jahrhundert zu Jahrhundert hat der Mensch, geleitet
durch den trügerischen Schimmer seines Scharfsinns, in der
Heiligen Schrift nach Schätzen gegraben, aber als einzige Ausbeute nur wertlose Schlacken zu Tage gefördert. Und dennoch
haben die auf diese Weise gewonnenen Grundsätze und Anschauungen, weil sie mit den Erfahrungen einer fleischlichen
Gesinnung übereinstimmen, bei vielen Seelen eine beklagenswerte Aufnahme und, besonders wenn sie ein höheres Alter
und den Namen einer anerkannten Persönlichkeit an ihrer Stirn
tragen, eine solche Anerkennung gefunden, daß man kaum noch
daran denkt, den Prüfstein des Wortes Gottes an sie zu legen.
Wozu anders aber bedienen sich unfreie Seelen dieser Grundsätze, als um sich Ruhe zu verschaffen in den Fesseln der
Sünde, deren Herrschaft sie anerkennen und unter deren
Macht sie sich unter schweren Seufzern beugen? Ist es da ein
Wunder, wenn sich endlich die Meinung völlig Bahn bricht,
daß Gott nach Seiner weisen Absicht die Fortdauer eines sol97
chen trostlosen Zustandes bestimmt habe, um durch die Ergebnisse aller erfolglosen Kämpfe das Herz in wahrer Demut zu
erhalten und die Überzeugung von unserer gänzlichen Verderbtheit zu befestigen? Ja, dann freilich bleibt für den Gläubigen, trotz der Gewißheit der Vergebung seiner Sünden,
nichts als die traurige Aussicht übrig, ein armer, elender Sünder sein und bleiben zu müssen.
Obgleich indes die bitteren Erfahrungen zahlreich genug sind,
um eine Enttäuschung herbeizuführen, so lassen doch manche
Seelen jenes falsche Vertrauen nicht fahren, als ob das Werk
des Sünden-Absterbens innerlich seiner Vollendung entgegengehe. Wenn sich aber vollends eine Zeitlang diese oder jene
Begierde nicht wirksam gezeigt hat, so erkennen sie darin
einen augenscheinlichen Fortschritt und wiegen sich in sorglose Sicherheit ein. Doch ach, wie bald sehen sie sich in ihren
Erwartungen getäuscht! Plötzlich erwacht, angelockt durch
äußere Einflüsse, jene böse Begierde aus ihrem Schlummer
und fordert ihre Befriedigung um so mächtiger, je weniger
gegen sie gewacht worden ist. Und gerade in dem Augenblick, wo sie in falscher Sicherheit ihre Fortschritte bewunderten, öffneten sie zugleich dem gewaltsam heranstürmenden
Feinde die Tore, der dann, wenn die Sünde vollbracht ist, unablässig bemüht ist, entweder Mutlosigkeit und Verzagtheit,
oder Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit gegen die Sünde
in ihren Herzen zu wirken. Wie viele Seelen gehen von Jahr
zu Jahr in diesem Zustande dahin, ohne sich auf dem Wege
der Heiligung auch nur einen einzigen Schritt vorwärts zu
bewegen! Sie befinden sich entweder auf der Folter fortdauernder Anklage ihres eigenen Gewissens, oder ihre Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegen die Sünde nimmt einen
stets bedenklicheren Grad an, indem sie sich trösten, daß
andere gleiche Erfahrungen machen, oder sich gar einreden,
daß das Leben des Christen sich durch stetes Fallen und Aufstehen charakterisieren müsse. Sie machen die Erfahrungen
Jakobs und nicht die Erfahrungen Abrahams; und in der
Voraussetzung, daß keine andere gemacht werden können,
betrachten sie die Freude im Herrn nur als einen Rausch der
ersten Gefühle, oder gar als Täuschung und Einbildung, und
die Ermahnungen zu einem würdigen Wandel sehen sie an
98
als ein Treiben des Gesetzes. Wo aber findet sich dann jene
glückselige Ruhe des Herzens, die sie den Unbekehrten anpreisen? Wo der alle Vernunft übersteigende Friede Gottes?
Wo der Wandel zur Verherrlichung Gottes? Wo finden sie
die guten Werke, wozu wir „in Christo Jesu geschaffen sind"?
Dieses alles fehlt; der Name des Herrn wird verunehrt, Sein
Wort verachtet und Sein Werk geringgeschätzt.
Aber gibt es denn keine Errettung aus diesem Zustande, keine
Befreiung aus der Macht der Sünde? Ohne Zweifel. Aber die
Befreiung aus dieser Macht liegt ebensowenig in unserer Hand,
und ist ebensowenig die Frucht unserer Anstrengung, wie die
Sühnung für unsere Sünden. Beide Tatsachen sind einzig und
allein das gesegnete Resultat des auf Golgatha vollbrachten
Opfers Jesu Christi; und der Glaube ist das einzige Mittel,
die kostbare Frucht dieses vollkommenen Werkes genießen
und verwirklichen zu können. Der Glaube erblickt in dem
Opfer Jesu Christi sowohl die Reinigung von unseren Sünden, als auch die Befreiung von der in uns wohnenden Sünde.
Die Hand der errettenden Liebe, die unsere Sünden tilgte,
vernichtete auch die Macht der Sünde; die Gnade, die dem
Sünder eine ewige Versöhnung brachte, zerbrach auch für
immer die Ketten und Banden des Sklaven; das Blut, das uns
von allen Sünden reinigte, setzte auch den Gefangenen in
völlige Freiheit. Welch eine wunderbare Gnade! welch eine
anbetungswürdige Liebe! welch ein kostbares Blut! O möchten unsere Seelen sich doch von den trügerischen Erfahrungen
unserer eitlen Herzen mit aller Entschiedenheit abwenden und
die untrüglichen und klaren Zeugnisse des Wortes Gottes
betreffs des glorreichen Werkes Christi in einfältigem Glauben
aufnehmen! Das allein wird imstande sein, unsere Herzen zu
befestigen und mit seliger Ruhe zu erfüllen.
Um aber überhaupt zu einem klaren Verständnis über diese
zweifache Wirkung des Kreuzes Christi zu gelangen, müssen
wir zuvor erkannt haben, daß der Mensch nicht nur seiner
Sünden, sondern auch seines Zustandes wegen ein Verlorener
ist. Als Nachkomme des ersten Adam ist er in Sünden geboren; und das Wort Gottes charakterisiert seinen moralischen Zustand als Sünde, Finsternis und Tod. Im Blick auf
einen solchen Zustand ist eine Gemeinschaft zwischen Gott
99
und ihm undenkbar, selbst wenn man die Möglichkeit einer
Vergebung der Sünden voraussetzen dürfte. Die Quelle ist
und bleibt verderbt, wenn auch ihre trüben Ausströmungen
ausgetrocknet sind, der faule Baum behält unverändert seine
schädlichen Säfte, wenn auch seine bitteren Früchte abgeschüttelt und beseitigt werden könnten. Das ist eine Wahrheit,
die nicht genug verstanden und beachtet wird. Wer aber über
die Heiligkeit Gottes und über das Verderben des Menschen
einiges Verständnis besitzt, der wird auch sicher die Nutzlosigkeit aller Anstrengungen und Bestrebungen zur Veredlung des Menschen erkennen. Wie könnte jemand der Anmaßung Raum geben, die unermeßliche Kluft zwischen Heiligkeit und Sünde, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Liebe
und Haß, zwischen Leben und Tod ausfüllen zu wollen! Oder
sollte Gott etwa den Charakter Seiner Heiligkeit verleugnen,
um sich dem Menschen in seiner Gottlosigkeit zu nähern und
Gemeinschaft mit ihm zu machen? Wer wollte sich zu einer
solchen Behauptung erkühnen! Diese Gemeinschaft durch
menschliche Anstrengungen erstreben zu wollen, ist nichts
anderes, als die stolzen Überlegungen des Menschen aufzurichten und die Wahrheit und Ehre Gottes gering zu schätzen.
Solche Bestrebungen führen nur die Erhöhung des Menschen
und die Erniedrigung Gottes im Schilde.
Aber dennoch, Gott sei dafür gepriesen, darf sich jeder Gläubige der „Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem Sohne
Jesu Christo" erfreuen. (1. Joh 1, 3.) Aber diese Gemeinschaft
steht auf einem Boden, auf dem jede menschliche Anstrengung ausgeschlossen ist; sie findet in dem Werk, das Gott
selbst auf Golgatha in Christo Jesu vollbracht hat, ihre einzige
Grundlage. Dort hat Er nicht den Zustand des Menschen
verändert oder seine Natur veredelt, sondern hat ihn vielmehr
gerichtet, getötet und beseitigt, aber zugleich auch einen neuen
Menschen ins Leben gerufen. Da hat Er nicht nur das schwere
Gewicht aller unserer Sünden auf das Haupt des von Ihm
ausersehenen Opferlammes gelegt um sie von unseren Gewissen abzuwälzen, sondern hat da auch „Den, der Sünde
nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes
Gerechtigkeit würden in ihm". (2. Kor 5, 21.) Welch eine
gesegnete Wahrheit! Christus wurde am Kreuze mit der gan100
zen Schwere unserer Sünden beladen und für uns zur Sünde
gemacht. Die ganze Häßlichkeit der Sünde wälzte sich auf das
Haupt des Menschensohnes, der allein sagen konnte: „Wer
von euch überführt mich einer Sünde?" — und gebeugt unter
der zermalmenden Hand der Gerechtigkeit preßten sich Seiner
bestürzten Seele im Gefühl tiefen Jammers die Worte aus:
„Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?" —
In Ihm, dem also Geschlagenen und Gemarterten, sehen wir
unseren Zustand, unsere Sünde, unser Gericht, unseren Tod;
in Ihm erblicken wir das traurige Ende des alten Menschen,
mit dem der heilige und gerechte Gott niemals in Verbindung
treten konnte. „Der Lohn der Sünde ist der Tod."
Doch, Gott sei Lob, das schreckliche Gericht ist beendet, das
Werk der Errettung ist vollbracht; und darum gibt es „keine
Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind. . . . Denn
das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er seinen eigenen Sohn in Gleichheit
des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde
im Fleische verurteilte." (Röm 8, 1. 3.) „Die des Christus
sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften
und Lüsten." (Gal 5, 24.) Wie göttlich erhaben ist das Werk
Christi! Wie bedeutungsvoll sind seine Wirkungen! Freilich
bleibt, so lange der Gläubige hienieden ist, die Sünde in seinem Fleische; aber sie ist eine verurteilte, gerichtete Sache.
Bezüglich seiner Errettung hat er die in ihm wohnende Sünde
ebensowenig wie seine Sünden und Vergehungen zu fürchten; denn jene ist verurteilt und diese sind vergeben. Das eine
ist so vollkommen wie das andere; beides ist die gesegnete
Frucht des ein für allemal geschehenen Opfers des Leibes
Jesu Christi. Der Glaube erfaßt und verwirklicht diese köstliche Wahrheit, und das Herz ruht in seligem Frieden.
So hat also das Gericht auf Golgatha nicht nur die in uns
wohnende Sünde getroffen, sondern auch wir selbst, die wir
von Natur nichts anderes als Sünde sind, haben dort in Christo
unser Gericht gefunden. Die Sünde drückt unserem natürlichen
Zustande das wahre Gepräge auf; sie charakterisiert uns als
die Nachkommen und Erben des gefallenen ersten Adam;
aber als solche sind wir in Christo mitgekreuzigt, mitgestorben und mitbegraben, denn das Wort Gottes sagt mit völli101
ger Bestimmtheit: „Indem wir dieses wissen, daß unser alter
Mensch mitgekreuzigt ist, auf daß der Leib der Sünde abgetan sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen." (Röm 6, 6.)
Wir haben also, was unseren alten Zustand betrifft, unseren
Tod in dem Kreuzestod Christi gefunden; und mit Bezug auf
diese Tatsache sagt der Apostel Paulus von sich: „Ich bin mit
Christo gekreuzigt"; (Gal 2, 20.) und von den Kolossern:
„Ihr seid gestorben." „Wisset ihr nicht", ruft er den Römern
zu, „daß wir, so viele auf Christum Jesum getauft worden,
auf seinen Tod getauft worden sind? So sind wir denn mit
ihm begraben worden durch die Taufe auf den Tod." (Röm
6, 3. 4.) Und an die Kolosser schreibt er: „In welchem (d. i.
in Christo) ihr auch beschnitten seid mit einer nicht mit
Händen geschehenen Beschneidung, in dem Ausziehen des
Leibes des Fleisches, in der Beschneidung des Christus, mit
ihm begraben in der Taufe usw." (Kap 2, 11.) In ähnlicher
Weise lesen wir in 1. Petr 4, 1: „Da nun Christus für uns
im Fleische gelitten hat, so waffnet auch ihr euch mit demselben Sinne; denn wer im Fleische gelitten hat (d. h. mit
Christo gestorben ist), ruht von der Sünde."
Aus diesen Stellen erhellt deutlich, daß der alte Mensch, d. h.
das, was ich von Natur bin, in dem Kreuz Christi vor Gott
für immer beseitigt ist. Jetzt kann selbst der schwächste
Gläubige seinen Blick auf das Kreuz richten und mit Freimütigkeit ausrufen: „Ich bin mitgekreuzigt, mitgerichtet, mitgestorben; meine Verantwortlichkeit als Nachkomme des
ersten Adam, als Sünder, als Gottloser hat für immer ihr
Ende erreicht." Er kann in das Grab Christi schauen und mit
Freuden in die Worte ausbrechen: „Hier bin ich, in betreff
meines Zustandes von Natur, mit Christo begraben und vor
Gott für immer hinweggetan." Er kann als ein neuer, mit
Christo auferstandener Mensch an der Himmelsseite des leeren
Grabes stehen und mit dem Apostel in den Jubelruf einstimmen: „Wer wird wider Gottes Auserwählte Anklage erheben?
Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme? Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der auch auferweckt,
der auch zur Rechten Gottes ist, der sich auch für uns verwendet. Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi?" (Röm
8, 33. 34.) Wie glücklich ist die Seele, die mit unerschütterli102
chem Glauben in dem vollbrachten Werke Christi ihren Ruhepunkt gefunden hat! Die Sünden sind vergeben, die im Fleisch
wohnende Sünde ist gerichtet und der Sünder selbst ist für
immer vor Gott hinweggetan.
Weiter bezeichnet das Wort den Menschen von Natur als
einen Sklaven der Sünde und als völlig ihrer Macht und Herrschaft unterworfen. Der Apostel gibt dieser Wahrheit einen
bestimmten Ausdruck, wenn er sagt: „Ich aber bin fleischlich,
unter die Sünde verkauft"; (Röm 7, 14.) und die Erfahrung
eines jeden, der das Wort des Herrn zu verwirklichen trachtet,
wird damit übereinstimmen. Man könnte auch hier die Worte
des Herrn anwenden: „Wenn jemand seinen Willen tun will,
so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist." Alle
Anstrengungen und Kämpfe eines aufrichtigen Herzens gegen
jene schreckliche Macht lassen nur um so augenscheinlicher die
Ohnmacht und Verderbtheit des Menschen hervortreten.
Nichts bleibt diesem übrig, als der Notschrei: „Ich elender
Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?"
(Röm 7, 24.) und alle seine Weisheit ist außerstande, diese
Frage der Angst und des Schreckens eine befriedigende Lösung zu geben. Welch ein Glück daher, in Christo eine nach
allen Seiten hin genügende Antwort zu finden! Nur Ihm, der
für uns gestorben und auferstanden ist, und in dem wir mitgestorben und mitauferweckt sind, verdanken wir unsere völlige Befreiung aus den Fesseln dieser schrecklichen Herrschaft.
In Seinem Tode sind wir als Sklaven der Sünde gänzlich beseitigt und, in Seiner Auferstehung mit lebendig gemacht, zu
Sklaven der Gerechtigkeit geworden, wie geschrieben steht:
„Freigemacht von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden." (Röm 6, 18.) In dem auferstandenen Christus
ist der Gläubige in eine ganz neue Stellung versetzt worden.
Als alter Mensch, als Sklave der Sünde, ist er gerichtet und
hinweggetan; als neuer Mensch, als Sklave der Gerechtigkeit,
ist er in und mit Christo gesegnet. „Wenn jemand in Christo
ist, da ist eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; siehe,
alles ist neu geworden." (2. Kor 5, 17.) Die Fesseln des Sklaven sind gesprengt, das Lösegeld ist für ihn bezahlt, und
die Arme des Bürgen nehmen den Befreiten auf. Nicht durch
eine allmählich fortschreitende Veredlung seiner Natur, son103
dem durch eine gänzliche Erneuerung ist er, der einst ein
Sklave der Sünde war, ein Sklave der Gerechtigkeit geworden
und, als „das Werk Gottes, geschaffen in Christo Jesu zu
guten Werken", (Eph 2, 10.) fähig gemacht, Gott Frucht zu
bringen. Trotz aller Anstrengungen wird der alte Mensch nie
die Herrlichkeit Gottes erreichen; aber der neue Mensch ist
im Besitz des Lebens des auferstandenen Christus und wird
bei Seiner Ankunft auch einen Leib empfangen, der „gleichförmig mit seinem Leibe der Herrlichkeit sein wird, nach der
wirksamen Kraft, mit der er vermag, auch alle Dinge sich zu
unterwerfen." (Phil 3, 21.)
Welch eine erhabene Wahrheit! Der Glaube nimmt jetzt schon
seinen Platz in dieser neuen Stellung ein und verwirklicht sie
durch die Kraft des Heiligen Geistes. Er erblickt in dem Tode
Christi das Ende des alten Menschen und in der Auferstehung
Christi den Anfang einer neuen Kreatur, und mitgepflanzt zu
der Gleichheit des Todes und der Auferstehung Christi hat
der Christ mit der Sünde und ihrer Herrschaft ebensowenig
gemein wie der auferstandene Christus. Im Tode Christi ist er
der Sünde gestorben (Röm 6, 2.) und im Leben Christi der
Herrschaft der Sünde und des Todes für immer entronnen.
„Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde.
Wenn wir aber mit Christo gestorben sind, so glauben wir,
daß wir auch mit ihm leben werden, da wir wissen, daß
Christus, aus den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der
Tod herrscht nicht mehr über ihn. Denn was er gestorben ist,
ist er ein für allemal der Sünde gestorben; was er aber lebt,
lebt er Gott. Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot,
Gott aber lebend in Christo Jesu." (Röm 6, 7.—11.) Sind
diese Schriftstellen nicht einfach und klar genug, um die Herzen aller, die angesichts des Richterstuhls Christi mit Zuversicht die Worte: „Gleich wie er ist, sind auch wir in dieser
Welt", (1. Joh 4, 17.) ausrufen dürfen, mit Lob und Anbetung zu erfüllen? Haben die, die einst so elende Sklaven der
Sünde waren, nicht einen sicheren Bergungsort gefunden, wo
Sünde, Tod und Teufel sie nie mehr erreichen können? Ist
nicht ihre Schuld getilgt, die im Fleisch wohnende Sünde gerichtet und der Leib der Sünde, der alte Mensch, für immer
hinweggetan? Befinden sie sich nicht mit Christo jenseits
104
des Kreuzes, des Todes und des Gerichts? Warum noch trauern, da alles, was gegen sie war, auf Golgatha zum Schweigen
gebracht ist und sie auf einem neuen und lebendigen Wege
im ungetrübten Glanz einer ewigen und unvergleichlichen
Liebe ihres Gottes und Vaters in Christo Jesu wandeln können? Und wie unerschütterlich fest ist der Fels, auf dem ihr
Fuß ruht! Nichts kann sie scheiden von der Liebe, die in
Christo Jesu ist; nichts ist imstande, sie aus Seiner Hand zu
rauben; nichts kann die mächtigen Fluten Seiner überschwenglichen Gnade zurückhalten. O möchten wir doch nicht ermüden,
Ihm, der uns für immer dem Rachen eines ewigen Todes
entrissen hat, stets die Opfer des Lobes darzubringen!
Wir dürfen es indes nicht unbachtet lassen, daß wir, d. h. die
Gläubigen, diesen gesegneten Platz jetzt nur durch den Glauben einnehmen können. Bleibt das Auge auf uns selbst gerichtet, so finden wir nach wie vor nichts als Sünde und Feindschaft in uns, eine Entdeckung, die das Herz nur mit Zweifel,
Furcht und Unruhe erfüllen wird. Der Glaube lauscht nur auf
die wahrhaftigen Worte Gottes und klammert sich fest an
einen Gegenstand außer ihm, an Christum Jesum. Er beschäftigt sich nicht mit dem, was wir getan haben, sondern was
Christus getan hat, nicht mit dem, was wir sind, sondern was
Er ist; er erforscht einzig und allein das Werk Christi und
findet darin nicht nur die ewige Versöhnung unserer Sünden,
sondern auch eine ewige Befreiung von allem, was wider uns
war; er erblickt darin nicht nur das Ende des über uns verhängten Zorns und Gerichts Gottes, sondern auch den unausforschlichen Reichtum der Gnade und Liebe für uns, die Erlösten; er erkennt, daß nicht nur der Tod und das Grab für
immer versiegelt, sondern auch das Leben und die Herrlichkeit
ans Licht gebracht sind. Wo findet sich da noch eine Ursache
zur Furcht?
Wir haben also deutlich gesehen, daß wir, die wir an Christum
glauben, in eine ganz neue Stellung, und zwar in dem auferstandenen Christus, versetzt sind — eine Stellung, die wir
jedoch nur durch den Glauben einnehmen und durch die Kraft
des in uns wohnenden Heiligen Geistes bewahren und verwirklichen können. Die Sünde, obgleich sie noch in uns ist, ist
105
gerichtet, und wir sind ihr gestorben, so daß der Apostel uns
zurufen darf: „Ihr seid nicht im Fleische, sondern im Geiste,
wenn anders Gottes Geist in euch wohnt." (Röm 8, 9.) Einst
war vor Gott unsere Stellung in dem ersten Adam, jetzt ist sie
in dem letzten, in Christo; einst im Fleische, jetzt im Geiste;
einst im Tode, jetzt im Leben; einst waren wir Sklaven der
Sünde, jetzt sind wir Sklaven der Gerechtigkeit; einst unter
Gesetz, jetzt unter Gnade, kurz „das Alte ist vergangen, siehe,
alles ist neu geworden". Freilich wird diese Erneuerung erst
dann vor aller Augen offenbar werden, wenn unser Leib der
Niedrigkeit bei der Ankunft Christi entweder durch Verwandlung oder durch Auferweckung umgestaltet und Christus Jesus
geoffenbart werden wird. (Vergl. 8, 11; 1. Thess 4, 15—17;
Kol 3, 4.) Jetzt kann, wie bereits gesagt, nur der Glaube diese
neue Stellung ergreifen und durch die Kraft des Heiligen
Geistes in unserem Wandel verwirklichen. „Der Glaube ist
eine Oberzeugung von Dingen, die man nicht sieht." (Hebr
11, 1.) Das Wort Gottes ist die einzige Leuchte und Stütze des
Glaubens, und der Geist Gottes seine Kraft. Durch den
Glauben allein vermögen wir jetzt zu wandeln und den Namen
des Herrn zu verherrlichen; nur durch den Glauben erkennen
wir, „daß wir" — wie der Apostel sagt — „was den früheren
Lebenswandel betrifft, den alten Menschen, der nach den betrügerischen Lüsten verdorben wird, abgelegt haben, aber in
dem Geiste unserer Gesinnung erneuert worden sind und den
neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger
Gerechtigkeit und Heiligkeit, angezogen haben". (Eph 4,22—24.)
Zu welchem Zweck aber hat uns Gott in diese gesegnete Stellung berufen? Warum hat die erbarmende Liebe Gottes in der
Hingabe Seines Sohnes die Sklavenketten der Sünde und des
Todes gesprengt und uns in Freiheit gesetzt? War es nur, um
uns einen Platz in der Herrlichkeit zu bereiten? Hat Christus
uns nicht von „aller Gesetzlosigkeit losgekauft und sich selbst
ein Eigentums-Volk, eifrig in guten Werken, gereinigt"?
(Tit 2, 14.) Jeder Gläubige weiß es, daß er berufen ist, Gott
durch einen würdigen Wandel zu verherrlichen. „Denn wir
sind sein Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken,
welche Gott zuvor bereitet hat, auf daß wir in ihnen wandeln
106
sollen." (Eph 2, 10.) Die Gesinnung Christi und Sein Wandel
auf Erden sind allein das Maß und die Richtschnur unseres
Lebens und Wandels. Deshalb lesen wir: „Diese Gesinnung
sei in euch, die auch in Christo Jesu war"; (Phil 2, 5.) und
wiederum: „Wer da sagt, daß er in ihm bleibe, der ist schuldig,
selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat." (1. Joh 2, 6.)
Wie aber ist ein solcher Wandel denkbar ohne einen Glauben,
der jedes Vertrauen auf die eigene Kraft und auf alles Sichtbare ausschließt und der das Werk Christi zu seiner alleinigen
Grundlage, das Wort Gottes zu seiner alleinigen Leuchte und
den Geist Gottes zu seiner einzigen Kraft hat? Alles in uns
und um uns her ist nur geeignet, unseren Glauben zu schwächen; und deshalb bedürfen wir allezeit der Wachsamkeit, der
Nüchternheit und des Gebets, damit es dem Feinde unserer
Seelen nicht gelinge, das Auge unseres Glaubens zu trüben,
sie auf die sichtbaren Dinge zu richten und von Gott und
Seinem untrüglichen Worte abzulenken.
Da es indes nicht unsere Absicht ist, hier auf den Wandel eines
Christen näher einzugehen, so möchte ich nur noch mit einigen
Worten auf zwei gefährliche Klippen, an denen schon manche
Seelen gescheitert sind und scheitern, die Blicke des Lesers
richten. Man hört nämlich oft von einem Kampf wider die
Sünde reden und man begreift unter dieser Bezeichnung jenes
nutzlose Abmühen, den im Fleische wohnenden Lüsten und
Begierden den Todesstoß zu geben. Es mag ein vielleicht unter
vielfachen Flehen und Seufzen begonnener und fortgesetzter
Kampf sein; aber es ist nicht der Kampf jenes Glaubens, der
die Welt überwindet, sondern vielmehr das verzweifelte Ringen des Unglaubens, wobei der Kämpfer stets unterliegt und
sich verunreinigt. Ohne Zweifel wird das Vorhandensein des
Fleisches oder der im Fleische wohnenden Sünde Unruhe und
Kämpfe in mir hervorrufen; jedoch möchte ich im Blick auf
diese Erscheinung nicht gern sagen, daß ich „mit der Sünde zu
kämpfen" habe, weil eine solche Ausdrucksweise einerseits
zu einem falschen Begriff über den Kampf des Gläubigen
Anlaß gibt, und weil andererseits sie an keiner Stelle der
Heiligen Schrift gebraucht wird. Allerdings findet man in
Hebr 12, 4 die Worte: „Ihr habt noch nicht, wider die Sünde
ankämpfend, bis aufs Blut widerstanden"; aber bei etwas
107
näherer Beleuchtung wird man auf den ersten Blick entdecken,
daß hier nicht von einem Kampf wider die im Fleische wohnende,
sondern wider jene Sünde die Rede ist, welche von außen
her in dem Gewände mannigfacher Versuchungen auf die
Hebräer eindrang. So lesen wir im vorhergehenden Vers:
„Denn betrachtet den, der so großen Widerspruch von Sündern
gegen sich erduldet hat, auf daß ihr nicht ermüdet, -indem ihr
in euren Seelen ermattet"; (V 3) und da auch die Hebräer
bereits vieles in dieser Weise im „Kampfe wider die Sünde"
erduldet, (vergl. Kap. 10, 32—34.) jedoch noch nicht „bis aufs
Blut" widerstanden (d. h. bis zum Tode ausgeharrt) hatten, so
lag die Gefahr des Ermattens nahe. Wir sehen daher augenscheinlich, daß es sich hier keineswegs um einen Kampf wider
die im Fleische wohnende Sünde handelt, wiewohl dadurch
durchaus nicht geleugnet werden soll, daß den Gläubigen auch
von dieser Seite viel Kampf und Unruhe bereitet wird. Denn
nicht umsonst ermahnt der Apostel: „So herrsche denn nicht
die Sünde in eurem sterblichen Leibe, um seinen Lüsten zu
gehorchen; stellet auch nicht eure Glieder der Sünde dar zu
Werkzeugen der Ungerechtigkeit." (Röm 6, 12, 13.) Und
ebenso lesen wir in Kol 3, 5, wo nicht von den Gliedern des
äußeren Leibes, sondern des Leibes der Sünde die Rede ist:
„Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind: Hurerei, Unreinigkeit, Leidenschaft, böse Lust und Habsucht, welcher
Götzendienst ist." Daß das Vorhandensein der Sünde im
Fleisch Kampf in der Seele hervorruft — wer wollte es leugnen?
Wie und auf welche Weise aber werden wir imstande sein,
solchen und ähnlichen Ermahnungen nachzukommen? Ohne
Zweifel werden sich alle Anstrengungen der eigenen Kraft
wider die Sünde als nutzlos und ohnmächtig erweisen. Aber
auch hier wie überall wird der Kampf des Glaubens den Sieg
verleihen. Nur dürfen wir es nie aus dem Auge verlieren, daß
der Glaube seine Kraft zur Ausführung seines Kampfes nicht
in uns selbst sucht. Sein Blick ist unverrückt auf Christum und
Sein Werk gerichtet. Dort allein ist die verborgene Quelle
seiner Kraft und die unumstößliche Gewißheit seines Sieges.
Nur im Werke Christi sind wir, wie wir bereits gesehen, durch
unsere Einpflanzung in Seinen Tod und Seine Auferstehung
108
der Herrschaft der Sünde entronnen, und dort haben unsere
Glieder der Sünde ihren Tod gefunden. Und was ist die Folge?
In dem Maße wie wir nun durch den Glauben diese Wahrheit
festhalten und unseren Platz in dem Auferstandenen verwirklichen, werden wir auch in unserem Wandel die Befreiung von
jener Herrschaft der Sünde ans Licht stellen und unsere „Glieder, die auf der Erde sind", so oft sie sich regen, durch die
Kraft des Heiligen Geistes „töten". „Also auch ihr, haltet euch
der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christo Jesu." (Röm
6, 11.) „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so
suchet, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten
Gottes. Sinnet auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf
der Erde ist." (Kol 3, 1. 2.) Nur der Glaube ist fähig, diese
Ermahnungen in der Kraft des Heiligen Geistes zu erfassen,
und ihnen nachzukommen; nur der Glaube vermag uns über
die niedrige Atmosphäre zu erheben, wo Sünde und Tod ihr
Lager aufgeschlagen haben und wo der Unglaube nur stets
seine Niederlagen zu beklagen hat. Möge der Herr uns daher
in Seiner reichen Gnade nüchtern und wachsam zum Gebet
erhalten, damit wir allezeit „kraft des Glaubens" wandeln und
den „guten Kampf des Glaubens" bis zu Ende kämpfen.
Die zweite Klippe für die Gläubigen besteht darin, daß sie,
wie schon bemerkt, die Wahrheit Gottes oder ihre Stellung in
Christo nach ihren eigenen Erfahrungen abmessen und beurteilen. Das ist eine Erscheinung, die leider nur zur Folge hat,
daß dadurch jene Wahrheit verdunkelt und die wahre Stellung
der Gläubigen unsicher gemacht wird. Die Erfahrungen sind
segensreich und köstlich, wenn der Glaube sie macht; aber
wie viele trübe Erfahrungen macht der Unglaube! Wie viele
solcher Erfahrungen eines unlauteren Herzen mußte Jakob
machen! Aber wie traurig klingt sein Bekenntnis am Ende
seiner Tage? Er sagt: „Wenig und böse waren die Tage meiner
Lebensjahre." (1. Mos 47, 9.) Gleich den zahlreichen Christen
unserer Tage hatte er fast nur die Falschheit und Unbeständigkeit seines bösen Herzens kennengelernt, keineswegs aber
wie Abraham die ungetrübte und erquickende Gemeinschaft
Jehovas genossen. Doch welchen Wert wir auch den Erfahrungen, die wir machen, beilegen mögen, so können sie doch nie
unser Leiter in der Wahrheit sein und nicht dem Worte Gottes
109
gleichgestellt oder gar zum Prüfstein des Wortes benutzt werden. Weshalb bedürfte auch dieses „wohl geläuterte" Wort
(Ps 119, 140) noch irgend eines Prüfsteins? Ist es nicht vielmehr selbst ein Prüfstein — „lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert?" — ein „Beurteiler der
Gedanken und Gesinnungen des Herzen?" (Hebr. 4, 12.) Jede
Erfahrung unseres Herzens haben wir nach diesem Wort zu
beurteilen und, wenn sie nicht mit dem Wort übereinstimmt,
mit Entschiedenheit zu verwerfen. Wo unter der Leitung des
Heiligen Geistes der Glaube wirksam ist, da wird auch sicher
das Wort Gottes die einzige Regel und Richtschnur unseres
Wandels und Kampfes hier auf Erden sein, während der Unglaube, fern von dem Worte Gottes, vergeblich einen Ruheund Stützpunkt in den schwankenden Gefühlen und Erfahrungen des eigenen Herzens sucht. Der Geist Gottes ist unablässig bemüht, unsere Füße auf den Boden des an das untrügliche Wort gebundenen Glaubens zu stellen. Sobald die Kolosser auf diesem Boden eine rückgängige Bewegung zu machen
schienen, rief ihnen der Apostel zu: „Wenn ihr mit Christo
den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerfet ihr
euch Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?" (Kol 2, 20.)
Das ist die Sprache des Wortes und des Glaubens, während die
Erfahrung und die Vernunft gesagt haben würden: „Ihr unterwerft euch den Satzungen, und daher ist es sonnenklar, daß
ihr noch am Leben in der Welt seid." Das Wort und der
Glaube sagen: „Ihr seid gestorben"; aber die Erfahrung und
die Vernunft urteilen: „Ich sterbe täglich", eine Sprache, die
deutlich verrät, daß man diese Worte des Apostels in 1. Kor
15, 31 nicht versteht, wo er von seinen großen Gefahren redet,
die einem täglichen Sterben gleichzuachten waren, und die er
in Röm 8, 36 mit den Worten bezeichnet: „Um deinetwillen
werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind
wir gerechnet worden." Gewiß, das Wort Gottes bildet einen
völligen Gegensatz zu den Erfahrungen des Herzens; und die
Sprache des Glaubens widerspricht den Eingebungen der Vernunft unter allen Umständen.
Herr! erleuchte mehr und mehr unser Auge, damit wir diese
Klippen sehen, vermehre unseren Glauben und befestige ihn
von Tag zu Tag!
110
4.
Im Vorhergehenden haben wir also sowohl den bejammernswerten Zustand des Menschen von Natur, als auch seine völlige Befreiung daraus kennengelernt. Das vollbrachte Werk
Christi hat alle Fragen gelöst. In dem vergossenen Blut des
Lammes Gottes sieht der Gläubige die völlige Vergebung seiner Sünden, sowie die gänzliche Verurteilung der in seinem
Fleische wohnenden Sünde, so daß er, gestorben und auferweckt mit Christo, befreit von der Sünde und im Besitz eines
neuen Lebens, fähig gemacht ist, Gott Frucht bringen zu
können.
Jetzt aber möchte ich die Aufmerksamkeit meiner Leser auf
einen Gegenstand hinlenken, dessen Bedeutung um so mehr
in den Vordergrund tritt, als sich im allgemeinen in bezug auf
seinen wahren Charakter eine Unkenntnis kundgibt, die fast
ans Unglaubliche grenzt. Unter vielen Christen ist nämlich die
Meinung verbreitet, als ob das „Gesetz" die Regel und Richtschnur des Lebens für den Gläubigen sei. Eine solche Anschauung aber verrät nicht nur, wie wenig man die Natur
des Gesetzes kennt, sondern zeigt auch zu gleicher Zeit die
Neigung des menschlichen Herzens, die Grundsätze des Gesetzes mit denen der Gnade zu verwirren. Das aber ist eine
Neigung, wodurch man sowohl das Gesetz seiner unbestechlichen, unbeugsamen Strenge, als auch die Gnade ihrer herrlichen Schönheit und Kraft entkleidet. Es ist daher unerläßlich nötig, genau den Platz zu bezeichnen, den das Gesetz
einerseits dem Sünder und andererseits dem Gläubigen gegenüber einnimmt.
Gnade und Gesetz sind geradezu zwei ganz entgegengesetzte
Grundsätze. Ihre Verbindung ist undenkbar. Das Gesetz, obwohl es zunächst den Juden gegeben war, ist im allgemeinen
der Ausdruck dessen, was der Mensch sein sollte, während
die Gnade zeigt, was Gott ist. Das Gesetz richtet seine gerechten Forderungen an den Sünder, fordert ihre pünktliche Erfüllung und verurteilt, ohne Kraft darzureichen, den Übertreter mit unnachsichtiger Strenge, während die Gnade nichts
fordert, die Sünden vergibt und alles schenkt, was der Mensch
zu seinem ewigen Heil nötig hat. Unter das Gesetz gestellt,
111
hat der Mensch, angesichts des gerechten Urteils des Gesetzes, nichts zu erwarten als Tod und Verdammnis; und selbst
die Gnade kann weder sein trauriges Los ändern, noch die
Forderungen des Gesetzes verringern. Das Gesetz mit der
Gnade vermengen zu wollen, ist daher eitel und nutzlos. Eine
Errettung, teils durch das Gesetz, teils durch die Gnade gehört
ebensowohl in das Reich törichter Einbildungen, als eine Stellung teils unter dem Gesetz, teils in der Gnade. „Durch die
Gnade seid ihr errettet" (Eph 2, 8.) und: „Ihr seid nicht unter
Gesetz, sondern unter Gnade." (Röm 6, 14.) Das Gesetz
enthüllt dem Auge des schuldigen Sünders den trostlosen
Zustand seiner Natur und schreibt mit unverwischbaren Zügen das Todesurteil auf seine Stirn; aber nicht ein Fünklein
von Gnade mildert die strengen Ansprüche des Gesetzes.
„Jemand, der das Gesetz Moses verworfen hat, stirbt ohne
Barmherzigkeit." (Hebr 10, 28.) „Der Mensch, der diese Dinge getan hat, wird durch sie leben." (3. Mo 18, 5; Röm 10, 5.)
„Verflucht sei, wer nicht aufrecht hält die Worte dieses Gesetzes, sie zu tun." (5. Mo 27, 26; vergl. Gal 3, 10.) Wo findet
sich in der gewaltigen Schärfe dieser Forderungen irgend die
lindernde Einwirkung der Gnade? Von der Höhe des in „Dunkel, Finsternis und Sturm" gehüllten Berges Sinai herab
wandte es sich an den gefallenen Menschen; und nicht der
matteste Lichtschimmer der in Christo Jesu geoffenbarten
Gnade durchbrach die finsteren Nebel.
Schon von dem ersten Augenblick an, wo eine Seele durch die
Gnade Gottes erweckt und unter den Einfluß des neuen Lebens gebracht ist, erkennt sie an, daß die Gerechtigkeit Gottes
zu den Forderungen des Gesetzes berechtigt ist; aber zu gleicher Zeit entdeckt sie bei sich selbst gerade das, was durch
das Gesetz verdammt wird. Sie ist überzeugt, daß Gott weder
Seine Autorität mindern, noch Seine Heiligkeit verleugnen
kann; und sie spannt daher alle ihre Kräfte an, um Seinen
gerechten Forderungen zu genügen. Aber ach! bei dem ersten
Anlauf sieht der arme Kämpfer seinen Schritt gelähmt. Das
Gesetz fordert eine unbedingte, vollkommene Vollbringung;
das Gewissen und der erneuerte Wille erkennen diese Forderung an als „heilig, gerecht und gut" (Röm 7, 12.) und wünschen nicht, daß sie gemildert werde; aber wo ist die Kraft,
112
um das vorgesteckte Ziel zu erreichen? Die neue Natur hat in
der Tat die Gerechtigkeit Gottes lieb; aber das Gesetz, anstatt
Kraft zum Vollbringen zu geben, weckt vielmehr die bisher
schlummernde und ungekannte Lust zu entschiedenem Widerstände auf, so daß jede Anstrengung nutzlos und vergeblich ist. Das Gesetz verlangt völligen Gehorsam als die Bedingung des Lebens und der Gerechtigkeit; aber gerade dies
stellt ins Licht, daß ich mich von Natur in einem Zustand
des Todes und der Ungerechtigkeit befinde und mithin von
vornherein die Dinge nötig habe., die das Gesetz als Ziele
vor mich hinstellt. Ich finde in mir dieselben Grundsätze,
gegen die jene Verbote ausdrücklich gerichtet sind. Was nützen da alle Seufzer, alle Tränen, alle Vorsätze und alle Anstrengungen, wenn bei jedem meiner Schritte das in mir wohnende Böse immer mächtiger in den Vordergrund tritt und gar
gegen all mein Wirken einen so entschiedenen, hartnäckigen
Widerspruch erhebt, daß ich nicht nur an. der Vollbringung des
Guten behindert, sondern sogar zur Ausführung des Bösen
gedrängt werde? Ach! alle Anstrengungen unter dem Gesetz,
um den Willen Gottes zur Erlangung des Lebens und der
Gerechtigkeit zu vollbringen, verraten nur zu deutlich die verborgene Eigengerechtigkeit des stolzen Herzens und bezeugen nur die traurige Verblendung des Menschen über seinen
eigentlichen, wahren Zustand. Nutzlos und eitel wird daher
das Ringen eines erwachten Gewissens sein; die Früchte eines
solchen Kampfes werden ein leichtfertiges Gemüt bald erschlaffen und ein aufrichtiges Herz zur Verzweiflung treiben.
Unter dem Gesetz kann eine Seele nur von ihrer ganzen Ohnmacht überzeugt werden; wenn sie auf die Heiligkeit und
Gerechtigkeit Gottes blickt, kann das bei ihr nur Unruhe und
Furcht hervorrufen. Das Gewissen ist niedergedrückt von der
Geistlichkeit und Unerbittlichkeit des Gesetzes. Indem die
Seele sich der eigenen fleischlichen, unverbesserlichen Natur
bewußt wird, bleibt nichts anderes übrig als auszurufen:
„Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe
des Todes?" (Röm 7, 24.)
Aber können solche traurigen Resultate befremden? Keineswegs. Das Erwachen des Gewissens genügt nicht, das Gesetz
zu vollbringen. Wenn ich mich im Licht des Gesetzes prüfe,
113
kann es mich wohl überführen, daß ich das bin, was ich
nicht sein sollte; aber es bietet mir keine Kraft, das Gute tun
und das Böse lassen zu können. Wenn eine Lampe den finsteren Kerker eines gefesselten Gefangenen beleuchtet, so
kann der Gefangene wohl die trostlose Öde seiner Umgebung
und das Schreckliche seiner bedauernswürdigen Lage überschauen und sich bei diesem Anblick vielleicht zu den verzweifeltsten Anstrengungen, seine Ketten zu sprengen, drängen lassen. Aber was nützt es? Er bleibt ein Gefangener, ein
Gebundener; gerade die Erkenntnis seines Zustandes und die
fruchtlosen Versuche, sich davon zu befreien, machen sein herbes Schicksal um so unerträglicher. Ebenso das Gesetz. Es ist
eine Lampe, die in die dunklen Räume des menschlichen Herzens hineinleuchtet, ein Spiegel, der dem Sünder die wahre
Gestalt seines Elends und seiner Hilfslosigkeit unverhüllt vor
das Auge rückt, es ist der Prüfstein seiner Gesinnung, seiner
Worte und seiner Handlungen und stellt ihn, weil er ein Sünder und nicht das ist, was er sein sollte, unter den Fluch. Als
der Maßstab dessen, was Gott von dem natürlichen Menschen
fordert, kann das Gesetz nur durch eine vollkommene Erfüllung seiner Vorschriften befriedigt werden, und wird daher,
gemäß der unerbittlichen Strenge seines Charakters, den Übertreter zum Tode und zur Verdammnis verurteilen. Das ist die
einfache Erläuterung der Wirkung des Gesetzes.
Was aber ist die Ursache einer solchen trostlosen Erscheinung?
Diese Frage erhält erst dann die richtige Antwort, wenn
wir uns daran erinnern, daß ein unter Gesetz gestellter
Mensch mit einem Grundsatz in Verbindung ist, auf
Grund dessen zwar die Gerechtigkeit gefordert und das Leben
zugesagt wird, aber dieser Grundsatz kann nichts als die im
Fleische schlummernden Leidenschaften hervorrufen, und er
birgt den Tod und die Verdammnis in seinem Schoß. In
Röm 7 finden wir eine vollständige Aufklärung über diesen
Punkt. Dort lesen wir die Worte: „Wisset ihr nicht, Brüder,
daß das Gesetz über den Menschen herrscht, so lange er lebt?"
— Das ist einfach und klar. Der einem Gesetze unterworfene
Mensch ist an dessen Vorschriften gebunden, so lange das
Gesetz in Kraft ist; nur der Tod kann diese Verbindung
rechtskräftig auflösen. Das Gesetz der Ehe liefert in den Dar114
Stellungen des Apostels ein erläuterndes Beispiel. Wenn eine
Frau bei Lebzeiten ihres Mannes eine Verbindung mit einem
anderen Manne eingeht, so begeht sie Ehebruch; erst nach
dem Tode ihres angetrauten Mannes ist sie frei, mit einem
anderen Mann in Verbindung zu treten. (V. 3) Ebenso kann der Mensch, weil die an ihn gerichteten Forderungen
des Gesetzes göttlich gerecht sind, der Herrschaft des Gesetzes
nicht entrinnen, es sei denn, daß die Hand des Todes dazwischen greife und die Verbindung für immer auflöse. Ist es
nun ein Wunder, wenn der gefallene Mensch unter der Herrschaft eines Gesetzes, das nichts anderes tun kann, als den
Fluch, den Tod und die Verdammnis auf sein Haupt zu
schleudern, nur Früchte des Todes hervorbringt? Kann
es da befremden, wenn der gegen die Sünde kämpfende
Gesetzesmensch nach langen vergeblichen Anstrengungen zu
Boden sinkt und mit dem Rufe: „Ich aber bin fleischlich,
unter die Sünde verkauft; denn was ich vollbringe, erkenne
ich nicht; denn nicht was ich will, das tue ich, sondern was ich
hasse, das übe ich aus", (V. 14. 15) die Tiefe seines Elends
bezeichnet? Keineswegs.
Aber wozu ist denn das Gesetz gegeben? Der Apostel belehrt
uns darüber, wenn er sagt: „Das Gesetz aber kam daneben
ein, auf daß die Übertretung überströmend sei." (Röm 5, 20.)
Ja, es ist nebeneingekommen, um die übermäßige Sündigkeit
der Sünde ans Licht zu stellen und um dem Menschen die wahre
Gestalt seines kläglichen Zustandes zu offenbaren. „Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde." (Röm 3, 20.) „Die Sünde
hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von
der Lust hätte ich nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Laß dich nicht gelüsten." (Röm 7, 7.) Das ist der
eigentliche Zweck des Gesetzes. Gott will die aufrichtige Seele
von ihrem Elend und ihrer Ohnmacht überzeugen. Wie könnte
Er ihr Seinen mächtigen Arm zur Stütze darreichen, während
sie mit eigener Kraft gegen die Macht der Sünde ihre Waffe
schwingt? Würde Er nicht der Eigengerechtigkeit und dem
Stolz des menschlichen Herzens Nahrung geben? Würde nicht
Sein Beistand eine Anerkennung des Fleisches in sich tragen
und die Notwendigkeit des Werkes Christi in Frage stellen?
Sicher, und niemals würde auf solche Weise der unter die
115
Sünde verkaufte Sklave zur Erkenntnis seines wahren Zustandes gelangen können. Darum läßt Gott dem Druck Seiner
Gerechtigkeit auf das Gewissen des Sünders Seine volle, vernichtende Kraft, was nichts anderes zur Folge haben kann, als
daß der unglückliche, stets besiegte Kämpfer von der stolzen
Höhe seiner vermeintlichen Kraft herabsteigt und, von den
unerbittlichen Schlägen des Gesetzes in den Staub gelegt,
seine Erlösung anderswo zu suchen beginnt. Und das ist der
Platz, der dem fluchwürdigen Sünder geziemt. Hast Du, mein
teurer Leser, diesen Platz noch nicht eingenommen, so wird
es sicher einmal geschehen müssen. Du bist Sünder und der
Gerechtigkeit des Gottes unterworfen, der ein „verzehrendes
Feuer" ist. Wie willst Du entfliehen? Nur in einer Stellung,
wo die „Leuchte des Allmächtigen". (Hi 29, 3.) Dein finsteres
Herz erhellt hat, und wenn Du, gebrochen in Deinem Stolz,
am Boden liegst und zu dem Angstruf: „Wer wird mich retten
von diesem Leibe des Todes?" — die Lippen öffnest, nur dann
findet der Gott aller Gnade Gelegenheit, Seine rettende Hand
auf Dein mit Sünden beladenes Haupt zu legen und Dich, fern
von der Stätte des Todes und der Verdammnis, in jene Freistadt des Glaubens zu führen, wo Dich der Fluch des Gesetzes
nie mehr erreichen kann.
Es wird, wie ich hoffe, jetzt dem Leser einleuchten, daß
die Errettung des Sünders, so lange er sich in Verbindung
mit dem Gesetz befindet, unmöglich ist. Wie könnte auch
eine Sache die Grundlage seines Lebens und seiner Gerechtigkeit bilden, die nur Fluch, Tod und Verdammnis über den
Menschen verhängt, da doch der Zustand des Sünders und
der Charakter des Gesetzes unverändert bleiben?
Aber wie? Ist das Gesetz denn nicht „heilig, gerecht und gut"?
Sind seine Vorschriften nicht göttlich? Und legen sie dem
Menschen nicht wirkliche Verpflichtungen auf, denen er gewissenhaft nachkommen soll? Allerdings. Das Gesetz ist, wie
gesagt, der Maßstab davon, was Gott von dem Menschen
fordert; und selbst das, was der Mensch in Form einer Gnade
hineinzubringen trachtet, ist nicht imstande, seine Forderungen zu mäßigen und die Verantwortlichkeit des Menschen zu
vermindern. Und gerade weil das Gesetz göttlich vollkommen
und der Mensch ein Sünder ist, wird vor Gott „aus Gesetzes
116
Werken kein Fleisch gerechtfertigt werden." Nur ein vollkommener Gehorsam bietet eine Aussicht zum Leben und zur
Gerechtigkeit; der Blitzstrahl Seines Fluches trifft und zerschmettert jeden Übertreter. Wie ernst und bedeutungsvoll
ist daher die Frage: Wie werde ich befreit von einer Sache,
die mich, weil ich Sünder bin, nur in namenloses Elend stürzen kann? Eine Trennung muß stattfinden, das ist unleugbar.
Aber wie? Eine Trennung auf unrechtmäßigem Wege wird
Gott nicht gestatten, und nicht gelingen lassen. Wo ist nun
der von Gott erlaubte und von Ihm selbst aus Gnaden bereitete Weg?
Wie wir bereits erwähnt haben, kann nur der Tod die Auflösung eines in jeder Beziehung trostlosen Verhältnisses bewirken. Es ist die weise Anordnung eines gnadenreichen
Gottes. Wenn daher eine erweckte Seele, erschreckt über den
fleckenlosen Glanz der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes,
und im Blick auf die eigene Sündhaftigkeit und Ohnmacht,
von der schmerzlichen Überzeugung durchdrungen ist, daß
sie den Forderungen des Gesetzes nicht genügen kann, so
offenbart ihr Gott nur jenen einzigen Weg zur völligen Befreiung vom Gesetz und seinen gerechten Ansprüchen: dieser
einzige Weg, der sie ganz und gar und für immer aus dem
Bereich der Forderungen und des Urteils des Gesetzes führt,
ist der Tod des Sünders. Das Gesetz, weil es „heilig, gerecht
und gut" ist, kann weder aufgelöst, aufgehoben oder beseitigt, noch in seiner göttlichen Autorität irgendwie geschwächt
oder beeinträchtigt werden. Es fordert die ungehemmte und
unverkümmerte Ausübung seiner Rechte und die Vollziehung
seines gerechten Urteils. Armer, verurteilter Sünder! Wie
willst Du entrinnen? Wohin willst Du Dein bekümmertes
Auge richten? Wohin Deine Zuflucht nehmen? Deine Seufzer, Deine Tränen, Deine Kämpfe — was haben sie genützt?
Sind nicht die schlummernden Leidenschaften Deines Fleisches zum hartnäckigsten Kampf geweckt worden? Haben sie
nicht mit unverwischbaren Zügen das Brandmal eines Sklaven
auf Deine Stirn gedrückt?
Doch, gottlob, es ist ein Rettungsweg da. Gott selbst hat ihn
bereitet, in dem Tode Christi. Hier hat sich die Autorität des
Gesetzes in ihrer ganzen Tragweite verherrlicht; denn im
117
Tode dessen, der zur Sünde gemacht wurde, sehen wir das
Urteil des Gesetzes vollzogen; und der Apostel ruft allen, die
unter Gesetz waren, aber an Jesum gläubig geworden sind,
die Worte zu: „Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz
gestorben durch den Leib des Christus." (Röm 7, 4.) Welch
eine kostbare Wahrheit! Das Gesetz verhängte den Tod über
jeden Sünder, aber in dem Tode Christi ist an jedem Gläubigen, weil er in Ihm mitgestorben und mitauferweckt ist, dieses
Urteil bereits gänzlich vollstreckt worden. Wird das Gesetz
etwa noch einem Gestorbenen gegenüber seine Ansprüche
erheben? Sicher nicht. Jeder Gläubige kann jetzt aus dankerfülltem Herzen rufen: „Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz
gestorben"; (Gal 2, 19.) ich bin, weil in dem Tode Christi
das über mich gefällte Urteil vollzogen ist, für die Flüche des
Gesetzes nicht mehr da, sondern sehe durch Glauben meine
frühere Stellung im Fleische und unter dem Gesetz vor Gott
für immer aufgehoben. Welch eine wunderbare, preiswürdige
Gnade! Für alles, was vor dem Angesicht Gottes und im Licht
Seiner Gegenwart Sünde ist und für alles, um dessentwillen
mich die furchtbaren Flüche des Gesetzes hätten treffen müssen, — für dies alles ist Christus auf dem Kreuze gestorben.
Sein Tod ist mein Tod, Sein Leben ist mein Leben. Jetzt ist,
Gott sei Dank, alles vorübergegangen. Das Werk ist vollbracht; die zuckenden Blitze des Zornes haben in Christo
mich getroffen, und die schweren Gewitter eines ewigen Gerichts sind .für immer vorübergezogen. Auf die Frage des bekümmerten Sklaven: „Wer wird mich retten von diesem Leibe
des Todes?" drängt sich aus dem wonneerfüllten Herzen des
Befreiten die Antwort: „Ich danke Gott durch Jesum Christum,
unseren Herrn." (Röm 7, 24.)
Könnte nach solchen Erfahrungen wohl noch jemand wagen
zu behaupten, daß das Gesetz, das nichts anderes als den Tod
zu bringen vermochte, noch irgendwelche Ansprüche auf das
neue Leben eines Gläubigen habe? Es ist kaum denkbar. Ist
das alte Verhältnis durch den Tod Christi so vollständig zerstört, daß ich „eines anderen, des aus den Toten auferstandenen" geworden bin, wie könnte ich dann noch in irgendwelcher
Verbindung sein mit einer Sache, die mich verurteilt, verworfen und getötet hat? Und dennoch gibt es viele Seelen, die
118
zwar einräumen, daß das Leben nicht durch das Gesetz zu
erlangen sei, die aber zugleich behaupten, daß das Gesetz
für den Gläubigen die Regel und Richtschnur seines Lebens
bilden müsse. Sie machen sogar die Liebe des Herrn zu einem
Gesetz für sich; sie erkennen diese Liebe, geoffenbart in
Seinem Werke auf dem Kreuze, völlig an und erblicken in
dieser Liebe die gerechten Ansprüche Christi auf eine vollkommene Gegenliebe, die sie in ihrem Herzen vergeblich
suchen. Sie sollen Ihn von ganzem Herzen lieben; aber sie
entdecken in sich das Gegenteil. Sie sind mit sich, mit ihrer
Liebe beschäftigt, aber keineswegs mit der Liebe Christi. Obwohl sie behaupten, vom Gesetz befreit zu sein, stellen sie
sich unter ein Gesetz, welches Liebe fordert, aber keine darreicht. Sie geben dem Gesetz nur eine neue Form, bekleidet
mit dem Namen Christi, und machen sich, mit einem Wort,
Christus selbst zum Gesetz. Ach! wie schwer wird es dem
törichten Herzen „fest zu stehen in der Freiheit, für die Christus uns freigemacht hat!" (Gal 5, 1.) Hat denn etwa das
Gesetz, das den Sünder verurteilt und tötet, seinen Charakter
verändert, wenn der Gläubige mit ihm in Berührung kommt?
Der Apostel gibt uns auf diese Frage eine bestimmte Antwort, wenn er, abgesehen von dem persönlichen Zustande
dessen, der sich das Joch des Gesetzes auferlegt, den Galatern
zuruft: „So viele aus Gesetzes Werken sind, sind unter dem
Fluche." Das ist genug, um zu zeigen, daß, wenn die Gnade
Gottes den Menschen nicht aus dem Bereich des Gesetzes
führen konnte, sie ihm auch nicht außerhalb der Grenzen des
Fluches einen Platz anweisen konnte. Befindet sich der Christ
noch in etwa unter dem Gesetz, so ist er auch unleugbar dem
Fluche des Gesetzes ausgesetzt. Vermengt man das Gesetz mit
Gnade, raubt man ihm die göttliche Vollkommenheit, Reinheit und Unbeugsamkeit; man stellt dadurch die Gerechtigkeit Gottes in Frage, und man leugnet die Fülle der bedingungslosen, unumschränkten Gnade. Sicher wird ohne Unterschied jeder, der sich das Gesetz zum Führer wählt, auch den
vollen Schlag seines zweischneidigen Richtschwertes fühlen
müssen. O welch ein Glück daher, daß nicht die Gedanken und
Anschauungen eines eigengerechten Herzens, sondern die untrüglichen Worte Gottes auch in dieser Frage den Ausschlag
119
geben! „Christus hat uns losgekauft vom Fluche des Gesetzes,
indem er ein Fluch für uns geworden ist." (Gal 3, 13.) „Als
er ausgetilgt die uns entgegenstehende Handschrift in Satzungen, die wider uns war, hat er sie auch aus der Mitte
weggenommen, indem er sie an das Kreuz nagelte." (Kol 2,
14.) Schöpfen wir daher ununterbrochen aus dieser lauteren,
unvermischten Quelle, dann werden wir nicht irregehen!
Im 15. Kapitel der Apostelgeschichte sehen wir, wie der Heilige
Geist dem Versuch der jüdischen Gesetzeslehrer, den heidnischen Gläubigen das Gesetz als Regel und Richtschnur ihres
Lebens aufzudrängen, mit großer Entschiedenheit entgegentritt. „Man muß sie beschneiden und ihnen gebieten, daß sie
das Gesetz Moses halten" rufen die Pharisäer. Aber in der
Kraft des Heiligen Geistes und mit einer bewundernswürdigen Einstimmigkeit bekämpfen die Apostel dieses Ansinnen,
indem sie sagen: „was versuchet ihr Gott, um ein Joch auf
den Hals der Jünger zu legen, das weder unsere Väter, noch
wir zu tragen vermochten." (Apg 15, 10.) Und Petrus fügt
hinzu: „Brüder! Ihr wisset, daß Gott vor längerer Zeit mich
unter euch auserwählt hat, daß die Nationen durch meinen
Mund das Wort des Evangeliums hören und glauben sollten."
(Apg 15, 7.) — Wie bestimmt und deutlich sind diese göttlichen Aussprüche! Nein, sicher wollte Gott nicht „ein Joch
auf den Hals" derer legen, deren Herzen durch das Wort des
Evangeliums Frieden gefunden hatten; im Gegenteil läßt Er
durch den Mund jenes treuen Apostels, der einst in betreff
des Gesetzes tadellos gewandelt hatte, (Phil 3, 6.) die Gläubigen auffordern, festzustehen „in der Freiheit Christi und
sich nicht wiederum unter einem Joche der Knechtschaft halten zu lassen." Wie hätte er sie auch wieder führen können zu
dem in „Dunkel, Finsternis und Sturm gehüllten Berge, der
betastet werden konnte", nachdem der Lichtglanz der Gnade
in ihre Herzen geleuchtet hatte? Sowohl die Juden, die unter
dem Gesetz waren, als auch die Heiden, die ohne Gesetz gewesen waren, alle waren durch dieselbe Gnade „errettet" worden; (Apg 15, 11.) Alle „standen" in der Gnade (Röm 5, 2;
Gal 5, 1.) und alle sollten „wachsen" in der Gnade. (2. Petr
3, 18.) Nirgends wird im Neuen Testament das Gesetz als
Lebensregel für die Gläubigen aufgestellt; sie hören und glau120
ben dem Wort des Evangeliums und werden aufgefordert,
„würdig des Evangeliums des Christus" zu wandeln. (Phil 1,
27.) Wer daher sowohl jetzt wie ehedem den Hals der Jünger
unter das Joch des Gesetzes zu beugen trachtet, erschüttert,
gleich jenen Pharisäern, die Fundamente des christlichen Glaubens, und versucht Gott. „Ich wollte, daß sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln", ruft der Apostel im Ton gerechten Unwillens; und sein durch den Heiligen Geist geleitetes Verhalten gegen die Gesetzeslehre stellt es klar ins Licht,
welch ein Greuel die Gesetzlichkeit in den Augen Gottes ist.
Sind Seine Gedanken etwa verändert? Gelten Seine Aussprüche
nicht mehr für unsere Tage? Versuchen wir Ihn nicht, wenn
wir den Seelen das Gesetz aufzubürden trachten? Beantworten wir im Lichte der Gegenwart Gottes diese Fragen, und
vergessen wir nicht, „daß alles, was das Gesetz sagt, es denen
sagt, die unter dem Gesetz sind", (Röm 3, 19.) daß aber,
als Gott die Botschaft des Heils durch das Blut des Lammes
vor das Ohr derer brachte, die „unter dem Himmel sind",
nicht die Flüche des Gesetzes, sondern die süßen, lieblichen
Worte der freien, unumschränkten Gnade von Seinen Lippen
ertönten. —
Dem Leser wird es daher einleuchten, daß das Gesetz weder
für den Sünder das Fundament ist, noch für den Gläubigen
die Richtschnur des Lebens. Aber, gottlob, sowohl das eine
wie das andere erblicken wir in Christo. Er ist unser Leben
und die Richtschnur unseres Lebens. Wie wir gesehen haben,
kann das Gesetz nur verfluchen und töten; aber Christus ist
unser Leben und unsere Gerechtigkeit. Als ein Fluch für uns
hing Er am Kreuze. Er stieg hinab bis zu der finsteren Stätte,
wo der gefangene, ohnmächtige und fluchwürdige Sünder lag
— hinab zu dem Platz des Todes und des Gerichts; und nachdem Er uns durch Seinen Tod von allem, was wider uns war,
befreit hat, ist Er für alle, die an Seinen Namen glauben, in
der Auferstehung die Quelle des Lebens und das Fundament
der Gerechtigkeit geworden. Weil wir nun aber in dieser
Weise in Ihm das Leben und die Gerechtigkeit besitzen, so
sollen wir auch wandeln, nicht wie das Gesetz vorschreibt,
sondern „wie er gewandelt hat". (1. Joh 2, 6.) Eine genaue Beobachtung der zehn Gebote würde sicher noch kein Wandeln
121
sein, wie Er gewandelt hat. Man würde in diesem Falle zwar
nicht „töten", nicht „stehlen", oder ähnliche Verbrechen begehen; aber daß man den Feind speisen, kleiden und segnen,
und das Herz des Beleidigers durch Wohltun erfreuen soll,
das gehört nicht zu den Vorschriften des Gesetzes.
Aber wie? wenn ich die Vorschriften des Gesetzes nicht erfüllen konnte, wie kann ich dann den weit höher gestellten Forderungen des Evangeliums nachkommen? — Weil ich, unter
dem Gesetz stehend, mit etwas verbunden war, das die in
mir schlummernde Sünde lebendig machte und mich verurteilte und tötete, während ich jetzt einem anderen angehöre,
der mein Leben und meine Gerechtigkeit ist und mich durch
die Gnade in der Kraft des Heiligen Geistes befähigt, Gott
Frucht bringen zu können. „Denn die Sünde wird nicht über
euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern
unter Gnade." Ich bin mit Ihm verbunden, der das Gesetz
vollkommen erfüllt hat und der des Gesetzes Ende ist. Das
Gesetz fordert Kraft von dem, der keine besitzt, und verflucht,
wenn er keine beweist, während das Evangelium Kraft darreicht dem, der keine besitzt und ihn segnet in der Ausübung
dieser Kraft. Das Gesetz bietet einem der Sünde unterworfenen
Sklaven das Leben als die Frucht des Gehorsams, während die
Gnade die Sklavenketten löst und das Leben als das einzige,
wahrhaftige Fundament des Gehorsams im voraus darreicht.
Was das Gesetz als Ziel bezeichnet, das ist in der Gnade der
Auslaufpunkt.
Wenn daher eine Seele ihren gänzlich hilflosen Zustand erkannt und die Überzeugung erlangt hat, daß sie die Gerechtigkeit des Gesetzes niemals erfüllen kann, so offenbart ihr Gott
die vollkommene Befreiung vom Gesetz. Mit dankerfülltem
Herzen erkennt sie, daß das Werk Christi für sie vollbracht
ist, und daß sie zufolge dieses Werkes in eine gänzlich neue
Stellung, in Verbindung mit dem auferstandenen Christus
gebracht ist, um Gott Frucht zu tragen. Sie kann triumphierend
sagen: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu
hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes;
denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch
kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in der
Gleichheit des Fleisches der Sünde und (als Opfer) für dieSün122
de sendend, die Sünde im Fleische verurteilte." (Röm 8, 2. 3.)
Der Mensch hat das Gesetz der Sünde in seinen Gliedern
durch das Gesetz kennengelernt; er hat die Sünde in sich
gesehen und gehaßt, konnte sich jedoch nicht von ihr befreien.
Aber jetzt, gläubig geworden an Christum, befindet er sich
nicht nur in der Stellung eines Befreiten, sondern in Christo
ist ihm auch die Kraft, dieser neuen Stellung gemäß zu leben,
zuteilgeworden. Zwar ist das Fleisch noch vorhanden und
nichts hat dessen böse Natur verändert; aber die Stellung der
Gläubigen vor Gott ist „nicht mehr im Fleische, sondern im
Geiste"; und an sie ergeht jetzt die Mahnung: „Wandelt im
Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen." (Gal 5, 16.) Eine Seele unter dem Gesetz weiß, daß sie
Gott und den Nächsten lieben soll von ganzem Herzen und
aus allen Kräften; aber das Gesetz wirkt keine Liebe, sondern
Zorn, und enthüllt den Haß und die Feinschaft des Herzens
gegen Gott und den Nächsten. „Die Gesinnung des Fleisches
ist Feindschaft gegen Gott; denn sie ist dem Gesetz Gottes
nicht Untertan; denn sie vermag es auch nicht." (Röm 8, 7.)
Wie ganz anders aber ist es, wenn die lieblichen Töne der
Gnade das Ohr des Sünders berühren und durch Glauben
Aufnahme im Herzen finden. Dann fühlt sich die Seele in
betreff der Gerechtigkeit in vollkommenem Frieden, weil sie
weiß, daß Gott, anstatt zu verdammen, etwas getan hat, was
das Gesetz nie tun konnte; dann sieht sie sich in Verbindung
mit Ihm, der die Liebe ist, und der, weil Er diese Seine Liebe
durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen hat,
ihr auch die Fähigkeit verliehen hat, Liebe üben zu können.
„Wer aber den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. So ist
nun die Liebe die Summe des Gesetzes." (Röm 13, 8. 10.;
vergl. Gal 5, 14. 22. 23.) Wie tief betrübt daher auch ein aufrichtiger Christ über die Wirkung der Sünde in seinem Fleische sein mag, so weiß er doch, daß Christus für seine Sünde
gestorben ist und daß in Ihm die Gerechtigkeit ihre völlige
Befriedigung gefunden hat. Er tritt mit Freimütigkeit in die
Gegenwart Gottes; denn er hat die Gewißheit, daß für alles,
was in Gottes Gegenwart Sünde ist, sich in Christo ein vollgültiges Schlachtopfer gefunden hat. Und weil er sich in einer
unauflöslichen Verbindung mit Christo, dem wahrhaftigen
123
Menschen, befindet, so besitzt er ein Leben, das fähig ist, für
Gott Frucht tragen zu können. Nur in der Gemeinschaft mit
Gott kann dies verwirklicht werden. Unter dem Gesetz und
mit dem Bewußtsein der Sünde war diese Gemeinschaft unmöglich und darum war keine Kraft zur Heiligung da. Die
durch das Gesetz bewirkte Furcht konnte ihn wohl zu verzweifelten Anstrengungen drängen; aber sie befähigte ihn zu
keinem guten Werk. Jetzt aber, nachdem das Gewissen gereinigt und die Liebe Gottes in sein Herz ausgegossen ist,
treibt ihn nicht gesetzliche Furcht zur Vollbringung toter
Werke. Jetzt ist die Liebe, gewirkt durch den in ihm wohnenden Heiligen Geist, die Quelle und Triebfeder seiner Handlungen. Die Verbindung mit dem über den alten Menschen
herrschenden Gesetz der Sünde und des Todes ist, und zwar
durch den Tod, göttlich aufgelöst; ein neues, unauflösliches
Verhältnis mit Christo ist durch die Gnade hergestellt; und
jede Seele, die sich in dieser neuen Verbindung befindet, sieht
vor ihren Blicken die mächtigen Züge des Charakters Gottes
enthüllt, die geeignet sind, das eisige Herz zu zerschmelzen
und die Seele zu ungefärbter Liebe und aufrichtiger Anbetung zu erheben.
Wir sehen also, wie himmelweit verschieden der Charakter des
Gesetzes von dem der Gnade ist. Das Gesetz herrscht über
den alten, die Gnade über den neuen Menschen; das Gesetz
verflucht, verurteilt und tötet, die Gnade segnet, vergibt und
macht lebendig; das Gesetz wirkt Zorn und Feindschaft, die
Gnade Frieden und Liebe. Wo finden sich unter diesen beiden
Grundsätzen Anknüpfungspunkte, die ihre Vermengung zulassen könnten? Gott hat jedem Grundsatz seinen besonderen
Platz angewiesen. Möge Er uns bewahren, damit wir diese
Wahrheit durch unsere Gedanken nicht verwirren! Möge Er
einen jeden der Seinigen verstehen lassen, daß das auf Golgatha vollbrachte Werk Christi die einzige Ursache der Vergebung unserer Sünden, das einzige Mittel zur Verurteilung
der in unserem Fleisch wohnenden Sünde, und der einzige
Weg zur Befreiung von dem Gesetz des Todes und der Sünde
ist! Ja, das Kreuz Christi allein scheidet den Gläubigen von
allem, womit er als Sünder in Verbindung war: — von seinen
Vergehungen und ihren Folgen, von der Sünde und ihrer
124
Macht, vom Gesetz und seinem Fluch, von der Welt und ihrer
Lust, von der Gewalt Satans und der Macht der Finsternis.
Nur im Licht dieser Erkenntnis werden wir uns nicht durch
das Gesetz zu einem Wirken drängen lassen, um dadurch das
Leben und die Gerechtigkeit zu erlangen, sondern wir werden
Gott Frucht tragen, weil wir durch die Gnade bereits das
Leben und die Gerechtigkeit empfangen haben.
5.
Schließlich möchte ich noch verschiedene Arten von Hindernissen des Glaubens bezeichnen, durch die in unseren Tagen
so viele Seelen aufgehalten werden, zum Frieden zu gelangen
oder sich des Friedens dauernd zu erfreuen. Obwohl sie über
ihren verlorenen Zustand wirklich beunruhigt und zugleich
überzeugt sind, daß nur in Christo das Heil ist, quälen sie
sich fort und fort mit der Frage, ob auch für sie dies Heil
da sei. Sie bedenken nicht, daß nur der Unglaube ihres Herzens solche Fragen erhebt; und daß, während sie bisher den
Herrn durch ihr Fortleben in der Sünde verunehrten, sie Ihm
jetzt durch ihren Unglauben den Rücken wenden. Wenn, mein
lieber Leser, auch Du der Zahl dieser Seelen angehörst, so bedenke doch, daß „der Sohn des Menschen gekommen ist, zu
suchen und zu erretten, was verloren ist"; (Lk 19, 10.) und
daß Er nirgends eine Ausnahme gemacht und nirgends festgestellt hat, etliche Verlorene nicht suchen und erretten zu
wollen. Vielmehr richtet Er durch den Mund des Apostels die
Bitte an alle Menschen: „Laßt euch versöhnen mit Gott."
(2. Kor 5, 20.) Welch eine erbarmende Liebe! Nicht genug,
daß Er die Versöhnung des Sünders mit Gott vollbracht hat;
Er fordert auch noch den Sünder dringend auf, diese Versöhnung anzunehmen. Könnte eine solche Liebe etwa dem Gedanken Raum geben, daß sie Dich übergangen habe? Und
hat der Herr selbst nicht in den Tagen Seines Fleisches gesagt: „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen! und ich werde euch Ruhe geben?" (Mt 11, 28.) Und
wenn nun alle Mühseligen und alle Beladenen eingeladen sind,.
bist Du dann ausgeschlossen? Ach! möchtest Du Dich doch
Deines Unglaubens schämen und Seiner beharrlich Dich bittenden und einladenden Liebe mit völligem Vertrauen entge125
genkommen! Er starb für Dich und lebt für Dich; darum
glaube und gehe hin in Frieden!
Vielleicht aber drängt Dich Dein ungläubiges Herz zu dem
Einwand: „Ich weiß nicht, ob ich mühselig und beladen genug
bin, ob ich meinen verlorenen Zustand tief genug fühle, und
ob meine Buße von rechter Art ist." Ja, das ist ein Berg, vor
dem manche Seelen oft lange Jahre haltmachen und sich
nutzlos abmühen. Doch beantworte mir folgende Fragen:
Weißt Du etwa, wie tief und gründlich das Gefühl über Deinen verlorenen Zustand sein muß? Hat der Herr irgendwo
in Seinem Worte ein bestimmtes Maß davon angegeben? Und
hat Er die Erlösung, die er auf dem Kreuz schon längst vollbracht hat, von der Tiefe und Größe Deines Sündengefühls
abhängig gemacht? Sicher, Du wirst auf diese Fragen keine
Antwort zu geben wissen; aber warum quälst Du Dich denn
mit diesen nutzlosen Gedanken? Du weißt, daß Du ein gottloser und verlorener Sünder bist, und daß, wenn in diesem
Augenblick der Tod Dich ereilen sollte, die ewige Verdammnis Dein Los sein würde. Ist das für Dich nicht hinreichend,
um mit Furcht und Schrecken an Dein Ende zu denken? Die
Schrift sagt einfach und bestimmt, daß Gott die Gottlosen
rechtfertigt, und daß Christus sucht und errettet, was verloren ist. Wird hier etwa noch hinzugefügt, daß dieses unsererseits durch ein bestimmtes Maß der Erkenntnis und des
Gefühls unserer Sünde bedingt sei? Wenn aber nicht, warum
fügst Du denn solche Gedanken hinzu? Ach! Du verschließest
nur dadurch Dein Herz gegen eine völlige, unumschränkte
Gnade Gottes und beraubst Dich des Friedens mit Gott. „Denn
also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen
Sohn gab, auf daß jeder, (nicht nur solche, die tief genug
ihre Sünden fühlen) der an ihn glaubt, nicht verloren gehe,
sondern ewiges Leben habe." (Joh 3, 16.) Und wiederum:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und
glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und
kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das
Leben hinübergegangen." (Joh 5, 24.) Hier gibt es keine Vorbehalte, und darum stelle auch Du Dir keine in den Weg,
sondern höre und glaube an Ihn, der schon so lange vorher
in Liebe und Gnade an Dich gedacht hat. Nur Sein vollendetes
126
Werk, und nicht die Tiefe Deines Sündengefühls, macht Deine
Errettung sicher und gewiß; und je fester Dein Glaube einzig
und allein auf Seinem Werke ruht, nicht auf Deiner Buße,
desto völliger ist auch der Genuß des Friedens in Deiner
Seele.
Andere suchen dadurch zum Frieden zu gelangen, daß sie
beständig um ein neues Herz bitten; und nicht selten wird
von vielen Seiten diese Bitte empfohlen, während das Wort
Gottes durchaus keinen Anlaß dazu gibt. Nirgends hat der
Herr Jesus Seine Jünger zu einer solchen Bitte aufgefordert.
Wohl verheißt Jehova Seinem Volke Israel nebst künftigen
Segnungen die Hin wegnähme des „steinernen", und die Gabe
eines „neuen Herzens"; (Hes 36, 26.) aber in keiner Stelle der
Schrift wird der Sünder zur Bitte um ein „neues Herz" aufgefordert. Für ihn gibt es kein anderes Rettungsmittel als
den Glauben an den Herrn Jesum Christum. Das war das
Werk, das der Herr den eigengerechten Juden anpries; das
war der Weg, den Paulus dem zitternden Kerkermeister bezeichnete; und das ist der einzige sichere Grund, worauf das
Wort Gottes jeden verlorenen Sünder zu stellen sucht. Das
„neue Herz", wollen wir nun einmal bei diesem Ausdruck
bleiben, ist nichts anderes, als die Frucht des Glaubens oder
das Werk des Heiligen Geistes in der Seele, nachdem wir
gläubig geworden sind; und es ist daher offenbar, daß die
Bitte um ein „neues Herz" den Glauben an Christum, als die
einzige Grundlage unserer Errettung, völlig ausschließt und an
dessen Stelle das Werk des Heiligen Geistes setzt. Ist es da
ein Wunder, daß so viele Seelen bei all ihrem Bitten um ein
neues Herz in steter Unruhe bleiben, während sie zur wahren
Ruhe gelangen würden, wenn sie gemäß der Aufforderung
des Wortes Gottes an Jesum glaubten, der am Kreuz für
Gottlose starb?
Vielleicht sagt Du: „Ich glaube, ja ich glaube alles, was von
dem Werke Christi gesagt ist, und dennoch habe ich keinen
Frieden, sondern gehe stets unter einem geheimen Sündendruck einher/' — Das aber ist kaum möglich, denn wo ein
lebendiger Glaube an Christum ist, da ist keine Unruhe, kein
Druck der Sünde mehr. „Wer an ihn glaubt, der ist gerechtfertigt" und hat das „ewige Leben". „Da wir nun gerechtfer127
tigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit
Gott." Und wie könnte da, wo ewiges Leben ist, die Errettung
eine ungewisse Sache sein? Glaubst Du aber in Wirklichkeit
an Christum, während noch Dein Herz von Furcht und Unruhe gefoltert wird, so verrät das sicher Unwissenheit über
das Werk, wie auch über die Person Christi, der an unserer
statt unter dem Gericht und dem Fluch war und unser Bürge
und Stellvertreter geworden ist. Sein Opfer ist die Versöhnung für unsere Sünden, und Er wurde zur Sünde gemacht,
„auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm." Wie kannst
Du nun dies alles glauben, ohne Frieden zu haben? Doch
erlaube mir einige Fragen. Hast Du wohl je eine Zeit erlebt,
wo Du von Deinem verlorenen Zustande sicher überzeugt
warst, und wo Du erkanntest, daß beim Ausscheiden aus
dieser Welt die ewige Verdammnis Dein unausbleibliches Los
sein werde? Und hast Du in diesem Zustand Deine Zuflucht
zu Jesu genommen? Bist Du zu jener Zeit an Seinen Namen
gläubig geworden? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt
alles ab; denn man begegnet in unseren Tagen nicht selten
einer natürlichen Erkenntnis des Werkes Christi, einem bloßen
Fürwahrhalten, so wie man auch andere Dinge glaubt, die mit
uns in keiner weiteren Verbindung stehen. Ist dies aber der
Fall, so kann allerdings von keinem Frieden, von keinem Leben die Rede sein. Der wahre Glaube ist die feste und lebendige Überzeugung von dem Werk Christi in dem Herzen
eines verlorenen Sünders. Deine Unruhe kann daher entweder in dem Mangel der Erkenntnis des Werkes Christi, oder
in dem Mangel eines wirklichen Glaubens an dieses Werk
ihre Quelle haben. Der Herr ladet alle Mühseligen und Beladenen ein, um ihnen Ruhe zu geben. Eile daher zu Ihm,
wie Du bist, vertraue Dich Ihm und Seinem vollbrachten Werke
mit ganzer Seele an, und Du wirst sicher nicht länger unter
einem geheimen Sündendruck einhergehen.
Ferner begegnet man nicht selten solchen Gläubigen, die der
Meinung Raum geben, als ob es die weise Absicht Gottes
sei, uns zu Zeiten in Ungewißheit kommen zu lassen, damit
das Herz nicht zu sicher, sondern vielmehr in Demut erhalten
werde. Jedoch möchte ich den Seelen zu bedenken geben, daß
nur der Glaube es ist, der Gott die Ehre gibt und die Ohn128
macht des Menschen bekundet. Und das ist die wahre Demut,
hervorgegangen aus der Gewißheit des Glaubens. Abraham
„zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben,
sondern wurde gestärkt im Glauben, Gott die Ehre gebend!"
(Röm 4, 20.) Meine Ungewißheit aber verrät den Unglauben
meines Herzens, ich zweifle dann an der Wahrheit des untrüglichen Wortes Gottes und des vollbrachten Werkes Christi; und sicher wird dadurch der Herr nicht verherrlicht. Sollte
nun die Verunehrung Gottes das Mittel sein, wodurch mein
Herz in der Demut erhalten bliebe? Und sollte es mich hochmütig machen, wenn ich in betreff der Genugtuung des Opfers Christi völlig gewiß bin und mit völliger Zuversicht in
der Liebe und Gnade Gottes meine Ruhe finde? Nimmermehr.
Der Hochmut sucht und findet, etwas in dem Menschen,
dessen er sich rühmt, während ein demütiges Herz gänzlich
von sich absieht und seinen ganzen Ruhm in Gott findet,
über dessen Gnade es sich in völliger Gewißheit befindet.
Und wenn der Heilige Geist durch das Wort stets bemüht ist,
uns im Glauben zu ermuntern und zu befestigen, ist es dann
nicht eine große Vermessenheit, die Ungewißheit als ein Mittel zur Demut und zur Abhängigkeit von Gott zu bezeichnen?
Ach! hinter so falschen Aufstellungen verbirgt sich nur der
Unglaube unserer armen Herzen. Wahrlich, mein Leser, je
mehr Du der Liebe und der Gnade Gottes versichert bist, desto
mehr wirst Du in Demut niedersinken und Den anbeten, der
durch Sein eigenes Blut alle Deine Sünden abgewaschen hat.
Auch wagen es sogar etliche, zur Rechtfertigung ihres Unglaubens die Worte des Apostels anzuführen: „Der Glaube ist
nicht aller Teil." (2. Thess 3, 2.) Man sollte es kaum für
möglich halten, daß Seelen, die sich Gläubige nennen und
durch diesen Namen ihren Charakter bezeichnen, es wagen
würden, durch eine falsche Anwendung dieser Stelle dem Unglauben das Wort zu reden. Wir lesen in dem vorhergehenden
Vers: „Übrigens, Brüder, betet für uns, daß das Wort des
Herrn laufe und verherrlicht werde, wie auch bei euch, und
daß wir errettet werden von den schlechten und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht aller Teil." (V. 1. 2.) Gibt
uns nun diese Stelle Anlaß, anzunehmen, daß der Glaube nur
129
ein Vorrecht einiger und nicht aller Gläubigen sei? Oder will
sich der Gläubige mit jenen unvernünftigen und bösen Menschen auf ein und denselben Boden stellen? Nur der Feind
deutet in solcher Weise das Wort Gottes; und das ungläubige
Herz ist geneigt, seinen Deutungen Glauben zu schenken.
Eine solche Erklärung aber würde mit der ganzen Heiligen
Schrift im Widerspruch stehen; denn zu jeder Zeit gilt hier
das ernste Wort: „Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott
wohlzugefallen." (Hebr 11, 6.)
Viele Gläubige werden auch oft dadurch beunruhigt, daß sie
ihre Errettung von ihren Gefühlen abhängig machen. Ihr
Blick ruht nicht einzig und allein auf dem vollbrachten Werke
Christi, sondern zugleich auf dem, was in ihnen vorgeht. Aber
da unsere Gefühle einem steten Wechsel ausgesetzt sind, ist
selbstverständlich der auf ihnen ruhende Friede nicht weniger
unbeständig und schwankend. Der Glaube aber ist nie auf
das gerichtet, was in uns, sondern nur auf das, was außer
uns liegt, auf das Werk Christi. Alles, was Christus für uns
vollbracht hat, ist unser Teil, und nicht das, was wir davon
erkennen oder fühlen. Wir sind versöhnt, weil Christus uns
versöhnt hat; wir haben Frieden mit Gott, weil Christus ihn
gemacht hat; und dies alles in so vollkommenem Maße, wie
sein vergossenes Blut vor Gott geschätzt wird. Christus und
Sein Werk sind vor Gott der Maßstab unserer Errettung und
aller unserer Segnungen. Wir mögen wenig davon genießen,
weil unser Glaube und unsere Erkenntnis schwach sind; aber
wir verunehren Christum und Sein Werk, wenn wir dessen
Fülle und Tragweite nach unserem Genuß abmessen. Je mehr
dagegen unser Glaube auf Ihm und seinem Werke ruht, um
so mehr erkennen und genießen wir die unergründlichen
Ströme der Liebe und Gnade Gottes, und soviel mehr wird
unser Herz, erfüllt mit Friede und Freude, Seinem Namen
Lob, Ehre und Anbetung darbringen, während wir, wenn wir
in unseren Gefühlen ruhen, einer Meereswoge gleichen, die
vom Winde bewegt und hin und her getrieben wird. (Jak 1,6.)
Ähnliche Erscheinungen gewahren wir bei solchen, die deshalb an ihrer Errettung zweifeln, weil sie nicht wandeln, wie
sie wandeln sollten. Allerdings soll man den Baum an seiner
130
Frucht erkennen; keineswegs aber die Gewißheit der Errettung von einem guten Wandel abhängig machen. Solange
der Seele die Gewißheit der Errettung folgt, ist kein guter
Wandel denkbar, weil er nur aus dieser Gewißheit durch die
Kraft des Heiligen Geistes hervorgehen kann. Unser Wandel,
wie sehr auch der Genuß unserer Segnungen von ihm abhängig ist, wird stets unvollkommen sein, weil das Wesen,
durch das der Wandel ausgeübt wird, unvollkommen ist; aber
die Errettung ist vollkommen, weil sie das Werk Christi ist.
Christus hat sie bereits auf Golgatha vollbracht, als ich noch
ein gottloser und verlorener Sünder und ein Feind Gottes
war. Er hat weder auf meinen guten Wandel gewartet, noch
meine Errettung irgendwie davon abhängig gemacht. Wir können, mit einem Worte gesagt, uns nicht vertraut genug mit
dem Gedanken machen, daß die Errettung außer uns in Christo
vollbracht ist, und daß sie für alle, die an Ihn glauben, eine
vollendete Tatsache ist. Wer an Ihn glaubt, der ist gerettet
und hat das ewige Leben. Und je völliger durch den Glauben
die Gewißheit meiner Errettung ist, desto mehr bin ich fähig,
Gott durch einen würdigen Wandel zu verherrlichen. Je mehr
ich aber auf meinen Wandel blicke, um darin die Gewißheit
meiner Errettung zu erkennen, desto ungewisser und mithin
auch desto unfähiger werde ich zu einem Gott wohlgefälligen
Wandel sein.
Schließlich mache ich noch auf solche Seelen aufmerksam, die
ihren Glauben an die Stelle Christi setzen, die, mit anderen
Worten, statt Christum den Glauben suchen, um diesen zu ihrem
Erretter zu machen. Sie sind von allem, was man ihnen auch
über Christum und Sein Werk reden mag, völlig überzeugt;
aber ihr letztes Wort bleibt immer: „Wenn ich nur glauben
könnte!" Nach ihrer Meinung ist der Glaube ein Werk, durch
das sie die Errettung zu erlangen hoffen, und nicht einfach ein
Mittel, um die durch Christum vollbrachte Errettung zu ergreifen. Würden sie aber dies erkennen, dann würden sie auch
verstehen, daß gerade ihr Glaube sich in ihrer ausgesprochenen Überzeugung von Christo und Seinem Werke kund gibt.
Würde nicht die Torheit eines Menschen offenkundig sein,
der bezüglich einer irdischen Schuld die Worte sagte: „Ich bin
völlig überzeugt, daß diese Schuld bezahlt ist, wenn ich es nur
131
glauben könnte"? „Der Glaube ist eine Überzeugung von
Dingen, die man nicht sieht." (Hebr 11, 1.) Christus ist die
uns verliehene Gabe Gottes; der Glaube ist die Hand, die diese
Gabe empfängt. Christus hat auf dem Kreuz unsere Sünden
getilgt und unsere Erlösung vollbracht; der Glaube erkennt
dieses und läßt uns diese Tatsachen genießen. Christus ist
unser Stellvertreter auf dem Kreuze, sowie unsere Rechtfertigung und unser Leben in der Auferstehung; der Glaube
erfaßt Ihn als solchen und macht das Resultat davon für uns
zur Wirklichkeit.
O, möchten daher alle meine Leser, die geneigt sind, auf sich
selbst, auf ihre Gefühle, oder auf ihren Glauben zu blicken,
doch zu der Überzeugung kommen, daß sie auf diesem Wege
nie zu einem dauernden Frieden, zu einem würdigen Wandel
und einem anhaltenden Lobe des Herrn gelangen werden,
während sie dieses Ziel sicher, wenn auch in Schwachheit erreichen werden, wenn ihr Auge unverrückt auf Christum und
Sein vollendetes Werk gerichtet bleibt. Möge der Herr deshalb durch Seine Gnade in uns wirken, damit wir, wachsam
und nüchtern zum Gebet, allezeit im Glauben beharren und
Seinen Namen verherrlichen!
Wir sind dem Gesetz gestorben
„Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß
ich Gott lebe." (Gal 2, 19.) Dies ist besonders in unseren
Tagen ein höchst wichtiges Wort. Die geistliche Anwendung
der hierdurch vorgestellten Wahrheit wird die Seele vor zwei
Irrtümern bewahren, nämlich einerseits vor dem Geist der
Gesetzlichkeit und andererseits vor dem Geist der Gesetzlosigkeit. Wenn ich diese beiden Übel miteinander vergleiche, oder
wenn ich gezwungen wäre, eins vor beiden zu wählen, so würde
ich ohne Zweifel dem Geist der Gesetzlichkeit den Vorzug geben.
Ich sehe weit lieber einen Menschen unter der Autorität des
Gesetzes Mose, als jemanden, der in Gesetzlosigkeit und
Leichtfertigkeit dahinlebt. Wohl weiß ich, daß das Gesetz unerfüllbare Forderungen an den in Sünden toten Menschen
132
stellt und nichts als Fluch und Verdammnis in seinem Schöße
birgt; ich weiß auch, daß es mit dem Evangelium der Gnade
in geradem Widerspruche steht; aber nichtsdestoweniger habe
ich mehr Achtung vor einem Menschen, der, da er nicht über
Moses hinauszuschauen vermag, durch Beobachtung des Gesetzes, dessen Autorität er anerkennt, seinen Wandel in dieser Welt zu regeln sucht, als vor einen Menschen, der dieses
Gesetz verachtet, um sich selbst zu gefallen.
Gott sei Dank! die Wahrheit des Evangeliums gibt uns ein
Heilmittel für beide Übel. Aber in welcher Weise? Werde ich
etwa belehrt, daß das Gesetz gestorben sei? Keineswegs. Aber
das Evangelium belehrt mich, daß ich, weil ich an den Herrn
Jesus glaube, gestorben bin. „Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben." Und zu welchem Zweck? Um Gefallen an
mir selbst zu haben? Um meine eigenen Vorteile und Vergnügungen verfolgen zu können? Durchaus nicht, sondern
damit „ich Gott lebe".
Dies ist die Fundamental-Wahrheit des Christentums — eine
Wahrheit, ohne die wir überhaupt nicht wissen, was Christentum ist. In gleichem Sinne finden wir in Röm 7 die Worte:
„Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht
brächten." (V. 4.) Und wiederum: „Jetzt aber sind wir von
dem Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden, so daß wir dienen in dem
Neuen des Geistes und nicht in dem Alten des Buchstabens."
(V. 6.) Merken wir es uns wohl, daß wir dienen und nicht
Gefallen an uns selber haben sollen. Wir sind von dem unerträglichen Joch Moses befreit worden, um das „leichte Joch
Christi" zu tragen, und nicht um unserer Natur freien Lauf
zu lassen.
Die Weise jener Menschen, die sich auf gewisse Grundsätze
des Evangeliums berufen, um dadurch für die Befriedigung
des Fleisches irgend einen Rechtsgrund hervorzuheben, ist für
ein ernstes Gemüt höchst anstößig. Sie bemühen sich, der
Autorität Mose auszuweichen, und zwar nicht, um sich unter
die Autorität Christi zu stellen, sondern bloß um sich und
ihren Begierden zu leben. Eitle Mühe! Dies kann nicht ge133
schehen auf dem Grunde der Wahrheit; denn es ist in der
Schrift nicht gesagt, daß das Gesetz gestorben oder beseitigt,
sondern daß der Gläubige dem Gesetz und der Sünde gestorben sei, damit er die Lieblichkeit eines Lebens für Gott genießen könne, und damit „seine Frucht zur Heiligkeit und sein
Ende ewiges Leben" sei.
Wir legen diesen wichtigen Gegenstand dem Leser dringend
ans Herz. Er wird ihn in Röm 6 und 7, sowie in Gal 3 und 4
gründlich entwickelt finden. Ein richtiges Verständnis dieser
Wahrheit wird uns über tausend Schwierigkeiten hinweghelfen, wird eine Menge Fragen beantworten und uns von zahllosen Irrtümern fernhalten. Möge der Herr Seinem Worte
völlige Macht über unsere Herzen und Gewissen verleihen!
Ein Wort für alle, welche unseren Herrn
Jesum Christum lieben
Wenn wir in der Tat aus Gnaden gerettet sind, so sind wir
alle, unter welchem Namen wir auch bei den Menschen bekannt sein mögen, durch dasselbe kostbare Blut Christi erkauft
worden, das uns von allen unseren Sünden gereinigt hat. Ich
bitte daher jeden gläubigen Leser im Angesichte Gottes, die
folgenden Betrachtungen mit Aufmerksamkeit zu erwägen.
1. Die himmlische Familie bildet eine Einheit. Als von Gott
geboren, haben wir einen Vater, der uns Jesum gegeben und
den Jesus uns geoffenbart hat. Er ist der eine Herr Jesus Christus
— „Gott, geoffenbart im Fleische", „der Eingeborene vom
Vater", „der Erstgeborene unter vielen Brüdern", „der Erstgeborene aus den Toten". Jeder von uns ist in Ihm gestorben
und auferstanden. Ein und derselbe Heilige Geist wohnt in
uns als unser Tröster, unser Erhalter, unser Führer und unser
steter Begleiter während unserer ganzen Reise durch die Wüste.
Und Er, der uns, und zwar „nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und nach der Gnade, die
uns in Christo Jesu gegeben ist vor den Zeiten der Zeitalter,
134
gerettet und mit heiligem Rufe berufen hat", (2. Tim 1, 9)
fordert uns in Seinem Worte dringend auf, „würdig zu wandeln der Berufung, womit wir berufen sind, uns befleißigend,
die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens", indem Er hinzufügt: „Da ist ein Leib und ein Geist, wie
ihr auch berufen werden seid in einer Hoffnung eurer Berufung.
Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der
da ist über alle, und durch alle, und in uns allen." (Eph 4,1—6.)
2. Das Kreuz Christi ist der Sammelplatz aller Heiligen. Der
Herr Jesus gab Sein Leben für uns hin, damit „er die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte". (Joh 11, 52.)
Vor Seinem Hingange betete Er für die Seinigen, „auf daß sie
alle eins seien, gleich wie du, Vater, in mir und ich in dir, auf
daß auch sie in uns eins seien". (Joh 17, 21.) Daß nun diese
erbetene Einheit eine sichtbare Einheit sein sollte, geht klar
aus den hinzugefügten Worten hervor: „Auf daß die Welt
glaube, daß du mich gesandt hast." Die Welt, tot in Sünden
und Vergehungen, ist außerstande, die unsichtbare Einheit der
Kirche zu sehen; denn „der natürliche Mensch nimmt nicht an,
was des Geistes Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit und
er kann es nicht erkennen; weil es geistlich beurteilt wird."
(1. Kor 2, 14.) Nur der Glaube sieht die unsichtbaren Dinge;
und darum muß die vom Herrn erflehte Einheit eine sichtbare
sein. In welchem Widerspruch steht dies mit den Erscheinungen in unseren Tagen, wo der eine sagt: „Ich bin des Paulus"
und der andere: „Ich bin des Apollos" (1. Kor 3, 4.) und wo
sich der eine unter diesem und der andere unter jenem Namen
einer Partei anschließt. Ach, wie betrübend sind solche Dinge
für das Herz unseres gesegneten Herrn. Wie ganz anders waren
die Zustände in jenen Tagen, wo „die Menge derer, die gläubig geworden war, ein Herz und eine Seele war"! (Apg 4, 32.)
Hat Er denn nicht auch uns zu demselben hohen Preis Seines
kostbaren Blutes gekauft; und sollten wir nicht mit demselben
Eifer Seine Wünsche zu erfüllen suchen? Gewiß wird der neue
Mensch in Euch die Frage bejahen und dieser Forderung nachzukommen verlangen. Nun, dann horcht auf die letzte Bitte
eures Herrn, als Er von der Welt schied, und seid eifrig, die
Einheit des Leibes darzustellen.
135
3. Der Heilige Geist ist das Band der Einheit. Aus dem Geiste
geboren, wohnt er in jedem von uns, wir haben einen Geist
empfangen. Er hat uns zu Jesu gebracht. „In einem Geist sind
wir alle zu einem Leibe getauft, es seien Juden oder Griechen,
es seien Sklaven oder Freie; und sind alle mit einem Geist
getränkt worden." (1. Kor 12, 13.) Gerade die Vernachlässigung des wahren Bandes der Einheit hat den gegenwärtigen
traurigen Zustand der Kirche hervorgerufen. — Wir sind gesalbt
als die wahren Söhne Aarons. (3. Mo 8.) Dasselbe kostbare
Salböl, womit der wahre Aaron gesalbt wurde, ist auch unser
Teil geworden, wie geschrieben steht: „Das köstliche ö l auf
dem Haupte, das herabfließt auf den Bart, auf den Bart
Aarons, das herabfließt auf den Saum seiner Kleider." (Ps 133.)
Nachdem das geringste wie das höchste Glied des Leibes dieser
Salbung teilhaftig geworden ist, sind wir berufen, die Wahrheit zu offenbaren, daß wir alle „einen Geist" empfangen
haben, und daß wir „einen Leib" bilden. — „Wisset ihr nicht,
daß ihr Gottes Tempel seid, und daß der Geist Gottes unter
euch wohnt?" (1. Kor 3, 16.)
4. Jede Aufrichtung einer Partei ist Fleischlichkeit und sie zerreißt das Band der Einheit. Wie betrübend ist es, wenn
Christen irgend eine Person oder irgend eine besondere Lehre
oder irgend einen Teil der Wahrheit zu einem Mittelpunkt
wählen, um den sie sich versammeln. Wird nicht Christus dadurch von Seinem Ihm allein gebührenden Platz verdrängt?
„ .. . ihr seid noch fleischlich. Denn da Neid und Streit unter
euch ist, seid ihr nicht fleischlich, und wandelt nach Menschenweise? Denn wenn einer sagt: Ich bin des Paulus; der andere
aber: Ich des Apollos; seid ihr nicht menschlich?" (1. Kor 3,
3. 4.) Ein Glied dieser oder jener Benennung zu sein, steht in
entschiedenem Widerspruch gegen das Wort Gottes; das nur
eine Vereinigung mit dem Leihe Christi anerkennt. „Denn
gleichwie der Leib einer ist und viele Glieder hat, alle Glieder
des Leibes aber, obgleich viele, ein Leib sind, also ist auch der
Christus. Denn auch in einem Geiste sind wir alle zu einem
Leibe getauft worden.. ." (1. Kor 12, 12. 13.) „Denn wir sind
Glieder seines Leibes, von seinem Fleische und von seinen
Gebeinen." (Eph. 5, 30.) Und wiederum: „Denn gleichwie wir
136
in einem Leibe viele Glieder haben, aber die Glieder nicht alle
dieselbe Verrichtung haben, also sind wir die Vielen, ein Leib
in Christo, einzeln aber Glieder von einander"; (Röm 12,4.5.)
„auf daß keine Spaltung in dem Leibe sei". (1. Kor 12, 25.)
5. ]eder Gläubige ist ein Priester. „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum." (1. Petr 2, 9.) Eine
nicht wiedergeborene Person ist, wenn sie auch noch so kenntnisreich ist, nicht ein Priester; nur die Vereinigung mit dem
großen Hohenpriester macht ein Kind Adams zu einem Priester. — Ach! heutzutage wird man belehrt, daß das Priestertum nur solchen angehöre, die, ob sie bekehrt oder unbekehrt
sind, von ihren Mitmenschen dazu bestimmt und ordiniert
seien. Es gehört ja zu den gewöhnlichsten Erscheinungen, daß
Menschen, die tot in Sünden und Vergehungen sind, sich in
das priesterliche Amt hineindrängen. Mögen solche in 4. Mo 16
die traurige Geschichte und das schreckliche Ende der Rotte
Korahs betrachten, die das Priestertum an sich rissen, ohne
Söhne Aarons zu sein. Aber jeder Gläubige ist ein Priester;
denn Christus „hat uns gemacht zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater". (Offb 1, 6.) Wir haben keinen
Menschen nötig, der sich zwischen Gott und uns stellt, sondern
wir sind vielmehr aufgefordert, zu „nahen" und als wahre
Söhne Aarons geistliche Opfer darzubringen. „Durch ihn nun
laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen." (Hebr
13, 15.) Und „da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum
Eintritt in das Heiligtum", so genießen wir das allgemeine
Vorrecht der Heiligen, dort eintreten zu dürfen, wo Aaron nur
einmal im Jahr eintreten durfte, und wo selbst den Söhnen
Aarons der Eintritt verwehrt war. Ja, jetzt, wo der Vorhang
zerrissen ist, sind die „Brüder" zum Eintritt ins Heiligtum, in
den Himmel selbst, berufen, wo ihr großer Hoherpriester bereits eingetreten ist. Dort ist unser Anbetungs-Platz. Aber die
Unterscheidungen zwischen den sogenannten Geistlichen und
den Laien, zwischen den Priestern und dem Volk sind dem
„Neuen Testament" gänzlich fremd. Gerade die Anstrengung,
die Kirche nach dem Muster des Judentums zu bilden, hat den
Grund zu diesem Irrtum gelegt; und leider nur zu oft wird
Moses statt Christus, Gesetz statt Gnade gepredigt. Ach! über137
all begegnet man den Zeichen der letzten Zeit. Man findet die
Form der Gottseligkeit ohne die Kraft. Möchten doch alle
Kinder Gottes ein offenes Ohr haben, um die Worte zu verstehen: „Gehet aus aus ihrer Mitte und sondert euch ab,
spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich werde
euch aufnehmen, und ich werde euch zum Vater sein; und ihr
werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr,
der Allmächtige." (2. Kor 6, 17.)
6. Der Heilige Geist ist der Regierer in der Kirche. Es ist der
hervorstehendste Zug des Abfalls, daß der Mensch sich in der
Kirche die Herrschaft anmaßt. Er zeigt darin den Geist des
Antichristen, der in seinem Hochmut und Eigenwillen den
Platz Gottes einnimmt. Die Kirche steht ganz und gar unter
der Herrschaft des Heiligen Geistes; Er allein ordnet ihre
Angelegenheiten durch Personen, die Er dazu beauftragt und
begabt hat. (Hebr 13, 7. 17; 1. Tim 5, 17; Apg 20, 28.) Es
sind aber verschiedene Gnadengaben, der Heilige Geist teilt
sie aus, wie Er will. (1. Kor 12, 4—31.) Alle Kraft zum Dienen
ist von Gott, sowohl das Predigen des Wortes und das Ermahnen, als auch jede andere Art des Dienstes, sogar das Darreichen eines Bechers Wasser. Einen Menschen in einen solchen
Dienst einführen und ihn gar als den Inhaber aller Gaben
betrachten, findet in dem Worte Gottes keine Anwendung;
denn „dem einen wird durch den Geist das Wort der Weisheit
gegeben, und einem anderen aber das Wort der Erkenntnis
nach demselben Geiste". (1. Kor 12, 8.) Und wiederum: „Da
wir aber verschiedene Gnadengaben haben, nach der uns verliehenen Gnade; es sei Weissagung, so laßt uns weissagen
nach dem Maße des Glaubens." (Röm 12, 6—9.)
7. Menschliche Gelehrsamkeit oder nur natürliche Talente befähigen nicht zum Dienst. Ach] in diesen gefahrvollen Zeiten,
wo man in der augenscheinlichsten Weise den Platz Gottes an
sich reißt, wird der Mensch auf Hochschulen durch Menschen
für diesen Dienst herangebildet und, gleichviel, ob begabt oder
nicht, durch Menschen als Pastor gewählt und eingesetzt. Man
fordert, hinsichtlich der Kenntnisse, ein Zeugnis der Reife und
einen moralischen Lebenswandel; und niemand kann die
Wahlfähigkeit eines in dieser Beziehung genügenden Men138
sehen streitig machen, bei dem man alle Gaben, wie die eines
Hirten, eines Lehrers, eines Evangelisten usw. voraussetzt.
Aber wo lesen wir im Worte Gottes, daß die Herde sich einen
Hirten wählt? Sorgt Gott allein nicht für dies alles? Sich selbst
Lehrer aufhäufen, ist das Zeichen der letzten Tage. (Siehe
2. Tim 4, 3. 5.) Natürlich muß ein so eingesetzter Diener, ob
von Gott begabt oder nicht, durch ein festgesetztes Jahrgehalt
für die Ausübung der Gaben bezahlt werden. Im Fall nun
eine Gabe von Gott vorhanden wäre, ist es dann nicht traurig,
sie für eine jährliche Summe in Tätigkeit zu setzen? Ist die
Gabe aber nicht von Gott, was soll man dann sagen? Geliebte
Brüder! der Herr befähigt uns, jedes Ding auf der Waage des
Heiligtums abzuwiegen. Wenn die Kinder dieser Welt eingeladen werden, um für Geld das Evangelium zu hören, so steht
dies ganz im Widerspruch mit jener Gnade, welche sagt:
„Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebet." (Matthl0,8.)
Ach! auch solche Erscheinungen sind die bitteren Früchte des
faulen Baumes!
8. Der Dienst in Gnade und das Vorrecht derer, die bedient
werden. Aber was soll geschehen, wenn jemand für das Werk
eines Pastors begabt ist, oder für das eines Lehrers, oder
eines Evangelisten? Woher soll er seinen Unterhalt nehmen?
Zunächst und vor allen Dingen hat ein solcher das Beispiel
des Apostels Paulus zu betrachten, den wir sagen hören: „Ich
habe niemandes Silber oder Gold oder Kleidung begehrt. Ihr
selbst wisset, daß meinen Bedürfnissen und denen, die bei
mir waren, diese Hände gedient haben." (Apg 20, 33. 34.)
Er arbeitete nicht nur selbst als Zeltmacher, (Apg 18, 3.)
sondern forderte auch die Ältesten von Ephesus zur Arbeit
ihrer Hände auf. (Apg 20, 35.) Wie wenig stimmt dies
mit den Erscheinungen in unseren Tagen überein! Andererseits aber steht auch geschrieben: „Du sollst dem Ochsen,
der da drischt, nicht das Maul verbinden." „Also hat
auch der Herr denen, die das Evangelium verkündigen
verordnet, vom Evangelium zu leben." (1. Kor. 9, 9. 14.)
Überhaupt wird es nützlich sein, unter Gebet das 9. Kapitel
des 1. Korintherbriefes in Verbindung mit Apg 20, 17—35
und 2. Thess 3, 8, 9 zu lesen, wo der Apostel, wiewohl er das
139
Recht des Arbeiters im Werke des Herrn hervorhebt, sich
selbst dieses Rechtes nicht bedient, „auf daß wir dem Evangelium des Christus kein Hindernis bereiten." „Nicht daß wir
nicht das Recht dazu haben", — sagt er — „sondern auf daß
wir uns selbst euch zum Vorbild gäben, damit ihr uns nachahmet." — Andererseits fühlte er sich sehr erquickt durch die
Beweise der Liebe seitens der Philipper, indem er an sie
schreibt: „Ihr habt wohlgetan, daß ihr an meiner Drangsal
teilgenommen habt. . . Denn auch in Thessalonich habt ihr
mir einmal und zweimal für meine Notdurft gesandt. Nicht
daß ich die Gabe suche, sondern ich suche die Frucht, die
überströmend sei für eure Rechnung." (Phil 4, 14.—17.) Es
mag ein geringer Grad von Liebe unter den Heiligen sein,
wenn sie einen arbeitenden Bruder Mangel leiden sehen; sie
mögen kein Ohr für die Ermahnung des Apostels haben, wenn
er sagt: „Wer in dem Worte unterwiesen wird, teile von allerlei Gutem dem mit, der ihn unterweist", (Gal 6, 6.) und:
„Wenn wir euch das Geistliche gesäet haben; ist es ein Großes, wenn wir euer Fleischliches ernten?" (1. Kor. 9, 11.) —
aber für den Arbeiter selbst ist es ein Vorrecht zu sagen:
„Ich aber habe von keinem dieser Dinge Gebrauch gemacht.
Was ist nun mein Lohn? Daß ich, das Evangelium verkündigend, das Evangelium kostenfrei mache, daß ich mein Recht
am Evangelium nicht gebrauche." „Ich suche nicht das Eure,
sondern euch." (1. Kor. 9, 15.—19; 2. Kor. 12, 14.) Wie deutlich vermag dieser gesegnete Apostel die Gnade Christi darzustellen. Er kann den Ältesten der Versammlung in Ephesus
sagen: „Geben ist seliger, als nehmen", und er kann, erquickt
durch die Liebe der Philipper, ihre Gabe nennen: „einen duftenden Wohlgeruch, ein angenehmes Opfer, Gott wohlgefällig." (Phil 4, 18.)
9. Die Predigt des Evangeliums ist nicht nur das Vorrecht,
sondern auch die Pflicht jedes Heiligen. Und sicher wird die
Liebe Christi, wenn sie in unseren Herzen wirksam ist, uns
dringen, jedes Mittel und jede Gelegenheit zu benutzen, um
Seelen zu gewinnen. Wir sehen uns von Tausenden umringt,
die tot in Sünden und Vergehungen sind, und auf denen der
Zorn Gottes liegt; wir sehen die Stunde herannahen, wo „der
140
Herr Jesus vom Himmel geoffenbart werden wird, mit den
Engeln seiner Macht, in flammendem Feuer, wenn er Vergeltung gibt denen, die Gott nicht kennen, und denen, die dem
Evangelium unseres Herrn Jesu Christi nicht gehorchen." Und
jeder Heilige sollte, nach dem Maße seiner Fähigkeit, Hand
ans Werk legen, oder wenigstens durch Gebet und Flehen
helfen. Das Werk der Evangelisation durch das Geld, das
Ansehen und den Einfluß der Welt fördern zu wollen, ist eine
Verzichtleistung auf die Macht Gottes. Aber wie gesegnet
würde es sein, wenn alle Heiligen in dieser Hinsicht treu ihren
Beruf erfüllten!
10. Kirchliche Versammlungen sind Versammlungen der Heiligen zur gegenseitigen Auferbauung, wo die Brüder in der
Abhängigkeit vom Heiligen Geiste mit ihren verschiedenen
Gaben dienen. „Propheten aber laßt zwei oder drei reden."
(1. Kor. 14, 28.) „Denn ihr könnt einer nach dem anderen
weissagen, auf daß alle lernen und alle getröstet werden."
(V. 31.) „Erbauet einander!" Und wie oft sind die Heiligen,
wenn sie einfach im Namen Jesu und in der Abhängigkeit von
dem Heiligen Geiste versammelt waren, durch irgend ein Lied
oder durch das Lesen irgend eines Schriftabschnitts gesegnet
worden. Mögen auch unbekehrte Menschen zugegen sein, so
bleibt der Gottesdienst der Heiligen dennoch der einzige Zweck
der Versammlung.
11. Das Wort Gottes ist für die Heiligen die einzige Richtschnur, sei es in der Lehre oder im praktischen Wandel. Jedes
für die Kirche notwendige Ding ist dort zu finden. Laßt uns
daher, geliebte Brüder, alles in dem Lichte dieses Wortes
prüfen; alle Dinge, die im Widerspruch mit dem Wort stehen,
sind verwerflich. Finden wir aber, wenn wir als kleine Kinder
das Wort unseres Vaters hören, daß diese Dinge wahr sind,
so laßt uns demgemäß handeln. Der Herr Jesus wird bald
zurückkehren. „Denn noch über ein gar Kleines, und der
Kommende wird kommen und nicht verziehen." Möchten
wir alle dann als solche erfunden werden, die Seinem Worte
treu anhangen! Sicher werden wir dann die süße Einladung
vernehmen: „Wohl, du guter und treuer Knecht! — gehe ein
in die Freude deines Herrn." —
141
Eine gesegnete Mischung
„Das Wort der Verkündigung nützte jenen nicht, weil es bei
denen, die es hörten, nicht mit dem Glauben vermischt war."
(Hebr 4, 2.)
Wir halten es für bedeutsam, die Aufmerksamkeit unserer
Leser auf die Autorität und den Wert des Wortes Gottes
zu richten, und zwar verbunden mit der Wirksamkeit des
Glaubens an dieses Wort. Hier finden menschliche Gedanken,
Gefühle, Urteile, Überlieferungen und Aufstellungen keinen
Platz. Wie könnten wir auch den Seelen der Menschen wirksamer dienen als dadurch, daß wir sie ermuntern, dem lauteren
Worte Gottes einen höheren Wert beizulegen, und es zu betrachten als das, was allein ihrer Überzeugung, ihrem Charakter und Wandel eine göttliche Unerschütterlichkeit und Festigkeit verleihen kann. Es gibt in der ganzen Welt keine kostbarere und nützlichere Mixtur, als die, welche durch die Mischung des Wortes Gottes und des Glaubens entstanden ist.
Viele scheinen ihre Gefühle an den Platz des Glaubens stellen zu wollen. Das ist ein großer Irrtum. Der Apostel spricht
von einer solchen Mischung nicht. Das Wort Gottes ist an und
für sich selbst genügend; wird es einfach geglaubt, so gibt es
dem Herzen Frieden. Wenn ich ihm aber meine Gefühle beimischen müßte, um es wirksam zu machen, so würde ich es
eitel und ungültig machen.
Wir wollen ein Beispiel wählen. Gott hat im 1. Buch Mose,
Kapitel 9 erklärt, daß Er die Erde nicht wieder durch eine
Flut verderben werde. Muß ich etwa dieser Erkärung meine
Gefühle beimischen, um mich von ihrer Wahrheit zu vergewissern? Ist sie nicht göttlich genügend, um, wenn sie im
Glauben aufgenommen wird, mein Herz in bezug auf die
Flut in Ruhe zu bringen? Sicherlich. Würde daher der
Regen auch Monate lang in Strömen auf die Erde fallen, so
würde gewiß mein Herz durch keine Befürchtung bezüglich
einer Flut geängstigt werden. Das Wort Gottes aber, das
mir versichert, daß die Erde nicht wieder durch die Flut des
Wassers verderbt werden solle, erklärt mir auch, daß die
142
Erde für das „Feuer behalten" werde. Das eine ist so wahr
wie das andere. Menschliche Gefühle finden dabei keinen
Platz. Das Wort Gottes ist die Autorität für beide Ereignisse;
und dieses Wort braucht nur mit dem „Glauben vermischt" zu
werden, damit es der Seele „nützen" möge.
So verhält es sich mit „jedem Worte, das durch den Mund
Gottes ausgeht." Es muß nur „mit dem Glauben vermischt"
sein. Es bedarf unserer Gefühle nicht, um es wahr zu machen;
es ist| in sich selbst wahr. Jedes Wort Gottes ist wahr; und
der Glaube empfängt es als ein wahrhaftiges Wort. Gefühle
bilden nicht das Fundament des Glaubens. Das Wort Gottes
ist das Fundament; und die Gefühle sind bloß die Frucht.
Gott sagt mir, daß ich ein verlorener Sünder bin, ich glaube
es. Gott sagt mir, daß Christus gekommen ist, einen solchen
zu retten, ich glaube es. Gott sagt mir, daß Christus starb und
am dritten Tage wieder auferstanden ist, ich glaube es. Gott
sagt mir, daß jeder, der glaubt, daß Christus gestorben und
auferstanden ist, das „ewige Leben" habe und „von allem
gerechtfertigt" sei, (Joh 5, 24; Apg 13, 39.) ich glaube es.
Gott sagt mir, daß ich, gerechtfertigt aus Glauben, Frieden
mit Gott habe, (Röm 5, 1.) ich glaube es. Gott sagt mir:
„Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung",
(2. Kor 5, 17.) ich glaube es. Gott sagt mir, daß ich mit Christo gekreuzigt, gestorben, begraben und auferstanden bin,
(Eph 2, 5. 6; Kol 2, 11-13; 3, 1-3.) ich glaube es. Was hätte ich
auch anders zu tun? Soll ich in mein armes, wankendes Herz,
auf meine flüchtigen Gefühle schauen, um etwas ausfindig zu
machen, wodurch das Wort des lebendigen und wahrhaftigen
Gottes bekräftigt, bestätigt und wirksam gemacht werden
könnte? Leider schlagen Tausende diesen traurigen Weg ein;
und darin liegt das Geheimnis des kränkelnden Zustandes,
der bei so vielen Christen vorherrschend ist. Die in Hebr 4, 2
angeordnete Mischung ist sehr herabgeschwächt. Einer der
kostbaren Bestandteile, woraus diese Mischung zusammengesetzt ist, ist beiseite gesetzt, und eine falsche Zutat nimmt
dessen Stelle ein. Das „verkündigte Wort" ist mit „Gefühlen",
anstatt mit dem „Glauben gemischt". — Beachten wir daher
allen Ernstes das Wort des Apostel, wenn er sagt: „Fürchten
wir uns nur, daß nicht etwa, da eine Verheißung, in seine
143
Ruhe einzugehen, hinterlassen ist, jemand von euch zurückgeblieben zu sein scheine. Denn auch uns ist eine gute Botschaft verkündigt worden, gleichwie auch jenen; aber 'das
Wort der Verkündigung nützte jenen nicht, weil es bei denen,
die es hörten, nicht mit dem Glauben vermischt war."
Die Tätigkeiten Christi für Sein Volk
Er gab Sich für ihre Sünden. Gal 1, 4.
Er erweckt sie durch Seine Stimme. Joh 5, 25.
Er versiegelt sie durch Seinen Geist. Eph 1,13.
Er nährt sie durch Sein Fleisch und Blut. Joh 6, 56. 57.
Er reinigt sie durch Sein Wort. Joh 13, 5. Eph 5, 26.
Er erhält sie durch Seine Fürbitte. Röm 8, 34. Hebr. 7, 25.
1. Joh 2,1 .
Er nimmt sie einzeln zu Sich auf. Apg 7, 59.; Phil 1, 23.
Er wacht über ihre verwesliche Hülle und wird sie auferwecken
durch Seine Macht. Joh 6, 39. 40; 1. Kor 15, 52; 1. 1116554,16.
Er wird ihnen entgegenkommen in der Luft. 1. Thess 4, 17.
Er wird sie gleichförmig machen Seinem Bilde. Phil 3, 21 ;
1. Joh 3, 2.
Er wird sie mit Sich vereinigen in Seinem ewigen Reich.
Joh 14, 3; 17, 24.
Das sind also die Tätigkeiten Christi für Sein Volk; sie umfassen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Sie erstrecken sich wie eine goldene Linie von Ewigkeit zu
Ewigkeit. Wohl mag gesagt werden: „Glückselig das Volk,
dem also ist! Glückselig das Volk, dessen Gott Jehova ist!"
(Psalm 114,15)
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Ein auffallender Gegensatz
(Man lese Apostelgeschichte 8, 5—40.)
Das achte Kapitel der Apostelgeschichte zeigt uns einen bedeutenden und äußerst lehrreichen Gegensatz zwischen dem Zauberer von Samaria und dem Kämmerer von Aethiopien. Betrachten wir daher für einige Augenblicke die beiden Charaktere, und wir werden Gelegenheit finden, irgend eine nützliche Belehrung für uns daraus zu schöpfen.
Das Kapitel beginnt mit einer Mitteilung betreffs der Wirksamkeit des Philippus. „Philippus aber ging hinab in eine
Stadt von Samaria, und predigte ihnen den Christus." (V. 5.)
In der Tat ein gesegnetes Thema! Bei einem treuen Prediger ist
Christus der Anfang, die Mitte und das Ende seiner Predigt.
„Und die Volksmenge achtete einmütig auf das, was von
Philippus geredet wurde, indem sie zuhörten und die Zeichen
sahen, die er tat. .. Und es war eine große Freude in jener
Stadt." (V. 6—8.) So muß es stets sein. Wenn Christus gepredigt wird und die Zuhörer darauf achten und die frohe
Botschaft aufnehmen, dann wird „große Freude" die unausbleibliche Folge sein. Die Beschäftigung des Predigers ist,
„Christum zu predigen", und die Beschäftigung der Zuhörer
ist, darauf zu „achten und zu glauben". Nichts kann einfacher
sein.
Aber ach! dieser Himmelsglanz sollte bald überzogen werden
mit jenen dunklen Wolken, die stets hervorgerufen werden
durch die Selbstsucht und Eigenliebe der Menschen. Alles war
einfach und schön, heiter und frisch, so lange Christus erhoben wurde und die Seelen in der Erkenntnis des Heils ihre
Segnungen fanden. „Ein gewisser Mann aber, mit Namen
Simon, befand sich vorher in der Stadt, der Zauberei trieb
und das Volk außer sich brachte, indem er von sich selbst
sagte, daß er etwas Großes sei." (V. 9.) Hier zeigt uns der
inspirierte Geschichtsschreiber etwas, wodurch die herrliche,
feierliche Stille plötzlich unterbrochen wird. An den Platz
jenes Herolds des Heils, welcher Christum erhob, tritt vor
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unser Auge ein armer Wurm, der Anstrengungen macht, sich
selbst zu erheben, und statt jener auf die Worte der Wahrheit lauschenden Volksmenge sehen wir ein durch Zauberei
außer sich gebrachtes Volk.
Simon gab vor, daß er etwas Großes sei; und die öffentliche
Meinung begünstigte seine Anmaßungen. „Welchem alle,
vom Kleinen bis zum Großen, anhingen und sagten: Dieser
ist die Kraft Gottes, genannt die große." (V. 10.) Es ist nicht
selten der Fall, daß die, welche die hochmütigsten Ansprüche
erheben, auch den höchsten Platz in den Gedanken der Menschen einnehmen. Was schadet es, ob auch das Fundament,
worauf sich diese Ansprüche stützen, noch so schwach und
gebrechlich ist? Die Menge kümmert sich weder um das Fundament, noch um das, was hinter der Szene ist. Ihre Gedanken schwimmen stets auf der Oberfläche und sind darum leicht
zu täuschen. Der Großtuer und Prahler bahnt sich mit leichter Mühe einen Weg zu den Herzen der Menge, während der
Demütige, der Anspruchslose, der Bescheidene von seiten der
Menschen dieser Welt der Vergessenheit und der Nichtachtung
anheimgegeben ist. Darum wurde der hochgepriesene Herr,
der Sich selbst zu nichts machte, der nicht Seine eigene Ehre
suchte, und nichts hatte, wohin Er Sein Haupt legte, preisgegeben für einen Mörder und Räuber und zwischen zwei Missetäter an ein entehrendes Kreuz genagelt.
Aber Simon, der Zauberer, gab vor, daß er etwas Großes sei;
und die pomphaften Anmaßungen dieser Selbst-Überhebung
fanden Eingang bei der ungläubigen Menge. Auf ihn richteten
alle ihre Blicke. Warum? War es vielleicht, weil er ihnen zu
nützen suchte durch die eifrigen Anstrengungen eines hochherzigen Wohlwollens? Keineswegs. Was war also die Ursache? „Weil er sie lange Zeit mit den Zaubereien außer sich
gebracht hatte." (V. 11.) So ist der Mensch, so ist die Welt.
Ja, und so sind auch die Christen. Laßt uns nur lauschen auf
die Worte: „Denn ihr ertraget gern die Toren, da ihr weise
seid. Denn ihr ertraget es, wenn jemand euch knechtet,
wenn jemand euch aufzehrt, wenn jemand von euch nimmt,
wenn jemand sich überhebt, wenn jemand euch ins Angesicht
schlägt." (2. Kor 11, 19. 20.) Diese Worte sind an Heilige gerichtet; und wir wissen, wie sie leider auch in unseren Tagen
146
Anwendung finden. Die Heilige Schrift hat im voraus diese
Dinge bezeichnet, und „es gibt nichts Neues unter der Sonne."
Jene dünkelhaften, prahlerischen, übermütigen Apostel hatten
dem wahren, sich selbst verleugnenden, geweihten Diener
Christi die Zuneigung und Würdigung selbst der Heiligen
Gottes fast gänzlich geraubt. Welch eine schreckliche Erläuterung der Worte: „Jehova kennt die Gedanken der Menschen, daß sie Eitelkeit sind." — Ja, in der Tat, es kann nichts
Eitleres geben als die Gedanken und Überlegungen der Menschen.
Indes hatte sich die Zeit in Samaria geändert, und zwar durch
die Einführung des Evangeliums. „Als sie aber dem Philippus
glaubten, der das Evangelium von dem Reiche Gottes und
dem Namen Jesu Christi verkündigte, wurden sie getauft,
sowohl Männer als Weiber. Aber auch Simon selbst glaubte,
und als er getauft war, hielt er sich zu Philippus; und als
er die Zeichen und großen Wunder sah, geriet er außer sich."
(V. 12. 13.)
Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu prüfen, ob Simon wirklich ein bekehrter Mann war, oder nur ein heuchlerischer Bekenner. Wir können, ohne diese Frage zu berühren, eine höchst
lehrreiche Unterweisung und einen praktischen Nutzen aus
dieser Geschichte ziehen. Simon war ein selbstsüchtiger Mensch
von Anfang bis zu Ende. Die eigene Erhebung war für ihn
Zweck und Ziel. Zuerst machte er Gebrauch von der Zauberei, um dieses Ziel zu erreichen; und als die Zeit des christlichen Bekenntnisses ihm das Fundament, worauf er sich erhob, unter den Füßen wegrückte, da umklammerte er ein
neues Ding. Er stellte seinen Fuß auf den Boden des Bekenntnisses, nicht wie jemand, der für sein gebrochenes Herz
und für sein ihn verklagendes Gewissen Ruhe sucht, sondern
wie jemand, der etwas zu sein trachtet. Aus der inspirierten
Erzählung geht augenscheinlich hervor, daß Simon weit mehr
beschäftigt war mit den Zeichen und Wundern, von denen
das Evangelium begleitet war und wodurch es bestätigt wurde,
als mit den Tröstungen, die das Evangelium darreichen will.
Hier zeigte sich in der Tat kein Herz, das durch die Gnade
des Evangeliums mit Frieden erfüllt war, sondern ein Gemüt,
das über die Zeichen und Wunder staunte, die geschahen.
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Denn „als er die Zeichen und großen Wunder sah, geriet er
außer sich". Nur darauf richteten sich seine staunenden Blicke.
Jene Erscheinungen, die bloß dazu bestimmt waren, die Aufmerksamkeit der Herzen auf Christum zu lenken, wurden von
Simon als solche betrachtet, die ihn selbst erhöhen konnten.
Er hoffte, in dem Christentum für seinen Ruhm einen festeren
Boden zu finden, als er ihn bis dahin durch die Zauberei
haben konnte.
Alles dieses tritt klarer ins Licht, sobald der Heilige Geist
auf den Schauplatz tritt. „Als aber die Apostel, die in Jerusalem waren, gehört hatten, daß Samaria das Wort Gottes
angenommen habe, sandten sie Petrus und Johannes zu ihnen,
welche, als sie hinabgekommen waren, für sie beteten, damit
sie den Heiligen Geist empfangen möchten; denn er war noch
nicht auf einen von ihnen gefallen, sondern sie waren allein
getauft auf den Namen des Herrn Jesu. Dann legten sie ihnen
die Hände auf, und sie empfingen den Heiligen Geist. Als
aber Simon sah, daß durch das Auflegen der Hände der Apostel der Heilige Geist gegeben wurde, bot er ihnen Geld an
und sagte: Gebet auch mir diese Gewalt, auf daß, wem irgend
ich die Hände auflege, er den Heiligen Geist empfange. Petrus
aber sprach zu ihm: „Dein Geld fahre samt dir ins Verderben,
weil du gemeint hast, daß die Gabe Gottes durch Geld zu
erlangen sei! Du hast weder Teil noch Los an dieser Sache;
denn dein Herz ist nicht aufrichtig vor Gott. Tue denn Buße
über diese deine Bosheit, und bitte den Herrn, ob dir etwa
der Anschlag deines Herzens vergeben werde; denn ich sehe,
daß du in Galle der Bitterkeit und in Banden der Ungerechtigkeit bist." (V. 14-25.)
Welch ein feierlich ernstes Gemälde! Welch eine heilige Unterweisung! Selbstsucht führt stets zur Bitterkeit, mag sie uns
bei einer bekehrten oder bei einer unbekehrten Person begegnen. Jeder, der sich selbst zu erhöhen trachtet, jeder, der etwas
sein will, der zu glänzen sucht vor dem Auge seiner Mitmenschen, wird früher oder später Bitterkeit und Galle zur
Reife bringen. Es kann nicht anders sein. Man kann es als
einen bestimmten Grundsatz festsetzen, daß in dem Maße,
wie unser Ich der Gegenstand und das Ziel ist, auch die Bitter148
keit die Folge sein wird. Hätte Simon den Gegenstand seines
Herzens in Christo, den Philippus predigte, gefunden, so
würde er nicht nötig gehabt haben, die erschreckenden Worte
des Petrus zu hören. Sein Herz wäre dann „aufrichtig vor
Gott" gewesen. Nur wenn Christus der Blickpunkt für uns
ist, ist das Herz aufrichtig vor Gott. Allein, es stand so traurig
um Simon, und sein Herz war so völlig entfernt von Gott, von
Christo und von dem Heiligen Geiste, daß, als Petrus ihn aufforderte, Gott zu bitten, ob ihm vielleicht der Anschlag seines
Herzens vergeben würde, er keine andere Antwort hat als:
„Bittet ihr für mich den Herrn, damit nichts über mich komme
von dem, wovon ihr gesagt habt." (V. 24.) Anstatt seine Sünden zu bekennen, forderte er andere auf, für ihn zu beten,
damit die Folgen seiner Sünde ihn nicht treffen möchten.
Hier endet die Geschichte des Zauberers, und Simon ist unseren Blicken entzogen. Möge die in dieser Geschichte enthaltene Lehre sich tief in unsere Herzen einprägen! Möge der
Herr in Seiner Gnade uns völlig von Selbstsucht befreien und
unsere Herzen erfüllen mit Liebe für Seinen Heiligen Namen!
Wenden wir uns jetzt von diesem traurigen Ereignis ab, und
richten wir unsere Blicke auf ein Gemälde, das von dem vorigen ganz verschieden ist.
„Ein Engel aber des Herrn redete zu Philippus und sprach:
Stehe auf und gehe gegen Süden, auf den Weg, der von Jerusalem nach Gaza hinabführt; derselbe ist öde. Und er stand
auf und ging hin. Und siehe, ein Äthiopier, ein Kämmerer,
ein Gewaltiger der Kandace, der Königin der Äthiopier, der
über ihren ganzen Schatz gesetzt war, war gekommen, um zu
Jerusalem anzubeten, und er war auf der Rückkehr, und saß
auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaias." (Apg 8,
26. 27.)
Welch ein Kontrast tritt uns hier vor Augen! Statt eines Zauberers, der mit Hilfe der Künste seiner Zaubereien etwas Großes zu sein vorgibt, erblicken wir hier einen Mann von wirklich hohem Ansehen und Rang, einen Mann von Gewicht
und Würde, der ganz und gar sich selbst und seine Stellung
aus dem Auge verloren hat und beschäftigt ist, den Gegenstand seines Gottesdienstes und seiner Anbetung zu finden.
149
Er war einer von den Großen dieser Erde und hatte nicht nötig
vorzugeben, daß er ein solcher sei; aber statt mit sich selbst
oder mit seiner Größe beschäftigt zu sein, dürstete seine Seele
nach etwas, das weit über seine Person und seine Umgebung
hinausging. Er war von Äthiopien nach Jerusalem gegangen,
um anzubeten, und befand sich, augenscheinlich unbefriedigt,
auf dem Rückwege.
Dies alles ist von außerordentlicher Bedeutung. Wir sind erfreut, den Simon, der sich selbst sucht, verlassen zu können
und einen Kämmerer begleiten zu dürfen, der Christus suchte.
Es ist zu sehen, wie erfrischend, dieser ernste, einsame Mann
in den Schriften des Propheten den Gegenstand für sein Herz
sucht. Wir werden sicher fühlen, daß dieses ein Anblick
war, an dem der Himmel selbst seine Wonne hatte. Ein
Engel wurde nach Samaria gesandt, den Apostel von den
dortigen blühenden Gefilden des Dienstes abzurufen und ihn
hinzusenden in die Einsamkeit der Wüste Gaza, um sich hier
mit einer einzelnen Person zu beschäftigen. Wie bemerkenswert ist es, daß der inspirierte Schreiber zwei solche Männer,
wie Simon und den Kämmerer, nebeneinanderstellt! Sie bilden ganz und gar zwei Gegensätze. Philippus fand in Simon
einen Mann, der das Volk durch Zauberei außer sich brachte
und etwas Großes zu sein vorgab; und in dem Kämmerer
einen, der sich mit ganzem Ernst in das Studium des Wortes
Gottes vertiefte. Er fand den einen mitten in dem Geräusch
und dem Gedränge der Stadt in rastloser Tätigkeit, um vor
den Augen der Welt eine Rolle zu spielen, und für sich selbst
aus allem Nutzen zu ziehen; den anderen fand er in der
Wüste, zurückkehrend von dem Orte seiner Anbetung, um
sich wieder zu seinem Wirkungskreise in Äthiopien zu begeben. Sie bildeten in der Tat zwei entschiedene Gegensätze.
Verfolgen wir aber ein wenig die Geschichte dieses interessanten, höchst begünstigten Äthiopiers. Es mochte dem Evangelisten seltsam erscheinen, den glänzenden Wirkungsplatz in
Samaria, wo eine so große Menge auf ihn hörte, verlassen
und eine Wüste betreten zu müssen, wo er kaum erwarten
durfte, jemanden zu finden. Wem sollte er hier predigen?
Die Natur würde sicher eine solche Frage erhoben haben;
150
aber wie uns hier mitgeteilt wird, blieb Philippus nicht lange
in Unwissenheit in betreff seiner Arbeit. „Der Geist aber
sprach zu Philippus: Tritt hinzu und schließe dich diesem
Wagen an. Philippus aber lief hinzu." (V. 29.) Wie einfach!
Welch ein liebliches Bild von einem Diener! Für das Herz
eines rechtschaffenen Dieners ist es gleich, ob er in eine Stadt
oder in eine Wüste, zu einer Menge oder zu einer einzelnen
Person gesandt wird. Der Wille seines Herrn gibt stets den
Ausschlag. O, möchten auch wir dieses mehr verwirklichen!
Möchten auch wir mehr die wirkliche und tiefe Segnung genießen, unser angewiesenes Werk vor dem unmittelbaren
Auge Jesu auszuführen, ohne uns zu kümmern um den Wirkungsplatz und den Charakter dieses Werkes! Wir mögen
berufen sein, vor versammelten Tausenden stehen, oder im
Verborgenen unsere Wege von Gasse zu Gasse, von Dachstübchen zu Dachstübchen machen zu müssen, wir mögen das
Evangelium in großen vollen Räumen verkündigen oder es
im Zimmer eines Krankenhauses dem Ohr eines Sterbenden
nahebringen — der treue Diener tut beides mit der gleichen
Freude. Und gewiß wird es auch bei uns so sein, wenn nur
die wahre Gesinnung eines Dieners unsere Herzen belebt. Der
Herr wolle uns mehr davon gewähren!
„Philippus aber lief hinzu, und hörte ihn den Propheten Jesajas lesen, und sprach: Verstehst du wohl, was du liesest? Er
aber sprach: Wie könnte ich denn, wenn nicht jemand mich
anleitet? Und er bat den Philippus, daß er aufsteige und sich
zu ihm setze." (V. 30.) Der Herr weiß, wie und wo sich die
Pfade des Predigers und des Zuhörers kreuzen sollen; und
wenn sie sich einander begegnen, dann ist eine Kette gebildet, die nicht gesprengt werden kann. In Jerusalem befanden
sich jene, welche die frohe Botschaft dem Ohr des Kämmerers
hätten nahebringen können; aber Gott hatte es angeordnet,
daß Philippus das Vorrecht genießen sollte, diesen Fremdling
zu den Füßen Jesu zu führen, und daß sie sich nach Seiner
gnadenreichen Vorsehung in der Wüste Gaza begegnen sollten.
Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf die Schriftstelle,
auf der das Auge des Kämmerers ruhte, als Philippus seinen
Platz neben ihm einnahm. „Die Stelle der Schrift aber, die er
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las, war diese: Er wurde wie ein Schaf zur Schlachtung geführt, und wie ein Lamm stumm ist vor seinem Scherer, also
tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde
sein Gericht weggenommen; wer aber wird sein Geschlecht
beschreiben? denn sein Leben wird von der Erde weggenommen." (Jes 53, 7. 8.) „Der Kämmerer aber antwortete dem
Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem sagt der Prophet dieses? von sich selbst oder von einem anderen? Philippus
aber tat seinen Mund auf, und, anfangend von dieser Schrift,
verkündigte er ihm das Evangelium von Jesu." (V. 32—35.)
Bei dem Kämmerer war die Frage geweckt: „Wer ist diese
geheimnisvolle Person?" — Gesegnete Frage! Er forderte den
Philippus nicht auf, ihm irgendeinen Text zu erklären. Ach
nein! er verlangt etwas, was viel bedeutender war. Erwünschte,
etwas von dieser wunderbaren Person zu erfahren, welche gleich einem Schaf zur Schlachtung geführt worden war.
Dieses war alles, wonach er fragte. Wer konnte diese Person
sein? Es war Jesusl Glückseliger Kämmerer! Er hatte endlich
sein Ziel erreicht. Sein Auge hatte auf dieser kostbaren Schriftsteile geruht und hier die Erzählung von dem „Lamme Gottes"
gefunden, das an das Fluchholz geführt und unter der gerechten Hand eines Gottes, der die Sünde haßt, zermalmt worden
war. Und für wen? Für jeden Mühseligen und Beladenen, der
dem Schutz Seines versöhnenden Blutes vertraut. Das war
der herrliche Gegenstand, der dem Auge und Herzen dieses
ernsten und aufrichtigen Kämmerers dargestellt wurde. Die
große Fundamental-Wahrheit des Evangeliums — die Lehre
von dem Blut eines die Sünde tragenden Christus machte sich
mit göttlicher Kraft und Fülle in seiner Seele Bahn. Kein auffallendes Zeichen oder Wunder wurde hier der verkündigten
Wahrheit beigefügt. Das war unnötig. Das Wort kam mit
Macht. Der Boden war gut und für den köstlichen Samen
herrlich zubereitet. Das ernste Suchen des Kämmerers war
in ein glückseliges Finden umgewandelt. Der Sünder und Jesus waren zusammengetroffen, der Glaube vereinigte sie, und
alles war in Ordnung gebracht.
„Als sie aber auf dem Wege fortzogen, kamen sie an ein
gewisses Wasser. Und der Kämmerer spricht: Siehe da ist
152
Wasser; was hindert mich, getauft zu werden? Und er hieß
den Wagen halten, und sie stiegen beide in das Wasser hinab,
Philippus und der Kämmerer; und er taufte ihn. Als sie aber
aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn
den Philippus, und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; denn
er zog seinen Weg mit Freuden."
Die schöne und bezeichnende Anordnung der Taufe stellt das
Begräbnis des alten Menschen vor. In diesem Lichte betrachtet
ist die Frage des Kämmerers bedeutungsvoll: „Was hindert
mich, getauft zu werden?" Sicher nichts. Er hatte Jesum gefunden und hatte Ursache, sein Ich zu begraben. Wie einfach!
„Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung."
(2. Kor 5, 17.) Der alte Mensch ist nicht besser gemacht, sondern hinweggetan; und Christus ist jetzt der eine große Gegenstand vor der Seele. Wenn diese Dinge verstanden sind,
wenn das Ich aus dem Gesichtskreis verloren ist und Christus
die Seele erfüllt, dann können wir mit Freuden unseren Weg
verfolgen. So war es bei dem Kämmerer. Er stieg aus seinem
Wassergrabe hervor, um seine Reise fortzusetzen, jenen heiligen, glückseligen Pfad entlang, der von dem Kreuz aus beginnt und in der Herrlichkeit endet. — Wir sehen also, wie von
Anfang bis zu Ende der Kämmerer von Äthiopien und der
Zauberer von Samaria zwei entschiedene Gegensätze bilden.
Und sicher repräsentierten diese beiden Männer zwei große
Klassen, nämlich die, welche mit sich selbst, und die, welche
mit Christo beschäftigt sind. Simons Gegenstand war sein
Ich, und sein Ende „Bitterkeit"; der Gegenstand für das Herz
des Kämmerers war Jesus, und sein Ende „Freude".
Möge der Herr diese Unterweisungen tief in unsere Herzen
prägen! Mögen wir befreit sein von dem Elend der Selbstsucht in allen ihren Erscheinungen und Graden, und mögen
wir erfüllt sein mit Christo, um unseren Weg mit Freuden
ziehen zu können! —
153
Die Abnahme im geistlichen Leben
und ihre Kennzeichen
So wie von Ephraim gesagt worden ist, daß sein Haar ergraut
sei, ohne daß er es gemerkt habe, so tritt auch im allgemeinen
der offenbare Rückgang oder die Abnahme im geistlichen Leben nicht so plötzlich und sichtbarlich in die Erscheinung. Im
Gegenteil geht gewöhnlich eine lange Reihe von Symptomen
voraus, die einen Zustand ankündigen und vorbereiten, der
nicht entdeckt wird, bis er endlich nicht mehr verborgen bleiben kann. Daher ist es für unser geistliches Wohl von Bedeutung, daß wir diese vorausgehenden Erscheinungen frühzeitig und schnell wahrnehmen. „Wenn wir uns selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet." Ist ein geistlicher Sinn
vorhanden, um die ersten Spuren der Abnahme zu sehen und zu
fühlen, so werden diese selbstverständlich verurteilt und unterdrückt. Wir werden weder billigen noch fördern, was wir als
unrecht erkannt haben. Ist dagegen die Schärfe unseres Gewissens abgestumpft, so sehen wir das Böse nicht, oder, wenn
wir es auch sehen, finden wir es unter den Umständen, in
denen wir uns gerade befinden, verzeihlich und geben ihm
immer mehr nach. „Das Licht ist es, welches alles offenbar
macht." „Gott ist Licht und gar keine Finsternis ist in ihm."
— Wir sind Licht in dem Herrn. Wenn wir im Licht wandeln,
so befinden wir uns in der Nähe des Herrn und werden dort
alles so sehen, wie Er es sieht. Es ist möglich, daß wir etwas
nicht ganz klar sehen, aber wir sehen es doch; und da wir es
in Seiner Gegenwart sehen, so werden wir uns von allem
zurückziehen, was Seiner nicht würdig ist. Wenn wir in der
Finsternis wandeln, so haben wir keine Gemeinschaft mit
Ihm. Es handelt sich hier nicht bloß um ein gutes Gewissen,
um darin vor Ihm zu wandeln, sondern um praktische Gemeinschaft mit Ihm. Die ist aber undenkbar, wenn wir nicht
im Lichte sind; nur im Licht sind alle Dinge offenbar, wie
Gott sie offenbar macht. Wir werden auf die Linie, die gezogen werden muß, aufmerksam gemacht, und wir nehmen sie
an. Dies aber gibt uns einen freimütigen Zugang zu einer
154
engeren Gemeinschaft mit Ihm. Die Finsternis begreift das
Licht nicht. Wenn ich im Lichte bin, so beurteile ich mich selbst,
und klage mich alles dessen an, was Gott zuwider ist; und
eben weil ich im Lichte, in meiner mich schirmenden Waffenrüstung stehe, werde ich nicht gerichtet. Jedoch hat dies nur
Bezug auf den Wandel und auf die daraus entspringende
Freude der Seele; man kann darin sehr mangelhaft sein und
dennoch ein gewisses Maß von Frieden des Gewissens und
von Tätigkeit im Dienste für den Herrn kundgeben. Wenn
nun aber diese Unfähigkeit zum Selbstgericht fortdauert, so
werden wir von dem Herrn gezüchtigt, und dieses Gericht
wird auf mannigfache Weise ausgeübt.
Es wird nützlich und belehrend sein, aus der Schrift die Kennzeichen der Abnahme zu sammeln. Das erste und untrüglichste
Kennzeichen ist die Unzufriedenheit. „Begnüget euch mit dem,
was vorhanden ist", (Hebr 13, 5.) hat eine viel weitere Anwendung, als nur auf irdische Dinge, es bildet auch eine Waffe
gegen die Macht des Menschen. Diese Stelle deutet auf die
folgende hin: „ .. . so daß wir kühn sagen dürfen: Der Herr ist
mein Helfer, und ich will mich nicht fürchten; was wird mir
ein Mensch tun?" Wegen der Hilfe des Herrn haben wir
nichts von dem zu fürchten, was in der Macht des Menschen
liegt. Doch wir sind es uns oft kaum bewußt, welchen unscheinbaren Anfang dieses Gefühl der Unzufriedenheit haben
kann, während es, wenn es unentdeckt und ungerichtet bleibt,
tödlichen Schaden anrichtet, und man es schließlich als eine
Tugend achtet, unzufrieden zu sein. „Aber" — wird man
vielleicht einwenden — „soll man denn selbst mit dem zufrieden sein, was nicht nach Gottes Rat und Willen vorhanden
ist?" Darauf antworte ich, wenn dies die einzige Unzufriedenheit unseres Herzens wäre, daß sie sich in einer anderen Weise
als in der Unzufriedenheit der Natur kundgeben würde.*) —
Untersuchen wir daher, wie die Unzufriedenheit den Weg
zur Abnahme des geistlichen Lebens bahnt und vorbereitet.
Wenn mein Herz in Einfalt versichert ist, daß der Herr mich
nicht verlassen noch versäumen wird, so denke ich nicht an
mich. Ich ruhe in der Überzeugung, daß ein Größerer als ich
*) Eifer für den Herrn gibt sich durch eine größere Fürsorge für die Heiligen
und durch eine entschiedenere Trennung von der Welt kund.
155
sich mit mir beschäftigt. Wenn ich im Glauben Sein Wort aufnehme: „Ich will dich nicht verlassen noch versäumen", so
legt mein geistliches Betragen Zeugnis davon ab, daß ich kühn
sagen kann: „Der Herr ist mein Helfer; und ich will mich
nicht fürchten; was wird mir ein Mensch tun?" Das aber ist
nicht ein bloßes Zufriedensein, sondern ein energisches, glückliches und bestimmtes Vertrauen auf Gott. Sicher, die eigentümlich schlaue und sonderbare Weise, in der dieses erste
Kennzeichen wirkt, ist kaum zu beschreiben; aber jede Seele,
die vom Wege des Irrtums zurückgekehrt ist, wird sich bekennen müssen, daß ihre anfängliche Abweichung auf Keime
dieser Art zurückzuführen ist. Das eigene Ich wird ein Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens; daher bestrebt man sich, mehr dafür zu erlangen, als Gott dafür
bestimmt hat. Das war Achans Sünde; (Jos 7.) er eignete sich
das Eigentum Gottes an; er war nicht zufrieden — er suchte
sich selbst.
Man wird zugeben müssen, daß die Kinder Israel, als sie den
Herrn in der Wüste versuchten, durch den tödlichen Biß der
feurigen Schlangen zu der Überzeugung hätten kommen können, daß jene Unzufriedenheit, die durch Satan ursprünglich
in Evas Herzen erzeugt worden war, den Tod zur Folge hatte,
und daß es gegen den Schlangenbiß kein anderes Hilfsmittel
gibt, als in dem Leben vorhanden war, das Gott dem Glauben
gibt. Diese Unzufriedenheit gab sich kund, weil sie das Manna,
die göttliche Versorgung, für ungenügend hielten. Sie sagten:
„Unserer Seele ekelt vor dieser losen Speise"; sie versuchten
Christum. Was aber einst das Manna war, das ist jetzt für
uns Christus und nur Christus während unseres Lebens in
dieser Welt. Wie sehr fürchtet der Apostel in Kolosser 2 den
Abfall von Christo; seine Ermahnungen, daran festzuhalten,
sind nichts anderes als Ermahnungen zur Rückkehr zu der
in die Worte gekleideten Wahrheit: „Ich will dich nicht verlassen noch versäumen." Es ist klar, daß jemand, der einfältig und wahrhaft glücklich in Christo ist und in Ihm seine
volle Befriedigung findet, durchaus nicht die Zeichen des Abfalles an sich trägt. Dagegen kann man überzeugt sein, daß
jeder, der über seine Vermögensumstände, seine Familie, seine
Arbeit, seine Gesundheit, über die Brüder oder irgend etwas
156
seufzt, vor dem Manna einen Ekel empfindet, oder daß sein
Auge von Christo abgewandt ist und die ersten Keime der
Abnahme seines geistlichen Lebens hervorgesprossen sind.
Und was wird dem Murren auf dem Fuße folgen? Man wird,
sobald die Fähigkeit und Gelegenheit dazu vorhanden ist, den
entdeckten Mangel aus dem Wege zu räumen trachten. Man
wird eben nicht sehr auf die Mittel und Wege achten, die man
anwendet und einschlägt, um aus einer mißlichen Lage herauszukommen. Nur im Blick auf die Umstände läßt man sich
leiten; und werden die Anstrengungen nicht durch einen günstigen Erfolg gekrönt, so steigert sich die Unzufriedenheit.
Man gebärdet sich gleich einem gefangenen, umstrickten
Wilde, weil das Auge nichts sieht, als jene Schranke, die
unserer Natur im Wege steht. Das sind die betrübenden Folgen des Murrens.
Wie ganz anders aber ist es, wenn ich mich Gott unterwerfe.
Dann murre und seufze ich nicht; denn ich fühle mich in Christo völlig befriedigt und befinde mich in einer Region, zu
welcher den eigenen, selbstsüchtigen Wünschen der Eintritt
verwehrt ist. (Joh 4, 14.) Wenn wir mit Aufmerksamkeit die
Geschichte einzelner Personen des Alten Testaments verfolgen, so werden wir bald den besonderen Umständen begegnen, die zu der Abnahme ihres geistlichen Lebens führten,
weil ihr ganzes Verhalten durch jene Umstände, denen sie
abzuhelfen trachteten, beeinflußt wurde, und das Murren
und die Unzufriedenheit ihres Herzens offenbar machte. Lot
brauchte Futter für sein Vieh, und die Wiesen Sodoms zogen
ihn an. Jakob verlangte nach Ruhe nach seiner Flucht von
Mesopotamien, und Sichern genügte ihm. Israel verlor Jehova,
seinen Gott, aus den Augen und fand seine Befriedigung in
einem goldenen Kalbe. Achan verlangte nach persönlicher Auszeichnung und vergriff sich an dem, was Gott angehörte. Mit
einem Worte: Wer den Wünschen seiner Seele Raum gibt,
tut den ersten Schritt zu der Abnahme seines geistlichen Lebens. Das Herz, anstatt in der Genügsamkeit Christi zu ruhen,
strengt sich mit großer Mühe an, die erwachten Wünsche zu
befriedigen. Es ist stets die Bemühung Satans, irgendein Verlangen zu erwecken und dann die Seelen zu drängen, einen
ungeziemenden Weg einzuschlagen, um dieses Verlangen zu
157
stillen. Tragen wir nicht schon den Schein des Abfalles an
uns, wenn das eigene Ich in irgendeiner Form unsere Aufmerksamkeit fesselt und uns die Hilfe und Befriedigung in
Christo vergessen und übersehen läßt? Gerade das, woran
wir uns wenden, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, verrät unsere wahren Gedanken über das Bedürfnis, wie überhaupt den Zustand unseres geistlichen Lebens. So deckte das
Gesetz in Galatien und die Philosophie in Kolossä die Neigung
der Herzen auf. Möge der Herr uns daher in Gnaden bewahren, den Wünschen unserer Herzen nachzugeben; denn dadurch verlieren wir unsere Stellung in Christo aus den Augen
und berauben uns der Kraft zum Fortschreiten in der Gnade
und der Erkenntnis.
Wenn unser Gewissen noch wach ist, so müssen wir seinen
Mahnungen unbedingt Gehör geben; im anderen Falle werden wir unsere Gefühle bezüglich dessen, was Wahrheit ist,
immer mehr in uns abstumpfen. Wollen wir den Ansprüchen
unseres Gewissens entsprechen, dann wird es nötig sein, daß
wir die Stellung einnehmen, die Gott wohlgefällig und Seiner
Offenbarung gemäß ist, die Er von Sich Selbst gemacht hat.
Wir werden dann alles richten, was Ihm zuwider ist, und uns
durch Seine Gnade über alle Begierden und Wünsche der Natur erheben. Wenn wir andererseits der Unzufriedenheit
unseres Herzens nachgeben, müssen wir entweder geradezu
gegen unser Gewissen handeln, oder wir sind genötigt, uns
Gott in einer Weise darzustellen, die ganz ungeeignet ist,
unseren Zustand zu verurteilen. Wie könnte ich in einem
meiner Natur angemessenen Zustande leben, über den ich
die Überzeugung besäße, daß Gott ihn nicht anerkennen und
erlauben würde. Ich muß entweder ohne Gewissen, ohne Gottesfurcht sein, oder ein böses Gewissen haben; ich muß entweder im Glauben Schiffbruch gelitten haben, oder mich in
einem unerträglichen Zustande befinden; und beide Erscheinungen bilden schon weit vorgeschrittene Stufen in der Abnahme des geistlichen Lebens.
Und ach! wie oft geschieht es, daß die Gläubigen sich eine
beschränkte Vorstellung von Gott machen, um das Gewissen
nicht zu stören und zu beunruhigen. Lot stand sicher als eine
gerechte Seele mit Gott in einiger Verbindung; denn wie hätte
158
er sonst mit dem Gefühl völligen Getrenntseins auch nur den
geringsten Grad von Behaglichkeit in Sodom genießen können? Ja, sicher würde er bald in das ihn umgebende Böse
völlig hinabgesunken sein, wenn er nicht irgendwelche Beziehungen mit Gott unterhalten hätte. Allein diese Beziehungen, wie weit standen sie unter seiner Berufung? Daher mußte
er eine Vorstellung von Gott angenommen haben, die weit
unter derjenigen stand, in der Gott sich ihm geoffenbart hatte.
Das aber sind stets die ersten Folgen, wenn man der Unzufriedenheit des Herzens irgendeinen Spielraum gestattet.
Ebenso errichtete Jakob, als er sich in Sichern niedergelassen
hatte, einen Altar, und rief den Namen des starken Gottes
Israels an. Solange er sich in einem Zustande befand, der
seiner Natur angemessen war, unterhielt sein Gewissen allerdings Verbindungen mit Gott, jedoch nur solche, die seine
Stellung, die ihm nicht von Gott angewiesen war, keineswegs
tadelten und verurteilten. Er dachte nur an Gott in Beziehung
auf seine eigene Person. Für Gedanken an die Verherrlichung
Gottes gab es keinen Raum in seinem Herzen. Die Ratschlüsse
Gottes blieben gänzlich unbeachtet und vergessen. Konnten
unter solchen Umständen die traurigen Erscheinungen in der
Familie Jakobs befremden? Keineswegs. Wie ganz anders war
es, als Jakob dem Ruf Gottes folgte und im Begriff stand, nach
Bethel aufzubrechen. Jetzt erst vernehmen wir seine ernste
Mahnung: „Tut die fremden Götter hinweg, die in eurer Mitte
sind, und reiniget euch und wechselt eure Kleider."
Wie deutlich lehrt uns diese Geschichte, daß so manches, was
wir uns außer der wahren Gemeinschaft mit Gott erlauben
können, unmöglich geduldet werden kann, wenn wir in Seine
heilige Nähe treten; und sicher, wenn wir das Unheilige in
unserer Mitte dulden, zeigt das stets an, daß die Seele fern
von Ihm ist. O, möchten unsere Herzen dies doch tief erwägen!
Wie sehr würden wir uns fürchten, der Unzufriedenheit der
Natur nachzugeben, wenn wir stets im Lichte Gottes die
traurigen Folgen sähen! Liegt es doch klar am Tage, daß wir
unsere wahre Berufung aus dem Auge verlieren, wenn wir den
Begierden der Natur Genüge leisten. Und, um den Schlägen
des Gewissens zu entgehen, werden wir so die Offenbarung
Gottes auf jenes Maß beschränken, das unsere fleischliche
159
Stellung weder tadelt, noch mit ihr zusammenstößt. Dies ist
ein ernstes Übel, das öfter vorkommt, als wir vielleicht meinen.
Von unseren Vorrechten und unserer Berufung abzuweichen,
ist an und für sich schon schlimm genug; allein wenn wir, um
den Vorwürfen unseres Gewissens auszuweichen, die Offenbarung Gottes schmälern und beschränken, so ist das in der
Tat schon ein erschreckender Grad der Abnahme unseres geistlichen Lebens. Aber dies wird stets der Fall sein. Man wird
kein Beispiel anführen können, wo jemand, der auf irgendeine
Art sich selbst sucht, und von seiner Berufung in Christo und
seiner Befriedigung in Ihm abgewichen ist, sich nicht eine Vorstellung von dem Willen Gottes gemacht hat, die weit unter
der Wahrheit steht und diese in den Staub zieht, damit sie
ihm in seiner niedrigen Stellung nicht verweisend begegnen
kann. Anders kann es nicht sein, wenn man den unerträglichen
Vorwürfen des Gewissens entrinnen will.
Ich zweifle nicht, daß Markus, als er sich von Paulus trennte,
um nach Jerusalem zu gehen, auf einem niedrigeren Boden
Erleichterung für sein Gewissen fand, die er nicht gefunden
hätte, wenn er bei Paulus geblieben wäre. So ist es immer. Ist
Christus als der alleinige Grund des Friedens aus den Augen
verloren, dann muß etwas anderes eingeführt werden, um den
Platz wieder auszufüllen; und wenn es nicht die göttliche
Gerechtigkeit ist, so muß es die menschliche sein, oder es ist
kein Gewissen mehr vorhanden. Gleicherweise stand Barnabas
in dem Wortwechsel, den er mit Paulus hatte, mit Markus in
Gemeinschaft und mithin auf derselben Grundlage; denn beide
hatten einen fleischlichen Boden betreten. Beide gingen nach
Zypern, dem Vaterlande des Barnabas. Und sicher, alle, die
Paulus in Asien verlassen und die höheren Wahrheiten aufgegeben hatten, mußten, wenn sie überhaupt noch ein Gewissen hatten, der Offenbarung Gottes ein beschränktes Maß
anweisen, um nicht wegen der Abnahme ihres geistlichen
Lebens getadelt zu werden. Wenn die Versammlung zu Ephesus
die erste Liebe verlassen hatte, so war dies nur die Folge
davon, daß sie die Offenbarung Gottes ihres Stachels beraubt
hatte, um nicht in ihrem Lichte den Gewissensbissen ausgesetzt
zu sein, wiewohl die Epheser sicher eine Stütze in ihrem Eifer
fanden, womit sie „prüften, welche sich Apostel nennen und
160
sind es nicht, und die das Böse nicht ertragen konnten usw."
Sie blickten mit Eifer niederwärts, weil sie aufgehört hatten,
aufwärts zu schauen. Freilich war ihre Handlungsweise gut
und löblich; dennoch stand ihr Eifer wie bei dem fischenden
Petrus auf einer Linie, die den Menschen und ihnen selbst
angemessener war als Christus. Sobald das Sichtbare der
höchste Gegenstand der Seele ist, wird das Unsichtbare, das
Höhere, als Gegenstand des Gewissens gänzlich übersehen. In
diesem Falle muß der wahre Platz des Vorrechtes und der
Berufung Gottes verscherzt werden, sobald das eigene Ich den
Schauplatz betritt. Wenn noch ein Gewissen vorhanden ist,
wird die Offenbarung Gottes bis auf den niedrigsten Grad
herabgezogen, um dadurch die Abnahme des geistlichen Lebens
möglichst lange zu verhüllen.
Man kann versichert sein, daß die Stumpfheit vieler Christen,
höhere Wahrheiten zu begreifen, und ihre Gleichgültigkeit, sie
zu beobachten, ihren Grund darin haben, daß sie zunächst
wegen selbstsüchtiger Zwecke hinweggezogen wurden und
dann sich gezwungen sahen, die Wahrheit zu beschneiden, um
sie ihrem Zustande anzupassen, damit das Gewissen in keiner
Weise beunruhigt wird. *) Zeigt nun aber vollends das Gewissen einen Stachel, der sich nicht beseitigen läßt, so bleibt
nichts anders übrig, als es gänzlich beiseitezusetzen und am
Glauben „Schiffbruch zu leiden", (1. Tim 1, 19.) oder in die
Fußstapfen derer zu treten, die „in betreff ihres eigenen Gewissens wie mit einem Brenneisen gehärtet sind". (l.Tim 4,2.)
Das eine ist der Fall, wo ein wirkliches Werk in der Seele ist,
das zweite, wo ein solches nicht vorhanden ist. Wenn jemand
einen Weg verfolgt und in Fallstricke gerät, denen ein tätiges
Gewissen ausgewichen wäre, so ist ihm nicht zu helfen. Er
muß Schiffbruch leiden, d. h. er muß, da er alle Selbstbeherrschung verloren hat, nutzlos zu einem Wrack herabsinken. Er
hat sein Gewissen nicht in Verbindung mit seinem Glauben
bewahrt. Was er glaubte, vernachlässigte er, oder er weigerte
sich, den von Gott an ihn gerichteten Ansprüchen nachzukommen. Wie konnte es anders sein, als daß er unaufhaltsam ein
Spiel der Winde und Wellen wurde?
*) Wenn man z. B. festhält, daß Christus der Herr ist, aber in Ihm nicht
zugleich das Haupt des Leibes erblickt, so liefert dieses ein Exempel, wie man
die Wahrheit beschränken kann.
161
Der Mann Gottes, der von dem alten Propheten in Bethel verführt wurde, (1. Kön 13.) liefert uns in dieser Beziehung ein
bemerkenswertes Beispiel. Hätte er sein Gewissen in Verbindung mit seinem Glauben gehalten, so hätte er sich nicht
von dem Gebot Gottes abwendig machen lassen. Weil er aber
mit seiner Natur, mit sich selbst beschäftigt war, so wurden
seine anfänglichen Bedenken bald überwunden. Er achtete nicht
auf die Stimme seines Gewissens, setzte das Bewußtsein der
an ihn gestellten Ansprüche Gottes beiseite, lauschte auf die
Worte des Verführers und erntete die traurigsten Folgen.
In ähnlicher Weise war auch das Gewissen des Petrus in
Tätigkeit, als er die einfachen Worte seines Herrn vernahm. Er
hatte auch dafür zu leiden, wenn auch nicht in der gleichen
Ausdehnung, weil er der Furcht erlag, während jener dem
hervorgerufenen Verlangen nachgab. Wir können überhaupt
bei allen moralischen Schiffbrüchen, die uns bekannt sind, eine
beachtenswerte Entdeckung machen. Jeder, der am Glauben
Schiffbruch leidet, hat entweder sich selbst zu gefallen gesucht,
oder ist aus Furcht vor anderen erlegen. In vielen und verschiedenartigen Formen können diese Elemente in unserer
Seele wirken. Bei dem einen ist der Hochmut die Ursache. Der
Apostel sagt zu den Ephesern: „Aus euch selbst werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her." — Bei einem anderen ist es das Verlangen, mit einflußreichen, christlichen Freunden auf gutem
Fuß zu stehen. Bei einem dritten ist es die Liebe zur Gemächlichkeit, zur Häuslichkeit usw. Es ist selten der Fall, daß diese
Elemente in einem fleischlichen Gewände erscheinen, obwohl
es zuzeiten dennoch vorkommt. Aber in jedem dieser Fälle
bahnt das Aufgeben des Gewissens den Weg zum schließlichen
Fall und zur unausbleiblichen Schande.
Indes verfolge ich diesen Gegenstand nicht weiter, wiewohl er
einen der bedenklichsten Grade annimmt, wenn das Gewissen
wie mit einem Brenneisen gehärtet ist, und jemand in betreff
des Glaubens als unbewährt gefunden wird. Das ist dann die
Fortsetzung der niederwärts gehenden Stufen, die wir bisher
betrachtet haben. Wie schrecklich ist dieser Zustand, wenn die
Seele auf diesen Stufen nicht wieder emporsteigen kann und
das Gewissen durch die Gnade wieder befähigt wird, seine
162
Kraft aufs neue zu behaupten! Dies war noch bei Jakob der
Fall, als der Herr ihn aus seiner fleischlichen Ruhe aufweckte
und zu ihm sagte: „Mache dich auf, gehe nach Bethel!" Ebenso
bei Petrus, als er in Kümmernis und Reue durch den Blick des
Herrn zurückgerufen wurde.
Der Zweck dieser Zeilen ist, die Anfänge bei der Abnahme des
geistlichen Lebens zu bezeichnen. Ich habe versucht, die Aufmerksamkeit der Leser auf die im Herzen vorherrschenden
Neigungen in dieser Beziehung zu lenken. Ich verfolge diesen
Gegenstand nicht bis zum offenbaren Ausbruch des gänzlichen
Abfalls. Mein Zweck ist erreicht, wenn es mir gelungen ist,
das Herz der Heiligen zu einem ernsteren Selbstgericht aufzuwecken, ihre Gefühle in Tätigkeit zu setzen, um das Gute und
das Böse zu unterscheiden, und dadurch eine größere Fähigkeit
von ihrer Seite hervorzurufen, gegen jedes zur Abnahme des
geistlichen Lebens führende Wirken allen Ernstes wachsam zu
sein. Solange das Auge des Herzens auf Christum gerichtet
ist, solange wir auf das „sinnen, was droben ist, und nicht auf
das, was auf der Erde ist", werden wir die Zeichen der Abnahme und des Abfalls nicht tragen. Sobald aber die Dinge
der Erde unsere Aufmerksamkeit an sich ziehen, hat die Abnahme schon begonnen. Je mehr ich daher wünsche, bewahrt
zu bleiben, soviel mehr werde ich den wohlgefälligen und in
Seinem Worte geoffenbarten Willen Gottes erforschen und,
getrennt von der Welt, die Innigkeit des Verhältnisses mit
Christo genießen. Es ändert nichts an der Sache, ob mich meine
eigene oder die Not anderer, oder gar die Not der auf der Erde
leidenden Kirche beschäftigt — sobald irgend etwas in Beziehung zur Erde mich beschäftigt und meine Natur in Tätigkeit
setzt, bin ich in der Abnahme meines geistlichen Zustandes
begriffen. Sobald ich meine ängstlichen Blicke auf die Macht
des Menschen richte, habe ich schon das Bewußtsein von der
Hilfe des Herrn verloren. Es ist gerade ein Beweis der Erhabenheit unserer gegenwärtigen und wahren Stellung, daß wir, bei
dem geringsten Abweichen davon, der Gefahr ausgesetzt sind,
Schaden zu leiden. Je reiner eine Sache ist, desto sorgfältiger
muß sie bewahrt bleiben. Das Verlangen, die Wahrheit zu beschränken, oder das Sträuben, die höchsten Wahrheiten anzunehmen, wird nur da entdeckt werden, wo das Geistesauge
163
mit einem Gegenstand oder einem Zustand beschäftigt ist, der
damit nicht im Einklang steht. In diesem Falle weigert sich das
Herz, die Wahrheit anzunehmen, oder paßt sie seinem Zustande an, um das Gewissen in Ruhe zu erhalten. Der letzte
Schritt, um das Gewissen gänzlich zu beseitigen, geschieht in
dem Augenblick, wo man dem Licht der Gegenwart Gottes
völlig ausweicht, um in ungehinderter Freiheit den Willen des
Fleisches vollbringen zu können.
Wie gesagt ist die Unzufriedenheit der Anfang des Abfalls.
Bald findet sich dann ein Plätzchen für das eigene Ich unter
irgendeinem scheinbar geistlichen Vorwande; und man hört
auf, in Christo zu ruhen, in Ihm, der alles in allem erfüllt.
Möge der Herr uns daher allen die Gnade schenken, gegen den
Anfang wachsam zu sein; nur dann werden wir durch Seine
Gnade, in einfältiger und glücklicher Abhängigkeit von Ihm,
geleitet werden können, Seinen Willen zu tun und durch alles
hindurch die Erfahrung zu machen, wie Er unser Stecken und
Stab sein will, bis in alle Ewigkeit.
Glaube und Demut
(Lk 7, 7-17.)
Die Geschichte des Hauptmann zu Kapernaum zeigt uns nicht
nur eine Handlung der Gnade im allgemeinen, sondern eine
Handlung der Gnade, die einem Heiden zuteil wird. Doch dies
ist nicht alles. Wir finden hier auch eine sehr verständliche
Erklärung jenes Grundsatzes, den uns der Apostel durch die
Worte bezeichnet: „Darum ist es aus Glauben, auf daß es nach
Gnade sei, damit die Verheißung dem ganzen Samen fest sei."
(Röm 4, 15.) Hier ist der Glaube, als der einzige große Wendepunkt, eingeführt. Es ist keine bloße Lehre, es ist der lebendige
Glaube, und zwar ein solcher Glaube, wie er in Israel noch
nicht gesehen worden war.
Der heidnische Mann zeigt in seinem Verhalten nicht eine
Spur von jener Vermessenheit, die dem Stolz des menschlichen
164
Herzens entspringt; im Gegenteil bringt sein ganzes Wesen
tiefe Demut seines Herzens ans Licht. Er erkennt die Vorrechte
an, die Gott Seinem Volk geschenkt hat; er erblickt auf den
Stirnen der Kinder Israel das sie ehrende Zeichen Gottes und
läßt sich selbst durch ihren niedrigen, tiefgesunkenen und in
jeder Beziehung unwürdigen Zustand nicht irremachen. Wie
verachtet und verworfen sie auch sein mochten, so liebte er sie
dennoch als das Volk Gottes; und um Seinetwillen erbaute er
ihnen ihre Synogoge. Seine Demut war ungeheuchelt, wiewohl
sein Glaube ihn weit über die stellte, die er ehrte. Er hatte eine
weit höhere Vorstellung von der göttlichen Macht und Herrlichkeit der Person Jesu, als alle Juden zusammen. Er wandte
sich nicht an den Herrn als den Messias, sondern erkannte in
Ihm die Macht Gottes in Liebe. Das war jener gesegnete
Glaube, der in der Erhöhung seines Gegenstandes sich selbst
vergißt. Er hatte, wie es scheint, Jesum nicht gesehen; aber er
hatte aus dem, was „er hörte", den Schluß gezogen, daß Krankheiten für Ihn nur eine Gelegenheit seien, um Seine unumschränkte Autorität und Seine grenzenlose Barmherzigkeit an
den Tag legen zu können. Er war ein Fremdling, während die
Kinder Israel das Volk Gottes waren; mußten nicht sie die
passendsten Boten sein, um diese wunderbare Person in sein
Haus zu bringen? Denn er setzte volles Vertrauen sowohl in
Seine Macht, als auch in Seine Barmherzigkeit; und sein
Knecht, „der ihm wert war, war krank und lag im Sterben".
„Und Jesus ging mit ihnen. Als er aber schon nicht mehr weit
von dem Hause entfernt war, sandte der Hauptmann Freunde
zu ihm und ließ ihm sagen: Herr, bemühe dich nicht; denn ich
bin nicht würdig, daß du unter mein Dach eingehest! Deshalb
habe ich mich selbst auch nicht würdig geachtet, zu dir zu
kommen; sondern sprich ein Wort und mein Knecht wird gesund werden." (V. 6. 7.) Das war in der Tat ein Ausdruck
tiefer Hochachtung und Ehrerbietung. Wie unwissend er auch
in anderen, den Ratschluß Gottes betreffenden Dingen sein
mochte, so fühlte er doch mit voller Stärke die Vortrefflichkeit
der Person Christi, und das verbunden mit einer Demut, die
mit dem Maße in Übereinstimmung war, in welcher Seine
Herrlichkeit gesehen wurde. Diese Botschaft der Freunde des
165
Hauptmanns schildert uns in bewundernswürdiger Weise
seinen Charakter und seine Gefühle. Er selbst sagte Jesu nichts
von seinem Dienst, den er den Juden geleistet hatte, er sprach
nichts über seine eigene Person, als daß er unwürdig sei; und
dies sagte er dazu mit einer bewundernswürdigen Bestimmtheit, so daß er sogar Jesum bat, nicht in sein Haus zu kommen,
weil er zu unwürdig sei, Ihn zu empfangen. In dieser Seele
findet man gerade das Gegenteil von dem, was man leider so
oft in anderen Seelen gewahrt, die meinen, weil sie an Christum
glauben, Ihm eine Ehre anzutun. Er war offenbar weit von der
Anmaßung entfernt, Christum in seinem Herzen aufzunehmen,
um sich dadurch zu erheben. Die Einfalt seines Herzens tritt
hier ebenso hell an den Tag wie sein starker Glaube. In
Israel wurde ein solcher Glaube nicht gefunden, und doch war
er in einem, der Israel liebte. In der Tat, wir finden hier in
jeder Beziehung, sowohl für die Menge, die Jesum folgte, wie
vor allem auch für uns eine höchst lehrreiche Unterweisung
der Gnade.
Wenn wir unsere Betrachtung weiter verfolgen, finden wir,
und zwar in Verbindung mit der den Heiden erwiesenen Gnade,
den Beweis der Macht, Tote ins Leben zu rufen, ein Zeugnis
dafür, daß Gott Sein Volk besucht hat. (V. 11—17.) Es war die
Macht der Auferstehung, eine Macht, die sich einmal in voller
Herrlichkeit entfalten wird und die den Menschen in Verbindung mit dem Gott bringt, der Tote auferweckt. Es war ein
höchst wunderbares Beispiel des Charakters Seiner Wirksamkeit, indem Er umherging, außerhalb der Sphäre des Gesetzes
und der Satzungen. „Denn das Gesetz herrscht über den
Menschen, solange er lebt." (Röm 7, 1.) Was nützt das Gesetz
einem Menschen, der gestorben ist? Aber „das dem Gesetz
Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott,
indem er seinen eigenen Sohn in Gleichheit des Fleisches der
Sünde und (als Opfer) für die Sünde sendend, die Sünde im
Fleische verurteilte, auf daß das Recht des Gesetzes erfüllt
würde in uns". (Röm 8, 3. 4.) Es war in der Tat Gnade und
göttliche Energie, aber zugleich entfaltet in Ihm, der Mitleiden
mit unseren Schwachheiten hatte. Und in welcher Klarheit
wird uns dieses in seinen Einzelheiten gezeigt! „Der Tote war
der einzige Sohn seiner Mutter, und sie war eine Witwe . . .
166
Und als der Herr sie sah, ward er innerlich bewegt über sie
und sprach zu ihr: Weine nicht! .. . Und der Tote setzte sich
auf und fing an zu reden; und er gab ihn seiner Mutter."
(V. 12—15.) Welch eine göttliche Macht und Gabe!
Das Buch und die Seele
Für die Bildung des Charakters eines im Segen wirkenden
Dieners des Wortes Gottes sind zwei Dinge von wesentlicher
Notwendigkeit, nämlich zuerst eine genaue Bekanntschaft mit
der Heiligen Schrift, und dann ein klares Bewußtsein des
Wertes der Seele und ihrer Bedürfnisse. Die Verbindung dieser
beiden Dinge ist von großer Bedeutung für jeden, der berufen
ist, im Worte und in der Lehre zu dienen, und fehlt eines von
ihnen, so fehlt eigentlich alles. Ich mag noch so sehr in der
Schrift belesen sein, ich mag mit dem Inhalt dieses göttlichen
Buches noch so vertraut sein und ein tiefes Gefühl für dessen
moralische Schönheiten besitzen; aber wenn ich die Seele und
ihre tiefen und mannigfaltigen Bedürfnisse nicht kenne, so
wird mein Dienst mangelhaft sein. Trotz meiner an und für sich
schätzenswerten Bekanntschaft mit dem Worte Gottes werde
ich für andere von einem nur geringen Nutzen sein. Meinem
Dienst wird die Schärfe und die Kraft fehlen, und er wird
weder dem Verlangen des Herzens noch den Forderungen des
Gewissens zu begegnen wissen.
Andererseits mag ich mit der Seele und ihren Bedürfnissen
sehr bekannt sein; ich mag die lebhaftesten Wünsche haben,
anderen nützlich zu sein und dem Herzen und Gewissen
meiner Zuhörer oder Leser dienen zu können; aber wenn ich
nicht mit meiner Bibel bekannt und nicht durch das Wort des
Lebens unterwiesen bin, so fehlt es mir selbstverständlich an
dem erforderlichen Stoff, um ein nützlicher Diener sein zu
können. Ich werde der Seele nichts zu geben haben, dem
Herzen nichts darreichen können und nichts besitzen, um auf
das Gewissen, zu wirken. Mein Dienst wird sich als fruchtlos
und ermüdend erweisen. Ich werde die Seelen quälen, statt sie
167
zu belehren; ich werde sie aufregen, statt sie zu erbauen.
Meine Ermahnungen, anstatt die Seelen auf dem steilen Wege
der Jüngerschaft vorwärts zu führen, werden im Gegenteil eher
Entmutigung bewirken.
Diese Dinge verdienen, beachtet zu werden. Richte einmal
Deinen Blick auf jemanden, der am Worte dient und im wesentlichen das Buch und seine moralischen Schönheiten vor seinem
geistlichen Auge hat. Er ist mit ihnen beschäftigt und zuzeiten so erfüllt davon, daß er fast die Zuhörer vergißt. Er kann
keine bestimmte und kräftige Aufforderung an das Herz richten; kein mächtiger Schlag trifft das Gewissen; und jede praktische Anwendung des göttlichen Inhalts auf die Seelen der
Zuhörer fehlt gänzlich. Seine Worte sind schön und richtig,
aber sie haben nicht die Wirkung, die sie haben sollten. Warum? Weil ihm die genannte Ausübung des Dienstes fehlt, ist
er mehr ein Diener des Buches, als ein Diener für die Seele.
Dann wirst Du vielleicht anderen begegnen, die in ihrem
Dienst sehr eifrig mit den Seelen beschäftigt zu sein scheinen.
Sie klagen an, sie ermahnen, sie treiben. Aber wegen Mangels
an Bekanntschaft und regelmäßiger Beschäftigung mit der
Schrift sind ihre Seelen bald erschöpft und abgenutzt in ihrem
Dienst. Freilich machen sie scheinbar das göttliche Buch zur
Grundlage ihres Dienstes; aber ihr Gebrauch des Wortes ist so
ungeschickt und unpassend, und ihre Anwendungen verraten
eine solche Unkenntnis, daß ihr Dienst sich ebenso uninteressant wie nutzlos erweist.
Wenn jetzt die Frage an uns gerichtet würde, welchen von
diesen beiden praktischen Ausübungen des Dienstes wir den
Vorzug geben wollten, so würden wir ohne Zögern die zuerst
genannte wählen. Wenn die moralischen Schönheiten des göttlichen Buches vor unseren Blicken entfaltet sind, dann gibt es
immer etwas, wodurch ein aufrichtiges Herz angezogen und
belebt wird, während im zweiten Falle nur ermüdende Anklagen und scheltende Ermahnungen da sind.
Aber sicher kann es nicht stark genug betont werden, daß
sowohl eine genaue Bekanntschaft mit dem göttlichen Buch
als auch ein klares Bewußtsein des Wertes der Seele und ihrer
Bedürfnisse bei einem jeden erforderlich ist, der das Vorrecht
168
genießen will, die Seelen zu bedienen. Beide Eigenschaften
müssen vereint sein. Möge daher jeder Diener sich sowohl der
Betrachtung des Wortes widmen, als auch unermüdlich mit
den Bedürfnissen der Seele beschäftigt sein. Vergessen wir
nicht, daß das Buch und die Seele zusammengehören.
Jesus Christus, die einzige Triebfeder,
Weisheit und Kraft
Es dauert oft lange, bevor die Gläubigen verstehen, daß
Christus in allen Dingen den Vorrang haben muß, und daß
nach der Absicht Gottes die, „welche er zuvor bestimmt hat,
dem Bilde seines Sohnes, welcher das Bild des unsichtbaren
Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung ist — gleichförmig
zu sein", jetzt in der Freiheit und Kraft des Heiligen Geistes
„nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit verwandelt werden". (Röm 8, 29; Kol 1, 15; 2. Kor 3, 18.) Und
wie wenig wird es daher verstanden, daß, so wie der gnadenreiche Herr Jesus die Heiligen „zur Rechten der Majestät in
der Höhe" darstellt, sie in ihrem Verhältnis Ihn auf Erden darstellen sollen! Der Apostel konnte sagen: „Das Leben ist für
mich Christus, und das Sterben Gewinn." (Phil 1, 21.) Dachte
er dabei bloß an den Besitz dieses Lebens? O nein, er dachte
an die Verwirklichung des Lebens. „Wer da sagt, daß er in
ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er
gewandelt hat." (1. Joh 2, 6.) Jedoch müssen wir uns stets erinnern, daß der Herr Jesus ohne Sünde, ohne Befleckung wandelte, während der Gläubige, von Natur sündig und befleckt,
alles der Gnade verdankt und, indem er die Glieder tötet, die
auf der Erde sind, nur durch die Kraft des Geistes des lebendigen Gottes den Sieg erlangt.
Aber wie lange, ich wiederhole es, dauert es oft, bevor die
Gläubigen in irgendeinem Maße die Erfahrung machen, die
der Apostel uns in Phil 3 schildert! Da er den Herrn Jesum als
Gerechtigkeit Gottes gefunden hatte, schlug er jede andere
Gerechtigkeit entschieden aus; er sah in betreff seiner Seele
alles vor dem ewigen Gott geordnet; und darum war der Herr
169
auch der einzige anziehende Gegenstand der Zuneigungen seiner Seele, so daß er sagen konnte: „Auf daß ich Christum gewinne . . . um ihn zu erkennen, und die Kraft seiner Auferstehung, und die Gemeinschaft seiner Leiden .. . ob ich auf
irgendeine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus
den Toten." (Phil 3, 8—11.) Allerdings muß zunächst den Bedürfnissen des mit Sünde beladenen Menschen begegnet sein,
sein Gewissen muß Frieden gefunden haben, er muß den unendlichen Wert des kostbaren Blutes Christi und sein göttliches
Recht, in der Herrlichkeit Gottes zu stehen, erkannt haben. Er
muß jener unumschränkten Gnade Gottes teilhaftig geworden
sein, die, nachdem alle Menschen als Sünder erfunden sind, in
Röm 5 entwickelt wird und die uns, sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart und die Zukunft als völlig
genügend dargestellt wird. Haben unsere Seelen diese Wahrheiten in sich aufgenommen, so dürfen wir uns einer dreifachen Vorsorge der Gnade Gottes rühmen, nämlich 1) in betreff
der Vergangenheit: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus
Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn
Jesum Christum"; — 2) in betreff unseres gegenwärtigen
Wandels durch die Wüste: „Wir haben mittels des Glaubens
auch Zugang zu dieser Gnade, in welcher wir stehen"; — und
dann 3) in betreff des zukünftigen Tages: „Wir rühmen uns
in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes"'. (Röm 5, 1. 2.) Ach,
wie unendlich sind die Reichtümer der Gnade Gottes! Wie
barmherzig ist unser Gott und Vater! Er, der Seines eingeborenen Sohnes, der in Seinem Schöße war, nicht verschonte,
sondern Ihn für feindselige Sünder in den Tod gab! Dennoch
aber ist es leider in betreff vieler von uns wahr, was
der Herr bei einer Gelegenheit sagte: „O, ihr Unverständigen
und trägen Herzens, zu glauben" usw.; und bei manchem vergeht fast die Zeit ihres Lebens, bevor sie das erreichen, was
eine dem Heiligen Geiste unterwürfige Seele schnell erkennen
möchte; und so fehlt es an der Verwirklichung dessen, was
Gott in betreff ihrer bezweckt. Sie eignen sich nicht alles an,
was in Christo Jesu ist; sie erkennen nicht, daß Er nicht nur
das Leben und die Gerechtigkeit, sondern auch die Kraft die
Weisheit, die Triebfeder, kurz gesagt alles ist; und darum
mangelt ihrer Seele der Genuß der „Gemeinschaft mit dem
170
Vater und mit seinem Sohne Jesu Christo", eine Gemeinschaft,
die ihrem Wandel, ihren Werken und allem, was ihre Seelen
am meisten beschäftigt, unbedingt vorangehen muß. Nehmen'
wir jetzt, um einige Grundsätze der Wahrheit zu beleuchten,
die Heilige Schrift zur Hand: Ich wünsche von Herzen, daß
sich diese Grundsätze tief in unser Gewissen einprägen möchten, damit wir die Hindernisse erkennen, die sich der Erlangung eines größeren Maßes von Kraft in den Weg stellen und
uns unfähig machen, „allezeit das Sterben Jesu am Leibe umherzutragen, auf daß auch das Leben Jesu an unserem Leibe
offenbar werde". (2. Kor 4, 10.)
Wie zahlreich auch die Früchte meiner bösen Natur sein mögen,
so habe ich nicht nur diese, sondern auch ihre Wurzel oder
ihre Quelle zu verurteilen. Nicht die so leicht umstrickende
Sünde, sondern ihre Ursache muß ins Gericht. Die Natur, das
Fleisch muß verurteilt werden, und zwar im Licht der Gegenwart des Herrn, wo allein die Sünde in ihrem wahren Charakter gesehen und erkannt wird, und wo jene Wahrheit gelernt
wird, daß in Seiner Gegenwart sich kein Fleisch rühmen kann,
wie geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich des
Herrn." Viele seufzen fortwährend über die Früchte einer
bösen Natur; aber sie richten nie die Natur selbst in der
heiligen Gegenwart Gottes. Wie machte es aber der Herr, als
Er bemüht war, den gefallenen Petrus wieder herzustellen?
Tadelte Er ihn wegen der Früchte seiner bösen Natur? Keineswegs; sondern Er zeigte auf die Quelle hin, auf das Selbstvertrauen und den Eigendünkel der Natur Seines Jüngers. Er
verurteilte die Wurzel, die Ursache seines Falles. Und das muß
auch bei uns stattfinden, wenn wir überhaupt uns selbst und
die wirkliche Gnade, in der wir stehen, erkennen und verstehen wollen. Es ist der völlig untaugliche, gänzlich verderbte,
hilflose, elende alte Mensch, der in dem heiligen Gericht des
Glaubens ausgezogen ist; es ist das Fleisch, das angesichts der
Herrlichkeit des Kreuzes Christi in gebührender Weise zum
Schweigen gebracht werden muß. Doch der neue Mensch ist
fähig gemacht, sich im Herrn, aber auch nur in Ihm allein
rühmen zu können. Das Wort Gottes zeigt uns zur Erläuterung
eine Menge von Beispielen, welch einen Platz der Mensch, der
gläubige Mensch, in der Gegenwart Gottes einnimmt. Sei es
171
Abraham, in dessen Herz die Herrlichkeit Gottes einen solchen
Strahl warf, daß „er gehorchte und auszog, nicht wissend,
wohin er komme", oder sei es der arme Jakob oder Hiob. Sei
es Jesaias, der sagte: „Wehe mir! denn ich bin verloren; denn
ich bin ein Mann von unreinen Lippen; denn meine Augen
haben den König, Jehova der Heerscharen, (vergl. Joh 12, 41.)
gesehen", — oder sei es Daniel, dessen Angesicht sich in der
Gegenwart Gottes zu Boden senkte, oder Hesekiel; sei es
Petrus, oder Paulus, oder Johannes, der wie tot zu den Füßen
des Herrn niederstürzte, — alle zeigen uns die Wirkung der
Gegenwart Gottes auf den Menschen, der sich dort befindet.
Wenn wir dies alles auf uns anwenden, dann möchte man
wohl fragen: Warum erfahren wir nicht mehr Kraft in unseren Seelen? Warum genießen wir nicht mehr von jener Freude,
welche der Heilige Geist denen gibt, die Ihm gehorchen, eine
Freude, die weit tiefer ist als die, welche die Seele erfüllt,
wenn sie bei völliger Annahme des Evangeliums den Frieden
erlangt? Ach! wir haben uns zu viele Theorien gemacht. Wir
haben uns mit der Lehre beschäftigt, aber sie zu sehr getrennt
von Ihm, in dessen glorreicher Person sich alle Lehre und alle
Wahrheit wie in einem Punkt vereinigt, von Ihm, in Dem,
obgleich Er hienieden erniedrigt war, „die ganze Fülle der
Gottheit leibhaftig wohnt". Viele sind mit ihrer eigenen Widmung, wie vortrefflich sie auch an sich ist, so sehr beschäftigt
gewesen, daß die Widmung weit mehr der vor ihrer Seele
stehende Gegenstand geworden ist, als die Person des Sohnes
Gottes Selbst. Und wie viele Jahre mögen hinter uns liegen,
wo unsere Handlungen, wie schön sie auch an sich sein mochten, von Beweggründen geleitet wurden, die es deutlich verrieten, daß das Auge und das Herz nicht auf Jesum allein
gerichtet waren? Wie aber lautete das Urteil Dessen, der
„Augen hat wie eine Feuerflamme" wider die Versammlung in
Ephesus? Tadelte Er sie etwa, weil sie keine Werke, keine
Mühe, kein Ausharren, keine Treue gegenüber den Bösen aufzuweisen hatten? O nein, sondern Sein Urteil lautet: „Ich
habe wider dich, daß du deine erste Liebe verlassen hast."
(Offb 2, 4.) Die wahre Quelle ihrer Widmung war nicht völlig
rein. Es war nicht die drängende Macht der Liebe Christi;
172
es war nicht Seine Person, der ihre Abhängigkeit und ihr Gehorsam gewidmet war. Er hatte, wie Er zu der Versammlung
in Sardes sagt, die Werke nicht völlig erfunden vor Seinem
Gott. (Offb 3, 2.)
In der Voraussetzung nun, daß wir, soweit wir es vermochten, ein wahres Urteil über die Natur in der Gegenwart Gottes
gefällt haben und uns demzufolge im Genuß einiger Freiheit
der Seele befinden, wird es zu unserer völligen Segnung nötig
sein, daß wir uns auf dem Pfade des Gehorsams und der Abhängigkeit vorwärtsbewegen; denn der Gehorsam gegen Gott
und Sein Wort ist die Kraft der Heiligkeit, und die Abhängigkeit ist der Weg der Stärke. Wie hart der Kampf auch sein
mag, so muß dennoch das gesegnete Werk des Tötens durch
den Geist fortgesetzt werden und das Gefühl der Verantwortlichkeit wach bleiben, um, weil wir den Heiligen Geist haben
und unsere Leiber Sein Tempel sind, im Geiste zu wandeln.
Das ist die wahre Furcht Gottes. „Das Geheimnis Jehovas
ist für die, welche ihn fürchten." (Ps 25, 14.) Wir müssen in
der Tat einen verborgenen Umgang mit Gott haben. Wo
dieser fehlt, da bringt selbst der Verkehr mit anderen Heiligen,
statt jene aus der „Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem
Sohne Jesus Christus" hervorströmende Kraft einzuflößen,
nur Schwachheit und Verwirrung in die Seele. Nur der verborgene Umgang mit Gott ist zu allen Zeiten das Geheimnis
der wahren Kraft gewesen. Nur in dieser heiligen Gegenwart
Gottes und in der wahren Abhängigkeit von Ihm kann der
Gläubige jene Stimme voll Majestät und Gnade hören, die
sagt: „Meine Gnade genügt dir; denn meine Kraft wird in
Schwachheit vollbracht. Daher will ich am allerliebsten mich
vielmehr meiner Schwachheit rühmen, auf daß die Kraft
des Christus über mir wohne." (2. Kor. 12, 9. 10.)
Ich verweise hier den Leser auf Joh 14, wo der Herr über den
Gehorsam, der die Abhängigkeit einschließt, eine wahrhaft
praktische Belehrung gibt. Er offenbart sich hier den Jüngern nicht als Messias, sondern in Seiner völlig göttlichen
Herrlichkeit als Sohn Gottes und als Sohn des Vaters. Er
kündigt sich ihnen an als den Gegenstand ihres Glaubens
(V. 1) und, wenn er sagt: „Wer mich gesehen hat, hat den
Vater gesehen", als den Gegenstand ihrer Anbetung. (V. 9.)
173
Und welch eine Fülle von Liebe drücken die Worte aus: „Ich
komme wieder und werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo
ich bin, auch ihr seiet." (V. 3.) Jedoch fährt Er später fort:
„An jenem Tage (d. i. am Tage der Gegenwart des Heiligen
Geistes) werdet ihr erkennen, daß ich in meinem Vater bin,
und ihr in mir und ich in euch. Wer meine Gebote hat und
sie hält, der ist es, der mich liebt; wer aber mich liebt, wird
von meinem Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben
und mich selbst ihm offenbar machen." (V. 20, 21.) Und die
Frage des Judas (nicht des Iskariot) beantwortend, sagt Er:
„Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten; und
mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen
und Wohnung bei ihm machen." (V. 23.) Zeigen uns diese
Worte nicht in bestimmter Weise unsere Verantwortlichkeit?
Die dem Sünder gegebene Verheißung hat eine bedingungslose, unumschränkte Gnade zur Grundlage; aber die Verheißung für den Heiligen ist an die Bedingung des Gehorsams
geknüpft. Ich habe mithin nicht auf Kraft zum Gehorsam zu
warten, sondern da ich Leben und Gnade, hervorströmend
aus jener göttlichen und ewigen Fülle, besitze, so habe ich
nur zu gehorchen, um Kraft zu erlangen. Der Mangel der
Erkenntnis dieser Wahrheit ist das Geheimnis der Hindernisse, die sich so manchem in den Weg stellen. Nur wenn wilden geschriebenen Worten gehorchen, finden wir die nachfolgende Segnung. Die oben angeführten Worte des Herrn lassen
keine andere Deutung zu. Für uns bleibt nichts zu tun übrig,
als daß wir in jeder Lage auf Ihn harren; aber auch nur auf
Ihn, bei dem alle Kraft ist. Ein Beispiel aus dem tagtäglichen
Leben wird uns dies erläutern. Trete ich z. B. in eine Gesellschaft von bekehrten oder unbekehrten Menschen, so muß mein
erster Schritt mich in die Gegenwart des Herrn führejn; denn
hier allein finde ich Weisheit, um der Wahrheit gemäß reden
und handeln zu können. Oder, begegne ich den Schwierigkeiten des Lebens, so werde ich nur, hinschauend auf Jesum,
beim Anblick Seiner Herrlichkeit und im Genuß Seiner Liebe
Kraft genug finden, um „abzulegen jede Bürde und die leicht
umstrickende Sünde, und mit Ausharren zu laufen den vor uns
liegenden Wettlauf." (Hebr 12, 1.) Es ist daher eine unumstößliche Wahrheit, daß dem Gehorsam, der die Abhängigkeit
174
in sich schließt, nie die nötige Kraft mangeln wird. Satan hat
in der Tat große Macht gegenüber dem dünkelhaften Auftreten einer bloßen Erkenntnis; aber er ist machtlos gegenüber dem Gehorsam. Wir haben ungeachtet aller Schwierigkeiten zu gehorchen und unserem eigenen Willen keinen
Raum zu gestatten. Natürlich habe ich für dieses alles das
Bewußtsein der Gegenwart des Herrn nötig, und daß ich mich
in dieser Gegenwart befinde und Seine Liebe genieße. Sein Tod
hat den Vorhang zerrissen und den Glaubenden in die Gegenwart Gottes gebracht, o, möchten wir durch den ungetrübten
Heiligen Geist die Gegenwart Gottes verwirklichen und Seine
Liebe genießen! Der Apostel sagt: „Die Liebe des Christus
drängt uns." In allen Fällen können wir auf diese Liebe rechnen. Er gab Sich für uns in den Tod, zahlte den höchsten Preis
für die Kirche; und sicher, darum können wir in Ihm jede
Quelle der Kraft und des Mitgefühls finden, und darauf Anspruch machen. Es ist Ihm, sowie Seinem und unserem Vater
wohlgefällig, wenn wir in Seine Liebe unser völliges Vertrauen
setzen und mit Zuversicht von ihr die Gewährung unserer Bitten erwarten. Wir dürfen kühn in die Worte des Psalmisten
einstimmen, wenn er sagt: „Den Wunsch seines Herzens hast
du ihm gegeben, und das Verlangen seiner Lippen nicht verweigert." (Ps. 21, 2.)
Mögen der Leser und der Schreiber dieser Zeilen immer tiefer
in diese gesegneten Wahrheiten eindringen! Mögen wir stets
in Jesu allein unsere Triebfeder, Weisheit und Macht finden
und den Glauben, der überwindet, festhalten durch die Erkenntnis der Herrlichkeit des Sohnes Gottes, Der gesagt hat:
„Dem, der überwindet, werde ich von dem verborgenen Manna geben, und ich werde ihm einen weißen Stein geben, und
auf den Stein einen neuen Namen geschrieben, den niemand
kennt, als wer ihn empfängt." (Offb 2,17.)
175
„Madie dich auf, ziehe hinauf
nach Bediel"
Diese Worte fassen eine tiefe praktische Wahrheit in sich,
auf die ich für einige Augenblicke die Aufmerksamkeit meiner
Leser richten möchte. Sie zeigen uns in deutlicher Weise, daß
Gott uns immer wieder in die uns ursprünglich bestimmten
Grenzen zurückführt. Viele Christen mögen dies nicht begreifen. Viele mögen es nicht in Übereinstimmung finden mit
der freien Gnade, in der wir stehen und die „herrscht durch
die Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum,
unseren Herrn"! Viele mögen jede Einschränkung dieser Art,
als den Schein der Gesetzlichkeit an sich tragend, mit einer
gewissen Furcht von sich abweisen, dennoch bleibt die darin
enthaltene Wahrheit unumstößlich, und wir sollten uns wohl
hüten, alles über Bord zu werfen, was dazu bestimmt ist, in
göttlicher Weise auf Herz und Gewissen des Gläubigen zu
wirken. Wenn wir wünschen, daß die Wahrheit alle ihre Seiten vor unserer Seele entfalten soll, dann dürfen wir, falls
irgendeine auf den ersten Blick streng scheinende Forderung
Gottes unser Ohr berührt, sie nicht als „gesetzlich" bezeichnen und verwerfen. Wir sind berufen, das „Wort der Ermahnung zu ertragen" und unsere Herzen auf alle heilsamen
Worte zu richten, die dazu bestimmt sind, unserer praktischen Gottseligkeit und persönlichen Heiligkeit Vorschub zu
leisten. Wir wissen, daß die reinen und kostbaren Lehren der
Gnade, jene Lehren, die in der Person Christi ihren lebendigen
Mittelpunkt, und in Seinem Werke ihr ewiges Fundament finden, die passenden Mittel sind, die der Heilige Geist benutzt,
um die Heiligkeit im Leben des Christen zu fördern; aber wir
wissen auch, daß, wenn diese Lehren bloß mit dem Verstände
aufgefaßt sind und mit den Lippen bekannt werden, das
Herz nichts von ihrer Kraft verspürt und das innere Leben
in seinem Wachstum nicht gefördert werden wird. Und wir
finden nicht selten, daß gerade diejenigen, die sich am lautesten gegen alles, was sie als gesetzlich bezeichnen, erheben, oft
am wenigsten die heilsamen Einflüsse der Gnade kennen, wäh176
rend die, welche wirklich die Gnade kennen und ihre reinigende und unterweisende Kraft erfahren, mit Freuden jeder
Mahnung das Herz und das Gewissen öffnen.
Wenn wir nun aber gesagt haben, daß Gott uns immer wieder
in die ursprünglich bestimmten Grenzen zurückführe, so ist
das in dem Sinne verstanden, daß, wenn Gott uns in eine
besondere Stellung berufen hat, die wir aus Schwachheit oder
aus Untreue verlassen haben, Er uns immer wieder in sie
zurückrufen wird. Freilich trägt Er uns mit großer Geduld
und wartet in langmütiger und gnadenreicher Weise; aber Er
ruht nicht, bis wir den ursprünglichen Platz wieder eingenommen haben.
Und haben wir nicht Ursache, Gott dafür zu preisen? Ohne
Zweifel. Könnten wir den Gedanken ertragen, daß wir den
uns angewiesenen Platz verlassen und uns nach dieser oder
jener Richtung hin verirren könnten, ohne daß Er Sich um
uns kümmern und uns wieder zurechtbringen würde? Unmöglich. Nein, sicher wünschen wir, daß Er uns in einem
solchen Falle wieder an die „alten Grenzen" erinnern möchte.
Und Er tut es und hat es von jeher getan. Als Petrus am See
Genezareth bekehrt wurde, verließ er alles und folgte Jesum
nach; und dennoch strömten von den Lippen des Herrn, der
im Begriff war, gen Himmel aufzufahren, seinem Ohr die
letzten Worte zu: „Folge mir nach!" Der Herr wollte Petrus
in die ursprünglichen Grenzen zurückführen. Das Herz Jesu
konnte sich mit nichts wenigerem begnügen; und ebenso sollte auch Sein Diener nichts anderes wollen. Am See Genezareth
begann Petrus seinem Herrn und Meister nachzufolgen.
Was aber nun? Jahre schwanden dahin; Petrus tat manchen
Fehltritt; er verleugnete seinen Herrn; er kehrte zu seinen
Booten und Netzen zurück. Und was folgte nun? Petrus wurde
völlig wiederhergestellt; und als er in diesem Zustande am
See Tiberias in der Nähe seines liebenden Herrn stand, war
er genötigt, auf das kurze, bestimmte Wort: „Folge mir nach!"
zu lauschen, ein Wort, das in seinem umfassenden Bereich
alle Einzelheiten eines im Dienst tätigen und in der Trübsal
ausharrenden Lebens in sich vereinigt. Mit einem Wort, Petrus wurde in die ursprünglichen Grenzen zurückgeführt, in
177
jene Grenzen, die Christum und seine eigene Seele umschlossen. Er wurde dahin geführt zu lernen, daß das Herz Jesu
keinen Wechsel erlitten habe und Seine Liebe unauslöschlich,
unveränderlich sei, und daß Er, weil dieses so war, darum auch
keinen Wechsel in dem Herzen des Jüngers, keine Entfernung
aus den ursprünglich bestimmten Grenzen dulden könne.
Die gleiche Sache finden wir in der Geschichte des Patriarchen
Jakob. Wenden wir ihm etliche Augenblicke unsere Aufmerksamkeit zu. In der letzten Hälfte des 28. Kapitels des 1. Buches
Mose wird uns die Stätte bezeichnet, die der Herr und Jakob
einnahmen. Da lesen wir: „Und Jakob zog aus von Beerseba
und ging nach Haran. Und er gelangte an einen Ort und
übernachtete daselbst; denn die Sonne war untergegangen.
Und er nahm einen von den Steinen des Ortes und legte ihn
zu seinen Häupten und legte sich nieder an selbigen Orte.
Und er träumte: und siehe, eine Leiter war auf die Erde gestellt, und ihre Spitze rührte an den Himmel; und siehe,
Engel Gottes stiegen auf und nieder an ihr. Und siehe, Jehova
stand über ihr und sprach: Ich bin Jehova, der Gott Abrahams, deines Vaters und der Gott Isaaks; das Land, auf welchem du liegst, dir will ich es geben und deinem Samen. Und
dein Same soll werden wie der Staub der Erde, und du wirst
dich ausbreiten nach Westen und nach Osten und nach Norden
und nach Süden hin; und in dir und in deinem Samen sollen
gesegnet werden alle Geschlechter der Erde. Und siehe, ich bin
mit dir, und ich will dich behüten überall, wohin du gehst,
und dich zurückbringen in dieses Land; denn ich werde dich
nicht verlassen, bis ich getan, was ich zu dir geredet habe."
(1. Mo 28, 10-15.)
Hier also war die gesegnete Stätte, an der der Gott Abrahams,
Isaaks und Jakobs dem armen Flüchtling verhieß, sich seiner
und seines Samens anzunehmen, jene Stätte, an der die denkwürdigen Worte vernommen wurden: „Ich werde dich nicht
verlassen, bis daß ich getan, was ich zu dir geredet habe."
Das waren die Ausdrücke, durch die Er Sich dem Jakob gegenüber verpflichtete, und die Er, gepriesen sei Sein Name!,
buchstäblich erfüllt hat und erfüllen wird, wie sehr auch Erde
und Hölle sich dagegen auflehnen mögen. Der Same Jakobs
178
wird einmal das ganze Land Kanaan als sein ewiges Erbteil
in Besitz nehmen; denn wer könnte den Herrn, Gott den
Allmächtigen, an der Erfüllung Seiner Verheißung hindern?
Richten wir jetzt unsere Blicke auf Jakob. „Und Jakob erwachte von seinem Schlafe und sprach: Fürwahr, Jehova ist an
diesem Orte, und ich wußte es nicht! Und er fürchtete sich
und sprach: Wie furchtbar ist dieser Ort! dies ist nichts anderes als Gottes Haus, und dies die Pforte des Himmels. Und
Jakob stand des Morgens früh auf und nahm den Stein, den
er zu seinen Häupten gelegt hatte, und stellte ihn auf als
Denkmal und goß ö l auf seine Spitze. Und er gab selbigem
Orte den Namen Bethel, aber im Anfang war Lus der Name
der Stadt. Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wenn Gott
mit mir ist und mich behütet auf diesem Wege, den ich gehe,
und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen, und ich
in Frieden zurückkehre zum Hause meines Vaters, so soll Jehova mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich als Denkmal
aufgestellt habe, soll ein Haus Gottes sein; und von allem,
was du mir geben wirst, werde ich dir gewißlich den Zehnten
geben." (1. Mo 28, 16-22.)
Gott verpfändet sich innerhalb der Grenzen Bethels dem Jakob; und dieses Pfand muß, mag auch Himmel und Erde
vergehen, einmal in seiner ganzen Vollständigkeit eingelöst
werden. Er offenbart Sich nicht nur dem einsamen Flüchtling,
während dieser auf seinem steinernen Kopfkissen eingeschlummert liegt, sondern verbindet sich sogar mit ihm durch
ein Band, das durch keine Macht der Erde und der Hölle je
zerrissen werden kann. Und was tut Jakob? Er widmet sich
diesem Gott und legt das Gelübde ab, daß die Stätte, auf der
er sich einer solchen Offenbarung erfreuen konnte, und wo er
auf solche unendlich großen und kostbaren Verheißungen
lauschen durfte, zum Gotteshause werden solle. Dies alles
war mit Bedacht vor dem Herrn ausgesprochen und feierlich
von Gott aufgezeichnet worden; und dann setzte Jakob seine
Reise fort. Jahre schwanden, zwanzig lange und ereignisvolle
Jahre, Jahre voller Trübsale und Prüfungen, Jahre, in denen
Jakob die trostlosen Erfahrungen einer unbefreiten Seele
machte; aber der Gott von Bethel wachte über seinen armen
179
Diener und erschien ihm inmitten seiner Drangsale, indem Er
zu ihm sagte: „Ich bin der Gott zu Bethel, wo du ein Denkmal gesalbt, wo du mir ein Gelübde getan hast. Nun mache
dich auf, ziehe aus diesem Lande, und kehre zurück in das
Land deiner Verwandtschaft." (1. Mo 31, 13.) Gott hatte die
ursprünglichen Grenzen nicht aus dem Auge verloren; und
darum durfte auch sein Diener sie nicht vergessen. Ist dies
etwa der Geist der Gesetzlichkeit? Keineswegs. Es ist nichts
anderes, als die einfache Entfaltung der göttlichen Liebe und
Treue. Gott liebte Jakob, und darum konnte Er nicht dulden,
daß Jakob den alten Grenzen fern bleibe. Er wachte mit einer
eifersüchtigen Liebe über den Zustand des Herzens Seines
Dieners; und damit dieser nicht länger jenseits der Grenzen
Bethels bleiben möchte, ermahnte Er ihn so zärtlich durch die
rührenden und bezeichnenden Worte: „Ich bin der Gott von
Bethel, wo du ein Denkmal gesalbt, wo du mir ein Gelübde
getan hast." Das war der liebliche Ausdruck der unwandelbaren Liebe Gottes, die darauf rechnete, daß auch Jakob sich
an die Szenen Bethels erinnern möchte.
Wie bewundernswürdig! Welch einen Wert legt der Allmächtige, Er, der von Ewigkeit her die Himmel bewohnt, auf die
Liebe und auf die Erinnerungen eines armen Erdenwurms!
Und dieses köstliche Bewußtsein sollte mehr in unserer Seele
leben. Leider ist es so wenig der Fall. Wir sind allerdings
bereit genug, die Gnadenerweisungen und Segnungen aus der
Hand Gottes zu nehmen; und sicher ist Er noch mehr bereit,
sie uns darzureichen. Aber wir sollten uns auch erinnern, daß
er der Widmung unserer Herzen für Ihn entgegensieht. Wenn
wir, von Liebe getrieben, beginnen, Christo zu folgen, Ihm
zu leben, alles um Seinetwillen preiszugeben, könnte dann
wohl während eines einzigen Augenblicks der Gedanke in
unserer Seele Raum finden, daß Er kalt und gleichgültig auf
Seine Ansprüche betreffs der Zuneigungen unserer Herzen Verzicht leisten würde? Könnten wir überhaupt den Gedanken
ertragen, daß es für Ihn eine Sache der Gleichgültigkeit sei,
ob wir Ihn lieben oder nicht? Gewiß nicht. Vielmehr wird
es für unser Herz eine ermunternde Freude sein, zu denken,
daß sich unser hochgepriesener Herr nach einer Widmung
unserer Seelen für Ihn sehnt. Nichts Geringeres genügt Ihm;
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und wenn wir in unserer Schwachheit uns hierher und dorthin wenden, dann führt Er uns in Seiner zärtlichen, freundlichen Weise zurück. Ja, das Banner Seiner Liebe flattert uns
stets entgegen und trägt eine Inschrift, die unsere umherschweifenden Herzen zur Rückkehr zu den alten Grenzen
ermahnt. Er sagt zu uns in der einen oder anderen Weise,
wie Er einst zu Jakob sagte: „Ich bin der Gott von Bethel,
wo du ein Denkmal gesalbt und wo du mir ein Gelübde getan hast." So handelt er mit uns, während wir hinkend und
stolpernd umherirren. Er läßt uns erkennen, daß wir nichts
ohne Seine Liebe tun können, und daß Er auch für Sein
Tun unsere Liebe fordert. Sein Wirken und Handeln zu unseren Gunsten ist wunderbar; Seine Bemühung, uns in unseren
alten Grenzen zu erhalten, läßt sich durch keinen Widerstand
aufhalten. O möchten doch auch die Gläubigen unserer Tage
auf den zärtlichen Ruf des Geistes Christi achten, wenn Er
sagt: „Ich habe wider dich, daß du deine erste Liebe verlassen
hast. Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tue Buße,
und tue die ersten Werke." (Offb 2, 4. 5.) „Gedenket aber
der vorigen Tage!" (Hebr 10, 32.) „Was war denn eure Glückseligkeit?" (Gal 4,15.)
Was anderes ist dies alles, als daß der Herr zurückruft in die
alten Grenzen, von denen man sich entfernt hat? Freilich sollte
das nicht nötig sein. Die Heiligen hätten nie ihre ursprünglichen Grenzen verlassen sollen. Aber sie haben es getan, und
darum hören wir das gnadenreiche Zurückrufen von den
Lippen unseres Herrn und Heilandes. Man könnte einwenden,
daß eine geprüfte Liebe besser sei als die erste Liebe. Wir
räumen dies ein; aber ist es nicht eine unleugbare Tatsache,
daß der erste Gang in der Nachfolge Jesu von einer Einfalt,
einem Ernst, einer Frische, einer Inbrunst, kurz von einer Tiefe
begleitet ist, wovon es uns aus verschiedenen Ursachen in späteren Tagen fehlt? Wir werden kalt und gleichgültig, die Welt
beeinflußt unsere Herzen und erstickt unsere Geistlichkeit;
die Natur gewinnt in der einen oder in der anderen Weise die
Oberhand und tötet unser geistliches Gefühl, dämpft unseren
Eifer und trübt unser Auge. Sollte keiner unserer Leser sich in
dieser Beziehung anklagen müssen? Und würde es in solchem
Falle nicht eine ganz besondere Barmherzigkeit sein, wenn er
181
in diesem Augenblick in die alten Granzen zurückgerufen
würde? Ohne Zweifel. Wohlan denn, seien wir versichert, daß
das Herz Jesu stets auf unsere Rückkehr wartet und bereit ist,
uns wieder aufzunehmen. Seine Liebe ist unveränderlich; und
nicht allein das, sondern Er erinnert uns auch stets daran, daß
es für Sein Herz ein Bedürfnis ist, daß Seine Liebe von unserer
Seite erwidert wird. Daher, geliebte Brüder, was auch das Maß
Eurer früheren Zuneigung gemindert und Euch aus den alten
Grenzen der Übergabe Eures Herzens an Ihn herausgelockt
haben mag, erhebt Euch und kehrt zu Ihm zurück. Säumet
nicht! zögert nicht! Werft Euch zu den Füßen des Euch so sehr
liebenden Herrn und schüttet Euer Herz vor Ihm aus. Nur in
Seiner Gegenwart findet Ihr die verborgen sprudelnde Quelle
jedes wahren Dienstes. Besitzt Christus nicht die Liebe Eurer
Herzen, so verlangt Er auch nicht die Werke Eurer Hände. Er
sagt nicht: „Mein Sohn! Gib mir dein Geld, deine Zeit, deine
Talente, deine Willenskraft, deine Feder, deine Zunge, deinen
Kopf"; alle diese Dinge sind äußerst unnütz und können Ihn
nicht befriedigen. Aber Er sagt: „Gib mir, mein Sohn, dein
Herz!" Sobald das Herz Jesum geschenkt ist, wird alles im
richtigen Gleise gehen. Aus dem Herzen kommen alle Ausflüsse des Lebens; und wenn nur Christus Seinen rechten
Platz im Herzen hat, so werden auch die Werke und Wege,
der Wandel und die Gesinnung am rechten Platze sein.
Kehren wir indes zurück zu Jakob, und wir werden Gelegenheit haben zu sehen, wie klar der Gegenstand unserer Betrachtung in dieser lehrreichen Geschichte erläutert ist. Am
Ende des 33. Kapitels begegnen wir ihm in der Nähe der
Stadt Sichen, wo er allen Arten von Trübsal und Verwirrung
in die Arme fällt. Sein Haus wird entehrt, und seine Söhne,
die an dem Ehrenschänder Rache üben, bringen sein Leben in
die äußerste Gefahr. Dies alles fühlt Jakob in seiner ganzen
Bitterkeit; und darum sagt er zu seinen beiden Söhnen Simeon
und Levi: „Ihr habt mich in Trübsal gebracht, indem ihr mich
stinkend machet unter den Bewohnern des Landes, unter den
Kanaanitern und unter den Perisitern. Ich aber bin ein zählbares Häuflein, und sie werden sich wider mich versammeln
und mich schlagen, und ich werde vertilgt werden, ich und
mein Haus." (1. Mo 34, 30.)
182
Gewiß waren diese Erscheinungen höchst beklagenswert; und
dennoch findet man nicht, daß sich das Herz Jakobs erinnert,
nicht am rechten Platze zu sein. Wie groß die Entehrung und
Verwirrung in der Stadt Sichern auch sein mochte, so war sein
Auge dennoch zu trübe, um sehen zu können, daß er sich nicht
innerhalb der alten Grenzen befand. Und ach! wie oft zeigt
sich dieser Fall! Wir verlassen so oft das aufgepflanzte Banner
des Herrn in unserem tagtäglichen Wandel; wir versäumen es
so oft, die Höhen göttlicher Offenbarungen zu ersteigen; und
obwohl die mannigfaltigen Früchte unserer Fehltritte auf allen
Seiten hervorsprießen, so hat die uns umringende Atmosphäre
unser Auge oft doch so sehr getrübt, und unsere Verbindungen
mit der Welt haben unsere geistlichen Empfindungen oft so
sehr abgestumpt, daß wir nicht zu unterscheiden vermögen,
wie tief wir gesunken sind und wie weit wir uns aus den uns
angewiesenen Schranken entfernt haben.
Aber in welcher Deutlichkeit treten uns in der uns vorliegenden Geschichte die göttlichen Grundsätze vor Augen! Und
Gott sprach zu Jakob: „Mache dich auf, ziehe hinauf nach
Bethel, und wohne daselbst, und mache daselbst einen Altar
dem Gott, der dir erschienen ist, als du vor deinem Bruder
Esau flohest." (1. Mo 35, 1.)
Teurer Leser! Laßt uns hier einen Augenblick verweilen. Hier
zeigt sich unseren Blicken ein vortrefflicher Zug in der Weise
Gottes bezüglich seines Handelns mit unseren Seelen. Die
Stadt Sichern mit all ihren Greueln und Verwüstungen wird
hier durchaus nicht erwähnt. Kein Wort des Tadels trifft Jakob,
daß er sich niedergelassen hat, in dieser Gegend. Nein, das
ist nicht die Art und Weise Gottes. Er wendet eine weit
vortrefflichere Methode an. Hätten wir uns mit Jakob beschäftigen müssen, sicher würde eine harte Zurechtweisung
von unserer Seite ihm begegnet sein; wir würden ihm eine
strenge Predigt über seine Torheit, sich in der Gegend von
Sichern niederzulassen, gehalten, und sein persönliches und
häusliches Betragen allen Ernstes gerügt haben. Doch wie gut
ist es, daß Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken sind und
seine Wege nicht unsere Wege! Statt zu Jakob zu sagen:
„Warum hast du dich in Sichern niedergelassen?" sagt er ein183
fach: „Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel!" Aber eben
mit diesem zärtlichen Ton der Liebe dringt ein Lichtstrahl in
die Seele Jakobs, der ihn in den Stand setzt, sich selbst und
das was in seinem Hause ist zu verurteilen. Denn kaum ist er
aufgefordert, nach Bethel zu gehen, so hören wir ihn zu
seinem Hause und zu allen, die bei ihm waren, die Worte
sagen: „Tut die fremden Götter hinweg, die in eurer Mitte
sind, und reiniget euch, und wechselt eure Kleider; und wir
wollen uns aufmachen und nach Bethel hinaufziehen, und ich
werde daselbst einen Altar machen dem Gott, der mir geantwortet hat am Tage meiner Drangsal und mit mir gewesen ist
auf dem Wege, den ich gewandelt bin." (1. Mo 35, 2—3.)
Das ist augenscheinlich, daß er in die ursprünglichen Grenzen,
die Gott ihm angewiesen hatte, zurückkehrt. Eine Seele wird
wiederhergestellt und auf die Pfade der Gerechtigkeit geleitet.
Jakob fühlte, daß er keine falschen Götter und keine besudelten Kleider in Bethel einführen durfte. Solche Dinge mochten
für Sichern passend sein, aber nicht für Bethel. Und was war
die Antwort auf seine Aufforderung? „Und sie gaben Jakob
alle fremden Götter, die in ihrer Hand, und die Ringe, die in
ihren Ohren waren, und Jakob vergrub sie unter der Terebinthe, die bei Sichern ist. . . Und Jakob kam nach Lus, welches im
Lande Kanaan liegt, das ist Bethel, er und alles Volk, das bei
ihm war. Und er baute daselbst einen Altar und nannte den
Ort El-Bethel; denn Gott hatte sich ihm daselbst geoffenbart,
als er vor seinem Bruder floh." (1. Mo 35, 4—7.)
„El-Bethel" Welch ein kostbarer Name! In Sichern nannte
Jakob seinen Altar: „El-elohe-Israel!" d. h. Gott, der Gott
Israels; aber in Bethel nannte er ihn: „El-Bethel!" d. h. Gott,
das Haus Gottes. Das war in der Tat eine wirkliche Wiederherstellung. Jakob war von all seinen Irrwegen zurückgekehrt,
und zwar bis zu der Stätte, die er verlassen hatte. Nichts
weniger hätte Gott in betreff Seines Dieners befriedigen können. Er konnte mit großer Geduld auf ihn warten, Er konnte
ihn mit göttlicher Langmut tragen, Er konnte ihm dienen,
konnte für ihn sorgen und Sich in der mannigfaltigsten Weise
mit ihm beschäftigen; aber nichts anderes konnte das Herz
Gottes zufriedenstellen, als die pünktliche Ausführung des
Befehls: „Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel!"
184
Mein christlicher Leser! Es wird nützlich sein, hier ein wenig
haltzumachen. Ich möchte gern an Dich einige ernste Fragen
richten. Sagt dir etwa dein Gewissen, daß du die Gegenwart
Jesu verlassen und von Ihm abgeirrt bist? Verspürst du in
deinem Heerzen eine zunehmende Kälte und Abneigung gegen
Ihn? Hast du jene Frische verloren, die in früheren Tagen den
Ton deiner Seele zu heiligen Lobliedern stimmte? Bist du, was
dein moralischer Zustand betrifft, bis zu den Gegenden Sichems
hinabgestiegen? Ist dein Herz den fremden Göttern nachgegangen, und sind deine Kleider besudelt worden? — Nun, dann
laß dich daran erinnern, daß der Herr deine Rückkehr dringend
wünscht. Ja, Er wünscht sie, Er sehnt Sich, daß du noch heute
kommen möchtest. Er sagt gerade in diesem Aubenblick zu
dir: „Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel!" Du wirst
nicht glücklich sein, du wirst keine sicheren Schritte tun, solange du diesem gesegneten, aufmunternden Ruf nicht völlig
entsprochen hast. Darum laß dich bitten und kehre noch heute
zurück. Mache dich auf und wirf jede Bürde und jedes Hindernis beiseite; wirf alle deine falschen Götter weg und wechsle
deine Kleider; wende dich eilig zurück zu den Füßen deines
Herrn, der dich liebt mit einer Liebe, von der dich keine Macht
der Erde und der Hölle zu scheiden vermag und der nicht eher
befriedigt ist, als bis Er dich in Seiner Nähe innerhalb der dir
angewiesenen Grenzen erblickt. Nenne dieses nicht Gesetzlichkeit; gewiß, es ist nichts dieser Art. Es ist die Liebe Jesu, Seine
ernste, brennende, tiefe Liebe, eine Liebe, die eifersüchtig ist
auf jede nebenbuhlerische Zuneigung, eine Liebe, die das
ganze Herz gibt und darum auch das ganze Herz zurückverlangt. Möge daher Gott der Heilige Geist jedes irrende Herz
in die richtigen Grenzen zurückführen! Möge Er mit erneuerter
Kraft jede Seele heimsuchen, welche hinabgestiegen ist zu den
Ebenen Sichems und ihr nicht eher Ruhe geben, als bis sie
völlig der Mahnung gefolgt ist: „Mache dich auf, ziehe hinauf
nach Bethel!"
185
Der Hauptmann Kornelius und
der sterbende Räuber
(Apg 10 und Lk 23, 39-43)
Es ist sehr nützlich und belehrend, unsere Aufmerksamkeit den
beiden völlig verschiedenen Klassen von Personen zuzuwenden, die uns im Neuen Testament als Gegenstände der göttlichen Gnade dargestellt werden. Nach menschlichem Urteil
würden wir die eine Klasse als sehr gut und die andere als sehr
böse bezeichnen. Für die gute Klasse wollen wir den Hauptmann Kornelius von Cäsarea, und für die böse Klasse den
Räuber am Kreuze wählen. Einen bestimmteren Gegensatz
als den, der uns in diesen beiden Männern entgegentritt,
wird man kaum finden; und dennoch bedurfte der eine wie
der andere des Heils, das in Christo Jesu ist. Sowohl der
gottesfürchtige Hauptmann als auch der sterbende Räuber,
beide mußten durch das versöhnende Blut Christi abgewaschen werden, um für die Gegenwart Gottes passend zu sein.
Der eine hatte nichts weniger nötig und der andere nichts
mehr, als dieses kostbare Opfer.
Es ist nun bedeutsam und lehrreich, den Zustand dieser beiden
Männer in jenem Augenblick zu beobachten, als zuerst das
Heil Gottes in ihre Seele strahlte. Horchen wir, wie der Heilige
Geist den Hauptmann Kornelius schildert. „Ein gewisser Mann
aber in Cäsarea, mit Namen Kornelius, ein Hauptmann von
der Schar, genannt die Italische; fromm und gottesfürchtig mit
seinem ganzen Hause, der dem Volke viele Almosen gab und
allezeit zu Gott betete." (Apg 10, 1. 7.) Welch ein Charakter!
Man könnte mit allem Recht fragen: „Was kann ein solcher
Mann über das hinaus, was er bereits besitzt, noch begehren?
Ist er nicht ein frommer, gottesfürchtiger, gebetseifriger Mann?
Was fehlt ihm noch?" Wir würden in der Tat schwerlich
jemanden finden, dessen Betragen zu größeren Hoffnungen
berechtigte und dessen ganze Erscheinung mehr das Gepräge
eines erleuchteten, gottesfürchtigen Christen trüge. Und dennoch fehlte ihm eine Sache, die unerläßlich nötig ist. In der
Erzählung, die wir über seine Person hören, finden wir nichts
186
von Jesu und Seinem versöhnenden Blut. Das dürfen wir
nicht aus dem Auge verlieren. Vielleicht fallen diese Blätter in
die Hände von jemanden, der die Notwendigkeit des Opfers
Christi leugnet und die Erziehung und Veredlung der menschlichen Natur bis zu einem Grade für möglich hält, so daß dadurch der Opfertod des Sohnes Gottes überflüssig sei. Möge
ein solcher an Kornelius denken. Trotz all seiner Frömmigkeit und Mildtätigkeit, verlangte er, nach Petrus zu senden, um
von ihm Worte zu hören, wodurch er und sein ganzes Haus
gerettet werden würde. (Vergl. Apg 10, 22 mit Kap. 11, 14.)
Wir hören die zu Petrus gesandten Boten sagen: „Kornelius . . .
ist von einem heiligen Engel göttlich gewiesen worden, dich in
sein Haus holen zu lassen und Worte von dir zu hören."
(V. 22.) Dies ist das wichtigste Ereignis. Ein Mann, der sich
beständig in der Ausübung guter Werke befand, die an und
für sich höchst wertvoll waren, wurde berufen, auf Worte zu
horchen und in diesen Worten das Heil zu finden. Nicht als ob
die Werke, so weit sie reichten, nicht kostbar gewesen wären.
Vielmehr gibt der Geist Gottes selbst Zeugnis von ihrem
Wert; denn der Engel sagt zu Kornelius: „Deine Gebete und
deine Almosen sind hinaufgestiegen zum Gedächtnis vor Gott!"
(V. 4.) Sie lieferten ein treues Bild von der Aufrichtigkeit und
dem Ernst seiner Seele; und darum waren sie von Gott anerkannt. Dies wird stets der Fall sein; und es ist nützlich,
uns daran zu erinnern. Jede ernste Seele, die aufrichtig ihrem
Lichte gemäß lebt, wird sicher von Gott erkannt werden und
mehr Licht empfangen. Dennoch, und das ist bemerkenswert,
ist Kornelius genötigt, auf Worte zu horchen, um gerettet zu
werden. Auf welche Worte? Auf Worte betreffs des Jesus von
Nazareth, betreffs Seines heiligen, fleckenlosen, liebevollen
Lebens, Seines versöhnenden Todes und Seiner siegreichen
Auferstehung. Das waren die Worte, die vom Himmel gesandt
über die Lippen Petri drangen und in Ohr und Herz des
ernsten und gottesfürchtigen Hauptmanns von Cäsarea fielen.
Diese Worte erschlossen eine neue Welt und stellten einen
gänzlich neuen Gegenstand vor das Herz des Kornelius. Almosen und Gebete waren gut; aber ein gekreuzigter und auferstandener Jesus, ein Jesus, der einst ans Holz genagelt wurde,
187
jetzt aber verherrlicht im Himmel ist, war weit besser. Gebete
und Almosen mochten als ein Gedächtnis zum Himmel emporgestiegen sein; aber nur das Blut Christi vermochte den
Kornelius selbst dorthin zu bringen. Weder alle die Gebete,
die aus einem ernsten Herzen hervorquellen, noch alle Almosen, die eine Hand der Mildtätigkeit spendet, können einen
schuldigen Sünder in die Gegenwart eines heiligen Gottes
leiten. Das Blut Christi und nur dieses Blut allein kann einen
Sünder zu Gott führen, sei er ein Hauptmann oder ein Räuber.
Der beste Mensch hat nicht weniger, und der schlechteste
nicht mehr nötig als dieses kostbare Blut, das von allen Sünden reinigt. Das ist eine wichtige Wahrheit und kann nicht
tief genug dem Herzen des Lesers eingeprägt werden. Wenn
ein Mann wie Kornelius von all seinen Werken wegblicken
und auf „Worte" horchen mußte, wenn er berufen war,
von sich selbst abzusehen und in einem gekreuzigten und
auferstandenen Erlöser alles, was er bedurfte, zu finden, wenn,
mit einem Worte, dieser Mann, der durch Frömmigkeit und
Mildtätigkeit sich einen guten Namen erworben hatte, genötigt war, auf den Tod und die Auferstehung des Jesus von
Nazareth, als auf den einzigen Grund der Annahme eines
Sünders vor Gott zu horchen, dann ist es doch jedenfalls
augenscheinlich, daß ein Mensch, was er auch an Frömmigkeit
und Mildtätigkeit aufzuweisen haben mag, ohne Hoffnung der
Errettung ist, wenn er Christum nicht besitzt. Wenn sich
zwischen die Seele und Christum nur etwas, dünn wie feinstes
Blattgold, gedrängt hat, dann ist sicher kein Leben in der
Seele. Das kann in unseren Tagen, wo die Religiosität in den
verschiedenartigsten Gewändern umhergeht, nicht genug hervorgehoben werden. Der Teufel ist stets beschäftigt, Christum
durch allerlei Satzungen und Zeremonien zu verdrängen und
den hochgelobten Herrn hinter die finstere Wolke religiöser
Formen und Übungen zu verbergen. Er ist immer bemüht, den
gefährlichen und seelenverderbenden Irrtum zu verbreiten, als
ob der Mensch in seiner Natur etwas besitze, das durch Erziehung, Aufklärung und Philosophie entwickelt werden
könnte. Das Kreuz Christi wird auf mancherleich Art beiseite
gesetzt. Die Menschen werden belehrt, daß sie das Kreuz nicht
brauchen, daß jeder gewisse Kräfte in sich trage, die nur einer
188
geeigneten Entwicklung bedürfen, um ihn zu einer solchen
Tugendhöhe und zu einer solch sittlichen Vollkommenheit zu
erheben, die ihm die Erlangung ewiger Glückseligkeit sicher
mache. Trauriger Irrtum!
Wir warnen den Leser mit feierlichem Ernst gegen solchen
Betrug. Wir behaupten es kühn, daß jeder Gedanke dieser Art
eine Lüge Satans ist, eine Lüge, die er mit Eifer in der anziehendsten Weise zu vergolden und zu zieren sucht, um jeden
Gedanken an Jesus und an Sein heiliges Versöhnungswerk
aus dem Herzen zu verdrängen. Wenn dabei noch in etwa der
Name Jesu genannt wird, so geschieht es nur, um Ihn als
jemanden zu bezeichnen, der durch Sein Leben und Sterben
ein Beispiel der erhabensten Tugend hinterließ und daß der
Mensch durch Ausübung der ihm angeborenen Kraft fähig sei,
das nachzuahmen. Der Sündenfall des Menschen wird geleugnet, seine gänzliche Verdorbenheit bestritten und seine Vernunft vergöttert. Die Lehre ist, daß zu seiner Errettung der
Tod Christi nicht nötig war, weil der Mensch sich selbst retten
kann; und daß er die Leitung des Wortes und des Heiligen
Geistes nicht braucht, weil er sich selbst leiten kann durch seine
eigene Vernunft und durch sein moralisches Gefühl.
Wie wichtig ist angesichts dieses Irrtums die Unterweisung des
10. Kapitels der Apostelgeschichte. Dort finden wir einen
Mann, bei dem wir eine erhabene Tugend und eine seltene
Gottesfurcht sehen, einen Mann, der auf seinen familienaltar
das beständige Opfer des Gebets niederlegt und dessen freigebige Hand stets geöffnet ist, um der Notdurft seiner Mitmenschen zu begegnen.*) Und dennoch ist dieser Mann genötigt, auf „Worte" zu lauschen; und in diesen Worten findet
er das Heil und einen Heiland. Wenden wir uns zu der
Anrede des Petrus in dem Hause des Hauptmanns. Sie hier
ausführlich niederzuschreiben, ist nicht nötig. Wir fragen
bloß: Wer ist der einzige Gegenstand dieser Predigt? Wer
bildet hier den Anfang, die Mitte und das Ende? Wer anders
als Jesus? Ja, Jesus, der Gegenstand göttlicher Wonne, Jesus,
der Grund der Zuversicht und der ewigen Errettung des Sün-
*) Wir zweifeln keineswegs daran, daß Komelius eine erweckte Seele war
und nach dem Licht, das er hatte, treu wandelte; aber er erkannte die Erlösung
nicht, und daher erklärt sein Zustand in bestimmter Weise die unabweisbare
Notwendigkeit des Todes und der Auferstehung Jesu.
189
ders. „Diesem geben alle Propheten Zeugnis, daß jeder, der
an ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfängt, durch seinen
Namen." (V. 43.) Merken wir uns die Worte: „Der an ihn
glaubt". Es ist nicht ein Glaube an etwas, was ihn betrifft
oder was Er getan hat, sondern der Glaube an Ihn. Es ist der
Glaube an seine Person, die dem gottlosen und verlorenen
Sünder Leben und Rettung gibt. „Es ist in keinem anderen
das Heil; denn auch kein anderer Name ist unter dem Himmel, der unter den Menschen gegeben ist, in welchem wir
errettet werden müssen." (Apg 4, 12.)
Wenn wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf den sterbenden
Räuber richten, sehen wir in seinem Fall die Macht und den
Wert des Blutes Jesu. Der Gegensatz zwischen ihm und Kornelius ist wichtig und lehrreich. Wir finden hier zwei Arten,
durch die Satan die Seelen zu verderben sucht. Er flüstert dem
einen ins Ohr: „Du bist nicht so schlecht, daß du die Erlösung
nötig hast"; — und dem anderen: „Du bist zu schlecht, als daß
du Anspruch darauf machen kannst." Der Hauptmann von
Cäsarea gibt auf das erste Antwort, und der Räuber am Kreuz
auf das zweite. Wenn jemand durch die blendende Macht des
Betrügers und Verwüsters der Seelen so weit irregeführt ist,
daß er meint, den versöhnenden Tod Jesu zu seiner Rettung
nicht nötig zu haben, wenn er sich auf richtigem Pfade und
außer Gefahr erblickt, weil er nie irgend etwas sehr Böses
getan oder in seinem Herzen genährt hat, und weil er seine
Pflichten als Ehemann, als Vater, als Herr, als Diener, als
Nachbar, als Freund erfüllt und seine Religion beobachtet hat,
worauf setzt er dann, vorausgesetzt, daß alles dieses wahr ist,
seine Hoffnung? Wir wissen, daß der Engel zu Kornelius
sagte: „Deine Gebete und deine Almosen sind hinaufgestiegen
zum Gedächtnis vor Gott." Aber war er deshalb gerettet?
Keineswegs. Wohl verriet sein Betragen, daß er nach dem
Licht, das er hatte, Gott zu dienen trachtete, und daß er mit
Ängstlichkeit die Wahrheit suchte; und Gott sei Dank! er fand
sie in dem gekreuzigten, begrabenen und auferstandenen Jesus
von Nazareth. Aber aus seiner Geschichte lernen wir, daß, wie
vortefflich seine Werke auch waren, nichts als der Versöhnungstod des Sohnes Gottes selbst den besten Menschen zu retten
vermag.
190
Wenn dagegen jemand sagt: „Ich bin zu schlecht, zu gottlos,
zu verderbt, um errettet werden und auf Gnade hoffen zu
können", dann möge ein solcher seinen Blick auf den sterbenden Räuber richten. Man würde wohl schwer jemand auf einer
niedrigeren Stufe finden, als worauf er stand. Er war durch
das Gesetz seines Landes verurteilt, für seine Verbrechen eines
schmachvollen Todes zu sterben. Und nicht nur dies, sondern,
obwohl er am Kreuze hing und an der Pforte der Ewigkeit
stand, konnte er dennoch mit anderen die Lippen öffnen, um
den Sohn Gottes zu lästern. Freilich wußte er nicht, daß der,
welcher an seiner Seite hing, der Sohn Gottes war; aber verriet nicht sein Spott die tiefe Finsternis, in die seine schuldbeladene Seele versunken war?
Es ist wichtig, zu sehen, daß beide Missetäter den sterbenden
Heiland lästerten und verspotteten. Wie glänzend tritt die
Gnade hier bei der Rettung des Bußfertigen hervor! Matthäus
sagt in seiner Erzählung: „Auf dieselbe Weise schmähten ihn
auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren." (Mth 27, 44.)
und ebenso lesen wir in Markus: „Auch die mit ihm gekreuzigt
waren, schmähten ihn." (Mk 15, 32.)
So steht also der sterbende Räuber hier vor uns als ein Muster
der schlechtesten Form der gefallenen Menschheit. Er war ein
verurteilter Missetäter und, obgleich er im tiefsten Elend war,
ein Lästerer des Sohnes Gottes. Aber er stand nicht außer dem
Bereich der göttlichen Liebe; nein, sondern er war gerade ein
solches Geschöpf, an dem diese Liebe ihren Triumph entfalten
konnte. Jesus kam zu suchen und zu erretten, was verloren ist.
Und dieses Wörtchen „verloren" beschreibt den Zustand aller
Menschen, ohne Ausnahme. Der Räuber war verloren, der
Hauptmann war verloren; und obwohl der eine uns auf der
niedrigsten Stufe der Strafbarkeit und Entwürdigung gezeigt
wird, und der andere auf der Höhe der Gottesfurcht und der
Mildtätigkeit, so sind beide doch nichts als schuldige, verlorene
Sünder, indem sowohl der eine wie der andere zu seiner
Waschung das versöhnende Blut des Lammes Gottes nötig hat.
Doch betrachten wir die Geschichte des sterbenden Räubers ein
wenig näher. In Lukas beschäftigt sich der Heilige Geist in
dem Augenblick mit ihm, als der erste Strahl des göttlichen
191
Lichts und göttlicher Gnade in seine verfinsterte Seele drang,
während Matthäus und Markus uns ihn in seiner Schuld darstellen. Beides mußte uns gezeigt werden, um von einem bußfertigen Räuber eine richtige Vorstellung zu haben. Die göttliche Mitteilung betreffs der großen Schuld erhöht den Wert
der göttlichen Gnade. Es wird dadurch ans Licht gestellt, daß
unser Heiland Gott bis in die tiefste Tiefe des menschlichen
Zustandes hinabgestiegen ist, daß es eine völlige, freie und
ewige Errettung selbst für den versunkensten Menschen gibt
und daß sich niemand außer dem Bereich der unumschränkten
Gnade und Barmherzigkeit Gottes befindet. Dies zeigt uns die
Geschichte des Räubers. Sowohl er wie auch der Hauptmann,
beide hatten dasselbe Mittel zu ihrer Errettung nötig. Der eine
hatte nichts mehr und der andere nichts weniger nötig; beide
bedurften des Opfers des Herrn und Heilandes Jesu Christi.
Das Verbrechen des Räubers wurde durch das Blut des Kreuzes
ausgelöscht; und die Almosen und Gebete desKornelius waren
ungenügend ohne dieses Blut. O, möchten doch alle, die sich
für zu schlecht halten, um gerettet werden zu können, ihren
Blick auf den sterbenden Räuber am Kreuze richten; und
möchten alle, die meinen, dieses Heil nicht nötig zu haben,
auf den Hauptmann zu Cäsarea sehen! Wenn aber der Hauptmann dieses Blut nötig hatte, wer könnte es dann entbehren?
Und wenn der Räuber durch dieses Blut gerettet worden ist,
wer könnte dann noch verzweifeln? Diese beiden Fälle zusammengenommen zeigen uns in klarer Weise die Unzulänglichkeit der besten Anstrengungen des Menschen und die vollkommene Wirksamkeit und Hinlänglichkeit des Versöhnungswerkes Christi.
Welches sind nun die Fortschritte des Gnadenwerkes in der
Seele des sterbenden Missetäters? Sicher war er in jeder Beziehung ein passender Gegenstand für die Handlungen dieser
Gnade. Von dem Augenblick an, da der Pfeil der Überführung
in seine Seele drang, begann er seinen Lauf von dem Punkte
an, den die Schrift als den Anfang der Weisheit bezeichnet. Er
ruft seinem Gefährten zu: „Auch du fürchtest Gott nicht?"
(Lk 23, 40.) Welch ein Wechsel! Wodurch er hervorgerufen
worden war, wird uns nicht erzählt. Aber wir wissen, daß nach
der Darstellung des Matthäus und Markus einerseits und der192
jenigen des Lukas andererseits ein sichtlicher Wechsel stattgefunden hat. Ein göttlicher Lichtstrahl ist in seine Seele
gefallen, und da wir voraussetzen dürfen, daß nie ein Lichtstrahl ohne die Vermittlung Jesu in diese finstere Welt geschienen hat, so ist auch sicher das Auge des sterbenden
Räubers geöffnet worden, um etwas von der göttlichen Herrlichkeit Dessen zu sehen, der neben ihm am Fluchholze hing.
„Auch du", sagte er, „fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? Und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts
Ungeziemendes getan." (V. 40. 41.) Er sagt nicht: „Fürchtest
du nicht die Rache, das Gericht oder die zukünftige Strafe?"
Nein, die „Furcht Gottes" ist vor seinen Augen; und das ist
bemerkenswert. Mancher wird durch die Furcht vor der zukünftigen Strafe gequält; und sicher übt der Heilige Geist
öfters diesen Druck aus. Es ist gewiß am Platze, die Menschen
an die zukünftige Rache zu erinnern und ihnen die Folgen
ihrer Sünden vorzustellen; aber wir dürfen nicht vergessen,
daß die „Furcht Gottes der Weisheit Anfang" ist. Der Heilige
Geist wird in der Seele das Bewußtsein wecken, daß sie es mit
Gott zu tun hat; und dann handelt es sich nicht mehr um die
Folgen der Sünde, sondern um deren Häßlichkeit im Angesichte Gottes. Wenn Gott einen Platz im Herzen findet, dann
wird alles andere folgen. Wir werden dann im Lichte dessen,
was Gott ist, uns selbst, unsere Wege, unser Betragen, unsere
Sünden, den Zustand unserer Herzen, unsere Natur und alle
ihre Früchte erkennen. Wohl mag jemand tief erschüttert werden bei dem Gedanken an den Zorn und die ewige Verdammnis. Wohl mag der Gedanke an die Hölle, an den Feuer- und
Schwefelsee und an den nimmer sterbenden Wurm das Herz
für einen Augenblick mit Schaudern und Entsetzen erfüllen.
Wenn aber nicht ein Teilchen der wahren Furcht Gottes vorhanden ist, dann wird sicher, wenn der erste Schrecken vorüber ist, die Lust der Sünde mit vermehrter Kraft zurückkehren und alle guten Entschlüsse verdrängen.
Wie ganz anders ist es, wenn die Seele durch den Heiligen
Geist das Bewußtsein erlangt, daß sie es mit Gott zu tun hat!
Dann wird die Sünde nicht gemessen nach den Folgen, son193
dem nach dem, wie Gott sie betrachtet. Nein, nicht die Folgen,
wie schrecklich sie auch sein werden, werden uns dann
beschäftigen, sondern die Häßlichkeit und Schlechtigkeit der
Sünde selbst. Wir werden die Sünde hassen, weil Gott sie
haßt. Wir werden die gerechte Verdammnis der Sünde anerkennen; aber wir werden im Lichte der Heiligkeit Gottes die
Sünde in ihrer wahren Natur und in ihrem wahren Charakter
sehen.
Indes ist es höchst bewundernswürdig, die Art und Weise zu
sehen, in der dieser sterbende Räuber durch göttliche Unterweisung weitergeführt wird. Er eilt, indem er große Fundamental-Wahrheiten der Offenbarung ergreift, mit staunenswerter Schnelligkeit von Stufe zu Stufe fort. Er nimmt als ein
mit Recht verurteilter Sünder seinen wahren Platz ein. „Wir
empfangen, was unsere Taten wert sind", sagt er. Anstatt mit
seinem Gefährten spöttisch zu sagen: „Wenn du der Christus
bist, so rette dich selbst und uns", erkennt er unter dem Einfluß der Furcht Gottes an, daß er mit Recht verurteilt ist, legt
Zeugnis gegen den anderen Missetäter ab und tadelt dessen
Lästerungen, in die er selbst noch vor kurzem mit eingestimmt
hat. Dann wendet er sich zu Jesu, indem er Seine fleckenlose
Menschheit, diese große Fundamental-Wahrheit des Christentums, durch die Worte bezeugt: „Dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan." Hier bildet er einen entschiedenen Gegensatz zu den Hohenpriestern, den Ältesten, den Schriftgelehrten
sowie dem Volke Israel und der Welt im allgemeinen. Alle
waren übereingekommen, Ihn als einen Übeltäter zu überliefern; aber dieser sterbende Räuber bezeugte von Ihm, daß
Er nichts Ungeziemendes getan habe; und obgleich man einwenden könnte, sein Zeugnis erstrecke sich nur bis zu der
Erklärung, daß Jesus um keines Verbrechens willen zum Tode
verurteilt sei, so hebt dies doch die große Tatsache nicht auf,
daß der Räuber in betreff Jesu die Welt Lügen straft. Die
Welt hatte Ihn verurteilt und ausgestoßen; sie hatte Ihn ans
Kreuz genagelt und mithin die schändlichste Todesart über
Ihn verhängt; aber inmitten der dunklen Schatten dieses
häßlichen Kreuzes drang über die Lippen eines überführten
und bußfertigen Missetäters das klare und rückhaltlose Zeugnis: „Dieser hat nichts Ungeziemendes getan."
194
Welch ein kostbares und herrliches Zeugnis! Wie wird es das
Herz des sterbenden Heilandes erquickt haben, inmitten all
der Vorwürfe und Lästerungen, inmitten der Empörung und
des Hasses der Menschen und der Teufel ein solches Zeugnis
von den Lippen dieses armen Räubers zu hören! Alle Seine
Jünger hatten Ihn verlassen. Sie flohen von Ihm in der finsteren, bösen Stunde. Wie sehr gleicht dies dem Menschen! Die
ganze Welt, die Juden, die Heiden, die weltlichen und geistlichen Mächte, die Kriegsheere der Hölle, alle standen in
Schlachtordnung wider den Sohn Gottes; aber inmitten dieser
unbeschreiblichen und undenkbaren Schreckensszene brach sich
eine einsame Stimme in klaren, offenen Tönen Bahn und
legte das Zeugnis ab: „Dieser hat nichts Ungeziemendes getan."
Es ist mitunter gesagt worden, daß dieser sterbende Räuber
keine Gelegenheit gehabt habe, gute Werke tun zu können.
Wenn darunter verstanden wird, daß er keine Liebeshandlungen ausübte, keine Almosen gab, keine Früchte tätigen Wohlwollens hervorbrachte, so ist diese Bemerkung am Platze; und
wenn solche Dinge zur Errettung durchaus notwendig waren,
dann war sicher der Räuber unrettbar verloren. Seine Hände
waren an das Kreuz genagelt und konnten mithin nicht zu
Handlungen der Liebe in Tätigkeit gesetzt werden. Seine Füße
befanden sich in gleicher Lage und konnten daher den Pfad
des dienenden Wohltuns nicht betreten. Dies alles ist klar
genug. Solange er sich seiner Hände hatte bedienen können,
hatte er sie zu bösen Taten gebraucht, und solange er seine
Füße hatte bewegen können, waren sie auf der Landstraße
der Sünde vorwärtsgeschritten. Jetzt, wo die einen wie die
andern ans Kreuz genagelt waren, war es mit seinen Taten
und Gängen zu Ende. Er hatte seine Hände und seine Füße
für den Teufel gebraucht; aber es bot sich ihm jetzt keine
Gelegenheit mehr dar, sie für Gott zu gebrauchen. Daher,
wenn die Errettung in irgendeiner Weise an Werke geknüpft
war, so befand sich der arme Räuber sicher in einem hoffnungslosen Zustande.
Überdies wußte der Räuber nichts von dem Vorrecht christlicher Anordnungen. Insoweit uns die göttliche Erzählung darüber Aufschluß gibt, war er weder getauft, noch hatte er am
Abendmahl teilgenommen. Auch das ist wichtig. Wir schätzen
195
diese beiden kostbaren Einsetzungen an ihrem wahren Platze
sehr hoch. Sowohl sie, als auch die guten Werke haben in
unseren Augen einen hohen Wert. Gott hat einen Pfad guter
Werke bereitet, auf welchem Sein Volk beständig wandeln
soll; und wenn daher jemand bekennt, ein Christ zu sein und
nicht auf dem göttlich bezeichneten und bereiteten Pfade guter
Werke wandelt, so ist sicher sein Bekenntnis hohl und wertlos.
Ein bloßes Lippenbekenntnis aber ist nutzlos vor Gott und
Menschen; denn wo göttliches Leben in der Seele ist, da wird
sich dieses Leben auch in Früchten der Gerechtigkeit erweisen,
welche durch Jesum Christum sind zur Herrlichkeit und zum
Preise Gottes.
Ebenso belehrt uns die Heilige Schrift hinsichtlich der christlichen Anordnungen über deren wahren Platz, über ihre Natur,
ihren Chrakter und ihren Zweck. Sie belehrt uns, daß die
Taufe, diese einweihende Anordnung des Christentums, in
nachdrücklicher und bestimmter Weise unseren Tod darstellt
gegenüber der Sünde und allem, worin wir von Natur oder als
Kinder des ersten Adam uns befanden. Sie belehrt uns, daß
die Anordnung des Abendmahls den Tod des Herrn, das
Brechen Seines Leibes und das Vergießen Seines Blutes darstellt. Wer könnte eine Zeile niederschreiben, um Anordnungen dieser Art anzutasten oder ihren Wert verringern zu
wollen? Gewiß niemand, der irgendwie Christum liebt und
sich unter die unumschränkte Autorität Seines Wortes beugt,
wird sich dessen schuldig machen. Es wird daher wohl keiner
unserer Leser der Vermutung Raum geben, als ob wir den
Wert der guten Werke und der Anordnungen unterschätzen,
wenn wir behaupten, daß der Räuber am Kreuz weder gute
Werke aufzuweisen hatte, noch an den christlichen Anordnungen teilgenommen hat. Aber welch eine Kraft liegt in dieser
Tatsache! Es ist von großer Bedeutung, daß die Seele eines
versöhnten Menschen, der weder getauft ist, noch an des
Herrn Abendmahl teilgenommen hat noch irgendein gutes
Werk aufzuweisen hat, sich bei dem Herrn in dem glänzenden
Paradiese droben befindet. Man könnte sagen, daß dies, wenn
er am Leben geblieben wäre, anders geworden wäre. Wir
zweifeln nicht daran; aber jetzt konnte er sich nicht auf diese
Dinge berufen; und das sollten sich alle merken, die ihr Ver196
trauen auf Anordnungen und gute Werke setzen. Es wird immer wahr bleiben: „Er errettete uns, nicht aus Werken, die,
in Gerechtigkeit vollbracht, wir getan hatten, sondern nach
seiner Barmherzigkeit." (Tit 3, 5.) Die Taufe hat ihren Platz
und ihren Wert; aber wenn jemand zu uns sagen würde:
„Wenn ihr nicht getauft seid, so könnt ihr auch nicht gerettet
sein"; so würden wir ihn auf den Räuber am Kreuz hinweisen und sagen: „Dort ist jemand ins Paradies gegangen,
ohne durch das Wasser der Taufe gegangen zu sein." Und
ebenso verhält es sich mit des Herrn Abendmahl, wie auch
mit den guten Werken. Der Räuber wurde gerettet ohne dies
alles. Er wurde gerettet durch Gnade, durch Blut, durch Glauben. Dieses kann den Seelen in unseren Tagen nicht tief genug
eingeprägt werden, wo die Religiosität sich so tätig zeigt, und
wo man ein so großes Vertrauen in die kirchlichen Anordnungen setzt. Die Geschichte des sterbenden Räubers ist von
hoher Bedeutung. Sie bildet gleichsam einen mächtigen Damm,
um die Flut der gesetzlichen Religiosität zu hemmen, die
Millionen durch ihre Strömung mit fortreißt, um sie hinabzustürzen in den See, der mit Feuer und Schwefel brennt. Der
Räuber wurde gerettet ohne kirchliche Anordnungen, und wir
schließen daraus, daß sie zur Rettung nicht notwendig sind;
sie haben ihren Wert auf der Erde; aber sie bringen niemanden in den Himmel.
Doch gehen wir noch etwas näher ein in die Geschichte des
sterbenden Räubers! Verrichtete er nicht dennoch gute Werke?
Ja, in der Tat. Er verrichtete eines der größten Werke, die je
ein geretteter Sünder verrichten kann. Und welches gute Werk?
Er legte Zeugnis für die Wahrheit ab. Freilich waren seine
Hände und seine Füße ans Kreuz genagelt und darum machtlos; aber sein Auge, sein Herz und seine Zunge waren frei.
Sein Auge war frei, um auf den Sohn Gottes schauen, sein
Herz war frei, um an dessen gesegnete Person glauben zu
können, und seine Zunge war frei, um Seinen Namen in einer
feindseligen Welt bekennen zu können. Der Glaube an den
Sohn Gottes und das Bekenntnis Seines Namens macht die
Summe des Christentums aus. Als der Herr Jesus in den Tagen
Seines Fleisches durch etliche gefragt wurde: „Was sollen wir
tun, auf daß wir die Werke Gottes wirken?" gab Er zur
197
Antwort: „Dies ist das Werk Gottes, daß ihr an den glaubet,
den er gesandt hat." (Joh 6, 28. 29,) Und der Apostel erklärt,
„daß, wenn du mit deinem Munde den Herrn Jesum bekennen
und in deinem Herzen glauben wirst, daß Gott ihn aus den
Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst. Denn mit dem
Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, und mit dem Munde
wird bekannt zum Heil". (Röm 10, 9. 10.)
Dies alles tat der sterbende Räuber; und hätte er vom Kreuze
herabsteigen dürfen und das Alter Methusalahs erreichen
können, so würde er nichts vermocht haben zu vollbringen,
was vor Gott herrlicher und kostbarer gewesen wäre, als das,
was er während der kurzen Dauer seines christlichen Lebens
vollbracht hatte, eines Lebens, das am Kreuze begonnen, fortgesetzt und, was diese Welt betrifft, beendet, aber in jener
glorreichen Welt wieder zurückempfangen wurde, wo der
Tod nicht eintreten kann. Er hatte für die Wahrheit Zeugnis
abgelegt. Dies ist der große Zweck des christlichen Lebens.
Es mag jemand getauft worden sein und zu hundert Malen
das Brot und den Wein des heiligen Abendmahls empfangen
haben; es mag jemand Tausende für sogenannte Liebeszwecke
ausgeben, er mag in betreff der Moralität und Religiosität sich
unter seinesgleichen eines hohen Rufes erfreuen, und ein
eifriger Förderer und Ausführer menschenfreundlicher Pläne
sein; jemand mag alles dieses sein und haben und sich dennoch auf dem Wege der Verdammnis befinden, indem er nie
den Herrn Jesum mit dem Munde bekannt und nie von Herzen geglaubt hat, daß Gott Ihn von den Toten auferweckt hat.
Dies ist beachtenswert, besonders in unseren Tagen, in denen
man so viel Lärm macht über kirchliche Anordnungen, Gebräuche, Zeremonien, wo man einen so großen Wert auf die
Formen und Amter der Religion legt und so viel Vertrauen auf
menschliche Autorität setzt. Wo, möchten wir fragen, finden
wir in all diesem das edle Bekenntnis des sterbenden Räubers?
Er bekannte „Jesum den Herrn". Das ist es, worauf das Auge
Gottes gerichtet ist. Das ist es, was für Ihn einen Wert hat.
Er fordert von uns, daß wir die Herrschaft Seines Sohnes anerkennen. Zu allen, die auf kirchliche Anordnungen und gute
Werke ihr Vertrauen setzen, wendet sich der göttliche Ausspruch: „Wenn mich hungert, ich würde es dir nicht sagen."
198
(Ps 50, 12.) Er fordert von unserer Seite ein Bekenntnis in
betreff Seines Sohnes; und dieses Bekenntnis des Mundes
muß aus dem Glauben des Herzens hervorfließen. Wenn Jesus
als der Herr anerkannt ist, dann nimmt jedes Ding seinen
rechten Platz ein. Es mag große Schwachheit und große Unwissenheit vorhanden sein; aber wenn das Gewissen sich
unter Ihn, als den Herrn beugt, dann tritt alles in sein richtiges
Gleis. Ich mag so schwach sein, daß ich nur fähig bin „Gemüse" zu essen (Röm 14, 2.), und so unwissend, daß ich „einen
Tag vor dem anderen" halte (Röm 14, 5.); oder andererseits
mag ich so stark sein in dem Gefühl meiner Freiheit, daß ich
fähig bin, „Fleisch" zu essen, und so aufgeklärt, daß ich
„jeden Tag gleich" halte; aber der große moralische Perpendikel ist das Bekenntnis der Herrschaft Jesu. Dieses Bekenntnis legte der Räuber ab. Er sagte zu Jesu: „Herr". Er erkannte
nicht nur Seine fleckenlose, Seine vollkommene Menschheit an,
sondern bekannte Ihn auch als den Herrn. Es ist äußerst interessant, den Weg zu betrachten, auf dem diese kostbare Seele
weitergeführt wurde. Nachdem er die Sünde getadelt und den
Sünder in der Person seines Unglücksgefährten gewarnt hatte,
nachdem er die Wahrheit in betreff seiner selbst und seines
Betragens, als gänzlich im Widerspruch mit der fleckenlosen
Person stehend, die neben ihm am Kreuze hing, anerkannt
hatte, wandte er sich an Jesum; und seine ganze Seele schien
von dieser unvergleichlichen Person erfüllt zu sein. Er scheint
gleichsam mit bewundernswürdiger Schnelligkeit alle die Stufen des „großen Geheimnisses der Gottseligkeit" zu durchschreiten, deren Grundlage die Offenbarung Gottes auf Erden
ist, und deren Gipfel die Verherrlichung des Menschen im
Himmel ist; denn wir lesen in 1. Tim 3, 16: „Und anerkannt
groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist geoffenbart
worden im Fleische, gerechtfertigt im Geiste, gesehen von den
Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der Welt,
aufgenommen in Herrlichkeit." Welch ein kostbares Geheimnis! O, möchten wir doch mehr in dessen Tiefe eindringen!
Allerdings vermögen wir nicht zu ergründen, inwieweit der
sterbende Räuber diese ganze kostbare Wahrheit zu begreifen
vermochte; aber eins war gewiß: er war unterwiesen worden,
in Jesum den „im Fleisch geoffenbarten Gott" zu erkennen.
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Und ebenso war er fähig gemacht, durch die finsteren Wolken,
die sich um das schreckliche Kreuz zusammengezogen hatten,
hindurchzuschauen und die glänzenden Strahlen der zukünftigen Herrlichkeit zu erblicken. Und er sprach zu Jesu: „Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reiche kommst!" Das
ist die bewundernswürdige Frucht der Unterweisung Gottes.
Noch wenige Augenblicke vorher hatte er den Hochgelobten
geschmäht, und jetzt beugt er sich im Geiste vor Ihm, nennt
Ihn „Herr", sieht in Ihm den Gott-Menschen, spricht mit Zuversicht von einem kommenden Königreich und wirft sich in
die Arme jener allmächtigen Gnade, die in den Worten hervorleuchtet: „Rufe mich an am Tage der Bedrängnis; ich will
dich erretten, und du wirst mich verherrlichen." (Ps 50, 15.)
„Gedenke meiner, Herr!" das ist der Weg der Rettung. In
dem Augenblick, wo irgendein armer, schuldiger und bußfertiger Sünder mit dem an das Holz genagelten Menschen
verbunden wird, ist die Errettung eine ewig vollendete Tatsache. Es tut nichts zur Sache, wer oder was er ist. Seine
Sünden mögen sein wie Karmesin oder Scharlach, sie mögen
so schwarz sein wie die Nacht; aber von dem Augenblick an,
wo er mit dem Gott-Heiland in Verbindung tritt, ist er errettet in der Macht einer ewigen Errettung. Seine Sünden und
Vergehungen sind völlig ausgelöscht, und er ist in der ganzen
Kraft und Würdigkeit des Namens Jesu zu Gott gebracht.
Also verhielt es sich mit dem sterbenden Räuber. Er fand
augenblicklich eine völlige, freie und ewige Errettung. Der Herr
Jesus ging weit über alle seine Gedanken und alle seine
Wünsche. Der Räuber sagte: „Gedenke meiner, Herr, wenn
du in deinem Reiche kommst." Der Herr Jesus aber sagt ihm,
daß Er weit mehr für ihn tun wolle. „Wahrlich, ich sage dir,
heute wirst du mit mir im Paradiese sein." In diesen Worten
haben wir die drei großen in dem Evangelium geoffenbarten
Züge der Erlösung, nämlich eine gegenwärtige, eine persönliche und eine vollkommene Erlösung „Heute" — „wirst du"
— „mit mir sein." Wir wollen bei diesen Punkten nicht verweilen; sie sind den meisten unserer Leser bekannt. Jedoch
möchten wir noch gerne einige kurze Bemerkungen über die
Verfahrungsweise unseres Herrn in dieser Szene hervorheben.
Es ist bemerkenswert, daß wir hier kein tadelndes Wort, keine
200
Erinnerung an das Vergangene, keine Anspielung auf die alten
Gewohnheiten oder auf die neueren Schmähungen und Lästerungen des Räubers vernehmen. Nein, nichts der Art. Es
wäre auch nicht dem gnadenreichen Dienst unseres Herrn Jesu
Christi angemessen gewesen. Er rettete alle, die zu Ihm kamen
oder Ihn anblickten, weil Er nach dem Willen des Vaters kam
und weil alle, die zu Ihm kamen, durch den Vater gezogen
waren. Wir wollen in die wichtige Frage von allem, was dieses
Ziehen durch den Vater in sich schließt, nicht näher eingehen,
sondern wünschen nur dem Leser ans Herz zu legen, daß es
eine freie, unumschränkte Gnade war, mit welcher der Herr
den sterbenden Räuber empfing.
Und so ist es in jedem Falle. „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken." Wir mögen uns
ihrer erinnern, wir mögen uns mit zerknirschtem Herzen und
durch ihre Erinnerung in den Staub gebeugt von ihnen abwenden; aber von dem Augenblick an, wo wir zu Jesu kommen, ist alles ausgelöscht, alles vergeben, alles vergessen. Das
ist Seine Gnade, das ist die göttliche Vollkommenheit Seines
Werkes, das ist die Art und Weise Seines Handelns. Der arme,
sich selbst verurteilende Räuber ist ohne Anstand aufgenommen worden. Er warf sich in einfältigem Vertrauen auf Jesum; und unmittelbar folgte die Antwort: „Heute". Es ist,
als hätte der Herr zu ihm gesagt: „Du hast nicht nötig, auf
das Reich zu warten, sondern du sollst die Freude genießen,
bei mir zu sein, ehe noch die Herrlichkeiten des Reiches auf
diese Erde herniederkommen. Noch an diesem Tage werde ich
dich bei mir haben in dem glänzenden Paradies, wohin ich zu
gehen im Begriffe bin." — Das war in der Tat Gnade und
Rettung durch Gnade. Der sterbende Heiland und der sterbende Räuber waren durch eine wunderbare Gnadenkette miteinander verbunden; an demselben Tage waren sie beisammen im Paradiese. Das Wort: „Mit mir" brachte alles in Ordnung. Da gab es keinen Aufschub. Alles war geschehen. Kirchliche Anordnungen waren nicht mehr nötig. Was hätte auch
noch dem Versöhnungswerk Christi beigefügt werden können?
Der Herr Jesus war für den Räuber am Kreuze, und darum
war der Räuber mit Jesu im Paradiese. Was kann einfacher
sein? Der Räuber hatte keinen Rechtsgrund, keinen Anspruch,
201
keinen Titel. Während er seine Freiheit besaß, lebte er in
Sünden, und selbst als er ans Kreuz genagelt war, lästerte
und schmähte er den Sohn Gottes. Aber der Pfeil war in seine
Seele gedrungen, seine Augen waren geöffnet worden, um
die herrliche Person Jesu, den Gott-Menschen, zu schauen und
die Herrlichkeiten des Reiches zu unterscheiden von dem Nebel der Schande und der Herabwürdigung; er erkannte in
dem Einen, den die Welt ausgeworfen und gekreuzigt hatte,
einen fleckenlosen Menschen, seinen Herrn, und den Besitzer
des kommenden Reiches. Er sah, er glaubte, er zeugte; und
als schließlich die römischen Kriegsknechte kamen, um ihre
entsetzlichen Pflichten zu erfüllen, da hätte dieser glückliche,
gerettete Mann sagen können: „Ach! diese Menschen sind
gekommen, um mich geradeswegs zu Jesu, meinem Herrn und
Heiland, zu senden. Ich bin bereit. Mein Herr ist vorausgegangen, und ich habe ihm nur zu folgen. Abzuscheiden, um
bei Christo zu sein, ist weit besser."
Gewiß möchten wir noch länger bei dieser herrlichen Szene
verweilen, aber wir müssen schließen und richten nur noch
die eine Frage an den Leser: „Bist du gerettet?" Das ist eine
klare, bestimmte Frage. Gib eine klare und bestimmte Antwort darauf! Kannst du nicht mit einem vollen „Ja" darauf
antworten, dann bitte ich dich mit allem Nachdruck, diese
ernste Sache nicht länger zu verschieben, sondern wirf dich
jetzt, gerade jetzt, gleich dem sterbenden Räuber, zu den
Füßen Jesu, — und eine völlige, ewige Errettung wird sogleich
dein Teil sein. — Wenn du aber durch die Gnade schon sagen
kannst: „Ja, Gott sei Dank, ich bin gerettet und erfreue mich
dessen", — dann erinnere Dich, daß wir berufen sind, Jesum
nicht nur als unseren Erretter, sondern auch als unseren Herrn
anzuerkennen. Mögen wir nie diese beiden Dinge trennen!
Hat Er uns erlöst, so ist Er auch unser Herr und Meister.
Seine Ansprüche an uns, an alles, was wir sind und haben,
sind gestützt auf den soliden Boden der Erlösung. Das Fundament unserer Erlösung in Ihm und durch Ihn, und das Fundament für Seine absolute Autorität über uns ist eins, nämlich Sein Tod. Er gab Sich für uns. Welch ein Preis! Welch
ein Rechtsgrund für unsere gänzliche Unterwerfung unter
Seine heilige Autorität!
202
„Seid niemandem irgend etwas schuldig"
(Röm 13, 8.)
Es dürfte in der Heiligen Schrift kaum eine Vorschrift geben,
die klarer und bestimmter wäre, als die in der oben angeführten Stelle. Das griechische Wort, welches hier durch „schuldig
sein" übersetzt ist, läßt keine zweifache Deutung zu. Die
Stelle ist daher ebenso einfach und die Vorschrift ebenso bestimmt, wie die im nächstfolgenden Vers: „Du sollst nicht
stehlen!" Jeder Leser, der das geschriebene Wort ehrt und es
nicht nach seinen Wünschen oder Ansichten zu deuten trachtet, wird verstehen, daß es in dieser Stelle förmlich verboten
ist, Schulden zu machen.
Wenn nun jemand einwendet, daß der Schluß des angeführten
Verses den Sinn der oben angeführten Worte ein wenig verändere, so gebe ich das zu, jedoch nur in dem Sinn, daß die
wahre Bedeutung der Stelle dadurch noch verschärft wird.
„Seid niemandem irgend etwas schuldig, als nur einander zu
lieben; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt."
Wie könnte man dies anders umschreiben, als durch die Worte: „Jede Schuld ist euch verboten, mit Ausnahme einer einzigen, von der ihr euch nie befreien könnt, nämlich der Schuld
der Bruderliebe und der damit verbundenen Pflichten." Es ist
klar: solange wir hier sind, werden wir nie sagen können,
daß wir unseren Brüdern nichts mehr schulden, und daß unsererseits keine der Bruderliebe entspringenden Pflichten mehr
zu erfüllen da seien. Außer dieser Ausnahme ist uns aber
jede andere Schuld ausdrücklich verboten, so daß wir keine
machen können, ohne eins der bestimmtesten Verbote des
Wortes Gottes zu übertreten.
Es bedarf indes einiger Erläuterungen in betreff dessen, was
unter die Rubrik des verbotenen Schuldenmachens zu bringen
ist. Ein Christ, selbst ein treuer Christ, kann durch widerwärtige Umstände in Schulden geraten, durch Umstände, die, obwohl sie nicht ohne die Zulassung Gottes gekommen sind,
dennoch unabhängig von dem Willen dessen sind, der darunter leidet. Dies war z. B. der Fall bei der Witwe eines der
203
Söhne der Propheten, welcher, obwohl er gottesfürchtig war,
bei seinem Tode sein armes Weib in den Händen eines grausamen und geldgierigen Schuldherrn zurückließ, der ihr drohte,
ihr alles zu nehmen, selbst ihre beiden Kinder. Doch sie nahm
ihre Zuflucht zu Gott, der verheißen hat, der Witwen Mann
zu sein, und wurde auf wunderbare Weise befreit. Möchten
wir ihr in ähnlichen Umständen gleichen! In einer solchen
Lage, wo wir des Herrn Hand sehen, können wir uns völlig
Ihm anvertrauen und in völligem Glauben um Errettung bitten, die nur Er bewirken kann und bewirken will; denn in
diesem Falle ist diese Lage für uns eine Prüfung und nicht ein
Zustand der Sünde.
Wenn ferner ein Christ irgendwelche Wertsachen besitzt, die
seine Schuld mehr als decken, und wenn das gemachte Anleihen durch entsprechende Pfandverschreibungen mehr als
gesichert ist, so kann man nicht sagen, daß er sich in Schulden
befinde, weil er im schlimmsten Falle sein Eigentum selbst
unter Preis abgeben und die Schuld decken kann. Das beste
und sicherste wäre allerdings für ihn, sich so bald wie möglich freizumachen. Doch außer diesen und etlichen ähnlichen
Fällen darf ein Christ keine Schulden machen, ohne sich zu
versündigen: denn, ich wiederhole es, das Gebot Gottes ist
in dieser Beziehung sehr bestimmt und unzweideutig. Die
Größe des Übels eines solchen Betragens aber wird sich um so
besser herausstellen, wenn wir die Ursache erforschen und
die Folgen ein wenig beleuchten.
Die Triebfedern oder Motive, zufolge deren ein Kind Gottes
auf solchem Pfade wandelt, sind denen, durch die es sich
hätte lassen sollen leiten, stets entgegengesetzt. Meistens sind
Hochmut, Ehrgeiz, Habsucht und Weltförmigkeit die Ursachen solcher betrübenden Erscheinungen. In der Tat, mancher
Christ, der unter Schulden seufzt, hat vielleicht nie recht seine
Augen gerichtet auf die Stelle: „Der Wandel sei ohne Geldliebe, begnüget euch mit dem, was vorhanden ist; denn er hat
gesagt: Ich werde dich nicht versäumen, noch dich verlassen,
so daß wir kühn sagen dürfen: Der Herr ist mein Helfer ... "
(Hebr 13, 5. 6.) Wenn Ihr nun durch Anleihen in Schulden
geratet, beweist Ihr dadurch, daß Ihr Euch mit dem begnügt,
was vorhanden ist, und daß Ihr an die Verheißung glaubt:
204
Ich werde dich nicht versäumen . . ."? Zeigt Ihr, daß Ihr
kühn sagen dürft, daß der Herr Euer Helfer ist, und daß
Euer Herz in dieser köstlichen Wahrheit lebt? Ist Euer Betragen nicht im Gegenteil ein Beweis, daß Ihr Gott nicht vertraut und daß sich Euer Herz in dem Maße von Ihm abwendet, wie es sich auf den Arm des Fleisches stützt und dem
Menschen vertraut?
Warum werden überhaupt so oft Anleihen oder Schulden gemacht? Weil man mit der Lage, in der man sich befindet,
nicht zufrieden ist, und weil man bemüht ist, herauszukommen, und in bessere Verhältnisse zu gelangen, indem man
auf hohe Dinge sinnt, anstatt sich zu dem Niedrigen zu
halten. Ist das die Gesinnung, die den Jünger Dessen ziert,
der Sich Selbst zu Nichts machte und Sich bis zum Tode am
Kreuze erniedrigt hat, und der sanftmütig und von Herzen
demütig war? Heißt das in den Fußstapfen des Jesus wandeln, der auf dieser Erde arm und verachtet war, der nur eine
Krippe und ein Kreuz auf Erden besaß, und der uns auffordert, zu leben und zu wandeln, wie Er Selbst gelebt und gewandelt hat? Ach, für viele Christen würde jetzt noch das
Wort passen, welches Jehova einst zu Baruch redete: „Und du,
du trachtest nach großen Dingen für dich? Trachte nicht danach! Denn siehe, ich bringe Unglück über alles Fleisch, spricht
Jehova; aber ich gebe dir deine Seele zur Beute an allen Orten, wohin du ziehen wirst." (Jer 45, 5.) Und ebenso passend
würden die an den ehrgeizigen, geldgierigen Gehasi gerichteten Worte des Propheten Elisa sein, der sagte: „Ist es Zeit,
Silber zu nehmen und Kleider zu nehmen, und Olivenbäume
und Weinberge, und Kleinvieh und Rinder, und Knechte und
Mägde?" (2. Kön 5, 26.) O, wie selten findet man es bewahrheitet, was einmal jemand durch die Worte ausdrückte: „Lieber wollte ich eine Bildsäule von Marmor im Wege des Gehorsams sein, als die größten Taten auf Kosten des kleinsten
Teiles des Wortes Gottes tun."
Wenn man einwendet, daß man doch etwas zum eigenen und
zum Unterhalte der Seinigen unternehmen müsse, so räume
ich dieses gerne ein. Denn Gott Selbst gebietet uns allen, zu
arbeiten und mit unseren eigenen Händen zu tun, was gut
ist — und dieses nicht allein, um für unseren Unterhalt zu
205
sorgen, sondern auch damit wir imstande sind, dem Dürftigen
mitzuteilen. (Eph 4, 28.) Handelt es sich um gemeinschaftliche
oder private Unternehmungen, seien sie zur Verbreitung des
Evangeliums oder zu Wohltätigkeitszwecken, oder handelt es
sich um persönliche Pläne, die nur unser zeitliches Wohl zum
Zweck haben, so laßt uns wohl daran denken, daß, wenn wir
solches tun sollen, Gott auch die Mittel dazu darreichen wird.*)
In dieser Hinsicht sagt Er zu uns, wie einst zu Gideon: „Gehe
hin in dieser deiner Kraft." (Ri 6, 14.) Mit der Kraft, mit den
von Ihm dargereichten Mitteln, und mit nichts anderem dürfen wir vorwärtsgehen. Weitergehen heißt sich in Schulden
begeben, mithin in die Sünde einlassen, indem man das Wohlergehen auf einem Wege sucht, auf dem Gott nicht mit uns
sein kann und wo wir Seinen Segen weder erlangen noch
erwarten können, einen Segen, der reich machen kann, ohne
irgendwelches Tun von unserer Seite. (Spr 10, 22.) Brüder,
ehe Ihr daher ein Haus oder einen Garten kauft, ehe Ihr
irgendein Unternehmen, ob groß oder klein, beginnt, richten
wir an Euch die Bitte, daß Ihr Euch hinsetzen und vor Gott
die Ausgaben überschlagen möchtet, um zu sehen, ob Ihr
imstande seid, das Unternehmen ausführen zu können, und
ob Euch Gott Erlaubnis dazu gegeben hat. Den Kindern dieser Welt mag es wohl auf einem entgegengesetzten Wege gelingen, sich Reichtümer und Schätze zu erwerben; sie kennen
Gott nicht; sie haben ihre Güter in dieser Welt und leben in
Ungewißheit und Unglauben in betreff des Willens Gottes;
und sie stehen daher in dieser Beziehung nicht auf gleichem
Boden der Verantwortlichkeit mit den Kindern des Lichts.
Aber ach, wie viele Christen machen auf diesem Wege der
Untreue die traurigen Erfahrungen, die das Wort Gottes bezeichnet: „Die aber reich werden wollen, fallen in Versuchung
und Fallstrick und in viele unvernünftige und schädliche Lüste,
welche die Menschen versenken in Verderben und Untergang!"
(1. Tim 6, 9.) Wie viele, die Reichtümer suchten, sind vom
Glauben abgeirrt und haben sich selbst mit vielen Schmerzen durchbohrt! (V 10.)
Geliebte Brüder! möchte es Euch in Gnaden geschenkt wer-
*) Der Christ sollte stets verstehen, daß alles, was in Sachen dieses Lebens
nicht möglich ist, auch nicht nötig ist.
206
den, diesen Fallstricken auszuweichen; sie enden nur zu oft
mit schmählichem Ruin, durch den der Name des Herrn der
Verachtung preisgegeben und das Evangelium von vielen verlästert wird, welche, weil sie größere oder kleinere Verluste
erlitten, sich um solcher Skandale willen von der Wahrheit
abwenden, während ein reiner und treuer Wandel die Lehre
unseres Heilandes Gottes geziert haben würde. Darum, mögt
Ihr Arbeiter, Diener, Angestellte sein, bleibt in Eurer wenn
auch noch so bescheidenen Lage, in die Gott Euch gestellt hat,
und verlaßt sie nicht eher, als bis Gott Euch die Tür öffnet,
um heraustreten zu können. Wenn Euch andererseits Eure
Stellung nötigt, Schulden zu machen, so ist das wohl ein
sicheres Zeichen, daß diese Stellung nicht Gott gemäß ist, und
daß Ihr so bald wie möglich herausgehen sollt. Denn es kann
nicht der Wille Gottes sein, in einer Lage zu verharren, die
Euch einen Anlaß zur Sünde bietet. Nur wenn jemand mit
Gott in seiner Stellung ist, soll er darin ausharren. (1. Kor
7, 24.) Sobald das Gewissen die Gefahr erkennt, ist es nötig
auszugehen, so wie Petrus weinend aus dem Hof des Hohenpriesters trat. Und sollte trotz dieser Umstände Eure Stellung,
Euer Geschäft ein Gegenstand sein, an dem in hohem Maße
Euer Herz hängt, so ist das ein Grund mehr, diesem für Eure
Seele so gefährlichen Fallstrick zu entfliehen und ohne Rückhalt dem Gebote des Herrn zu gehorchen: „Wenn dein Auge
dich ärgert, so wirf es weg. Es ist dir besser, einäugig in das
Reich Gottes einzugehen, als mit zwei Augen in die Hölle
des Feuers geworfen zu werden." (Luk 10, 47.) Sagt Ihr aber:
„Ich muß warten, bis Gott mir zeigt, was ich zu tun habe", —
so antworte ich Euch: „Ihr seid auf einem Wege der Sünde;
Ihr braucht kein Zeichen des Willens Gottes; denn sein Wille,
den ihr kennen solltet, ist, daß ihr nicht mehr sündigt."
„Aber", bemerkt jemand, „wenn ich meine Stellung aufgebe,
so weiß ich nicht, was ich anfangen soll." Ich antworte: „Fange
damit an, das Böse zu lassen. Das ist es, was der Herr zu
allererst von dir fordert; und hast du diesen unvermeidlichen
Schritt getan, so wird er dir sicher beistehen, den folgenden
tun zu können. Vertraue ihm, wandele im Glauben, d. h. ohne
zu wissen, wohin du gehst. Auf diese Weise wirst du, von dir
selbst befreit, von oben geführt und geleitet werden."
207
Überdies begnügt Euch mit Eurer irdischen Lage, wenn sie,
wie sie sonst auch sein mag, Euch das tägliche Brot verschafft.
Vielleicht könnte Euer Geschäft durch Verbesserungen und
Vergrößerungen, durch den Ankauf eines Gebäudes, eines geeigneten Instruments oder durch den Anbau einer Maschine
mit größerem Vorteil und Gewinn betrieben werden. Und
sicher steht Euch, wenn Ihr die Mittel zur Beschaffung und
Einrichtung dieser Dinge besitzt, nichts im Wege, frei zu
handeln. Wenn Ihr aber zu diesem Zweck Geld aufnehmen,
d. h. eine Schuld machen müßt, so seid versichert, daß Euer
Handeln in dieser Weise nicht nach Gottes Willen ist. Lernt
es vielmehr, diese Dinge zu entbehren, stille zu sein und zu
warten. Laßt Euch durch die trostreichen Wahrheiten der folgenden Stellen leiten: „Vertraue auf Jehova und tue Gutes;
wohne im Lande und weide dich an Treue; und ergötze dich
an Jehova: so wird er dir geben die Bitten deines Herzens.
Befiehl Jehova deinen Weg und vertraue auf ihn! und er wird
handeln. . . Besser das Wenige des Gerechten, als der Überfluß vieler Gesetzlosen. . . Ich war jung und bin auch alt
geworden, und nie sah ich den Gerechten verlassen, noch
seinen Samen nach Brot gehen. . . Achte auf den Unsträflichen und sieh auf den Aufrichtigen; denn für den Mann des
Friedens gibt es eine Zukunft." (Ps 37, 3—5. 16. 25. 37.)
„Die Gottseligkeit aber mit Genügsamkeit ist ein großer Gewinn; denn wir haben nichts in die Welt hereingebracht, so
ist es offenbar, daß wir auch nichts hinausbringen können.
Wenn wir aber Nahrung und Kleidung haben, so wollen wir
uns daran genügen lassen." (1. Tim 6, 6—8.) „Die leibliche
Übung ist zu wenigem nütze; die Gottseligkeit aber ist zu
allen Dingen nütze, indem sie die Verheißung hat des jetzigen
und des zukünftigen Lebens." (1. Tim 4. 8.) „Vertraue
auf Jehova mit deinem ganzen Herzen, und stütze dich
nicht auf deinen Verstand. Erkenne ihn auf allen deinen
Wegen, und er wird gerade machen deine Pfade. — Sei nicht
weise in deinen Augen, fürchte Jehova und weiche vom Bösen."
(Spr 3, 5-7.)
Ja, glückselig der, welcher sich so seinem Gott und Vater anvertraut, und dem es am Herzen liegt, Ihm wohlgefällig zu
sein und Seinen Willen zu tun. Wie viele Mühen, Sorgen,
208
Prüfungen und Schmerzen erspart er sich, wenn er mit Gott,
Gott gemäß und in Seiner Nähe wandelt, wenn er sich in den
Schwierigkeiten nur auf Ihn stützt und in der Not seine Zuflucht nur zu Ihm nimmt. Er mag arm, von allem entblößt,
krank und traurig sein, gewiß, das ist das Los, das der Herr
auf dieser Erde den Treuen verheißen hat; aber in dieser Lage
und trotz ihrer kann er im Herrn glücklich sein, Seinen unaussprechlichen Frieden genießen und ohne Sorge sein, weil er das
Bewußtsein hat, daß sein himmlischer Vater alle seine Bedürfnisse besser kennt, als er selbst, und daß er mächtig und
barmherzig ist, um ihnen nach dem Reichtum Seiner Gnade
zu begegnen. Der, welcher Seinen eigenen Sohn für ihn gegeben hat, wird ihm sicher auch das darreichen, was er in dieser Wüste braucht. Er unterwirft sich daher ohne Zögern dem
Gebot des Herrn: „Seid nicht besorgt für das Leben, was ihr
essen, noch für den Leib, was ihr anziehen sollt. . . . euer
Vater aber weiß, daß ihr dieses bedürfet. Trachtet jedoch
nach seinem Reiche, und dieses wird euch hinzugefügt werden." (Luk 12, 22. 30.) Es gibt in der Tat in den schwierigsten Verhältnissen, denen der wahrhaft treue Christ begegnet,
gar nichts, das seine Gemeinschaft mit dem Vater und dem
Sohn trüben oder unterbrechen könnte, nichts, was ihn hindern kann, sich mit völliger Zuversicht an Gott zu wenden
und alle Sorge auf Ihn zu werfen. O, welch ein Glück, vvenn
das Wort zur praktischen Wahrheit wird: „Daher sollen auch
die, welche nach dem Willen Gottes leiden, einem treuen
Schöpfer ihre Seelen befehlen im Gutestun." (1. Petr 4, 19.)
Darum glückselig alle, die den Weg des Glaubens und des
Gehorsams wandeln, einen Weg, der, was auch geschehen
mag, stets mit Segen erfüllt ist! Welche Freude für ihr Herz,
wenn sie, nachdem sie ihr Anliegen vor den Vater gebracht
haben, Seine Durchhilfe zur Zeit der Not erfahren und in
praktischer Weise mit Jesu sagen lernen: „Jehova ist mein
Hirte, mir wird nichts mangeln!" (Ps 23,1.)
Doch sicher kann dieses nicht von denen gesagt werden, die
sich durch Unglauben, Ehrgeiz, Verweltlichung zur Sünde des
Schuldenmachens, des Handeltreibens und des Wohllebens
mit dem Gelde anderer verleiten lassen. Solche sind vielmehr
vom Wege des Glaubens und des Gehorsams abgewichen und
209
können mithin nicht auf Gott rechnen und sich Ihm nicht anvertrauen, um aus einer Not herauszukommen, in die sie sich
durch das Tun ihres eigenen Willens, ohne den Rat des Herrn
gesucht zu haben und im Widerspruch mit Seinem Willen,
hineingestürzt haben. Jeder aufrichtige Christ, dessen aufgewecktes Gewissen ihm zeigt, daß er auf einem Wege der
Sünde ist, wo er nicht im Lichte mit Gott wandeln kann, wird,
wie demütigend und mit welchen Verlusten es auch begleitet
sein mag, ohne Zögern eine Stellung verlassen, die für seine
Seele ein Fallstrick ist. Wenn er diesen Entschluß nicht faßt
und bald zur Ausführung bringt, so werden die traurigsten
Folgen unausbleiblich sein. Folgt er nicht den Mahnungen
seines Gewissens, so stumpft er sich allmählich ab und wird
schließlich so verhärtet sein, daß sein Gewissen alle Empfindlichkeit verliert. Ach! leider kommt es oft so weit, daß man
Christen sieht, die in der eitlen Hoffnung, sich aus ihren
Verlegenheiten herauszuziehen, und ohne in Wirklichkeit
ihrem bösen Wege entsagen zu wollen, nicht selten zu eben
nicht ehrbaren Mitteln greifen, zu denen selbst Weltmenschen
sich scheuen würden, ihre Zuflucht zu nehmen. So z. B. bildet
sich vielleicht mancher ein, daß, wenn er Brüder zu Gläubigern
habe, es nicht nötig sei, seine Schulden zu bezahlen; man
verspricht und hält nicht Wort; man sucht sich und andere
über seinen Zustand dadurch zu täuschen, daß man die Ausgaben, anstatt zu beschränken, nur noch vermehrt; man macht
am Vorabend eines Bankerotts noch Einkäufe, oder man
nimmt Geld auf mit der Verpflichtung, es in kurzem zurückzuzahlen. So ruft eine Schlechtigkeit die andere hervor. Aber
welch ein Leben voll Schande und Abscheu! — ein Leben,
dem oft erst die menschliche Gerechtigkeit ein Ziel setzen
muß.
So weit, ach! kann der Gläubige auf diesem schlüpfrigen Abhang vorwärtsgleiten, sobald er sich ohne Gewissensskrupel
erlaubt, Schulden zu machen und sein Geschäft größer zu
betreiben, als Gott ihm dazu Mittel darreicht. Manche mögen
sagen: „Diese Worte sind hart!" Aber Gott ist unser Zeuge,
daß wir sie in einem Geiste aufrichtiger Liebe zu den Brüdern
niedergeschrieben haben, und zwar mit dem aufrichtigen
Wunsche, daß das Gewissen etlicher überführt, und daß die
210
ehrgeizigen Neigungen des Sichhervortuns in dieser Welt,
das Verlangen nach Reichtum, der Geist der Unzufriedenheit
und der Ungenügsamkeit, sowie das leichtsinnige Überschreiten der Grenzen der Wahrheit und der Rechtschaffenheit
aus unserer Mitte entfernt werden möchten. Würden diese
Zeilen einen einzigen Bruder, der etwa aus Unwissenheit und
in guter Absicht auf diesen gefährlichen Weg geraten ist, in
seinem Laufe aufhalten und ihn, ehe das Übel den höchsten
Grad einnimmt, zur Umkehr bestimmen, so werden wir den
Herrn dafür preisen, so wie wir jetzt den Segen von Ihm zu
diesen Ermahnungen erbitten.
Es gibt oft wohlhabende, ja reiche Christen, die es aus Gleichgültigkeit und Vergeßlichkeit versäumen, die kleinen Forderungen ihrer Lieferanten oder Arbeiter sogleich zu bezahlen.
Wir finden dieses höchst tadelnswert. Dies ist der wahren
Liebe völlig zuwider und zeugt von einem Mangel an Teilnahme für die, welche berufen sind, von ihrer Hände Arbeit
zu leben. Diese Handlungsweise, ich scheue es nicht, sie barbarisch zu nennen, findet man leider oft bei sonst sehr freigebigen Leuten, die für wohltätige Zwecke ihren Beutel weit
zu öffnen wissen. Wir würden ihnen sagen: „Das eine sollte
getan und das andere nicht unterlassen werden"; — oder:
Bevor Ihr schenktet, solltet Ihr bezahlen, was Ihr schuldig
seid; denn da Ihr Euch nie in die Verhältnisse des armen
Arbeiters hineingelebt habt, so wißt Ihr nicht, wie viele Arbeit, wie viele Sorge, wie manches Murren vielleicht durch
Eure Nachlässigkeit im Bezahlen in sein Haus gebracht wird.
Wenn er für das Brot der Seinigen darauf gerechnet hatte,
wenn er dadurch genötigt worden wäre, selbst eine Schuld zu
machen, hättet Ihr dann nicht grausam gehandelt? Könnte
es nicht eine Ursache sein, sich gegen Den zu erbittern, der
nur in seine Tasche zu greifen oder einen Wechsel zu schreiben braucht, um ihm das zu verschaffen, was ihm von Rechts
wegen zukommt? Wäre unter unseren Lesern nur ein einziger Bruder, der diese gottlose Gewohnheit etlicher der Reichen dieser Welt beibehalten hätte, so erinnern wir ihn daran, daß Gott, der von den Umständen der Armen Kenntnis
nimmt, einst Seinem Volke die Vorschrift gab: „Du sollst nicht
bedrücken den dürftigen und armen Mietling von deinen
211
Brüdern oder von deinen Fremdlingen, die in deinem Lande,
in deinen Toren sind. An seinem Tage sollst du ihm seinen
Lohn geben, und die Sonne soll nicht darüber untergehen,
denn er ist dürftig, und er sehnt sich danach: damit er nicht
über dich zu Jehova schreie, und Sünde an dir sei." (5. Mo
24, 14—15.) Und wiederum: „Sage nicht zu deinem Nächsten:
Gehe hin und komme wieder, und morgen will ich dir geben,
da es doch bei dir ist." (Spr 3, 28.) Die Jünger, die Befreiten
des Herrn Jesu, sollten sie weniger barmherzig sein, als die
Knechte unter dem Gesetz?
Man erlaube uns, hier noch die Worte eines teuren englischen
Bruders anzuführen — Worte, die er in betreff der Schuldenfrage an zwei seiner Freunde schreibt:
„Meine Meinung ist" — sagt er — „daß in der Regel die
Christen gar keine Schulden machen sollten. Die Worte:
„Seid niemanden irgend etwas schuldig" enthalten eine so
klare Vorschrift, daß selbst ein Tor sich nicht darüber täuschen
könnte. Wir wollen hier nicht untersuchen, inwieweit die Geschäftsleute dieser heiligen Regel nachkommen können. Es
gibt Termine, an denen der Fabrikant dem Großhändler und
dieser dem Kleinhändler verkauft und ihm einen Kredit von
bestimmten Monaten bewilligt. Solange diese Termine gewissenhaft beobachtet werden, ist es schwer zu beurteilen,
ob und in welchem Grade jemand zu einer bestimmten Zeit
in Schulden ist. Jedoch wäre es nach unserer Meinung für
den Geschäftsmann weit besser und sicherer, wenn er bar
bezahlen würde. Jedenfalls aber liegt es außer jedem Zweifel,
daß der in Schulden ist, dessen Handelsfonds und das, was
man ihm schuldet, nicht genügen, um die eingegangenen Verbindlichkeiten hinreichend decken zu können. Es ist ein elendes, falsches, sittenloses und verabscheuungswürdiges Ding,
mit einem scheinbaren Kapital Handel zu treiben, nach allen
möglichen Auskunftsmitteln zu haschen und auf Unkosten
seiner Gläubiger groß zu fahren."
„Dagegen haben Personen, die sich nicht mit dem Handel
beschäftigen, keinerlei Ausrede, um ihre Schulden zu rechtfertigen. Habe ich vor Gott und Menschen das Recht, einen
Rock oder einen Hut zu tragen, den ich nicht bezahlen kann?
212
Habe ich das Recht, einen Klafter Holz, einen Scheffel Kohlen, ein Pfund Kaffee oder Tee, oder ein Stück Fleisch zu
bestellen, wenn ich nicht imstande bin zu bezahlen? Man
fragt vielleicht: „Was dann machen?" Für einen geraden Sinn
und ein zartes Gewissen ist die Antwort einfach. Es ist viel
besser, zu entbehren, als Schulden zu machen. Es ist viel
besser, ein Stück trockenes Brot, das mein Eigentum ist, als
einen Braten, den ich schuldig bin, zum Mahl zu haben. Aber
ach! wie wenig Gewissenhaftigkeit und welch einen Mangel
an gesunden Grundsätzen findet man in dieser Beziehung!
Wie viele gehen von Woche zu Woche ihren Weg, nehmen
Platz am Tische des Herrn, legen mit ihren Lippen ein lautes
Bekenntnis von ihrem Christentum ab, prahlen mit schönen
und heiligen Grundsätzen und sind dabei bis über ihre Ohren
in Schulden, machen Einkäufe, die ihr Einkommen weit übersteigen, kaufen Nahrung und Kleidung auf Kredit bei Leuten, die Zutrauen zu ihnen haben, und dies alles, obwohl sie
sehr gut wissen, daß sie keine begründete Hoffnung haben,
ihre Schulden früher oder später abtragen zu können. Ist solch
ein Leben nicht schändlich und strafbar? In der Tat, wir
nehmen keinen Anstand, ein solches Betragen für eine praktische Gottlosigkeit zu erklären. Wir warnen daher unsere
christlichen Leser vor einem nachlässigen Wandel in dieser
Beziehung, dessen Folgen viel Schmach auf das Evangelium
bringen."
„Der Mangel an Gewissenhaftigkeit in bezug auf diesen ernsten Gegenstand ist in der Tat verabscheuungswürdig; ohne
Zweifel muß dadurch der Geist Gottes betrübt und in der
Seele Schwachheit, Furchtlosigkeit und Siechtum hervorgerufen werden. Wir glauben nicht, daß das Wort des Christus in
jemand wohne, der sich über seine Schulden kein Gewissen
macht, und wir würden uns berufen fühlen, einen solchen
anzuzeichnen und keinen Umgang mit ihm zu haben. (2. Thess
3, 14.) Nach unserer Meinung würde in solchen Fällen eine
treue, persönliche Zucht gute Wirkung haben. Alle, die in
Konkurs geraten sind, oder mit ihren Gläubigern akkordiert
haben, halten wir für moralisch verpflichtet, die ganze Summe
ihrer Schuld zurückzuzahlen; nach unserer Meinung haben
sie Schulden, bis alles gedeckt ist. Keinerlei gerichtliche Aus_-
213
nähme kann je einen wirklich rechtlichen Mann von der gerechten Verantwortlichkeit, alles zu bezahlen, entbinden. Wir
fühlen uns gedrungen, uns so bestimmt über diesen Punkt auszusprechen, wegen der bedauernswerten Nachlässigkeit, die
in dieser Beziehung unter vielen bekennenden Christen
herrscht. Wir wünschen daher, daß der Herr all den Seinen
ein waches Gewissen verleihen möge. Allerdings kann jemand
ohne seine Schuld in Schulden geraten; hat er aber einen
geraden Sinn und ein gesundes, geübtes Gewissen, so wird
er sich sicher anstrengen, um herauszukommen; er wird so
viel wie möglich seine Ausgaben beschränken und sich allerlei
Entbehrungen auferlegen, um seine Schuld bis auf den letzten
Heller zurückzahlen zu können, indem er alles, was er dazu
ersparen kann, und wäre es auch nur ein Zehngroschen stück
per Woche, beiseitelegt."
„Der Herr gebe uns Gnade, diese wichtige Frage mit allem
Ernst, den sie verdient, zu betrachten. Sicher wird die Sache
Christi auf eine bedauernswürdige Weise verunehrt, und das
Zeugnis der Christen geschwächt durch einen so scharf hervortretenden Mangel an Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeitsgefühl bezüglich des leichtfertigen Schuldenmachens und des
Verharrens auf diesem Wege. Wie sehr ist es zu wünschen,
daß wir alle ein gutes Gewissen haben."
*
So lauten die Worte jenes Bruders. Bevor wir jedoch unseren
Gegenstand verlassen, möchten wir noch gern einige Worte
an eine andere Klasse von Christen richten. Man wird sagen
und man hat auch schon gesagt: „Wenn es aber einem Bruder
untersagt ist, Geld aufzunehmen oder zu entlehnen, wird es
aus diesem Grunde nicht auch anderen Brüdern untersagt sein,
an jene Gelder auszuleihen?" Dieser Einwurf, obwohl der
menschlichen Logik völlig entsprechend, ist nichtsdestoweniger,
wie dies gewöhnlich der Fall ist, im Widerspruch mit den
deutlichsten Belehrungen des Wortes Gottes. Selbst die uns
vorliegende Stelle: „Seid niemandem irgend etwas schuldig",
— enthält die Beifügung: „als nur, daß ihr einander liebet."
214
Diese Schuld der Liebe nun, von der wir uns nie freimachen
können, besteht offenbar auch darin, daß wir unseren Brüdern in der Not mit dem Unsrigen Handreichung tun sollen,
sei es durch Geschenktes oder durch Geliehenes. Dies bestätigen
eine Menge biblischer Unterweisungen, von denen wir hier
etliche anführen werden. Wir lesen ausdrücklich: „Der Gesetzlose borgt und erstattet nicht wieder; der Gerechte aber ist
gnädig und gibt. . . . Den ganzen Tag ist er gnädig und
leiht, und sein Samen wird gesegnet sein." (Ps 37, 21. 26.)
„Wohl dem Manne, der gnädig ist und leiht! Er wird seine
Sachen durchführen im Gericht." (Ps 112, 5.) Und was sagt
der Herr Jesus Selbst in bezug auf diesen speziellen Punkt
der brüderlichen Liebe? Wir lesen: „Gib dem, der dich bittet,
und weise den nicht ab, der von dir borgen will." (Mt 5, 42.)
Und wiederum: „Und wenn ihr denen leihet, von welchen ihr
wieder zu empfangen hofft, was für Dank ist es euch? Denn
auch die Sünder leihen Sündern, auf daß sie das Gleiche wieder
empfangen. Doch liebet eure Feinde, und tut Gutes und leihet,
ohne etwas wieder zu hoffen, und euer Lohn wird groß sein,
und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen
die Undankbaren und Bösen. Seid also barmherzig, wie auch
euer Vater barmherzig ist." (Lk 6, 34—36.) Dieses alles bedarf
wohl keiner Erklärung, um es dem Gewissen eines aufrichtigen Jüngers nahezubringen.
Und wir können noch auf einen mächtigeren Beweggrund zur
christlichen Freigebigkeit hinweisen, nämlich auf den, welchen
Paulus den Gläubigen in Korinth vor Augen stellt, und zwar
bei Anlaß einer Kollekte für die Heiligen in Jerusalem, für
die nach Vermögen und über Vermögen beigesteuert worden
war. Er sagt: „Denn ihr kennet die Gnadeunseres Herrn Jesu
Christi, daß er^ da er reich waj^jjm euretwillen arm wurde,
auf daß ihr durch seine Armut reich würdet." (2. Kor 8, 9.)
Der Herr gebe uns allen ein zartes Gewissen und einen geraden Sinn! —
Messager evangelique.
215
Welches sind die Kinder der Weisheit?
Es gibt einen Zug, woran man die Kinder der Weisheit er
kennt, nämlich, daß sie die Weisheit rechtfertigen. So sagt
uns der Herr Jesus im siebten Kapitel des Lukas: „Und die
Weisheit ist gerechtfertigt worden von allen ihren Kindern."
(V 35.) In demselben Kapitel wird uns gesagt: „Und das
ganze Volk, das zuhörte, und die Zöllner rechtfertigten Gott,
indem sie mit der Taufe des Johannes getauft worden waren.
Die Pharisäer aber und die Gesetzgelehrten machten in bezug
auf sich selbst den Ratschluß Gottes wirkungslos, indem sie
nicht von ihm getauft worden waren." (V 29. 30.)
Hieraus lernen wir eine sehr einfache und kostbare Wahrheit,
nämlich, daß alle Kinder der Weisheit Gott rechtfertigen und
sich selbst verdammen. Dies ist der wahre Boden für jeden
Sünder. Auf diesem Boden stand Abel, als er Gott ein „besseres Opfer" darbrachte. Noah hatte ihn betreten, als er „eine
Arche bereitete zur Rettung seines Hauses." Hiob stand dort,
als er ausrief: „Siehe, bin ich zu gering." „Nun hat mein
Auge dich gesehen, darum verabscheue ich mich und bereue
in Staub und Asche." — Auf diesem Boden befand sich Jesaias, als er sagte: „Wehe mir! denn ich bin verloren; denn
ich bin ein Mann von unreinen Lippen." Es war die Stellung
Petri, als er ausrief: „Herr, gehe von mir hinaus, denn ich bin
ein sündiger Mensch!"
„Und was sage ich noch? Die Zeit würde mir fehlen", wenn
ich aufzählen wollte alle die Kinder der Weisheit, alle die
Glieder jener höchst gesegneten Generation, die freiwillig und
völlig den Ratschluß Gottes wider sich angenommen und sich
selbst als arme, schuldige, verdammungswürdige Sünder bezeichnet haben, die geleitet worden sind, um mit David zu
sagen: „Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt, und
ich habe getan, was böse ist in deinen Augen, damit du gerechtfertigt werdest, wenn du redest, rein erfunden, wenn du
richtest/' (Ps 51, 4; Röm 3, 4.)
Dieses ist die unveränderliche Sprache der Kinder der Weisheit. Sie verdammen sich selbst und rechtfertigen Gott. Sie
216
treten nicht mit Entschuldigungen auf; sie suchen sich weder
zu zieren, noch zu verbergen. „Nein, ich will bekennen", ist
der erste große Ausruf jedes wahren Kindes der Weisheit.
Und bevor diese Sprache aus dem Herzen dringt, kann da
nichts in Ordnung sein; bevor die Seele wirklich auf diesem
Boden steht, erhebt sich zwischen ihr und Gott eine unübersteigliche Schranke. Dieses erkannte David in seinen Tagen;
denn er sagt uns: „Da ich schwieg, verzehrten sich meine Gebeine durch mein Gestöhn den ganzen Tag. Denn Tag und
Nacht lastete auf mir deine Hand; verwandelt ward mein
Saft in Sommerdürre." (Ps 32, 3. 4.)
Und so wird es immer sein. Es wird kein Trost, keine Ruhe,
keine Segnung, kein Bewußtsein von Vergebung, kein Friede
und keine heilige Gemeinschaft mit Gott vorhanden sein können, wenn nicht vorher das Herz geöffnet ist und der Geist
wahrer Buße einen freien Lauf gefunden hat.
Was aber dann? Wie handelt Gott mit denen, die Ihn rechtfertigen und sich selbst verdammen? Sein Name sei gepriesen!
Er rechtfertigt sie und verdammt ihre Sünden. Wunderbare
Gnade! In dem Augenblick, da ich meinen Platz als ein mich
selbst anklagender Sünder einnehme, leitet Gott mich auf den
Platz eines gerechtfertigten Heiligen. Das Selbstgericht ist der
sichere Vorbote der göttlichen Rechtfertigung. Ich habe mich
nur als ein verdammungswürdiger Sünder anzuklagen; dann
kann ich alles übrige Gott überlassen. Die Kinder der Weisheit rechtfertigen Gott, und Gott rechtfertigt sie; sie verdammen sich selbst und Er vergibt ihnen.
Wie aber kann dieses stattfinden? Das Kreuz gibt die Antwort darauf. Dort verdammte Gott die Sünde. Dort wurde
Sein gerechter Zorn über die Sünde ausgeschüttet auf Den,
der zur Sünde gemacht war, damit Seine Gerechtigkeit dem
Sünder zugerechnet werde, der einfach an Jesum glaubt. Hier
ist es, wo die Kinder der Weisheit ihren Standpunkt einnehmen. Hier ist ihr gesegneter Ruheplatz — der unerschütterliche
und ewige Grund ihres Friedens.
Mein teurer Leser! Sage mir: Bist auch Du ein Kind der
Weisheit? Bist Du durch die Gnade geführt worden, Deine
Schuld zu sehen und sie vor Gott anzuerkennen? Hast Du
217
den Ratschluß Gottes wider Dich angenommen? Ist .dies der
Fall, dann kannst Du in demselben Augenblick Frieden finden in dem vollendeten Werk Christi und in der darauf gegründeten Gerechtigkeit Gottes. Das ist das gesegnete Teil
aller Kinder der Weisheit. —
Frieden durch Glauben
Ein Briefwechsel mit einer nach Frieden ringenden Seele
1. Der friede durch das Blut Jesu.
Meine teure Freundin!
Unsere gestrige Unterhaltung hat mir so recht die Schwierigkeit aufgedeckt, unter der Du Dich abmühst, Frieden zu erlangen. Du sagst: „Ohne Gott kann ich keinen Frieden haben; und Er muß wider mich sein, weil Er meiner Seele den
Frieden nicht zusagt." — Willst Du Deine Aufmerksamkeit
auf einige Bemerkungen richten, die ich Dir bezüglich dieses
Gegenstandes zu machen gedenke? Es ist völlig wahr, daß Gott
allein dem Gewissen Frieden zusagen kann; und ebenso wahr
ist es, daß die Abneigung unserer Herzen, dem Zeugnis Gottes zu glauben, so groß ist, daß nur Seine Macht und Gnade
dahin leitet oder fähig macht zu glauben. Aber schließe nicht
daraus, daß Gott mit einer hörbaren Stimme zu Dir reden,
oder Seinem Wort noch irgendeine neue Offenbarung beifügen werde, um durch solche unmittelbaren Eindrücke auf
Deine Gefühle Dich zum Glauben zu bringen. Nein, das ist
nicht der Weg Gottes. Er hat bereits zuvor, und zwar aufs
vollkommenste in Seinem Worte geredet; und „der Glaube
ist aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes
Wort". (Kön 10, 17.) Horche daher auf das, was Gott in
Seinem Wort sagt und vertraue Ihm dabei völlig, daß Er Dich
auch fähig machen wird, dieses Wort zu verstehen und anzunehmen.
218
In Apostgesch. 10, 36 liesest Du, daß Gott durch Jesum Christum Frieden verkündigt. Heißt das nicht „Frieden zusagen"
durch Sein gesegnetes Wort? Wenn Er Selbst den Frieden
verkündigt, kann da noch ein Zweifel obwalten, daß Er den
Frieden zusagt? Aber was heißt Frieden haben? Ich bin nicht
gewiß, ob wir uns hierin verstehen. Wenn Du darüber klagst,
daß Dir der Frieden fehlt so meinst Du das Gefühl des
inneren Friedens oder die Versicherung Deiner Vergebung und
Deiner Versöhnung mit Gott. So wünschenswert und wichtig
aber dieses Gefühl auch sein mag, so ist es doch nur eine
Wirkung des Friedens mit Gott durch unseren Herr Jesum
Christum, aber keineswegs der Friede selbst. Zunächst ist nun
für Dich nur das zu wissen nötig, was Gott in betreff dieses
Friedens selbst erklärt hat. Der Herr befähige mich, dieses
Deiner Seele so klar vorzustellen, daß die so sehnlich gewünschte Wirkung, das innere Gefühl des Friedens und der
Versöhnung mit Gott, dadurch hervorgerufen werde.
Du und ich, meine Freundin, wir beide haben gegen Gott
gesündigt. Von Natur sind wir Sünder; und hinter uns liegt
ein Leben der Sünde und der Empörung wider Gott. Jetzt
räumst Du dies ein, ja, Du fühlst und weißt es, daß es wirklich so ist, während Du es früher nicht erkanntest. Und hat
Gott nicht Ursache gehabt, über uns wegen unserer Sünde
zu zürnen? In der Tat, Er zürnt über die Sünde und haßt
sie mit vollkommenem Hasse. Aber wiewohl Er mit Recht
über unsere Sünde zürnt, so hat dennoch Seine Liebe uns
gesucht und Sein unendliches Erbarmen hat uns angesehen.
Er wollte nicht, daß wir die gerechten Folgen unserer Sünde
tragen sollten. Aber wie war dies möglich? Wie konnte der
gerechte Gott uns annehmen, solange wir noch in unseren
Sünden waren? Was konnten wir tun, um von der Sünde
loszuwerden oder Gottes gerechten Unwillen über sie abzuwenden? Nichts. All unser Tun war mit Sünde befleckt und
würde die Sache nur noch ärger gemacht haben. Als Du begannst, den Herrn ernstlich zu suchen, wirst Du dies selbst
erfahren haben. Irrten Deine Gedanken beim Lesen Seines
Wortes nicht unstet umher? Und hast Du nicht noch gestern
darüber geklagt, daß Du in Deinen Gebeten kaum Deinen
Geist fest auf das zu richten vermöchtest, was Gott in Seinem
219
Wort sagt? Kurz, wir vermögen nichts zu tun, was vor Gott
gebracht werden könnte; und wäre dies sogar von jetzt an
möglich, so würden dadurch unsere vergangenen Sünden nicht
beseitigt werden. Soweit also die Sache von uns abhängt, ist
sie hoffnungslos. Doch Gott liebte und suchte uns, um uns
Seines Heiles teilhaftig zu machen. Und da unsere Sünden
weder ungestraft bleiben konnten, noch wir uns von ihnen
zu befreien vermochten, so sandte Gott Seinen eingeborenen
Sohn als eine Sühnung für unsere Sünden, legte auf dem
Kreuz unsere ganze Schuld auf Ihn, und nachdem dieses
Werk vollbracht war, konnten die Ströme Seiner Gnade und
Liebe sich frei und ungehindert nach allen Seiten hin ergießen.
Gott mußte einen gerechten und heiligen Grund haben, auf
dem Er uns vergeben, uns erretten und uns ungeachtet unserer
Sünden in den Himmel aufnehmen konnte; und diesen Grund
fand Er in dem Tode Jesu, im Vergießen Seines Blutes für
die Sünde. Auf diese Weise hat Jesus „Frieden gemacht"
durch das Blut Seines Kreuzes. Das aber ist nicht etwas, was
noch geschehen soll; es ist eine vollendete Tatsache. So wahr
wie Gott wahrhaftig ist, so wahr hat der Herr Jesus Christus
„Frieden gemacht durch das Blut Seines Kreuzes"; (Kol 1, 26.)
und auf diese Weise verkündigt Gott „Frieden durch Jesum
Christum". —
Erzogen von gottesfürchtigen Eltern, hast Du frühe die Bibel
gelesen und das Evangelium gehört; und Du standest daher
äußerlich weit näher, als viele offenbar gottlose Menschen.
Aber wie nahe Du äußerlich gewesen sein magst, so bist Du
doch jetzt völlig überzeugt, daß Du wirklich innerlich von Gott
getrennt warst. Dir nun verkündigt Christus Frieden, den
Frieden mit Gott durch das Vergießen Seines kostbaren Blutes. Gott erklärt, durch dieses Blut befriedigt und völlig gerechtfertigt zu sein, wenn Er Dich und mich in Gnaden annimmt.
Ist das nicht genug? Was Gott rechtfertigt, um uns zu rechtfertigen, reicht sicherlich hin, unsere Herzen zu befriedigen
und unsere Gewissen vor Gott zu stillen. Allerdings braucht
die Seele einen festen Grund zu ihrem Ruhepunkt; aber was
könnte fester sein, als das Wort Gottes? So wahr wie Gott
wahrhaftig ist, so wahr ist es, daß wir Sünder sind, und daß
Er die Sünde haßt und sie bestrafen muß; aber ebenso wahr
220
ist es auch, daß Er uns liebte, da wir nodi Sünder und Feinde
waren. Er liebte uns; und um uns zu Seinen Kindern zu haben, die ewig bei Ihm wohnen sollten, gab Er Christum hin,
daß Er an unserer Statt für unsere Sünden sterbe. Gott ist
durch das völlig zufriedengestellt, was Christus um Deinetund meinetwillen am Kreuz erduldet hat. Und dieses bestätigt
Er in Seinem Wort und ladet Dich ein, Dich in Seine erbarmenden Arme zu werfen, um ewiglich zu leben. Darum eile
zu Ihm! Sage Ihm, daß Du nicht länger an Seinem Worte
zweifeln und Seine Liebe in Frage stellen wollest! Erinnere
Ihn daran, daß, obwohl Du nichts als die Hölle verdient habest, Er durch das Werk Jesu befriedigt zu sein versichere,
und daß auch Du zufrieden sein wollest mit demselben seligen Platz der Begegnung zwischen Gott und Dir. Anstatt noch
länger zu zweifeln, zu fürchten oder zu fragen, siehe, wie Gott
befriedigt ist durch das, was Christus um Deinetwillen am
Kreuze erduldet hat. Bedenke doch, wie schrecklich es ist, zu
zweifeln, daß dieses völlig genüge, und rufe Ihm zu: „Herr,
es ist genug! Ich bin eine Sünderin; aber Christus ist für
Sünder gestorben!" —
Und darin verharre, meine teure Freundin. Fühlst Du auch
nicht sofort eine Veränderung, so halte dennoch fest an dem
Grunde. Gott Selbst sagt in Seinem Worte, daß das Blut Christi allgenügend ist und Frieden mit Ihm für den Sünder gemacht hat. Nur auf diesem Grunde findet die Seele Ruhe. Oder
sollte Er es als ein Unrecht bezeichnen, wenn Du Seinem eigenen Worte und dem Blute Christi Vertrauen schenkst? „Und
in diesem wird jeder Glaubende von allem gerechtfertigt."
(Apg 13, 39.) Also in Jesu ruhen, Ihm vertrauen, befriedigt
sein durch Sein Blut, das heißt glauben.
Dein aufrichtiger Freund.
2. Laß den Zweig fahren!
Meine teure Freundin!
Dein Brief war mir sehr willkommen und ich danke Gott von
Herzen für jeden Strahl des Trostes, den Er Deinem gedrückten und beunruhigten Geist zuteil werden läßt. Ich glaube
Dich zu verstehen, wenn Du über die „Hartherzigkeit" und
221
über jenes Gefühl klagst, wovon Du sagst: „Mir ist es oft,
als wollte mir das Herz brechen; und sicher nur die, die es
durchgemacht haben, können begreifen, wie elend es ist zu
fühlen, daß es eine offene Quelle gibt, aus der man nach
Belieben schöpfen könnte, daß aber noch etwas im Wege ist,
das die Seele zurückhält." — Aber ich rate Dir zu bedenken,
daß diese unglücklichen Gefühle nichts wert sind, daß der
Unglaube ihre Quelle ist, und daß sie daher nicht allein bitter
und schmerzlich, sondern ihrer Natur nach wirklich sündhaft
sind. Gott will, daß wir Seinem Wort glauben, worin Er
erklärt, daß Seine Liebe zu uns so groß war, daß Er Seines
eingeborenen Sohnes nicht geschont hat, sondern Ihn dahingab, damit wir durch den Glauben an das kostbare Blut Jesu
der Vergebung zum ewigen Leben und der Kindschaft teilhaftig würden. Er sagt Dir in Seinem Wort, daß, sobald der
verlorene Sohn sein Angesicht und seine Schritte zum Vaterhause wandte und noch ferne war, sein Vater ihn sah und
innerlich bewegt wurde, und daß er ihm entgegenlief, ihm
um den Hals fiel und ihn sehr küßte. Und war der Vater
in diesem Gleichnis etwa freundlicher und gütiger, als es der
Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi ist? Erzählt denn
nicht der Herr Jesus Selbst dieses Gleichnis in der Absicht,
uns zu zeigen, welch einen Vater Er hat, und mit welcher
Freude der Vater jeden Sünder aufnimmt, der zu Ihm kommt?
Zweifle daher nicht einen Augenblick länger, sondern glaube
doch dem Zeugnis Gottes über Seinen Sohn.
Ich wünschte, ich könnte Dir einen Bericht von einer Dame in
Schottland treu wiedergeben, um Dir zu zeigen, auf welche
Weise ihre Unruhe und ihr Zweifel von ihr genommen wurden. Es war zur Zeit einer Erweckung, als mehrere Bekannte
dieser Dame zu Christo bekehrt wurden. Unter anderen war
auch eine ihrer besten Freundinnen bekehrt worden. Da sie
sich selbst um ihr Seelenheil bekümmert fühlte, ging sie zu
einem Diener Christi, der gerade dort wirkte, und teilte ihm
mit, daß sie sehr unglücklich sei. Er erwiderte, daß er sich sehr
freue, dies zu hören. Erstaunt darüber und einigermaßen beleidigt, teilte sie ihm mit, welche Versuche sie gemacht habe,
um die Seligkeit zu erlangen, wie sie gelesen und gebetet habe;
und dennoch fühle sie sich vom Frieden mehr entfernt als je.
222
Er sagte ihr, daß sie nicht durch irgendein Werk von ihrer
Seite errettet werden könnte, sondern nur durch das Werk,
das Christus schon lange am Kreuz vollbracht habe. Doch alles
erschien ihr dunkel und unverständlich; und traurig ging sie
zu ihrer Freundin, die erst vor kurzem bekehrt worden war.
„Was hast Du getan, um Frieden zu erlangen?" fragte sie.
„Getan? Ich habe nichts getan", war die Antwort, „sondern
ich habe Frieden gefunden in dem, was Christus getan hat." —
Die Dame erwiderte, daß der Prediger ihr gerade dasselbe
gesagt habe, daß sie es aber nicht verstehen könne. Noch
trauriger als vorher kehrte sie nach Hause zurück, schloß sich
in ihr Zimmer ein, fiel auf die Kniee und nahm sich vor, nicht
eher wieder aufzustehen, als bis ihre Seele Ruhe und Frieden
gefunden habe. Wie lange ihre Angst gewährt hat, weiß ich
nicht; aber die Natur war erschöpft, und sie sank in Schlummer. Während sie so schlief, träumte sie, daß sie in einen
schrecklichen Abgrund gefallen sei, jedoch sich noch an einem
einzigen Zweig festhalte, der gerade über dem Abgrunde
hing. Darin hing sie nun, schrie laut um Hilfe, als eine Stimme
von unten, in der sie die Stimme Jesu zu erkennen glaubte,
sie laut aufforderte, den Zweig fahren zu lassen, wenn Er sie
retten solle. „Herr, rette mich!" schrie sie; aber die Stimme
wiederholte: „Laß den Zweig fahren!" Das aber schien ihr
unmöglich und lauter schrie sie um Hilfe. Und wieder hörte
sie von unten in zärtlichem Tone sagen: „Ich kann Dich nicht
erretten, wenn Du nicht zuvor den Zweig fahren läßt." An sich
selbst verzweifelnd ließ sie jetzt den Zweig los, fiel in Jesu
Arme; und in ihrer Freude darüber erwachte sie. Die Lehre,
die ihr durch ihren Traum gegeben war, ging nicht an ihr
verloren. Sie erkannte, daß Jesus ihr ganzes Vertrauen wert
sei; und daß sie nicht nur keinen Zweig von Selbstvertrauen
mehr brauchte, sondern daß, um zu Jesu zu kommen, es gerade
ein Hindernis sei, wenn sie den Zweig des Selbstvertrauens
noch festhielte. Sie ließ alles fahren und fand Jesum allgenügend.
Indem ich von Dir bald zu erfahren hoffe, daß auch Du jede
andere Hoffnung verlassen hast und in Seine Arme gefallen
bist, die für Dich am Kreuze ausgestreckt gewesen sind, verbleibe ich Dein ... .
223
3. Errette Deine Seele!
Meine teure Freundin!
Ich sehe aus Deinem gestrigen Brief, daß der Herr noch immer
Deine Aufmerksamkeit auf den überaus wichtigen Gegenstand
der Seligkeit Deiner Seele wach erhält. Leider ist Dir der
Friede des Evangeliums noch fremd; aber es ist eine gewisse
Gnade, vor einem falschen Frieden, wodurch Satan so gern die
Seelen betrügt und ins Verderben zieht, bewahrt zu bleiben.
Doch darfst Du in diesem Zustande nicht bleiben. „Gedenke
an Lots Weib!" Sie verließ Sodom mit ihrem Mann, um dem
schrecklichen Gericht zu entgehen, das Gott über diese gottlose
Stadt hereinbrechen ließ. Doch ihr Herz war noch dort, sie
hing mit großer Neigung an Sodom und den Schätzen darin
und wurde, zurückschauend, in eine Salzsäule verwandelt. Sie
ist ein bleibendes Denkmal der schrecklichen Folgen eines
Rückfalls aus einem erweckten in einen sorglosen Zustand.
O, möchte Gott die Warnung, die Er Lot und seiner Familie
gab, Deinem Herzen tief einprägen: „Rette dich um deines
Lebens willen; sieh nicht hinter dich, und bleibe nicht stehen
in der ganzen Ebene; rette dich auf das Gebirge, damit du
nicht weggerafft werdest." (1. Mo 19, 17.)
Du sagst in Deinem Brief: „Ich glaube nicht, daß ich ohne den
Herrn sterben werde." — Ich hoffe es mit Dir von ganzem
Herzen. Aber es ist gefährlich, solchen Hoffnungen zu vertrauen. In dem Augenblick, wo Du diesen Brief liest, bist
Du entweder ein Kind Gottes, oder ein Kind des Zorns. Einen
Mittelstand gibt es nicht. „Wer den Sohn hat, hat das Leben;
wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht." (1. Joh
5, 12.) Nun hast Du entweder den Sohn Gottes, oder Du hast
Ihn nicht. Wie steht es, meine Freundin? Wenn Du durch
Glauben den Sohn Gottes hast, so hast Du das Leben. In
diesem Fall hat die Frage, ob Du hoffst oder vertraust, daß Du
nicht ohne den Herrn sterben werdest, keine Bedeutung; denn
wenn Du den Sohn hast, so hast Du schon das Leben. Aber
wenn Du den Sohn nicht hast, wenn Jesus nicht Deine einzige Hoffnung und Zuflucht ist, so hast Du das Leben nicht.
Und in diesem Zustande fortlebend, gibt es nirgends eine
Verheißung, daß Du, bevor Du stirbst, das Leben erhalten
224
wirst. Alle Verheißungen vereinigen sich in Christo und beziehen sich auf den gegenwärtigen Augenblick. „Jetzt ist die
angenehme Zeit, siehe! jetzt ist der Tag des Heils." —
Wie ungewiß ist das menschliche Leben! Als ich vor etlichen
Wochen verreiste, mußte eine Freundin von mir wegen Unwohlseins das Zimmer hüten. Bei meiner Rückkehr wurde mir
mitgeteilt, daß die Kranke beinahe wiederhergestellt sei, das
war ungefähr 4 Uhr nachmittags. Um 8 Uhr desselben Abends
saß sie an ihrem Tische und ließ sich durch ihre Schwester ein
Kapitel aus dem Neuen Testament vorlesen. Um 9 Uhr war
sie eine Leiche. Welch plötzliche Veränderung! Wir haben
allen Grund zu glauben, daß die Dahingeschiedene schon seit
Jahren bekehrt war und darum jetzt bei dem Herrn ist. Aber
wäre dies nicht der Fall gewesen, welche Möglichkeit wäre
vorhanden gewesen, zu Ihm zu fliehen, als sie so plötzlich vom
Tode übereilt wurde? Ruhe daher nicht eine Stunde, teure
Freundin, ohne Christum gefunden zu haben. Gott Selbst
bietet Ihn Dir an, und das ganze Verdienst Seines kostbaren
Versöhnungsblutes. Du bist Ihm jetzt schon willkommen.
„Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen." Aber
es heißt: „Wer zu mir kommt." Darum komme zu Jesu;
komme noch heute; zögere keine Stunde länger! Nur in Ihm
wirst Du die Gewißheit der Liebe Gottes und Dein ewiges
Heil finden.
Es ist mir immer eine Freude gewesen, von Dir zu hören! Aber
setze Dein Vertrauen auf keinen Menschen, oder darauf, was
ein Freund Dir raten oder für Dich tun könnte. Sieh nur auf
den Herrn Jesum und auf das Blut, das Er auf Golgatha vergossen hat. Das allein ist es, was uns von aller Sünde reinigt.
Alles, was irgend jemand tun kann, ist, Dich auf Jesum und
Sein Blut hinzuweisen. Möge der Herr Dich erleuchten und
mir die Freude gewähren, bald von Dir zu hören, daß Jesus
Dir in der Tat teuer und wert ist. Der Deinige.
4. Kann ich aus mir selber glauben?
Meine teure Freundin!
Wie schenll vergeht die Zeit! Daran erinnert mich Deine Mitteilung, daß Dein Geburtstag nahe sei. Ich bin fast zweimal
225
so alt wie Du; und Du kannst Dir vorstellen, wie viel schneller
die letzte Hälfte der Jahre vergangen ist, als die erste. Mit
einem Leben in Christo, das nie endet, und dem Kommen des
Herrn vor uns, wo die Sterblichkeit vom Leben verschlungen
werden wird, hört die Flüchtigkeit der Zeit auf, ein Gegenstand des Bedauerns zu sein. O, möchte Dich daher Dein Geburtstag im Genuß dieses neuen Lebens finden; gewiß, dann
würde er der glücklichste sein, den Du je erlebt hast. Schon
ungefähr einen Monat ist es her, als Du erweckt wurdest; und
ich kann Dir meine Unruhe darüber nicht verhehlen, daß Dein
gegenwärtiger Gemütszustand schon so lange ununterbrochen
fortdauert. Solange man nicht Christum wirklich erkannt hat,
kann man nie gewiß sein, welchen Ausgang Angst und Not
nehmen wird. Ich habe die herzzerreißendsten Beispiele von
Angst und Unruhe gesehen, welche mit einem Rückfall in
einen gleichgültigen und sündigen Lebenslauf endeten. O,
möchte doch bei Dir nicht ein solcher Fall eintreten! Wie in
meinem vorigen Brief, so rufe ich Dir auch jetzt die Worte des
Engels zu: „Rette dich um deines Lebens willen; sieh nicht
hinter dich, und bleibe nicht stehen in der ganzen Ebene;
rette dich auf das Gebirge, damit du nicht weggerafft werdest."
(1. Mo 19, 17.)
Du schreibst, Du habest versucht, Dich in Jesu Arme zu werfen; aber Du wagest nicht, Ihm zu vertrauen, daß Er Dich
aufnehme. Du fragst ferner: „Kann ich etwas aus mir selber
glauben und es mir aneignen, daß ich Frieden mit Gott habe,
und daß meine Sünden vergeben seien?" Du führst aus einem
der Traktate die Stelle an, daß „durch göttliche Kraft des
Menschen Herz geöffnet werde, um das Evangelium anzunehmen, und daß die Wahrheit durch den Geist Gottes empfangen werden müsse." Ohne Zweifel; denn ohne dieses würde
die Aufnahme der Wahrheit uns nichts nützen. Die Wahrheit
ohne den Geist würde uns kein neues Leben geben. Wir
könnten nicht „wiedergeboren" sein ohne den Geist. Und
welchen Wert hätte irgendeine Veränderung, wenn sie nicht
„Wiedergeburt" wäre? Du sagst: „Ist es nicht unnütz, daß ich
versuche, aus mir selber zu glauben?" — Allerdings, wenn Du
aus eigener Kraft zu glauben versuchst, so wird es sicher vergeblich sein. Aber setze den Fall, ein Freund sagte Dir etwas,
226
würdest Du dann bloß versuchen, Ihm zu glauben? Nein, Du
würdest ihm glauben; und wenn Du zu Gott dasselbe Vertrauen hättest wie zu ihm, so würdest Du Gott ebenso einfach
wie jenem glauben. Aber ach! Gott kann Dir zu wiederholten
Malen dasselbe sagen, und doch antwortest Du: „Ist es nicht
ganz unnütz, wenn ich zu glauben versuche?" In welchem
traurigen Zustande befindet sich der Mensch, wenn er erst
versuchen muß, dem Gott der Wahrheit zu glauben, der doch
nicht lügen kann!
Du sagst: „Sollte ich nicht lieber Gott bitten, daß Er mein
Herz öffne, um Seinem Worte verhauen zu können, und daß
Er das Wort mit Kraft und Leben meiner Seele nahebringen
möge?" — Ich werde Dich nicht entmutigen, etwas von Gott
zu erbitten, was Du nötig hast, auch weiß ich, daß Gottes
Wege der Barmherzigkeit so mannigfaltig sind, daß eine Seele
so geführt werden kann, wie Du es beschreibst, bis das Licht
sie völlig erleuchtet und Christus ihr so lieblich und Sein Blut
ihr so köstlich erscheint, daß das Herz nicht länger zweifeln
kann. Ich selbst lag auf den Knien in meinem Zimmer, als
meine Seele die Wahrheit annahm und frei wurde. Aber ich
könnte keinem raten, den Weg einzuschlagen, den Du vorschreibst, und zwar aus folgenden Gründen.
Erstens, ich finde einen solchen Rat nirgends in der Heiligen
Schrift.
Zweitens, jemand könnte bitten, wie Du es für gut findest,
ohne das Heil zu empfangen; und ich würde zittern, wenn
jemand zu mir sagen könnte: „Ich tat, was du mir geraten hast,
und bin doch nicht gerettet."
Drittens, die Anleitung der Schrift ist: „Glaube an den Herrn
Jesum, und du wirst errettet werden", — und niemand kann
sagen: „Ich bin dieser Anleitung gefolgt und bin doch nicht
gerettet." Auch Du kannst nicht sagen, daß Du an den Herrn
Jesum geglaubt hast, ohne die Seligkeit gefunden zu haben.
Du hast nur versucht zu glauben; und das ist nicht die Meinung der Heiligen Schrift. Sie fordert uns auf zu sehen, zu
kommen, Zuflucht zu nehmen, Christi Fleisch zu essen und
Sein Blut zu trinken. Aber auf Jesum sehen heißt, an Ihn
glauben; zu Jesu kommen heißt, an Ihn glauben; seine Zu227
flucht zu Christo nehmen heißt, an Ihn glauben; und wenn der
Herr Jesus vom Essen Seines Fleisches und vom Trinken
Seines Blutes spricht, dann fügt Er hinzu: „Wer zu mir kommt,
wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr dürsten." (Joh '6, 35.) Aber dann ist es Christus, der
selig macht — nicht das Kommen, das Sehen oder Glauben,
wenn es in irgendeinem Sinne von Ihm getrennt betrachtet
wird. Das Brot nährt einen hungrigen Menschen, jedoch muß
er es essen, wenn es ihn nähren soll. Würde er aber auch noch
so lange seine Zähne bewegen und tun, als ob er esse, so
würde er dennoch keine Nahrung erhalten, wenn kein Brot in
seinem Munde wäre. Das Brot stillt den Hunger, wie unumgänglich nötig es auch ist, daß er es ißt. Aber ein hungriger
Mensch wird nicht sitzen und noch erst darüber streiten, ob er
essen kann oder nicht. Wenn ihm Brot mit einem herzlichen
Willkommen vorgesetzt wird und er wirklich hungrig ist, wie
bereit und wie gern wird er essen! Tue Du nun auch so, meine
Freundin: Nimm Christum, das Brot des Lebens, in Deiner
Seele auf. Gott heißt Dich willkommen. Glaube Seinem Worte,
iß und lebe ewig!
Ich überhöre keineswegs Deine Frage: „Kann ich aus mir selber glauben?" — oder die aus einem Traktat angeführte Stelle,
daß man „nur durch den Geist die Wahrheit" aufnehmen
könne. Aber bedenke, daß wir, Du und ich, es sind, die glauben, obwohl der Geist dieses bewirkt. Der Geist glaubt nicht
für uns oder an unserer Statt. Er leitet uns zu glauben, indem
Er uns Christum vorstellt in der Herrlichkeit Seiner Person,
in der Zärtlichkeit Seine Liebe, im Wert Seines Blutes, in der
Kraft Seiner Auferstehung. Aber für uns kam Christum vom
Himmel, für uns lebte und starb Er, für uns ist Er auferstanden, und wir sind es, die Ihm zu vertrauen, Ihn aufzunehmen
haben, wiewohl es wahr ist, daß niemand Ihn annimmt und
Ihm vertraut, als nur durch den Geist Gottes. Betrachten wir
indes diesen Gegenstand etwas genauer:
1. Die Bibel ist voll der feierlichsten Zusicherungen, daß Gott
niemandem die Seligkeit vorenthält, sondern daß Er sie jedem
anbietet. „So wahr als ich lebe, spricht der Herr Jehova, ich
habe kein Gefallen an dem Tode des Gesetzlosen, sondern daß
228
der Gesetzlose von seinem Wege umkehre und lebe." (Hes
33, 11.) „Wendet euch zu mir und werdet gerettet, alle ihr
Enden der Erde, denn ich bin Gott und keiner sonst." (Jes
45, 22.) „He! ihr Durstigen alle, kommet zu den Wassern, und
die ihr kein Geld habt, kommet kaufet und esset; ja kommet kaufet ohne Geld und ohne Kaufpreis Wein und
Milch." (Jes 55, 1.) Johannes „kam zum Zeugnis, daß er
zeugte von dem Lichte, damit alle durch ihn glaubten". (Joh
1, 7.) „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, auf daß
er die Welt richte, sondern auf daß die Welt durch ihn errettet
werde." (Joh 3, 17.) „Dies sage ich, auf daß ihr errettet werdet." (Joh 5, 34.) „Diese aber sind geschrieben, auf daß ihr
glaubet, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und auf
daß ihr glaubend Leben habet in seinem Namen." (Joh 20, 31.)
„Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches
ich geben werde für das Leben der Welt." (Joh 6, 51.) „Gehet
hin in die ganze Welt und prediget das Evangelium der ganzen
Schöpfung." (Mk 16, 15.) „Gott war in Christo, die Welt mit
sich selbst versöhnend/' (2. Kor 5, 19.) „Gott, unser Heiland,
welcher will, daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen." (1. Tim 2, 3. 4.) „Der Herr
ist langmütig gegen euch, da er nicht will, daß irgendwelche
verloren werden, sondern daß alle zur Buße kommen."
(2. Petr 3, 9.) „Der Geist und die Braut sagen: Komm! . . . und
wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst."
(Offb 22, 17.) — Kann jemand diese und viele andere Stellen
lesen und noch zweifeln, daß Gott wahrhaftig will, daß allen
Menschen geholfen werde? Das Hindernis Deines Kommens
zu Christo, meine Freundin, ist nicht auf Gottes Seite. Er ist
bereit, dich aufzunehmen; ja, Er bittet Dich, zu kommen und
Dich versöhnen zu lassen.
2. Und dennoch sagst Du: „Ich wage nicht, ihm zu vertrauen,
daß er mich annehmen werde. Kann ich aus mir selber glauben?" Nein, Du kannst es nicht. Christus sagt: „Niemand
kann zu mir kommen, es sei denn, daß der Vater, der mich
gesandt hat, ihn ziehe." (Joh 6, 44.) Von Natur sind wir nicht
nur gottlos, sonder auch „schwach". (R öm 5, 6.) Doch wenn
Du von Deinem Vater sagen würdest: „Ich wage nicht, ihm
229
zu vertrauen", würde eine solche Sprache nicht anzeigen, daß
Du eine sehr schlechte Meinung von seinem Charakter hast?
Du würdest zittern, ein solches Urteil über Deinen Vater zu
fällen. Und dennoch wagst Du es Gott gegenüber. Das ist das
eigentümliche Wesen der Sünde. Gott hindert uns sicher nicht,
an Christum zu glauben; Menschen könnten uns nicht hindern, wenn wir wirklich geneigt wären, an Ihn zu glauben;
auch Satan könnte es nicht. „Ihr wollt nicht zu mir kommen,
auf daß ihr Leben habet." Wir könnten es, wenn wir wollten;
aber wir wollen es nicht. Seit einem Monat hat nun das Gefühl der Schuld, des Elends und der Verdammung Deine
Seele belastet; und dennoch sagst Du: „Ich habe es versucht,
mich in Jesu Arme zu werfen, aber ich wage nicht, Ihm zu
vertrauen, daß er mich annehme."
3. Sicher kann nur Gott dieses Widerstreben bezwingen. Er
ist aber keineswegs dazu verpflichtet. Er ist bereit, Dich durch
Christum anzunehmen, wenn Du an Christum glaubst. Aber
Du ziehst Dich von Ihm zurück, und würdest es stets tun,
wenn nicht Seine allmächtige Gnade Dir in den Weg träte.
Und Du hast kein Anrecht an diese Gnade, sonst wäre es nicht
Gnade. Du bist ganz in Gottes Händen; er kann mit Dir
machen, was Ihm gut dünkt. Überließe Er Dich Dir selbst, so
würdest Du bald alle Eindrücke verlieren und nicht zu Jesu
kommen. Meine ganze Hoffnung ruht nur darauf, daß Gott
Dir in den Weg trete und Dich leiten möge, Ihm zu vertrauen
und an Christum zu glauben. Doch erwarte nicht, daß, wenn
Er Dich zu Christo führen sollte, dieses durch eine neue Offenbarung geschehe oder durch irgendeinen gewaltigen Eindruck.
Sobald Du an Christum glaubst, wirst Du sehen, daß Er der
Christus ist, von dem Du soviel gehört und gelesen hast, der
Christus, der auch jetzt mit offenen Armen wartet, um Dich
zu empfangen. Gottlos und kraftlos sind wir; aber Christus
ist, da wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben. (Röm 5, 6.) Wagst Du es nicht, dies zu glauben? Kannst Du noch schlechter als gottlos sein? Christus ist
für Gottlose und Kraftlose gestorben. O, daß Du sagen könntest: „Ja, für mich, der ich gottlos und kraftlos war, vergoß er
sein Blut." — Nicht für die Gerechten, oder für die, welche
230
fühlen, wie sie fühlen wollen, oder für solche, die aus eigener
Kraft glauben, ist Christus gestorben. Nein, sondern für die
Verlorenen, für Sünder, für solche, die, wenn sie sich selbst
überlassen blieben, Christum verwerfen und in der Sünde beharren würden. Für solche kam und starb Er. O, möchtest Du
es doch glauben! Gott selbst sagt es. Schaue weg von Deinem
undankbaren, sündigen, ungläubigen Ich, schaue hin auf Jesum,
der vom Himmel auf die Erde kam, der seufzte und weinte
und litt und blutete für elende Sünder. Gott selbst fordert
Dich auf, Dich an Jesum zu wenden. Jesus selbst ladet Dich
ein, Dich an Ihn zu wenden. Der Geist treibt Dich, Dich an
Jesum zu wenden. Darum eile unverweilt zu Ihm! O, wie sehr
wünsche ich, daß Du diese Zeilen nicht durchlesen möchtest,
ohne durch Gottes Segen dahin geleitet worden zu sein, zu den
Füßen Jesu zu eilen. Gott selbst erklärt sich mit dem Opfer
Jesu zufrieden; sollten wir nicht zufrieden sein mit dem, was
Ihn befriedigt? „Welchen Gott hat dargestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an sein Blut,. . . daß er gerecht
sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesum ist."
(Röm 3, 25.) „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den
glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur
Gerechtigkeit gerechnet." Der Deinige.
5. Woher kommt das Verlangen, an Jesum zu glauben?
Meine teure Freundin!
Bei wiederholtem Durchlesen Deiner letzten Zeilen sind mir
einige Stellen besonders aufgefallen. Du schreibst, Du wünschest, mir bald sagen zu können, daß Du Frieden durch das
Blut Christi gefunden habest, und bist zugleich sehr bekümmert darüber, daß Dein Gewissen bereits seit einem Monat
erwacht sei, ohne Frieden gefunden zu haben. Nun, woher
kommt diese Besorgnis? Woher das Verlangen, Frieden durch
das Blut Christi zu erlangen? Woher das Bewußtsein, daß nur
in dem Blute Jesu der Frieden zu finden ist? Sollten nicht alle
diese Dinge Zeichen der Arbeit des Heiligen Geistes sein?
Und solltest Du nicht dankbar sein für das, was der Geist
Dich schon gelehrt hat? Solltest Du nicht trachten nach einem
größeren Maße von Licht? Und sollte Gott nicht ein Verlangen befriedigen wollen, das Er selbst gewirkt hat?
231
„O, wenn ich Ihm doch vertrauen könnte!" rufst Du aus. Aber
warum vertraust Du Ihm nicht ganz und von ganzem Herzen?
Er ist derselbe liebende, zartfühlende Jesus, der allmächtige
Heiland, der einst jenes arme Weib heilte, das 18 Jahre lang
eine Krankheit hatte. Er ist dem Auge zwar verborgen; doch
es war der Glaube, nicht das Schauen, das eine heilsame Kraft
aus Ihm zog; der Glaube kann, ohne zu sehen, Ihm dennoch
vertrauen.
Aber vertraust Du Ihm nicht schon? Hast Du denn gar kein
Vertrauen zu Seiner Liebe? Vertraust Du denn nicht schon in
irgendeinem Grade Seinem Blute? Woher kommt denn das
Verlangen, durch das Blut Jesu Frieden zu finden? Du mußt
doch überzeugt sein, daß irgendein Wert, eine Frieden bringende Kraft in dem Blute Christi ist; denn sonst würdest Du
darin keinen Frieden suchen. Aber ist diese Oberzeugung nicht
schon ein Grad von Vertrauen? Es mag schwach sein, aber es
ist doch Vertrauen, und die Schrift knüpft das Heil nicht an
einen besonderen Grad von Vertrauen oder Glauben, sondern
selbst an das geringste Maß davon, das durch den Geist Gottes
hervorgebracht worden ist. Was sagte jenes arme Weib im
Evangelium: „Wenn ich nur sein Kleid anrühre, so werde ich
geheilt werden."
Du sagt zu wiederholten Malen, daß Du kürzlich beim Lesen
des Evangeliums oft gedacht hast: „O, jetzt sehe ich ganz klar;
ich muß auf Jesum vertrauen; dann aber erscheint mir wieder
alles dunkel und verworren." — Nun, meine Freundin, woher
kommt es, daß Du Dir in jenen Zeiten bewußt bist, daß Du
auf Jesum vertraust. Daß Dir hernach alles wieder dunkel erscheint, ist erklärlich; denn Du wagst nicht, geleitet durch das
erwachte Vertrauen, Dich niederzusetzen, um aus der Schrift
zu lernen, was Dir zum Segen gereicht, sondern Du wendest
Dich wieder zurück, um Dein eigenes Herz zu untersuchen und
dort die Beweise Deines Vertrauens zu suchen. Ach, wende
Dich doch zu Jesu! Du bist Ihm willkommen. Sein Blut ist
vergossen für die größten Sünder und reinigt von aller Sünde.
Zur Bestätigung dieser Wahrheit will ich Dir einen Bericht aus
einem Briefe mitteilen, den ich soeben von meinem geliebten
Bruder in Christo erhalten habe. Er schreibt:
232
„Wir hatten hier vor einigen Tagen ein sehr liebliches Beispiel
von der Gnade Gottes. Eine dem Trunk ergebene Frau lag auf
dem Sterbebett. Sie wollte es nicht dulden, daß jemand sie besuchte. Doch endlich fand ich Eingang bei ihr und entdeckte,
daß das Wort die Kraft hatte, ihr ihr sündhaftes Leben vor die
Seele zu stellen. Jetzt kam ich öfters und fand sie erweicht und
zuletzt ganz begierig, von der Gnade in Jesu zu hören. Das gab
mir Hoffnung. Aber erst nach mehren Wochen brach das Licht
herein, und sogleich wurde der Schatten des Todes in Morgenlicht umgewandelt. Ihre Leiden stiegen aufs höchste; und
zwischen den Schmerzensanfällen lehrte ich sie den 14. und
15. Vers aus Offenbarung 7, nachdem ich ihr vorher den letzten Teil des Kapitels vorgelesen hatte, damit sie während der
schweren Nacht daran denken möchte. Sie lernte die Worte
wie ein Kind, und ich überließ es dem Herrn, ihr zu zeigen,
warum jene Schar, mit weißen Kleidern angetan, vor dem
Throne war. Bei meinem nächsten Besuche fand ich zu meiner
großen Freude, daß auch sie in dem Blute des Lammes rein
geworden war. „O, ist es nicht schön", rief sie; „so weiß wie
Schnee durch das Blut des Lammes!" — Ich suchte sie dann auf
die Liebe hinzuweisen, die uns eine solche Quelle verschafft
hat, und las ihr 1. Joh 4. vor. Ach, wie begierig lauschte die
arme Frau. Als ich sie das nächstemal wiedersah, war ich nicht
wenig erstaunt über ihr völlig verändertes Wesen, Ein himmlisches Verständnis belebte ihre Züge, und eine Sanftmut, die
von einem Verkehr mit Christo zeugte, bezeichnete ihre
Worte und ihr ganzes Benehmen. Ich war eine Stunde vor
ihrem Tode bei ihr, und das Lächeln auf ihrem Antlitz war
wirklich himmlisch. Eine Verwandte von ihr, die ebenfalls anwesend war, fragte sie, ob sie glücklich sei. „Sehr, sehr glücklich!" — war ihre Antwort. Der Freudenstrahl, der ihr Gesicht
erglänzte, bestätigte ihre Worte. Eine halbe Stunde später
starb sie in großem Frieden."
Nun, meine teure Freundin, möchtest doch auch Du zu dem
gnadenreichen Herrn völliges Vertrauen fassen; gewiß auch
Du würdest die Kraft Seines kostbaren Blutes erfahren.
Der Deinige.
233
6. Setze Dein Vertrauen nur auf Jesum
Meine teure Freundin!
Du bist also, wie Du mir schreibst, noch immer nicht im Frieden
mit Gott und fühlst Dich dabei in einem höchst verwirrten
Gemütszustande. Das ist kein ungewöhnlicher Fall. Bevor die
Liebe klar verstanden und das Herz in der Gnade befestigt
ist, ist die Verworrenheit im Gemüt eine ganz natürliche Erscheinung. Selbst nach der Bekehrung, wenn der Blick von
Jesu abgewandt ist, wird das Herz beunruhigt und verwirrt
sein. Du sagst: „Ich zweifle nicht an der reinigenden Kraft
des Blutes Christi; aber — ist auch meine Seele mit diesem
Blute besprengt?" — Keine Antwort von meiner Seite auf
diese Frage wird imstande sein, Dein Gewissen zu überzeugen;
könntest Du aber selbst die Antwort im Worte Gottes sehen,
so würde sie Dir vollkommene Ruhe geben. Aber findest Du
denn in Apg 13, 38. 39. nicht eine solche Antwort? Du wagst
nicht, an der reinigenden Kraft des Blutes Christi zu zweifeln.
Was ist dies anders, als an Jesum glauben? „Von allem wird
in diesem (Jesum) jeder Glaubende gerechtfertigt." Du wünschest Ruhe und Frieden in Christo, und Du weißt, daß Du
sonst nirgends Frieden finden kannst. Was sagt Gottes Wort?
„So sei es euch denn kund, daß durch diesen euch Vergebung
der Sünden verkündigt wird." Nur in Jesu ist der Frieden zu
finden; und wer besitzt Frieden, Ruhe und Vergebung? „In
ihm wird jeder Glaubende gerechtfertigt."
Aber Du sagst: „Ich fühle nicht, daß ich teil an diesem kostbaren Blute habe." — Soll denn Dein Fühlen diese ernste
Frage entscheiden? Wenn Du an der Kraft des Blutes Christi
nicht zweifelst, so glaubst Du ja daran; und Gott sagt, daß,
wie auch Deine Gefühle sein mögen, jeder Glaubende gerechtfertigt sei. Woher weißt Du denn, daß eine Kraft in diesem
Blute ist? Aus welchem Grunde glaubst Du dies? Ist es nicht
deshalb, weil es Gott in Seinem Worte kundtut? Gewiß. Du
glaubst es nicht, weil Du es fühlst, denn Du bekennst es selbst,
daß Du es nicht fühlst. Mithin glaubst Du es ohne jedes Gefühl, weil Gott es in Seinem Wort gesagt hat. Ist nun aber
Sein Wort, welches erklärt, daß jeder Glaubende gerechtfertigt ist, nicht ebenso wert, daran zu glauben, als wenn
234
dasselbe Wort Christum verkündigt, an den Du nach Deiner
Versicherung glaubst? Du sagst: „Ich glaube; aber ich möchte
fühlen, daß ich teil daran habe." Gott sagt: „Jeder Glaubende
hat teil daran." In dieser Weise löst Er die Frage. Mir scheint
es, als ob Du, wie viele andere, aus Deinem Glauben einen
Heiland machen möchtest. Du wendest Dich hinweg von Jesu,
dem hochgelobten Gegenstand unseres Glaubens, um Dich
mit Deinem Glauben zu beschäftigen. Ich habe einen Freund,
der den gleichen schweren Seelenkampf durchmachte, jetzt
aber gnädiglich befreit ist. In den Tagen seiner Unruhe und
Angst teilte ich ihm mit, daß auch Du in ähnlicher Weise
littest. Der Erfolg davon ist ein kleiner Brief, den er mir
soeben schrieb, worin ich folgende Worte finde:
„Sage Deiner Freundin, sie solle alles Jesu überlassen. Bei Ihm
wird man sicher sein. Werden wir Ihn anschauen, müssen wir
Ihm vertrauen. In Jesu liegt alle Kraft; und Er ist es, der uns
auffordert, Ihm alles zu überlassen. Wie sehr wünsche ich,
Deine Freundin zu sehen und ihr zu sagen, was Gott in Seiner
unendlichen Gnade mir gezeigt hat, daß ich nichts anderes tun
kann, als alles Ihm zu überlassen. Meine Seele ist wohl aufgehoben in Jesu Händen; und ich vertraue mich Ihm wirklich
ganz an, wiewohl mit großem Zagen. Das einzige, was ich zu
tun wage, ist, daß ich Ihm vertraue und mich an Ihn klammere.
Jeder von Ihm abgewandte Blick bringt all meinen Kummer
zurück; und wenn Er es nicht wäre, Er selbst, ich wäre gleich
wieder auf offenem, stürmischem Meer."
So schreibt mein Freund. Er führt die Sprache des Vertrauens
und der Liebe zu Jesu, wiewohl der Schreiber es nicht erkennt.
Und ebenso fühlst auch Du nicht, daß Du Jesum liebst. Würdest Du aber darüber beunruhigt sein, wenn Er keinen Raum
in Deinem Herzen hätte? Doch ich wünsche, daß Du weder
Deiner Liebe, noch Deinem Glauben vertraust, sondern Jesu
selbst, der unseres Vertrauens und unserer Liebe völlig würdig
ist. Möchte der Herr Dich in Gnaden ermutigen, alle Deine
Zweifel und Fragen aufzugeben und Dein Auge, Dein Ohr
und Dein Herz auf Jesum, auf Ihn selbst zu richten, auf Seine
Liebe, auf Sein versöhnendes Blut, das Blut, das von aller
Sünde reinigt.
235
Es interessiert mich ungemein, was Du mir von Deiner
Schwester und jener Sonntags-Abendunterhaltung schreibst,
wodurch sie so sehr erquickt worden ist. Grüße sie und die
ganze Familie! — Nochmals empfehle ich Dich dem hochgepriesenen Jesus, dem allgütigen und alleinigen Heiland, dessen
Liebe jeden aufnimmt, der zu Ihm kommt. Der Deinige.
y. Beantwortung etlicher Fragen
Teure Freundin!
Zwei Deiner Briefe sind noch unbeantwortet; der erste, der
mir das Glück Deiner Schwester mitteilte; und der zweite, der
den Brief, in dem sie die erfreuliche Botschaft selbst bestätigt,
begleitete. Das freimütige Bekenntnis Deiner Schwester hat
mir große Freude gemacht und ist ein treffliches Zeugnis von
der erbarmenden Liebe Gottes.
Was Deine eigenen zwei Briefe betrifft, so möchte ich gern,
wenn der Herr mir dazu Seinen Beistand verleiht, den zweiten
beantworten. Ich wünsche, daß meine Antworten soviel wie
möglich aus den Worten bestehen möchten, die Er uns gegeben
hat.
1. Frage: „Liebt Gott uns erst dann, wenn wir glauben?" —
Antwort: „Hierin ist die Liebe: nicht, daß wir Gott geliebt
haben, sondern daß er uns geliebt und seinen Sohn gesandt
hat als eine Sühnung für unsere Sünden." (1. Joh 4, 10.) „Gott
aber erweist seine Liebe gegen uns darin, daß Christus, da
wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist." (Röm 5, 8.)
„Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner
vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, als auch wir in den
Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig
gemacht, durch Gnade seid ihr errettet." (Eph 2, 4. 5.)
2. Frage: „Kann ich schon Glauben haben an das Blut Jesu,
ehe ich versichert bin, von allen meinen Sünden darin abgewaschen zu sein?" Antwort: Hatte nicht der sterbende Räuber
Glauben an Jesum und Sein Blut, als er sagte: „Herr gedenke
meiner, wenn du in deinem Reiche kommst"? Konnte er wohl
zu derselben Zeit sagen, daß er gewaschen sei in dem Blute
Jesu? Haben wir nicht schon Vertrauen zu einem Arzt, wo236
durch wir angetrieben werden, seine Hilfe zu suchen, bevor
wir durch seine Arzneien von unserer Krankheit geheilt sind?
In Wahrheit sagen zu können: „Das Blut Christi hat mich
gewaschen von meiner Sünde", ist Zuversicht. Diesem Blute
zu vertrauen, als Gottes gnädigem und wirksamem Mittel zur
Tilgung der Sünde, ist „Glaube". Wenn ich das eine habe,
bin ich zu dem anderen berechtigt. Wenn ich mich wirklich an
Jesu, meine einzige Hoffnung und Zuflucht, klammere und
Seinem Blute vertraue, daß es die hinreichende Kraft hat,
meine Sünden zu tilgen, so sagt Gott, daß das Blut meine
Sünden getilgt hat; und es ist sicher mein gesegnetes Vorrecht,
dasselbe zu sagen.
3. Frage: „Also rettet uns nicht das ,Glauben', sondern Jesus;
und unsere Sache ist — Ihn anzunehmen. Nicht wahr?" Antwort: Ganz gewiß. Das Glauben an und für sich ist ohne
Wirkung. Wenn das, was man glaubt, nicht wahr wäre, was
nützte dann der Glaube daran. Nur in Ihm, an den wir glauben, in Jesu, wohnt die erlösende Kraft. Glauben heißt, Ihn
annehmen; und ist es nicht seltsam, daß wir so schwer zu
bewegen sind, Ihn anzunehmen? „Das Wort ist gewiß und
aller Annahme wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten." (1. Tim 1, 15.)
4. Frage: „Ist nicht Jesus immer vor dem Throne Gottes?" —
Antwort: Er hat, „nachdem er durch sich selbst die Reinigung
unserer Sünden gemacht hat, sich gesetzt zur Rechten der
Majestät in der Höhe". (Hebr 1, 3.)
5. Frage: „Ist nicht Sein Blut dort als ein Opfer für die
Sünde?" — Antwort: „Auch nicht mit Blut von Böcken und
Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blute ist er ein für alle
Mal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung
erfunden hatte." (Hebr 9, 12.) „Welchen Gott dargestellt hat
zu einem Gnadenstuhl, durch den Glauben an sein Blut."
(Röm 3, 25.)
6. Frage: „Wenn ich als eine arme Sünderin durch dieses Opfer
zu Ihm komme, wird Gott mich nicht annehmen?" Antwort:
„Darum vermag er auch völlig zu erretten, die durch ihn Gott
nahen, indem er immerdar lebt, um sich für sie zu verwen237
den." (Hebr. 7, 25.) „Wird Gott mich nicht annehmen?" fragst
Du. Gott hat Dich gebeten und bittet Dich noch, an Seine
Liebe zu glauben und Jesum als Deinen Heiland anzunehmen,
um vollkommen in Ruhe und Frieden zu sein. „So sind wir
nun Gesandte für Christum, als ob Gott durch uns ermahnte:
Wir bitten an Chrsti Statt: Laßt euch versöhnen mit Gott!"
(2. Kor 5, 20.) Kann da noch ein Zweifel an Seinem Wollen
sein, wenn Er eine solche Friedensbotschaft sendet und die
Versöhnung anbietet?
Du sagst ferner: „Ich kann auch nicht ein einziges Verdienst
anführen; denn je mehr ich mich selbst betrachte, um so
schlechter komme ich mir vor." — Gewiß; aber wenn Du nicht
ein einziges Verdienst hast, dann hast Du alle Ursache, Dich
des unendlichen Verdienstes Jesu und Seines versöhnendes
Blutes zu erfreuen. Er bietet Dir aus freier Gnade alles an,
ja Sich Selbst, als die beste und reinste Gabe und als den
höchsten Beweis Seiner Liebe. Gib Dich völlig auf. Laß das
gute Ich und das böse Ich aus dem Auge, indem Du verweilst
bei der Vortrefflichkeit Jesu, an dem Gott ein solches Wohlgefallen hat, daß Er selbst den Strafwürdigsten, der sich auf
Seinen Namen, auf Sein Blut und auf Sein Verdienst stützt,
freundlich ansieht.
Doch ich muß schließen. Glaube nicht, daß die Menge der
Fragen über einen so heiligen Gegenstand mich ermüden oder
langweilen würde. Möchte Gott nur die Antworten für den
Frieden Deiner Seile segnen, so würde ich es für keine Mühe
achten, wenn mir die Beantwortung noch so viel Zeit raubte!
Grüße mir Deine Schwester, mit der ich micht aufrichtig freue.
Der Herr erhalte sie in Gnaden einfältig ruhend in Jesu und,
von Seiner Liebe gedrungen, ernstlich und fleißig, Ihm zu
folgen. O, möchtest Du auch bald ihre Freude teilen.
Der Deinige.
8. Jesu anhangen
Teurer Freund!
Ich weiß, daß Sie sich mit mir freuen werden, wenn ich Ihnen
mitteile, daß ich, die ich so lange tot in Sünden und Ver238
gehungen war, endlich vom Tode zum Leben in Jesu gelangt
bin. Gott hat mir geholfen, meine Seele Jesu zu übergeben und
Ihn als meinen Heiland zu ergreifen, obwohl mit großer Furcht
und großem Zagen. O, welche Freude, welche Glückseligkeit,
Ihn als meinen Erlöser, und Gott als meinen Vater zu kennen!
Ich kann Ihnen kaum sagen, wie das Licht zuerst in meine
Seele drang. Ich las Ihren Brief mit einem christlichen Freunde,
und dieser sagte: „Nun, das ist doch sehr klar! Und Sie
zweifeln noch? Sie sind nicht damit befriedigt, daß Christus
allein erlösen kann? Sie glauben an die Kraft seines Blutes,
und Sie zweifeln an Ihrer Erlösung?"
Ich fühlte und erkannte die Widersprüche, in denen ich mich
befand; ich übergab mich Jesu. Doch selbst dann war ich nicht
ganz glücklich. Doch Gott segnete Ihren Brief, sowie auch den
Ihres Freundes, meine Zweifel aufzuhellen und meine Augen
zu öffnen, um Seine reiche, volle und freie Erlösung zu
schauen.
Jetzt glaubte ich, daß alle meine Zweifel und Befürchtungen
ein Ende hätten, weil ich ja schon in einem gewissen Grade
vertrauen konnte. Aber, mein teurer Freund, während der
ganzen vorigen Woche wurde ich von Zweifeln, Befürchtungen, Ungewißheiten und Sünde umhergeworfen, bis ich zu
denken begann, daß ich mich in betreff meiner Annahme getäuscht habe. Jedoch finde ich, daß Ihr Freund, der mir so
freundlich schrieb, und dessen Brief mir so dienlich war, in
einer ähnlichen Weise beunruhigt gewesen ist. Mit diesem
Freunde kann ich jetzt sagen: „Meine Ruhe besteht darin, daß
ich trotz aller meiner Zweifel auf Jesum blicke." Selbst jetzt
noch fühle ich mich kaum geborgen; aber wenn ich auf Jesum
sehe, kann ich nicht zweifeln. Beten Sie für mich, daß ich
darin ruhen möge, was Gott sagt, weil Er es sagt, und nicht,
weil ich es fühle. Mein Glaube ist sehr schwach, und mein
Unglaube sehr groß. Oft lese ich Ihre Briefe durch; und jedesmal wundere ich mich, daß ich damals die Dinge nicht so
ansah wie jetzt. — Meine Schwester ist immer noch ganz glücklich: sie läßt grüßen und dankt Ihnen für Ihren Brief. Sie
scheint durch keine Zweifel beunruhigt zu sein.
Die Ihrige.
239
g. Halte fest!
Meine teure Freundin!
Der Herr sei gepriesen, daß Er dich fähig macht, wenn auch
zagend, dennoch Jesu anzuhangen und Seinem Blute zu vertrauen. Ich begreife Deine Unruhe, als Du zuerst Deine Sache
Jesu übergabst. Niemand aber, der Ihm vertraute, wurde je
getäuscht. Das Rettungsboot ist wegen der Zweifel und Bedenken der darin aufgenommenen Schiffbrüchigen nicht weniger seetüchtig. Der Felsen unter Deinen Füßen ist darum nicht
weniger fest, weil mitunter Dein Kopf schwindelt und es Dir
ist, als ob der Boden sänke. Gottes vollkommene Schätzung
des vollkommenen Werkes Christi ist die vollkommene Sicherheit für alle, die sich, ob auch schüchtern und zagend, dem
Werk Christi anvertrauen. „Sehe ich das Blut, so werde ich
an euch vorübergehen." (2. Mo 12,13.)
Der Herr sei gepriesen für den fortdauernden und ununterbrochenen Frieden und die Freude Deiner Schwester. Sie hat
guten Grund in Jesu, der unsere Sünden hinweggetan hat, und
in dem wir angenommen sind als eins mit Ihm. Dulde nicht,
daß der Feind Dich dadurch beunruhigt, daß er Dir die ununterbrochene Freudigkeit Deiner Schwester vorhält. Statt
dessen vertraue lieber selber Christo ganz. In Ihm ist auch
für Dich Ursache genug. Dich allewege zu freuen. Der Herr
verleihe, daß noch viele aus dem Kreise Deiner Familie herzugebracht werden mögen! Laßt uns vereint darum bitten! Er
liebt es, so von uns um die Offenbarung Seiner erlösenden
Macht angegangen zu werden. In Ihm der Deinige.
IO. Am Morgen Jubel
(Ps 30, 8.)
Teurer Freund!
Ich weiß nicht, wie ich Ihnen genug danken soll für Ihren
Brief, der mir durch Gottes Hilfe zu so großem Trost geworden ist. Niemals erkannte ich früher das Einssein mit Christo
und den Gläubigen so klar. Wie lange habe ich in mir etwas
gesucht; aber wie ganz anders ist es jetzt? Jesus und nur Jesus
hat mich froh gemacht. Jetzt kann ich es kaum begreifen,
240
wie ich so lange mein Vertrauen von solch einem Heiland zurückhalten konnte, der nicht wartete, bis wir selbst etwas getan hatten, sondern der, als wir ganz verloren, zugrunde
gerichtet, hilflos und ohne Hoffnung waren, zu unserer Rettung ins Mittel trat. Ist es nicht zum Erstaunen? Und welch
einen Vater haben wir, der uns als eins mit Christo ansieht
und uns mit derselben Liebe liebt! Wie sehr kann ich mich
jetzt hierin freuen! Zuweilen, wenn ich nichts mehr als „Vater"
sagen kann, erfüllt es mich schon mit Freude. Wahrlich, ich
vergesse meine Zweifel und Befürchtungen im Aufsehen auf
Jesum.
Beten Sie für mich, daß nichts die Stelle Jesu in meinem Herzen einnehmen und ich stets mit Ihm erfüllt sein möge.
Die Ihr