Inhalts-Verzeichniß des Jahrgangs 1867. | Seite |
Das kananäische Weib | 1 |
Warum öffnest Du nicht? | 14 |
Jesus unser Prophet, unser Hohepriester und unser König. | 19 |
Ein göttliches Heilmittel für menschliche Trauer | 20 |
Gedanken über den Gottesdienst und das Amt bes heiligen Geistes | 21 |
Die goldenen Fäden | 36 |
Stromaufwärts | 37 |
Das Gebet | 38 |
Woran kann man die Leitung des Heiligen Geistes wahrnehmen | 39 |
Verschiedene Bemerkungen gegenseitige Abhängigkeit, in den Erbauungsstunden | |
Unmöglich möglich | 47 |
Ruhe für das Herz | 55 |
Ihr seid vollendet in Ihm" | 60 |
Wir sind dem Gesetz gestorben | 61 |
Ihr seid vollendet in Ihm". (Fortsetzung) | 79 |
Eine gesegnete Mischung | 81 |
Ein Wort für alle, welche unsern Herrn Jesum Christum | 95 |
Die Thätigkeit Christi für sein Volt | 102 |
Ihr seid vollenbet in Ihm." (Fortsetzung). | 104 |
Ein auffallender Gegensatz | 117 |
Die Abnahme im geistlichen Leben | 125 |
Glaube und Demuth | 131 |
Das Buch und die Seele | 140 |
Jhr seid vollendet in Ihm." (Schluss) | 143 |
Jesus Christus, die einzige Triebfeder, Weisheit und Kraft | 145 |
Mache Dich auf und ziehe gen Bethel | 150 |
Der sterbende Räuber | 158 |
Der sterbende Räuber. (Schluss) | 165 |
Seid Niemand irgend etwas schuldig" | 172 |
Welches sind die Kinder der Weisheit. | 183 |
Frieden durch Glauben. | 185 |
Warum öffnest Du nicht?
„Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an; wenn jemand meine
Stimme hört und die Tür auftut, zu dem werde ich eingehen
und das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir." (Offb
3, 20.) Diese Worte richtet Jesus an die Versammlung in
Laodicäa; und Er richtet sie auch an den Sünder. Ja, es wäre
möglich, daß der Herr auch an das Herz des einen oder anderen meiner Leser geklopft und vergeblich geklopft hätte.
Und eben an solche wende ich mich mit der ernsten Frage:
„Warum öffnest du nicht?"
Ich will versuchen, einige Ursachen zu bezeichnen, die im allgemeinen den Menschen hindern, dem Herrn das Herz aufzuschließen. Viele kennen Ihn nicht, der da sagt: „Ich stehe an
der Tür und klopfe an." — Willst Du, mein teurer Leser,
wissen, wer Er ist? Er ist Jesus, der Sohn Gottes, der Seine
Herrlichkeit verlassen hat, um Sünder selig zu machen. Seine
Liebe war so groß, daß Er Sich in Elend und Jammer hineinstürzte und den Zorn Gottes trug, um vor Dein Herz treten und
rufen zu können: „Tue mir auf!" O wenn Du Seine Liebe
kanntest, Du würdest nicht einen Augenblick länger zögern,
Ihm die Tür Deines Herzens aufzuschließen. Du würdest Dich
sicher wundern, wenn Du den König an der Tür eines Bettlers
stehen sähest mit der Bitte, sie ihm zu öffnen. Und wenn Du
Ihn kanntest, der klopfend an Deiner Tür steht, sicher, Du
würdest in Anbetung niedersinken; denn Er kann sagen: „Hier
ist mehr als Salomo!" Er ist der König der Könige und dei
Herr der Herren. „Ihm ist alle Gewalt gegeben im Himmel und
auf Erden", vor Ihm werden sich einmal alle Knie beugen;
und alle Zungen werden bekennen, daß Er der Herr ist. Könntest Du wohl jemanden Dein Herz geben, der eine höhere
Würde besäße, als Jesus? Kennst Du jemanden, der höher und
erhabener ist, der mehr Liebe hat, und der mit weniger Eigennutz Dich sucht, als Jesus? Er hat Dich nicht nötig; und dennoch sucht Er Dich. O sicher, wenn Du Ihn kanntest, Du würdest ungesäumt Dein Herz vor Ihm aufschließen.
Bei vielen ist Weltsinn die Ursache, daß sie Ihm nicht das Herz
öffnen. Sie wissen sehr wohl, daß, wenn sie Jesu den Eintritt
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gestatten, sie auch berufen sind, Ihm zu dienen. Sie wissen,
daß Er gesagt hat: „Niemand kann zwei Herren dienen." Sie
möchten Ihn zwar gern besitzen, um mit Ruhe an den Tod
denken zu können; aber um Seinetwillen die Welt ganz preiszugeben und auf ihre Genüsse gänzlich zu verzichten, eine
solche Forderung ist zu groß. Wie? zu groß? Aber weißt Du
denn nicht, daß „diese Welt vergeht mit ihrer Lust?" Glaube
mir, daß das, was Dich zurückhält, nur Schein ist, dessen Täuschung Du gar bald erfahren wirst, nur eine Seifenblase, deren
schillernde Farben Dein Auge verblenden, die aber zerplatzen
wird, sobald Du diese Erde verlassen mußt. Und dafür verzichtest Du auf jenes ewige Glück, das Jesus Dir geben will?
O ich bitte Dich, lausche doch auf die Stimme dessen, der Dich
so freundlich ruft; denn „was wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewänne, aber seine Seele einbüßte?"
Andere berufen sich in verkehrter Weise auf ihre Ohnmacht,
als auf die Ursache, warum sie nicht öffnen. Sie sagen: „Ich
möchte wohl gerne; aber ich kann nicht." O mein teurer Leser!
Wenn es sich um die Ohnmacht des Menschen handelt, dann
versichere ich Dir, daß ich sie aus Erfahrung kenne; ja, ich bin
überzeugt, daß die Ohnmacht des Menschen größer ist, als
jene meinen, die sagen: „Ich kann nicht!" — Das Bild, das der
Herr hier gebraucht, stellt uns die Ohnmacht des Menschen
deutlich vor Augen; denn wäre der Mensch imstande, sich selbst
helfen zu können, dann würde das Kommen Jesu unnötig
sein; aber eben weil der Mensch ein hilfloses Geschöpf ist,
darum steht Er an der Tür und klopft. Doch das Bewußtsein
der Ohnmacht wird bei vielen nur zum Ruhekissen gebraucht.
Und in vielen Fällen kommen die Worte: „Ich kann nicht!"
von den Lippen solcher, deren Gewissen über ihren Zustand
erwacht ist, so daß sie mit Furcht an die Ewigkeit denken, die
sich dann aber durch allerlei Dinge zurückhalten lassen, bei
Jesu ihr Heil zu suchen, und sich sogar freuen, einen Vorwand
gefunden zu haben, der einen Schein von Wahrheit an sich
trägt — einen Vorwand, der nach ihrer Meinung vor Gott und
Menschen Gültigkeit hat. Aber wie entsetzlich wird es für sie
sein, wenn sie in der Ewigkeit erfahren werden, daß nicht ihre
Ohnmacht die Ursache ihres Verlorenseins ist, sondern daß sie
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diesen Vorwand nur gebraucht haben, um ruhig vorangehen
und in ihrem Zustande bleiben zu können. Ist dieses •. „Ich
kann nicht!" auch Dein Vorwand, mein Leser? Hast auch Du
Dich etwa vielleicht schon seit Jahren hinter diesem Schilde
verborgen? O, dann bitte ich Dich, einmal mit aufrichtigem
Ernst zu erwägen, wie schrecklich es ist, daß Du in all dieser
Zeit Jesu widerstanden und Ihn verhindert hast, Dich zu retten.
Ein einfältiges Herz, das Verlangen nach Jesu hat, denkt an
eine solche Ohnmacht nicht, sondern freut sich zu hören, daß
jemand da ist, der Liebe und Macht genug besitzt, um erretten
zu können. „Siehe ich stehe an der Tür und klopfe an!" — ruft
der Herr auch Dir zu; und solange Du nicht öffnest, widerstehst Du Ihm.
Bei noch anderen muß die Ursache darin gesucht werden, daß
sie fürchten getadelt und abgewiesen zu werden. Sie sind es,
die da sagen: „Meine Sünden sind zu groß und es sind zu
viele." Ist dies wirklich Deine aufrichtige Meinung? Ist dies
wirklich das Gefühl Deines Herzens? Ach! leider gebrauchen
viele die Größe ihrer Sünden, so wie andere ihre Ohnmacht
ebenfalls zu einem Vorwande, um ihr Herz für Jesu geschlossen zu halten. Wenn Du es aber aufrichtig meinst, wohlan,
dann ist Jesus der einzige, der Dir in einem solchen Zustand
helfen kann. Zu welchem anderen Du auch Deine Zuflucht
nehmen magst, so wird doch alles vergeblich sein. Die Anstrengungen die Du machst, um Dich selbst zu ändern,
werden ohne Erfolg bleiben. Die Reinheit, die ein heiliger
Gott fordert, ist keineswegs dadurch zu erlangen, daß man
etwas weniger sündigt, oder etwas besser lebt, oder etwas mehr
betet, oder etwas dieser Art verrichtet. Oder fürchtest Du Dich,
im Hinblick auf Deine Sünden, dem heiligen und reinen Jesus
die Tür Deines Herzens zu öffnen? Fürchtest Du Dich, Ihn
einzulassen in eine solche unreine Wohnung? Willst Du vielleicht versuchen, erst alles selbst in Ordnung zu bringen und
dann die Tür zu öffnen? Aber dann würdest Du keinen Jesus
mehr nötig haben. Je unreiner Du bist, desto mehr brauchst
Du einen Heiland. Der Herr selbst will alles in Ordnung bringen; Du hast nichts zu tun, als mit Bewunderung und Anbetung anzuschauen, wie der Herr Jesus imstande ist, Dich, den
Verlorenen, zu retten, Dich, den Gottlosen, in den Augen
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Gottes zu rechtfertigen. Du wirst durch Dein Wirken und
durch Deine Anstrengungen dem Herrn nur hinderlich sein
und Ihm entgegenwirken. Er weiß alles, Du brauchst vor Seinem Auge nichts zu verbergen. Er weiß, wie gottlos und unrein
Du bist; und dieses verhindert Ihn nicht, bei Dir anzuklopfen,
sondern es ist für ihn um so mehr ein Grund, daß Er Dir mit
Nachdruck zuruft: „Tue mir auf!" Denke nicht, daß Er bei
Deinem Anblick überrascht werden wird; denn Er sagt: „Ich
kenne deine Werke!" Zögere daher nicht länger, sondern tue
Ihm noch heute auf. Er hat nirgends in Seinem Wort die
Menge und Größe der Sünden bezeichnet, aus denen Er die
Seelen befreien kann. Er, der klopfend an Deiner Tür steht,
ruft Dir zu: „Wenn Eure Sünden wie Scharlach sind, wie
Schnee sollen sie weiß werden." (Jes 1, 18.)
Wieder begegnet man anderen, die dem Herrn nicht öffnen,
weil sie Ehre und Ansehen bei den Menschen einzubüßen
fürchten. Sie haben recht; denn der Herr Jesus selbst sagt:
„Wenn ihr von der Welt wäret, so würde die Welt das Ihrige
lieben; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch
aus der Welt auserwählt habe, darum haßt euch die Welt."
(Joh 15, 19.) Sobald die Jünger dem Herrn folgten, haben sie
dieses erfahren; und jeder, der Ihn kennenlernt und Ihm nachfolgt, macht diese Erfahrung. So lange man in der Welt lebt,
wird man von ihr geachtet und geehrt; doch sobald man auf
die Stimme Jesu lauscht und das Herz vor Ihm aufschließt,
nimmt alles eine andere Gestalt an; dann ist Verachtung Dein
Teil, dann sind jene, die Dich früher liebten, plötzlich Deine
Feinde geworden; und jene, die Dich einst priesen als einen
Mann, mit dem etwas anzufangen sei, überschütten Dich mit
Schimpfnamen, beklagen Dich wegen Deines Brütens und betrachten Dich als für die Welt verloren. Dann hören alle Begünstigungen meistens auf; und mancherlei Arten von Verlusten sind zu beklagen. Siehst Du? dies alles können die Folgen sein, wenn man Jesum aufnimmt, wenn man Ihm das Herz
öffnet. Aber, mein Freund, bedenke einmal, was solchen Erscheinungen gegenübergestellt ist. Der Herr Jesus sagt: „Wer
überwindet, dem werde ich geben, mit mir auf meinem Throne
zu sitzen." (Offb 3, 21.) — Hier das Kreuz, dort die Herrlichkeit; hier Verachtung, dort ein Thron. Wie vieles ich auch um
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Jesu willen zu leiden haben mag, ja wäre es selbst, daß meine
eigenen Hausgenossen mich hassen werden; dies ist alles nicht
zu vergleichen mit dem, was Jesus für Sünder aufgeopfert hat.
„Er, der er reich war, ist um deinetwillen arm geworden, damit du durch seine Armut reich würdest." (2. Kor 8, 9.) Er hat
den Zorn Gottes getragen, um Dir einen Thron geben zu
können. Wenn die ewige Herrlichkeit und die Rettung Deiner
Seele Dir mehr am Herzen liegt, als eine kurze Zeit der Ehre
und als ein kurzer Genuß der Vorteile von Seiten der Menschen, dann laß Dich nicht zurückhalten, sondern öffne Ihm
Dein Herz, der an Deiner Tür steht und anklopft.
Noch anderen kommt der Besuch Jesu zur ungelegenen Zeit.
Sie wollen ihr Herz öffnen; aber jetzt noch nicht. Sie sind
heute noch mit anderen Dingen beschäftigt. Die Aussichten
dieses Lebens sind gerade jetzt so schön; die Gelegenheit bietet
sich gerade jetzt an, um etwas genießen zu können, worauf sie
verzichten müßten, wenn sie Jesum jetzt Eintritt gestatteten.
Sie denken: „Es wird wohl noch eine gelegenere Zeit kommen,
und dann werde ich auf tun; für jetzt gehe hin/' Denkst Du
auch so, mein teurer Leser? Ach, dann beklage ich Dich; denn
eine gelegenere Zeit wird nie kommen. Und auch könnte es
wohl das letzte Mal sein, daß Jesus bei Dir anklopft; es
könnte das letzte Jahr, der letzte Tag, die letzte Stunde sein,
daß Du noch hier in der Zeit der Gnade lebst. Jesus, Dein
Freund, sagt: „Mache mir auf!" — der Teufel, Dein Feind,
sagt: „Warte bis morgen!" Auf wessen Stimme willst Du
lauschen? Jesus sucht Deine ewige Errettung, der Teufel Dein
ewiges Verderben. O bedenke dies und verwirf jeden Aufschub, „jetzt ist der Tag des Heils!" Jetzt ist Jesus noch bereit,
Dich selig zu machen. Morgen hat Dich vielleicht schon der
Tod von dieser Erde hin weggerafft; und dann ist alles zu spät.
Endlich denken noch andere, daß es für sie gerade nicht so
sehr nötig sei, dem Herrn das Herz zu öffnen. Schrecklicher
Selbstbetrug! Denn für welchen Menschen sollte Jesus nicht
nötig sein? Mein teurer Leser! Vielleicht hast auch Du bisher
der Meinung Raum gegeben, daß Du so gottlos nicht seiest,
wie mancher andere. Vielleicht hält man Dich allgemein für
einen religiösen, braven Mann, so daß Du nicht einsiehst.
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warum Du Dich bekehren solltest; ja, vielleicht zürnst Du gar
denen, die Dich auf Dein Seelenheil aufmerksam machen. Es
kann möglich sein, daß sich noch gottlosere Menschen finden
lassen, als Du bist; aber auch vielleicht solche, die braver und
religiöser sind, als Du. Wäre dieses das Merkzeichen, ob man
einen Heiland braucht oder nicht, dann möchtest Du vielleicht
recht haben. Aber das ist es nicht, worauf es ankommt.
Saulus, der an pharisäischer Heiligkeit viele übertraf, mußte
ebensogut wie der Räuber am Kreuze einen Jesus haben, um
in den Himmel kommen zu können. Und das gilt auch für Dich.
Du denkst vielleicht genug zu besitzen; und das dachten die
Laodicäer auch; doch der Herr sagt ihnen, daß sie arm, blind
und bloß seien. Ach, laß Dir Deine Augen durch den Herrn
öffnen, und siehe Deinen Zustand. Menschliche Religiosität
und Ehrbarkeit ist vor Gott nicht genügend; nur das Werk
Christi vermag Gott zu befriedigen. Vor Gott ist niemand gu)
von Natur; vor Ihm sind alle Menschen verwerflich; und niemand, wie religiös er auch gewesen sein mag, hat je auf Erden
gelebt, der vor dem Urteil Gottes bestehen kann. Willst Du
es wagen, diesem Urteil entgegenzugehen? Fürchtest Du Dich
nicht vor einem Gott, dem Du Rechenschaft geben mußt? Ein
einziger unreiner Gedanke, ein einziges gottloses Wort, eine
einzige verkehrte Tat ist genug, um vor Gott nicht bestehen
zu können. O betrüge Dich selbst nicht, mein teurer Leser! Du
hast ebenso gut einen Heiland nötig, wie ein anderer. Er steht
an Deiner Tür und klopft an. O mache Ihm doch auf; wirf
Dich als ein armer Sünder zu Seinen Füßen und Du wirst
leben.
Und nun, mein Leser, welche Ursache Dich auch von Jesu
zurückhalten mag, und welche Entschuldigung Du auch vorbringen magst, — ich komme nochmals mit der Frage: „Warum
öffnest Du nicht?" Wer Du auch seiest, und in welcher Stellung
Du Dich auch befindest — Du hast Jesum nötig. Er allein kann
Dich selig machen. Und Er kann dich vollkommen selig machen. Er weiß zu allen Dingen Rat. Dein Zustand kann nicht
so schrecklich sein, oder Er kann und will Dich daraus erlösen.
O gehe darum zu Ihm, zu dem einzigen Arzt der Seele, und
sei versichert, daß niemand, der zu Ihm kommt, hinausgeworfen werden wird.
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Jesus, unser Prophet,
unser Hoherpriesrer und unser König
Wie wir in Luk 10,39 lesen, saß Maria zu den Füßen Jesu und
hörte Sein Wort, indem sie Ihn als ihren Propheten, als Den
erkannte, der aus dem Schoß des Vaters gekommen war, um
den Vater zu offenbaren.
In Joh 11, 32. 33 finden wir, wie Maria, von ihrer Trauer
niedergebeugt, Jesu weinend zu Füßen fällt und wie Er mit ihr
weint. Hier erkennt sie Ihn als ihren Hohenpriester und findet
in Ihm jemanden, der Mitleiden hat mit ihren Schwachheiten.
Da sie Gnade und Hilfe nötig hatte, naht sie sich mit Freimut
Ihm, der voll von Gnade und Wahrheit ist.
In Joh 12, 3 salbt Maria die Füße Jesu, und „das Haus wurde
von dem Geruch der Salbe erfüllt". Wie lieblich der sich ausbreitende Wohlgeruch sein mochte, so war er doch nicht so
lieblich, wie ihr Glaube für das Herz ihres Herrn war. Ja, der
Glaube war nach Seiner Wertschätzung so kostbar, daß Er
laut erklärte, der Wohlgeruch ihres Glaubens werde bekannt
werden, wohin irgendwie der Schall des Evangeliums dringen
werde.
Matth 26, 12. 13. „Sie hat es zu meinem Begräbnis getan."
Ihr Glaube verstand gewiß das, was die Jünger nicht verstehen
konnten. Sie sah Ihn als das Lamm, geschlachtet für die Sünde
des Volks; und indem sie, wie es mir scheint, über Seinen Tod
und Sein Begräbnis hinweg auf Seine Auferstehung schaute,
salbte sie Ihn als den König in Zion; denn dies ist der Charakter, in dem wir Ihn unmittelbar nach Seinem Einzüge in Jerusalem finden und der hier in Schwachheit darstellt, was Er hernach in der Macht und Herrlichkeit der Auferstehung erfüllen
wird.
Möchte unser Glaube unseren von der Erde verworfenen und
verachteten Herrn in allen diesen Seinen kostbaren Ämtern
erkennen, und zwar sitzend zu Seinen Füßen, um zu lernen,
weinend zu Seinen Füßen in der Gewißheit Seines Mitgefühls
in all unseren Trübsalen, und hinschauend mit Wonne nach
jener Zeit, wo Er als König der Könige und als Herr der Herren
geoffenbart sein wird und wir mit Ihm regieren in Herrlichkeit.
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Ein göttliches Heilmittel
für menschliche Trauer
Die Auferstehung Jesu ist das Heilmittel Gottes für alle
Krankheiten dieser Wüste. (Siehe Mark 16.) Die Jünger befanden sich in jenen Tagen in großer Unruhe und Herzenstraurigkeit. „Diese ging hin und verkündigte es denen, die mit
ihm gewesen waren, welche trauerten und weinten." (V. 10.)
Sie waren ihres Herrn und Meisters beraubt worden. Der sie
umgebende Schauplatz war für sie eine Wildnis. Jesus war
abwesend; und der schönste Platz in dem großen Weltenraum
ist, wenn Er nicht da ist, nur eine Wüste für das Herz, das
Ihn liebt. Nur Seine Gegenwart machte die Wüste lieblich;
und „wie das Licht des Morgens, wenn die Sonne aufgeht,
ein Morgen ohne Wolken; von ihrem Glänze nach dem Regen
sprießt das Grün aus der Erde". (2. Sam 23, 4.) Daher ist die
Lieblichkeit unserer Hoffnung, daß wir „noch über ein gar
Kleines" bei Ihm sein werden. Und dieses ist auch der Wunsch
Seines eigenen Herzens, das voll von Liebe ist. „Vater, ich
will, daß die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir seien,
wo ich bin; auf daß sie meine Herrlichkeit schauen, die Du
mir gegeben hast." (Joh 17, 24.)
Ein auferstandener Christus begegnet daher allen Bedürfnissen
1. eines beladenen und trauernden Herzens, (V. 3, 4.)
2. eines beunruhigten, sich entsetzenden Geistes, (V. 5, 6.)
3. eines erschrockenen, bestürzten Gemüts, (V. 8.)
4. einer beraubten, trauernden und weinenden Liebe. (V. 10.)
Dann ist der auferstandene Jesus die Kraft, das Evangelium zu
predigen, Teufel auszutreiben, Schlangen zu zertreten und
Kranke zu heilen. Schließlich sehen wir den auferstandenen,
siegreichen, aufgefahrenen Christus sitzen zur Rechten Gottes,
indem Er stets den Charakter des Wirkenden behauptet. „Jene
aber gingen aus und predigten allenthalben, indem der Herr
mitwirkte und das Wort bestätigte durch die darauf folgenden
Zeichen." (V. 20.)
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Gedanken* über den Gottesdienst
und das Amt des Heiligen Geistes
„Alle Dinge aber wirkt ein und derselbe Geist, einem jeglichen
insbesondere austeilend, wie er will" (1. Kor 12, 11).
1. Die Gegenwart Gottes in der Versammlung.
Die Lehre von der Innewohnung des Heiligen Geistes in dem
„Leibe", der Kirche, sowie von Seiner Gegenwart und Obergewalt in den Versammlungen der Heiligen erschien mir bereits seit vielen Jahren, wenn auch nicht wie die erhabene
Wahrheit der Ausgießung selbst, so doch als eine der wichtigsten Wahrheiten, welche die Tatsache der Ausgießung kennzeichnen. Diese Wahrheit zu verneinen ist einer der bedeutendsten Züge des in unseren Tagen sich kundgebenden Abfalls.
Dieses Gefühl hat sich bei mir keineswegs vermindert, sondern
steigert sich vielmehr in dem Maße, wie die Zeit voranschreitet.
Obwohl ich völlig anerkenne, daß unter allen Parteien und
Benennungen vielgeliebte Kinder Gottes zu finden sind, und
obwohl ich mein Herz gegen jedes Kind Gottes offen zu halten
wünsche, muß ich doch freimütig bekennen, djß mir eine Gemeinschaft mit irgend einer aus bekennenden Christen besiehenden Körperschaft, welche anstatt der obersten Leitung des
Heiligen Geistes die eine oder die andere kirchliche Form unterschiebt, ebenso unmöglich sein würde, wie wenn ich als geborener Israelit an der Aufrichtung eines goldenen Kalbes an
die Stelle des lebendigen Gottes hätte teilnehmen sollen. Wie
tief aber ist in dieser Beziehung die Christenheit gesunken!
Und da wegen dieser Sünde und vieler anderen Greuel das
Gericht über die Christenheit verhängt ist, so vermögen wir
unseren Dank nur mit Trauer und mit dem demütigenden Bewußtsein zu opfern, daß auch wir Anteil an dieser Sünde hatten, und daß wir in Christo einen Leib mit einer großen Zahl
*) Auszüge au? einigen Briefen, die zunächst an eine bestimmte Versamm*
lung gerichtet waren, dann aber auf vielseitiges Verlangen gedruckt worden sind.
Der beschränkte Raum dieser Blätter nötigt uns, die Briefe nur auszugsweise
dem Leser vorzuführen. Anmcrk. d. Übers.
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von Christen bilden, die bis heute noch in diesem Zustande
verharren und sich sogar dessen rühmen. Wie groß aber auch
die Schwierigkeiten sein mochten, die eine Trennung von diesem Übel begleiten, und denen wir alle mehr oder weniger begegnet sind, so haben sie doch weder meine Überzeugung bezüglich dieses Übels zu erschüttern vermocht, von dem mich
Gott in Seiner Gnade hat ausgehen lassen, noch das "Verlangen
in mir wachgerufen, zu jener Art von menschlicher und amtlicher Autorität zurückzukehren, die sich gewisse Personen anmaßen und dadurch der bekennenden Welt jenes Kennzeichen
aufdrücken, wodurch das bald über sie hereinbrechende Gericht beschleunigt wird.
Aber, geliebte Brüder, da unsere Überzeugung von der Wahrheit und Wichtigkeit der Lehre von der Gegenwart des Heiligen Geistes nicht zu fest sein kann, so erlaubt mir, Euch zu
erinnern, daß die Gegenwart des Heiligen Geistes in den Versammlungen der Heiligen eine Tatsache ist. Wir bedürfen
hierzu eines einfältigen Glaubens. Wir sind sehr geneigt, es zu
vergessen; und dieses Vergessen oder das Nichterkennen
dieser Wahrheit ist die Haupt-Ursache, daß wir uns versammeln, um in der Gegenwart Gottes zu sein, und lebte,
während wir versammelt sind, das Bewußtsein in uns, daß
Gott wirklich gegenwärtig ist, welch eine gesegnete Wirkung
würde diese Überzeugung auf unsere Seelen ausüben! Ist es
doch eine unleugbare Tatsache, daß, so wie wirklich einst
Christus bei Seinen Jüngern auf der Erde war, ebenso wirklich
jetzt der Heilige Geist in den Versammlungen der Heiligen
gegenwärtig ist. Wenn Seine Gegenwart in irgend einer Weise
durch unsere Sinne wahrgenommen werden könnte, wenn
unser Auge Ihn zu schauen vermöchte, wie die Jünger einst
Jesum sahen, welche ernsten Gefühle würden uns erfüllen
und unsere Herzen beherrschen! Gewiß, eine feierliche Stille,
eine ehrfurchtbezeugende Aufmerksamkeit, ein volles Vertrauen zu Ihm — kurz alles, was dem Gliede einer solchen
Versammlung geziemt, würde die unausbleibliche Folge sein.
Wie könnte dann, wenn also die Gegenwart des Heiligen
Geistes unseren äußeren Sinnen enthüllt wäre, irgend eine
Voreiligkeit, wie konnten Gefühle des Neides oder der Aufregung sich kundgeben! Aber sollte die Wirklichkeit Seiner
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Gegenwart weniger Einfluß auf uns ausüben, weil ihre Wahrnehmung eine Sache des Glaubens und nicht des Schauens ist?
Ist Er, weil Er unsichtbar ist, weniger wirklich gegenwärtig?
Die arme Welt ist es, die Ihn nicht empfängt, weil sie Ihn
nicht sieht; aber wollen wir den Platz der Welt einnehmen
und den unsrigen aufgeben? Der Herr Jesus sagt: „Ich werde
den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Sachwalter
geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht
sieht, noch ihn kennt, Ihr aber kennet ihn; denn er bleibt bei
euch und wird in euch sein." (Joh 14, 16. 17.)
„Ihr aber kennet ihn!" Wie sehr wäre es zu wünschen, daS
dieses in der Tat der Fall sei! Ich gewinne mehr und mehr die
Überzeugung, daß das große etwas, das uns mangelt, nichts
anderes ist, als der Glaube an Seine persönliche Gegenwart.
Haben, wir nicht alle schon Zeiten verlebt, wo Seine Gegenwart in unserer Mitte als eine Tatsache verwirklicht war? Und
wie gesegnet waren solche Momente! Wohl möglich, daß in
Zwischenräumen kein begabter Bruder den Mund öffnete;
aber wie wurden solche Augenblicke angewendet? Man harrte
feierlich auf Gott. Da zeigte sich nirgends eine unruhige Bewegung, um zu erfahren, welcher Bruder beten oder reden
würde, da vernahm das Ohr kein geräuschvolles Blättern in
den Bibeln oder Liederbüchern, um zum Lesen oder Singen
etwas Passendes zu finden, da regten sich im Herzen keine
ängstlichen Gedanken darüber, was die Anwesenden von
einem solchen Schweigen denken möchten. Gott war da. Jedes
Herz war mit Ihm beschäftigt. Und hätte in einem solchen
Augenblick jemand den Mund geöffnet, nur um das Schweigen
zu brechen, so würde man es sicher als eine wirkliche Störung
bezeichnet haben. Und wie gehoben fühlten sich unsere Seelen,
wenn endlich durch ein Gebet, das den Wünschen und Gefühlen aller Anwesenden Ausdruck verlieh, oder durch ein
Lied, in das jeder mit ganzer Seele einstimmen konnte, oder
durch ein Wort, das sich mit Macht an unsere Herzen wandte,
die Stille unterbrochen wurde! Und obwohl beim Vorschlagen
der Lieder, beim Beten und Reden verschiedene Personen tätig
gewesen waren, so war es doch augenscheinlich „ein und derselbe Geist", der sie in diesem Dienst so geleitet hatte, als
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habe man sich darüber vorher verständigt und jedem einzelnen
seinen Platz angewiesen. Menschliche Weisheit würde einen
solchen Plan nie zur Ausführung gebracht haben. Die Harmonie war göttlich, es war der Heilige Geist, der durch die
verschiedenen Glieder tätig war, um die Anbetung auszudrücken, oder um den Bedürfnissen aller Anwesenden zu genügen.
Und warum sollte es nicht immer so sein? Ich wiederhole es,
geliebte Brüder: die Gegenwart des Heiligen Geistes ist eine
Tatsache, nicht Bloß eine Lehre. Und sicher, wenn Er bei
unseren Zusammenkünften in unserer Mitte gegenwärtig ist,
so gibt es keine Tatsache von größerer Bedeutung, als eben
diese. Ps ist eine Tatsache, die alles andere ausschließt und die
alles übrige in der Versammlung charakterisieren sollte. Hier
handelt es sich nicht nur um eine Verneinung. Die Gegenwart
des Heiligen Geistes bezeichnet nicht nur, daß die Versammlung nicht nach einer menschlichen, zum Voraus bestimmten
Ordnung geleitet werden darf, sondern richtet auch an uns
die Mahnung, daß, wenn der Heilige Geist gegenwärtig ist,
Er auch die Versammlung leiten muß. Seine Gegenwart will
auch nicht sagen, daß ein Jeder nach Belieben einen Dienst in
der Versammlung einnehmen kann. Nein, gerade das Gegenteil. Freilich darf keine menschliche Beschränkung stattfinden;
aber wenn der Geist Gottes gegenwärtig ist, so darf niemand
in dem Gottesdienste einen Platz einnehmen, der ihm nicht
von Gott angewiesen ist und für den Er ihn nicht befähigt hat.
Die Freiheit des Dienstes besteht darin, daß der Heilige Geist
frei wirken kann, durch welchen er will. Aber wir sind nicht
der Heilige Geist; und wenn die widerrechtliche Besitznahme
Seines Platzes durch eine einzelne Person ein unerträgliches
Ding ist, was soll man dann zu einer solchen Anmaßung
seitens einer bestimmten Anzahl von Personen sagen, welche
handeln, weil sie meinen, die Freiheit dazu zu haben, statt zu
wissen, daß sie sich dem Willen des Heiligen Geistes zu unterwerfen haben. Ein wirklicher Glaube an die Gegenwart des
Heiligen Geistes würde alle diese Dinge in Ordnung bringen.
Man soll nicht zu schweigen wünschen oder sich des Wirkens
aus dem Grunde enthalten, weil dieser oder jener Bruder
gegenwärtig ist. Lieber würde ich sehen, daß Unordnungen
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aller Art zum Vorschein kämen, damit sich der wahre Zustand
der Dinge ans Licht stellte, als daß dieser Zustand verborgen
bliebe wegen der Anwesenheit irgend einer Person. Es wäre
zu wünschen, daß die Gegenwart des Heiligen Geistes auf eine
solche Weise verwirklicht würde, daß niemand zum Reden den
Mund öffnete, es sei denn durch die Macht und unter der
Leitung des Heiligen Geistes, und daß das Gefühl Seiner
Gegenwart uns also von allem fernhalten möchte, was Seiner
und des Namens Jesu, der uns versammelt, unwürdig ist.
In einer Stelle des Alten Testaments lesen wir die Ermahnung:
„Bewahre deinen Fuß, wenn du zum Hause Gottes gehst, und
nahen, um zu hören, ist besser, als wenn die Toren Schlachtopfer geben, denn sie haben keine Erkenntnis, daß sie Böses
tun. Sei nicht vorschnell mit deinem Munde, und dein Herz
eile nicht, ein Wort vor Gott hervorzubringen; denn Gott ist
im Himmel und du bist auf der Erde; darum seien deiner
Worte wenige." (Pred 5, 1. 2.) Wenn die Gnade, in welcher
wir stehen, uns einen freien Zugang zu Gott gegeben hat, so
dürfen wir sicher diese Freiheit nicht durch voreiliges, unehrerbietiges Reden mißbrauchen. Das Bewußtsein, daß der
Heilige Geist in unserer Mitte ist, sollte ein wichtigerer Beweggrund zu einer heiligen Scheu und zu einer gottseligen
Furcht sein, als der Gedanke, daß Gott im Himmel ist, und
wir auf der Erde sind. „Deshalb, da wir ein unerschütterliches
Reich empfangen, laßt uns Gnade haben, durch welche wir
Gott wohlgefällig dienen mögen mit Frömmigkeit und Furcht."
(Hebr 12, 28.)
2. Die Auferbauung der Kirche durch die Guben.
Indem ich den oben angeregten Gegenstand weiter verfolge,
wünsche ich, meinen Lesern einen Auszug aus einem Traktat
vorzulegen, der vor mehreren Jahren von einem sehr lieben
Bruder in der Form eines Zwiegesprächs abgefaßt worden ist.
E. Ich habe vernommen, daß Sie jedem Bruder die Fähigkeit
zutrauen, in der Versammlung der Heiligen zu lehren.
W. Durch eine solche Behauptung würde ich den Heiligen Geist
leugnen. Niemand ist fähig, in der Versammlung der Heiligen
lehren zu können, es sei denn, daß Gott ihm zu diesem Zweck
besondere Gaben verliehen habe.
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E. Gut; aber Sie glauben doch, daß jeder Bruder, wenn er es
kann, das Recht hat, in der Versammlung zu reden.
W. Nein, sicher nicht. Ich spreche jedem, wer es auch sei, dieses
Recht ab. Nur Gott der Heilige Geist hat dieses Recht. Ein
Mensch mag von Natur sehr begabt sein, reden und sogar gut
reden zu können; aber wenn er „dem Nächsten nicht zum
Guten, zur Erbauung gefallen" kann, (Röm 15, 2.) so hat ihn
der Heilige Geist nicht zum Reden befähigt. Wenn ein solcher
es aber dennoch tut, so verunehrt er Gott, seinen Vater, betrübt den Heiligen Geist, verachtet die Kirche Christi und
offenbart nur seinen eigenen Willen.
E. Welche besondere Ansicht aber haben Sie über diesen
Punkt?
W. Meinen Sie, daß es eine besondere Ansicht von meiner
Seite sei, wenn ich glaube, daß, da die Kirche Christo angehört, Er ihr auch Gaben zu ihrer Auferbauung und Leitung
verleiht, damit nicht etwa noch so schön Vorgetragenes nutzlos sein würde, und ihre Aufmerksamkeit schlecht geleitet und
ihre Zeit übel angewandt wird?
E. Gewiß; ich räume dieses ein, und ich wünsche nur, daß
man noch mehr nach diesen Gaben Gottes streben und mit
größerer Sorgfalt alle anderen Mittel bekämpfen möchte, wie
sehr menschliche Beredsamkeit sie auch in Kredit zu bringen
suchen mag.
W. Ich behaupte auch, daß der Heilige Geist Gaben austeilt,
welchem Er will, und zwar solche Gaben, wie es Ihm gefällt,
daß ferner die Heiligen so untereinander verbunden sein sollten, daß die Gaben eines Bruders die Ausübung der Gaben
eines anderen nicht hindern, und daß schließlich den kleinsten
Gaben die Tür ebensowohl geöffnet sein sollte, wie den
größten.
E. Das versteht sich von selbst.
W. Nun, das läßt sich nicht so bestimmt sagen; denn weder in
der Landeskirche noch bei anderen Sekten findet man das
ausgeübt, was wir in 1. Kor 14 lesen. Zudem behaupte ich,
daß keine Gabe, um tätig zu werden, der Weihe seitens der
Kirche bedarf. Ist sie von Gott, so wird Er sie auch bestätigen,
und die Heiligen werden ihren Wert anerkennen.
33
E. Erkennen Sie denn ein angeordnetes Amt nicht an?
W. Wenn Sie damit sagen wollen, daß in jeder Versammlung
die, welche Gaben zur Erbauung von Gott empfangen haben,
sich in beschränkter Zahl vorfinden und von den anderen anerkannt werden, so räume ich dieses ein; wenn Sie aber ein
ausschließliches Amt im Auge haben, so verneine ich Ihre
Frage entschieden. Unter einem solchen Amt oder Dienst verstehe ich die Anerkennung bestimmter Personen, die den Platz
von Lehrern so ausschließlich einnehmen, daß die Ausübung
der Gaben irgend eines anderen ordnungswidrig erscheinen
würde. So würde man es z. B. in der Landeskirche und in den
meisten Kapellen anderer Benennungen als eine Unordnung
bezeichne, wenn ein Dienst durch zwei oder drei wirklich vom
Heiligen Geist begabte Personen ausgeführt würde.
E. Auf was gründen Sie aber diese Unterscheidung?
W. Auf Apg 13, 1. Ich sehe, daß dort nur fünf Personen
waren, die der Heilige Geist als Lehrer anerkannt hatte:
Barnabas, Simeon, Lucius, Manaen und Saulus. Ohne Zweifel
waren es nur diese fünf Männer, von denen in allen Versammlungen die Heiligen erwarteten, daß sie reden würden.
Dies war ein anerkannter aber kein ausschließlicher Dienst;
denn als Judas und Silas kamen, (Kap. 15, 32.) konnten sie
ohne Schwierigkeit unter diesen anerkannten Lehrern ihre
Plätze einnehmen und deren Zahl vermehren.
E. Aber in welcher Beziehung würde dieses stehen zum Vorschlagen eines Liedes, oder zu einem Gebet oder dem Vorlesen
eines Schriftabschnitts?
W. Dieses sollte, wie alles Übrige, der Leitung des Heiligen
Geistes anheimfallen. Es ist nicht genug zu beklagen, wenn
jemand aus eigenem Antrieb ein Lied vorschlägt, ein Gebet
spricht oder einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift in einer
Versammlung vorliest, ohne durch den Heiligen Geist dazu
geleitet zu werden. Wenn jemand in der Versammlung der
Heiligen handelt, so bekennt er dadurch, daß er vom Heiligen
Geist dazu geleitet und angetrieben sei; und wenn dieses
Bekenntnis ein unwahres ist, so begeht er eine sehr vermessene Handlung. Wenn die Heiligen wissen, was die Gemeinschaft ist, so werden sie auch wissen, wie schwierig es ist,
34
die Versammlung durch Gebet und Gesang zu leiten. Sich an
Gott zu wenden im Namen der Versammlung, oder der Versammlung ein Lied vorzuschlagen als das Mittel, um vor Gott
ihren wahren Zustand auszudrücken, das bedarf sicher der unmittelbarsten Leitung von Seiten Gottes.
Unter einem solchen Gesichtspunkt wurde der bezeichnete
Gegenstand von einem Bruder betrachtet, der einer der ersten
Arbeiter unter denen war, die bereits seit beinahe dreißig
Jahren bestrebt waren, sich im Namen Jesu zu versammeln.
Als Stützpunkt des Hauptgedankens in diesem Traktat, nämlich, daß Gott niemals alle Heiligen dazu bestimmt, an dem
öffentlichen Dienst des Wortes teilzunehmen, oder die Andacht der Versammlung zu leiten, wünsche ich die Aufmerksamkeit der Leser auf 1. Kor 12, 29. 30. zu lenken, wo wir
lesen: „Sind etwa alle Apostel? alle Propheten? alle Lehrer?
Haben alle Wunderkräfte? Haben alle Gnadengaben der Heilungen? Reden alle in Sprachen? Legen alle aus?" — Diese
Stellen würden keinen Sinn haben, wenn nicht dadurch klar
ans Licht treten sollte, daß solche Dienstleistungen in der Versammlung nur durch einzelne ausgeübt werden. Der Apostel
hatte vorher gesagt: „Und Gott hat etliche in der Versammlung gesetzt: erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens
Lehrer, sodann Wunderkräfte, sodann Gaben der Heilungen
usw." Und dann fragt er: „Sind alle Apostel? usw." Also
selbst in dem Teile der Heiligen Schrift, der bis ins einzelne die
Obergewalt des Heiligen Geistes betreffs der Austeilung und
Ausübung der Gaben in dem Leibe, der Kirche, behandelt, in
jenem Teil, auf den man sich, und zwar mit Recht, beruft, um
zu beweisen, daß die Freiheit des Dienstes in der Kirche von
Gott selbst eingesetzt ist, gerade in diesem Teil wird uns gesagt, daß nicht alle Brüder von Gott begabt sind, sondern daß
Er etliche in der Versammlung dazu bestimmt hat.
Wenden wir uns jetzt zu Eph 4. Man hat in betreff der Möglichkeit, nach den in 1. Kor 12 und 14 angegebenen Grundsätzen handeln zu können, Zweifel erhoben, da etliche der hier
aufgezählten Gaben nicht mehr vorhanden sind. Ich hege
solche Zweifel nicht, und ich beschränke mich darauf, an die,
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welche sie haben, die Frage zu richten, ob sich in der Heiligen
Schrift etwa andere Grundsätze vorfinden, nach denen wir
handeln können. Wenn aber solche nicht vorhanden sind,
welche Macht gestattet uns dann, nach Grundsätzen zu handeln, die nirgends in der Heiligen Schrift zu finden sind? Doch
kein Zweifel dieser Art kann bestehen im Blick auf Eph 4,
8—13, wo wir lesen: „Darum sagt er: Hinaufgestiegen in die
Höhe hat er die Gefangenschaft gefangen geführt und den
Menschen Gaben gegeben . .. Und er hat die einen gegeben
als Apostel, und andere als Propheten, und andere als Evangelisten, und andere als Hirten und Lehrer, zur Vollendung
der Heiligen: für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung
des Leibes des Christus." So lange Christus einen Leib auf der
Erde hat, der der Dienstleistungen solcher Männer bedarf,
reicht Er diesen die Gaben Seiner Liebe dar zur Nahrung und
Unterhaltung dieses Leibes, Seiner Braut, bis „wir alle ihm
entgegen gerückt werden" usw.
Also durch den Dienst lebender Menschen, die für diesen
Dienst gegeben und berufen sind, sorgt Christus für Seine
Herde und ernährt sie; und ebenso wirkt durch diesen Dienst
der Heilige Geist in dem durch Ihn bewohnten Leibe. Vielleicht
treiben etliche dieser Männer ein Gewerbe (Paulus war ein
Zeltmacher); vielleicht sind sie sehr weit davon entfernt, irgend
welche Ansprüche auf ein kirchliches Amt oder auf eine
offizielle Stellung machen zu können. Aber für Christum sind
sie um deswillen nicht weniger geeignet, Seine Heiligen zu
erbauen und ihre Seelen zu nähren; und die wahre Weisheit
der Heiligen besteht darin, daß sie die Gaben da, wo Christus
sie hingestellt hat, zu unterscheiden und sie an dem Platz anzuerkennen vermögen, den Er ihnen an Seinem Leibe angewiesen hat. Wer sie in dieser Weise anerkennt, der erkennt
Christum an. Weisen wir sie ab, so begehen wir ein Unrecht
an uns selbst, und wir verunehren Christum.
Erinnern wir uns aber auch daran, daß Christus diese Gaben
dem ganzen Leibe gegeben hat, daß wir aber nicht den ganzen
Leib ausmachen. Gesetzt, die Kirche stellte noch, wie zur Zeit
der Apostel, sichtbarlich eine Einheit dar, so könnte es dennoch der Fall sein, daß in dem einen Ort kein Evangelist und
an dem anderen kein Hirte oder Lehrer zu finden sei. Aber
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wievielmehr muß dies jetzt, wo die Kirche so sehr zersplittert
und zerteilt ist, für die kleinen Versammlungen wahr sein,
deren Glieder hier und da im Namen Jesu zusammenkommen.
Trägt etwa der Herr Jesus keine Sorge mehr für Seine Kirche,
weil sie in diesem Zustande ist? Wer wagt dieses zu behaupten? Versagt Er ihr die so notwendigen und nützlichen Gaben?
Keineswegs. Aber wir finden sie in der Einheit des ganzen
Leibes, und es ist nötig, daß wir uns stets daran erinnern. Alle
Gläubigen in N. bilden die Kirche oder Versammlung in diesem Orte; und man findet vielleicht Evangelisten, Hirten und
Lehrer unter jenen Gliedern des Leibes, die sich noch äußerlich
zur Landeskirche bekennen oder sich in der Mitte der Methodisten oder anderer Parteien befinden. Welchen Vorteil ziehen
wir aus ihrem Dienst? Und wie können die Heiligen, die sich
mit ihnen versammeln, die Gaben benutzen, welche Gott in
unserer Mitte ausgeteilt hat? —
Ich stelle Euch, geliebte Brüder, diese Gedanken vor Augen,
um Euch zu zeigen, wenn unter den siebzig oder achtzig, die
sich in N. im Namen des Herrn versammeln, keine oder nur
etliche Seiner Gaben vorhanden sind, wie wir sie in Eph 4 finden, daß der Umstand, in dieser Weise versammelt zu sein,
die Zahl dieser Gaben aus sich selbst nicht vermehren wird.
Ein Bruder, den Christus selbst nicht zu einem Hirten oder
Evangelisten bestimmt hat, wird es auch dadurch nicht werden, wenn er anfängt, sich da zu versammeln, wo die Gegenwart des Heiligen Geistes und die Freiheit des Dienstes anerkannt werden. Und wenn, weil menschliche Einschränkungen
beseitigt sind, diejenigen, welche Christus nicht als Hirten,
Lehrer oder Evangelisten Seiner Kirche gegeben hat, sich dennoch eine solche Stellung aneigenen und darin handeln, —
wird das zur Auferbauung dienen? Nein, im Gegenteil, es
wird nur Verwirrung hervorbringen; und „Gott ist nicht ein
Gott der Unordnung, sondern des Friedens, wie in allen Versammlungen der Heiligen". (1. Kor 14,33.) Wenn solche Gaben
in unserer Mitte fehlen, so laßt uns unsere Armut bekennen;
wenn wir zwei oder drei von ihnen besitzen, so laßt uns mit
Dank erfüllt sein; laßt uns sie an der Stelle, die Gott ihnen
angewiesen hat, anerkennen und beten, um zahlreichere und
37
bessere Gaben und Dienste zu erhalten. Aber hüten wir uns
vor der Voraussetzung, als ob die Handlung eines Bruders, den
der Herr nicht in diese Stellung gesetzt hat, eine Gabe zu ersetzen imstande sei. Die einzige Wirkung einer solchen Handlung ist, den Geist zu betrüben und ihn zu hindern, durch die
zu wirken, die er ohne dieses im Dienste der Heiligen gebrauchen möchte.
Ein glücklicher Gedanke beschäftigt mich beim Schluß dieses
Briefes. Wenn die Stellung, in der wir uns befinden, gar nicht
mit der Heiligen Schrift in Übereinstimmung wäre, so würden
solche Fragen wohl schwerlich in unserer Mitte erhoben werden. Wenn alles eingerichtet und durch ein menschliches
System geregelt ist, so daß die durch einen Bischof, oder
durch eine kirchliche Behörde, oder durch eine Versammlung
angestellten Personen sich in ihren Amtspflichten nur nach
einer vorgeschriebenen Form zu richten haben, dann haben
solche Fragen keinen Grund. Die Schwierigkeiten unserer
Stellung beweisen durch ihren Charakter, daß diese Stellung
von Gott ist. Ja, und Gott, der uns durch Seinen Geist und
mittels Seines Wortes dahin geleitet hat, ist vollkommen
genügend und wird uns in den Schwierigkeiten nicht versäumen, sondern wird uns zu unserem Heil und zu Seinem
Ruhme hindurchgehen lassen. Laßt uns nur einfältig, demütig
und bescheiden sein. Machen wir auf keine Sache Anspruch,
die wir nicht besitzen, und maßen wir uns nichts an, wozu
Gott uns nicht befähigt hat.
5. Woran kann man die Leitung des Geistes wahrnehmen?
a) Verneinende Merkmale
Bevor ich zu dem speziellen Gegenstand dieses Briefes übergehe, wünsche ich, mich über zwei Punkte klar auszudrücken.
Der erste betrifft den Unterschied zwischen dem Dienst und
dem Kultus oder dem eigentlichen Gottesdienst. Ich nehme
hier das Wort „Gottesdienst" in seinem ausgedehntesten
Sinne, als bezeichnend die verschiedenen Arten, in denen sich
der Mensch an Gott wendet; und dazu gehört das Gebet, das
Bekenntnis und das, was hauptsächlich den Gottesdienst ausmacht, nämlich die Verehrung und die Handlung des Dankes
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und des Lobes. Die wesentliche Verschiedenheit zwischen dem
Dienst und dem Gottesdienst besteht darin, daß im Gottesdienst der Mensch mit Gott, und im Dienst Gott mit dem
Menschen durch Seine Diener redet. Unser einziges, aber völlig
genügendes Recht, um Gottesdienst halten zu können, ist uns
durch jene überschwengliche Gnade verliehen, die uns durch
das Blut Jesu so nahe zu Gott gebracht hat, daß wir jetzt
Gott als unseren Vater erkennen und anbeten, und daß wir
Gott zu Königen und Priestern gemacht sind. In dieser Beziehung sind sich alle Heiligen gleich; der schwächste wie der
stärkste, der, welcher viele Erfahrungen gemacht hat, und der,
der noch ein kleines Kind ist, alle haben einen gleichen Anteil
an diesem Vorrecht. Der begabteste Diener Christi hat kein
größeres Recht, Gott zu nahen, als der Unwissendste der Heiligen, unter denen er seine Dienste ausübt. Wenn wir das Gegenteil annehmen, würden wir das Verfahren gutheißen, dem
man nur zu sehr in der Christenheit huldigt, indem man einen
Priester- oder Predigerstand zwischen der Kirche und Gott
eingesetzt hat. Wir haben einen großen Hohenpriester. Christus ist der einzige Hohepriester; und an Ihm haben alle Heiligen einen gleichen Anteil. Auch könnte ich mich nicht der
Meinung hingeben, daß in einer Versammlung von Christen
nur die befugt seien, Lieder vorzuschlagen, zu beten, Gott zu
loben und Ihm den Dank darzubringen, welche Gott befähigt
hat zu lehren, zu ermahnen oder das Evangelium zu predigen.
Warum könnte der Heilige Geist Sich nicht anderer Brüder
bedienen, um sowohl durch das Vorschlagen eines Liedes den
wahren Ausdruck der Anbetung der Versammlung kundzugeben, oder durch ein Gebet die wirklichen Wünsche und wahren Bedürfnisse derer auszudrücken, deren Organ und deren
Mund sie bekennen zu sein? Und wenn Gott es für gut findet,
in dieser Weise zu handeln, wer sind wir, daß wir Seinem
Willen widerstehen? Erinnern wir uns indes stets daran, daß,
wenn diese Handlungen des Gottesdienstes nicht das ausschließliche Vorrecht derer sein können, welche Gaben besitzen, sie doch der Leitung des Heiligen Geistes untergeordnet
und durch die in 1. Kor. 14 enthaltenen Grundsätze beherrscht
sein müssen, nach denen alle Dinge mit Ordnung und zur
Auferbauung geschehen sollen.
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Der Dienst, d. h. der Dienst des Wortes, in dem Gott mittels
Seiner Diener zu den Menschen redet — ist das Resultat der
Verleihung von Gaben, die einem Bruder übertragen sind, und
für deren Anwendung er Christo gegenüber verantwortlich ist.
In betreff unseres Rechts, Gottesdienst halten zu können, sind
wir uns alle gleich; in betreff der Verantwortlichkeit unseres
Dienstes sind wir uns verschieden, „da wir verschiedene Gnadengaben haben, nach der uns verliehenen Gnade. . ." (Röm
12, 6.) Diese Stelle zeigt uns deutlich die Verschiedenheit
zwischen Dienst und Gottesdienst.
Der zweite Punkt ist die Freiheit des Dienstes. Der wahre,
schriftgemäße Gedanke der Freiheit des Dienstes begreift
nicht nur die Freiheit in der Ausübung der Gaben, sondern
auch ihre Entfaltung in sich. Sie zeigt, wie wir in unseren
Versammlungen die Gegenwart und Leitung des Heiligen Geistes bis zu dem Punkte anerkennen, daß wir Ihm, wenn Er
durch irgend einen Bruder wirkt, kein Hindernis in den Weg
legen; es ist daher völlig klar, daß die erste Entfaltung einer
Gabe das Werk des Geistes sein muß, in dem Er durch Brüder
zu wirken beginnt, deren Er Sich vorher nicht bedient hat.
Jeder entgegengesetze Grundsatz würde nach meiner Meinung
ein Eingriff in die Vorrechte der Kirche und in die Rechte des
Heiligen Geistes sein. Aber eben in diesem Falle, wenn die
Kinder Gottes sich auf einem Grundsatz versammeln, der dem
Heiligen Geiste die Freiheit läßt, den einen Bruder zum Vorschlagen eines Liedes, einen anderen zum Beten und einen
dritten zum Ermahnen oder Lehren anzutreiben, so ist Gelegenheit zur Voreiligkeit und Selbstgefälligkeit vorhanden und
die Versuchung nahe, außer der völligen Leitung des Heiligen
Geistes zu handeln. Wie wichtig ist es daher, den Unterschied
zwischen dem, was vom Fleische ist, und dem, was vom Geiste
ist, zu erkennen! Ich verabscheue den Mißbrauch, den man
leider nur zu oft mit Ausdrücken wie: „Dienst des Fleisches"
und „Dienst des Geistes" macht; jedoch enthalten sie, wenn
man sie richtig anwendet, eine wichtige Wahrheit. Jeder Christ
hat zwei Quellen von Gedanken, von Gefühlen, von Beweggründen, von Worten und Werken in sich, und diese beiden
Quellen werden in der heiligen Schrift das „Fleisch" und der
„Geist" genannt. Unsere Tätigkeit in den Versammlungen der
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Heiligen gehen aus der einen oder der anderen dieser beiden
Quellen hervor. Es ist daher wichtig, hier ein scharfes Unterscheidungsvermögen zu haben. Die, welche beständig oder
auch nur gelegentlich in den Versammlungen tätig sind, sollten sich selbst in dieser Beziehung ernstlich prüfen. Auch ist
dies eine durchaus wesentliche Sache für alle Heiligen; denn
wir sind ermahnt, die Geister zu prüfen, ob sie aus Gott sind,
eine Ermahnung, wodurch die Versammlung verantwortlich
gemacht wird, das, was von Gott ist, anzuerkennen, und das,
was aus einer anderen Quelle ist, durch Verwerfung zu bezeichnen.
Ich möchte jetzt die Aufmerksamkeit des Lesers auf etliche der
besonderen Merkmale lenken, mit deren Hilfe wir die Leitung
des Geistes von der Anmaßung und Nachahmung des Fleisches unterscheiden können. Zunächst mache ich auf mehrere
Dinge aufmerksam, die uns keineswegs ermächtigen, an der
Leitung der Versammlung der Heiligen teilzunehmen.
1. Wir sind nicht ermächtigt zu handeln, bloß aus dem Grunde,
weil Freiheit vorhanden ist. Die Sache ist so klar, daß es kaum
nötig ist, Worte darüber zu verlieren; und dennoch haben wir
es so nötig, daran erinnert zu werden. Gerade der Umstand,
daß keinem Bruder irgend ein äußeres Hindernis im Wege
steht, um in der Versammlung tätig sein zu können, bietet
solchen, deren einzige Fähigkeit es ist, lesen zu können, die
Gelegenheit dar, eine geraume Zeit in Anspruch zu nehmen,
indem sie ein Kapitel nach dem anderen lesen und ein Lied
nach dem anderen vorschlagen. Jedes Kind, das lesen gelernt
hat, könnte dasselbe tun. Ein Kapitel vorzulesen ist leicht;
aber unterscheiden zu können, welches Kapitel zum Vorlesen
geeignet und welcher Augenblick dazu passend ist, ist eine
andere Sache. Ebenso ist es nicht schwer, ein Lied vorzuschlagen; aber die Auswahl eines Liedes, das wirklich die Anbetung
der Versammlung in sich schließt und ausdrückt, ist ohne die
Leitung des Heiligen Geistes eine Unmöglichkeit. Als ich vor
vielen Jahren in einer Versammlung war, wo am Tische des
Herrn eine ganze Reihe von Kapiteln vorgelesen und ebensoviele Lieder gesungen wurden, während vielleicht nur ein einziges Mal durchs Gebet die Danksagung dargebracht wurde,
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habe ich mich fragen müssen, ob wir wirklich versammelt gewesen seien, um den Tod des Herrn zu verkündigen, oder ob
uns der Zweck geleitet habe, uns im Lesen und Singen zu vervollkommnen. Gott sei gepriesen, daß solche Mißgriffe jetzt
weniger vorkommen; aber wir haben immer nötig, uns ins
Gedächtnis zu rufen, daß die Freiheit, in den Versammlungen
tätig zu sein, uns noch nicht berechtigt, hier nach Willkür zu
handeln.
2. Man ist auch nicht ermächtigt, in Augenblicken zu handeln,
weil es gerade kein anderer Bruder tut. Das Stillschweigen als
solches ist nicht immer eine Wirksamkeit des Geistes und
kann ebensogut wie jede andere Sache zur Form werden; doch
ist das Schweigen viel mehr wert als das Reden oder Handeln
nur aus dem einzigen Grunde, die Stille zu unterbrechen. Ich
weiß wohl, daß dies gar oft geschieht, weil man an anwesende
Personen denkt, die den Weg nicht mit uns gehen, oder wohl
gar nicht bekehrt sind, und weil man ihretwegen sich über
das Schweigen unbehaglich fühlt. Und in der Tat, wenn
die Versammlung oft eine solche Armut an den Tag legt, so
ist das sicher eine Mahnung Gottes, die Ursache eines solchen
Schweigens zu untersuchen; aber nie darf ein Bruder sich berechtigt glauben, zu reden, zu beten oder ein Lied vorzuschlagen, und zwar aus dem einzigen Grunde, um etwas zu tun.
3. Ferner sind unsere Erfahrungen und unsere persönliche
Stellung nicht die sicheren Führer in betreff des Anteils an
der Wirksamkeit inmitten der Versammlung der Heiligen.
Vielleicht ist einmal ein bestimmtes Lied für meine Seele
köstlich gewesen; vielleicht habe ich es einmal mit großem
Genuß der Gegenwart des Herrn singen gehört; aber soll ich
daraus schließen, daß ich berufen sei, dieses Lied in der ersten
Versammlung, der ich wieder beiwohne, vorzuschlagen? Möglicherweise steht es in keiner Beziehung zu dem gegenwärtigen
Zustand dieser Versammlung. Vielleicht ist es gar nicht einmal
die Absicht des Geistes, daß überhaupt ein Lied gesungen
werde. „Leidet jemand unter euch Trübsal? er bete. Ist jemand
gutes Mutes? er singe Psalmen." (Jak 5, 13.) Ein Lied soll
die Gefühle derer ausdrücken, die versammelt sind; im anderen Falle werden sie, wenn sie singen, nicht aufrichtig sein.
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Und wer, außer jenem, der den gegenwärtigen Zustand kennt,
wird ein geeignetes Lied finden können? Ebenso verhält es
sich mit dem Gebet. Wenn jemand in der Versammlung das
Gebet spricht, so tut er es als das Organ der Bitten und als
der Mund der Bedürfnisse aller. Ich kann mich mittels des
Gebets vor dem Herrn einer Bürde entledigen, die nur auf
mir lastet; aber sie in der Versammlung zu erwähnen, würde
unpassend sein. Vielleicht würde ich durch eine solche Handlung alle meine Brüder in denselben Zustand herabziehen, in
dem ich mich befinde. Andererseits auch kann meine Seele
vollkommen glücklich in dem Herrn sein; ist dies aber von
der Versammlung nicht zu sagen, so werde ich nur dann fähig
sein, ihre Bedürfnisse vor Gott bringen zu können, wenn ich
mich mit ihrem Zustand eins mache. Mit einem Wort, wenn
ich durch den Geist geleitet werde, in der Versammlung zu
beten, so darf dies nicht sein, wie in einer Kammer, wo sich
außer dem Herrn und mir niemand befindet, und wo meine
eigenen Bedürfnisse und meine eigenen Genüsse den Hauptgegenstand meiner Gebete und Danksagungen bilden, sondern
ich brauche die Fähigkeit, dem Herrn die Bekenntnisse abzulegen und Ihm jene Wünsche und die Danksagung vorzutragen, die mit dem Zustand derer übereinstimmen, deren Mund
ich sein werde, indem ich mich an Gott wende. Es ist einer
der größten Mißgriffe, in die wir verfallen können, wenn wir
uns einbilden, daß unser Ich und das, was sich auf unsere
Person bezieht, maßgehend sei bei der Leitung der Versammlung der Heiligen. So kann ein Abschnitt aus der Heiligen
Schrift meine Seele sehr erquickt und rnir Nutzen gebracht
haben; allein es folgt daraus noch nicht, daß ich diesen Abschnitt am Tisch des Herrn oder in anderen Versammlungen
der Heiligen vorlesen soll. Auch mag irgend ein besonderer
Gegenstand mich beschäftigen oder vorher beschäftigt haben,
und zwar zum Nutzen meiner Seele; aber dennoch kann es
sein, daß dies durchaus nicht der Gegenstand ist, auf den
Gott die Aufmerksamkeit der Heiligen im allgemeinen lenken will. Man verstehe mich indes recht. Ich leugne nicht, daß
man sich mit irgend einem Gegenstande beschäftigt haben
kann, mit dem man sich nach dem Willen Gottes nicht auch
mit den Heiligen beschäftigen sollte. Vielleicht ist dies häufig
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oder wohl gar gewöhnlich bei den Dienern des Herrn der Fall;
aber ich fürchte, es nicht kräftig genug hervorzuheben, daß an
und für sich der Umstand, in irgend einer Weise beschäftigt
gewesen zu sein, keine genügende Leitung ist. Wir können
Bedürfnisse haben, welche die Kinder Gottes im allgemeinen
nicht haben; und auch können ihre Bedürfnisse nicht die unsrigen sein.
Auch möchte ich noch hinzufügen, daß der Geist mich nicht
zur Angabe eines Liedes antreiben wird, weil es meine besonderen Ansichten ausdrückt. Es kann sein, daß die Heiligen, die
versammelt sind, über gewisse Punkte der Auslegung nicht
die gleiche Meinung haben. Wenn in diesem Falle etliche unter
ihnen Lieder auswählten, in der Absicht, ihre besonderen Meinungen auszudrücken, so könnte wie gut und wahr diese
Lieder sonst auch sein möchten, es möglich sein, daß andere
Glieder der Versammlung nicht mitsingen könnten. In einer
Versammlung werden die Lieder, die der Heilige Geist angibt,
der Ausdruck der Gefühle aller sein. Laßt uns daher zu jeder
Zeit in der Versammlung bestrebt sein, die „Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens", und erinnern
wir uns, daß das Mittel, dahin zu gelangen, dies ist, daß wir
wandeln „mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe." (Eph 4.)
Wir dürfen es überhaupt nie außer acht lassen, daß, wer auch
immer das Organ oder der Mund der Versammlung sein mag,
es stets beim Gesang, beim Gebet und, mit einem Wort, bei
dem Gottesdienst die Versammlung ist, die mit Gott redet;
und demzufolge kann der Gottesdienst nur dann wahr und
aufrichtig sein, wenn er ein treuer Ausdruck des Zustandes
dieser Versammlung ist. Gepriesen sei Gott, daß Er durch Seinen Geist, wie Er es oft tut, einen höheren Ton hören lassen
kann, der in allen Herzen einen Widerhall findet, und daß Er
auf diese Weise dem Gottesdienst einen erhabeneren Charakter verleiht. Aber wenn sich die Versammlung nicht in dem
Zustand befindet, um auf diesen Ton eine Antwort geben zu
können, so gibt es nichts Peinlicheres, als einen Bruder zu
hören, der in den wärmsten Ausdrücken Lob und Anbetung
darbringt, während die Herzen der anderen traurig, kalt und
zerstreut sind. Stets sollte derjenige, der dem Gottesdienst
44
der Versammlung Ausdruck gibt, die Herzen seiner Umgebung
vor sich haben, denn sonst nimmt er nicht seinen wahren Platz
ein. Anders verhält es sich in bezug auf den Dienst; hier redet
Gott zu uns; und darum ist der Dienst nicht wie der Kultus
oder Gottesdienst durch unseren Zustand beschränkt, sondern
kann stets einen höheren Grad annehmen. Wenn ein Bruder,
der im Dienst gebraucht wird, wirklich, während er redet, der
Mund Gottes ist, wie er es sein sollte, so kann es oft geschehen, daß uns Wahrheiten vorgestellt werden, die wir bisher noch nicht empfangen haben, oder solche, die aufgehört
haben, mit Macht auf unsere Seelen zu wirken. Wie klar ist
es, daß in dem einen wie in dem anderen Falle, ja in allen
Fällen, der Geist Gottes der alleinige Leiter sein muß!
Indes gedenke ich im nächsten Briefe die bestimmte Leitung
des Geistes noch etwas näher zu beleuchten. Bisher habe ich
nur die negative oder verneinende Seite dieses Gegenstandes
vorgestellt.
4. Woran kann man die Leitung des Heiligen Geistes
wahrnehmen?
b) Bejahende Merkmale
Wer es versuchen wollte, bei der Erweckung oder der Bekehrung einer Seele die Wirkungen des Heiligen Geistes festzustellen, der würde dadurch nur seine eigene Unwissenheit verraten und zugleich jene Souveränität des Geistes leugnen, die
uns in den wohlbekannten Worten angekündigt wird: „Der
Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen; aber du
weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; also ist
jeder, der aus dem Geiste geboren ist." (Joh 3, 8.) Dennoch ist
die Heilige Schrift reich an Beispielen, die dazu dienen können,
die aus dem Geiste und die nicht aus dem Geiste geboren sind
zu unterscheiden. Und eben dies ist der Zweck dieses Briefes.
Ich hoffe vor der Gefahr, von dem Platz des Heiligen Geistes
widerrechtlich Besitz zu nehmen, bewahrt zu bleiben; denn
wer vermöchte die Art und Weise Seiner Wirkungen in den
Seelen derer genau zu bestimmen, die Er antreibt, in der Versammlung tätig zu sein, sei es beim eigentlichen Gottesdienst
oder bei Ausübung irgend eines Dienstes inmitten der Heiligen? Aber obwohl es nutzlos und anmaßend sein würde, eine
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wahre und völlige Entscheidung über diesen Gegenstand treffen zu wollen, so bietet uns die Heilige Schrift dennoch hinreichende Belehrungen über die Merkmale eines wahren Dienstes; und auf etliche der einfachsten und verständlichsten
dieser Merkmale möchte ich jetzt gern die Aufmerksamkeit
meiner Leser richten. Wir werden darin solche Belehrungen
finden, die sich auf den Gegenstand des Dienstes beziehen,
und solche, welche die Beweggründe bezeichnen, die uns zum
Dienst anregen oder uns irgendwie an der Leitung der Versammlungen der Heiligen teilnehmen lassen. Die Belehrungen,
die sich auf den Gegenstand des Dienstes beziehen, verleihen
jenen, die in dieser Beziehung tätig sind, einen Prüfstein, mit
dem sie sich selbst beurteilen können. Diese Belehrungen
werden auch dazu dienen, die Gaben zu zeigen, die Christus
Seiner Kirche für den Dienst des Wortes verliehen hat. —
Mit Hilfe der Belehrungen, welche die Beweggründe zeigen,
die uns zum Dienst anregen, werden alle Heiligen das zu
unterscheiden vermögen, was aus dem Geiste ist und was
einer anderen Quelle entspringt. Diese Belehrungen werden
denen, welche diese Gabe besitzen, behilflich sein, die wichtige Frage zu entscheiden, wann sie reden und wann sie schweigen sollen. Meine Seele zittert, wenn ich an meine Verantwortlichkeit denke, indem ich über einen solchen Gegenstand
schreibe, aber mich ermutigt das Bewußtsein, daß „unsere
Fähigkeit von Gott kommt", und daß in bezug auf das Wort
Gottes „alle Schrift nütze ist zur Lehre, zur Überführung, zur
Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf
d~ß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke
völlig geschickt." (2. Tim 3, 16. 17.) Möge der Leser daher die
folgenden Zeilen nach dieser vollkommenen Richtschnur prüfen und von Gott weise gemacht sein, um alles, was irgend
diese Probe nicht aushält, zurückzuweisen.
Der Heilige Geist leitet nicht durch ein blindes Antreiben
oder mittels unvernünftiger Eindrücke, sondern dadurch, daß
Er das geistliche Verständnis geradeso mit den Gedanken
Gottes erfüllt, wie sie in dem geschriebenen Worte enthüllt
sind. In den ersten Zeiten der Kirche gab es allerdings Gaben
von Gott, deren Anwendung nicht an das geistliche Verständnis geknüpft sein konnte. Ich will nur an die Gabe, in Spra46
chen zu reden, erinnern, wenn kein Ausleger zugegen war;
und es scheint, daß, da diese Gabe in den Augen der Menschen
bewundernswürdiger und auffallender als jede andere war,
die Korinther es sehr liebten, sie auszuüben und zu zeigen.
Der Apostel tadelt sie dieserhalb mit den Worten: „Ich danke
Gott, ich rede mehr in einer Sprache, als ihr alle. Aber in der
Versammlung will ich lieber fünf Worte reden mit meinem
Verstände, auf daß ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in einer Sprache. Brüder! seid nicht Kinder
am Verstände, sondern an der Bosheit seid Unmündige, am
Verstände aber seid Erwachsene." (1. Kor 14, 18—20.) Das
geringste also, was man von denen, die einen Dienst ausüben,
erwarten kann, ist, daß sie die Schrift kennen und das Verständnis der Gedanken Gottes haben, so wie diese in dem
Worte geoffenbart sind. Freilich kann die Erkenntnis des Wortes bei einem Bruder vorhanden, und nicht mit einer Gabe des
Vortrags oder nicht mit der Fähigkeit, sie anderen mitteilen
zu können, verbunden sein; aber was hätten wir, ohne die
Erkenntnis zu besitzen, mitzuteilen? Sicher versammeln die
Kinder Gottes sich nicht von Zeit zu Zeit im Namen Jesu, daß
man ihnen rein menschliche Gedanken vorstellen oder ihnen
das wiederholen soll, was andere geredet oder geschrieben
haben. Ganz bestimmt sind die Kenntnis der Schrift und das
Verständnis ihres Inhalts ganz unentbehrliche Dinge zum
Dienst des Wortes. Wir lesen in Mt 13, 51. 52: „Jesus spricht
zu ihnen: Habt ihr dieses alles verstanden? Sie sagen zu ihm:
Ja, Herr! Er aber sprach zu ihnen: Darum ist jeder Schriftgelehrte, der im Reiche der Himmel unterrichtet ist, gleich einem
Hausherrn, der aus seinem Schatze Neues und Altes hervorbringt." — Als der Herr Jesus auf dem Punkte stand, Seine
Jünger auszusenden, damit sie Seine Zeugen seien, „öffnete
er ihnen das Verständnis, um die Schriften zu verstehen."
(Lk 24, 45.) Und wie oft lesen wir, daß Paulus, wenn er den
Juden predigte, sich mit ihnen über die Schriften unterhielt.
(Apg 18, 2—4.) Wenn sich dieser Apostel an die Römer als an
Christen wendet, die fähig waren, sich einander zu ermahnen,
so tut er es, weil er zu ihnen sagen kann: „Ich bin aber, meine
Brüder, auch selbst von euch überzeugt, daß auch ihr selbst
voll Gütigkeit seid, erfüllt mit aller Erkenntnis und fähig,
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auch einander zu ermahnen." (Röm 15, 14.) Jene Teile der
Heiligen Schrift, die ausdrücklich von der Tätigkeit des Geistes
in der Versammlung reden, zeigen uns deutlich, daß diese
Tätigkeit nicht mit Ausschluß des Wortes stattfinden soll.
Wir lesen u. a. in 1. Kor 12, 8: „Einem wird durch den Geist
das Wort der Weisheit gegeben, einem anderen aber das Wort
der Erkenntnis nach demselben Geiste." Ebenso sagt der
Apostel beim Aufzählen der Dinge, durch die er und andere
sich als die Diener Gottes ausweisen, die Worte: „In Erkenntnis .. . im Worte der Wahrheit . . . durch die Waffen der
Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken." (2. Kor 6, 6—7.)
Und wenn wir untersuchen, woraus diese Waffenrüstung besteht, so werden wir finden, daß die Wahrheit einen Gürtel
um die Lenden bildet und daß das Wort Gottes das Schwert
des Geistes ist. (Eph 6, 14—18.) Auch sagt der Apostel, indem
er auf das, was er den Ephesern bereits geschrieben hat, anspielt: „Woran ihr im Lesen merken könnt mein Verständnis
in dem Geheimnis des Christus." (Eph 3, 4.) Und wenn der
Apostel die Heiligen antreibt, sich gegenseitig zu ermahnen, so
ruft er ihnen mit allem Nachdruck zu: „Laßt das Wort des
Christus reichlich in euch wohnen in aller Weisheit euch gegenseitig lehrend und ermahnend mit Psalmen, Lobliedern
und geistlichen Liedern, Gott singend in euren Herzen in
Gnade." (Kol 3, 16.) Ebenso sagt er im Brief an Timotheus:
„Wenn du dieses den Brüdern vorstellst, so wirst du ein guter
Diener Jesu Christi sein; auf erzogen durch die Worte des
Glaubens und der guten Lehre, welcher du genau gefolgt
bist." (1. Tim 4, 6.) Auch fügt er die Ermahnung hinzu: „Bis
ich komme, halte an mit dem Vorlesen, mit dem Ermahnen,
mit dem Lehren. Bedenke dieses sorgfältig; lebe darin, auf daß
deine Fortschritte allen offenbar seien. Habe acht auf dich
selbst und auf die Lehre, beharre in diesen Dingen. Denn
wenn du dieses tust, wirst du sowohl dich selbst erretten, als
auch die, welche dich hören." (Tim 4, 13. 15. 16.) Im zweiten
Briefe wird Timotheus mit den Worten ermahnt: „Und was
du von mir in Gegenwart vieler Zeugen gehört hast, das vertraue treuen Männern an, die tüchtig sein werden, auch andere
zu lehren." (2. Tim 2, 2.) Und wiederum: „Befleißige dich,
dich selbst Gott bewährt darzustellen als einen Arbeiter, der
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sich nicht zu schämen hat, der das Wort der Wahrheit recht
teilt." (V. 15.) Unter den Eigenschaften, die erforderlich sind,
um ein Bischof oder Aufseher zu sein, finden wir im Brief
an Titus folgende: „anhangend dem zuverlässigen Worte nach
der Lehre, auf daß er fähig sei, sowohl mit der gesunden
Lehre zu ermahnen, als auch die Widersprechenden zu überführen." —
Aus all diesem geht klar hervor, daß die Kirche nicht immer
durch einzelne Bruchstücke der Wahrheit, die, wenn man sich
dazu gedrungen fühlt, vorgestellt werden, ernährt werden
kann. Nein, sondern der Heilige Geist will Sich, um die Heiligen Gottes zu weiden, zu nähren und zu leiten, solcher Brüder bedienen, deren Seelen aus Gewohnheit geübt sind durch
die Betrachtung des Wortes, und die „vermöge der Gewohnheit geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten sowohl als auch des Bösen." (Hebr 5, 14.) Darum ist, wie bereits gesagt, Erkenntnis des Wortes Gottes das geringste, das
man von jemandem erwarten kann, der irgend einen Dienst
in der Kirche tut.
Diese Erkenntnis genügt jedoch nicht. Das Wort Gottes muß
auch in einer Weise auf das Gewissen der Heiligen gebracht
werden, daß es ihren gegenwärtigen Bedürfnissen entspricht.
Daher ist es nötig, entweder den Zustand der Heiligen durch
Umgang kennenzulernen, oder vielmehr direkt von Gott geleitet zu werden; und dieses wird der Fall sein bei Brüdern,
die als Evangelisten, Hirten oder Lehrer jene Gaben besitzen,
die Christus Seiner Kirche geschenkt hat. Gott allein kann sie
diejenigen Teile der Wahrheit finden lassen, die das Gewissen
erreichen und den Bedürfnissen der Seelen entsprechen werden; Er allein kann sie fähig machen, diese Wahrheit so darzustellen, daß sie ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Heilige Geist
kennt in der Versammlung die Bedürfnisse aller im allgemeinen und eines jeden im besonderen; und Er kann die, welche
sprechen, gerade die Wahrheit reden lassen, die, mögen sie
den Zustand der Zuhörer kennen oder nicht, passend und
nötig ist. Wie wichtig ist es daher, sich ohne Rückhalt und
aufrichtig dem Geiste zu unterwerfen!
Nichts kennzeichnet den Dienst des Geistes mehr, als wenn
er seine Quelle in der persönlichen Anhänglichkeit an Christum
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hat. „Liebst du mich?" Diese Frage wurde dreimal an Petrus
gerichtet, zu der Zeit, als er den Auftrag erhielt, die Herde
Christi zu weiden. „Die Liebe Christi drängt uns", sagt Paulus. Wie sehr unterscheidet sich dieses von den vielen Beweggründen, die uns seitens der Natur beeinflussen könnten! Wie
wünschenswert wäre es, wenn wir jedesmal bei Ausübung
eines Dienstes mit gutem Gewissen sagen könnten: „Nicht
die Eitelkeit, nicht die Macht der Gewohnheit, auch nicht jene
Ungeduld, die das Nichtstun nicht ertragen kann, nein, alles
dieses war nicht die Triebfeder meines Handelns, sondern
vielmehr die Liebe für Christum und Seine durch Blut erkaufte
Herde." — Sicher fehlte diese Triebkraft jenem schlechten
Knecht, der das Talent seines Herrn in die Erde vergraben
hatte.
Überdies wird der Dienst des Geistes, und jede andere durch
denselben Geist gewirkte Handlung in der Versammlung sich
stets durch ein tiefes Gefühl der Verantwortlichkeit gegen
Christum auszeichnen. Laßt mich, meine Brüder, eine Frage
an Euch richten. Ich nehme den Fall an, daß jemand am Ende
einer Versammlung die Frage an uns richten würde: „Warum
hast du gerade dieses Lied vorgeschlagen, warum dieses Kapitel gelesen oder gar darüber gesprochen, warum in dieser
Weise gebetet?" — würden wir dann mit einem ruhigen Gewissen antworten können: „Mich trieb dazu die aufrichtige
Überzeugung, daß es der Wille des Herrn sei, so zu handeln?"
Würden wir dann sagen können: „Ich wählte gerade dieses
Lied in der gewissen Überzeugung, daß es der Absicht des
Geistes entsprach, dieses Lied zu singen. Ich las gerade dieses
Kapitel oder sprach gerade über diesen Abschnitt, weil ich vor
Gott klar und bestimmt den Dienst erkannte, den mein Herr
und Meister mir aufgetragen hatte? ich betete gerade in dieser
Weise in dem vollen Bewußtsein, durch den Geist Gottes berufen zu sein, jene Segnungen zu erflehen, welche den Inhalt
meines Gebets ausmachten?" Würden wir, teure Brüder, eine
solche Antwort imstande sein zu geben? Oder handeln wir nicht
vielmehr oft ohne irgend ein Gefühl unserer Verantwortlichkeit gegen Christum? „Wenn jemand redet, so rede er als
Aussprüche Gottes", sagt Petrus; und dieses bezeichnet nicht,
daß jemand nur, was natürlich auch der Fall ist, nach der
SO
Schrift, sondern vielmehr, daß er als Aussprüche Gottes reden
soll. Wenn ich nicht sagen kann: „Gott hat mich in dem, was
ich in diesem Augenblicke in der Versammlung hören lasse,
unterwiesen, und Sein Wille ist es, gerade jetzt zu reden",
so soll ich schweigen. Natürlich kann jemand, der sich in dieser Beziehung sicher weiß, sich dennoch irren; und es ist die
Sache der Heiligen, das Gehörte nach dem Worte Gottes zu
beurteilen; aber nichts als die völlige Überzeugung vor Gott,
daß Gott ihm etwas zu tun oder zu reden gegeben hat, sollte
für einen jeden die Triebfeder des Redens oder Handelns in
den Versammlungen der Heiligen sein. Würden unsere Gewissen stets unter dieser Verantwortlichkeit handeln, so würde
dies allerdings in vielen Dingen ein Hindernis sein; aber zu
gleicher Zeit würde Gott Seine Gegenwart frei offenbaren
können, die durch ein unzeitiges Handeln von unserer Seite
so oft gehindert wird.
Wie bestimmt tritt dieses Gefühl der unmittelbaren Verantwortlichkeit gegen Christum bei dem Apostel Paulus in den
Vordergrund! „Denn wenn ich das Evangelium verkündige",
— sagt er — „so habe ich keinen Ruhm, denn eine Notwendigkeit liegt mir auf; denn wehe mir, wenn ich das Evangelium
nicht verkündigte! Denn wenn ich dies freiwillig tue, so habe
ich Lohn, wenn aber unfreiwillig, so bin ich mit einer Verwaltung betraut." (1. Kor 9, 16. 17.) Und wie rührend sind
die an dieselben Christen gerichteten Worte: „Und ich war
bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern."
(1. Kor 2, 3.) Welch ein Tadel gegen die Leichtfertigkeit des
Herzens, und die Voreiligkeit, womit wir leider nur zu oft
das heilige Wort unseres Gottes behandeln. Der Apostel sagt:
„Wir verfälschen nicht, wie die vielen, das Wort Gottes, sondern als aus Lauterkeit, sondern als aus Gott, vor Gott, reden
wir in Christo." (2. Kor 2, 17.)
Schließlich möchte ich noch einen anderen Punkt berühren.
„Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit."
(2. Tim 1, 7.) Einen Geist der Besonnenheit! Es ist möglich,
daß jemand wenige oder gar keine menschlichen Kenntnisse
besitzt, daß er unfähig ist, sich in einer schönen oder gar
richtigen Weise ausdrücken zu können, daß es ihm an diesem
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allem mangelt; aber dennoch kann er ein „guter Diener Jesu
Christi" sein. Aber es ist nötig, daß er einen Geist der Besonnenheit habe. Und da gerade dieser Gegenstand berührt ist,
so möchte ich bei dieser Gelegenheit gern an eine Sache
erinnern, an die ich oft mit Betrübnis denke. Ich meine nämlich die Verworrenheit, die sich, wenn es sich um die Personen
der Gottheit handelt, so oft in den Gebeten einzelner Brüder
kundgibt. Wenn ein Bruder sich im Anfang des Gebets an
Gott den Vater wendet und Ihn im Verlaufe anredet als Den,
der gestorben und auferstanden ist, oder wenn er sein Gebet
an Jesum richtet und Ihm am Ende dankt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt habe, dann möchte ich
mich wirklich fragen: „Kann der Geist Gottes solche Gebete
wirken?" — O wie sehr haben alle, die bei dem Gottesdienst
tätig sind, den Geist der Besonnenheit nötig, um solche Verwirrungen zu vermeiden! Keiner von ihnen glaubt, daß der
Vater auf Golgatha gestorben ist, und daß Christus Seinen
Sohn in die Welt gesandt hat. Wo findet sich nun der ruhige,
besonnene Geist, der die, die sich als die Kanäle des Gottesdienstes der Heiligen gebrauchen lassen, charakterisieren soll,
wenn ihre Sprache geradezu das ausdrückt, was sie selbst nicht
glauben und was widersinnig sein würde, zu glauben! Möge
daher der Herr uns den Geist der Kraft, der Liebe und der
Besonnenheit in reichem Maße geben!
5. Verschiedene Bemerkungen über die gegenseitige Abhängigkeit der Heiligen in den Erbauungsstunden und über einige
andere Punkte.
Meine Bemerkungen in diesem Brief werden weniger zusammenhängend sein, als die in den vorhergehenden Zeilen, indem
ich die Absicht habe, verschiedene Punkte hervorzuheben, die
in Verbindung mit den bereits behandelten Gegenständen nicht
gut erörtert werden können.
Zunächst erlaube ich mir, daran zu erinnern, daß alles, was in
einer Versammlung gegenseitiger Erbauung geschieht, die
Frucht der Gemeinschaft sein muß. Wenn ich z. B. ein Kapitel
aus dem Worte Gottes lesen will, so soll ich nicht lange meine
Bibel durchblättern, um ein passendes Kapitel zu finden, sondern, vorausgesetzt, daß ich das Wort mehr oder weniger
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kenne, es ist nötig, daß der Geist Gottes mir den Abschnitt,
den ich vorlesen soll, ins Herz gebe. Ebenso verhält es sich mit
dem Vorschlagen eines Liedes. Es darf nicht geschehen, weil
ich den Augenblick zum Gesang herangerückt glaube und weil
ich im Liederbuch ein Lied, das mir gefällt, gesucht habe,
sondern es ist nötig, daß mich der Geist, insoweit ich den
Inhalt der vorhandenen Lieder kenne, an eins erinnert und
mich antreibt, es vorzuschlagen. Das Durchblättern der Bibeln
und der Liederbücher von Seiten mehrerer Brüder, um ein
passendes Kapitel oder Lied zu suchen, trägt ganz den
Schein an sich, als ob es darauf abgesehen sei, den wahren
Charakter einer vom Heiligen Geiste abhängigen Versammlung gegenseitiger Erbauung zu beseitigen. Freilich mag mich
meine unvollkommene Kenntnis des Inhalts zwingen, die Bibel
oder das Liederbuch zur Hand zu nehmen, um das mir durch
den Geist ins Herz gegebene Kapitel oder Lied zu suchen;
aber mich sollte stets das Gefühl leiten, daß man in der Abhängigkeit von dem Heiligen Geiste versammelt ist, um sich
gegenseitig zu erbauen.
Haben wir nun das soeben Gesagte wohl begriffen, so wird
selbstredend daraus folgen, daß, wenn man einen Bruder seine
Bibel oder sein Liederbuch öffnen sieht, man wissen wird, daß
er es in der Absicht tut, ein Kapitel vorzulesen oder ein Lied
vorzuschlagen. Das aber sollte jeden anderen Bruder hindern,
in ähnlicher Weise handeln zu wollen, bevor jener seine Absicht ausgeführt oder wieder aufgegeben hat; und dieses leitet
mich zu dem Gegenstand gegenseitiger Abhängigkeit, worauf
ich die Aufmerksamkeit meiner Leser lenken möchte. —
In 1. Kor. 11 handelt es sich in betreff der Korinther nicht um
den Dienst, sondern um die Art und Weise, wie sie das Abendmahl des Herrn feierten. Die Frage hinsichtlich des Dienstes
wird in Kapitel 14 erörtert; aber die innere Wurzel der Unordnung zeigte sich in beiden Fällen. Die Korinther unterschieden
nicht den Leib des Herrn; und darum war ein jeder mit seiner
eigenen Person beschäftigt. „Denn ein jeder nimmt beim Essen
sein eigenes Abendmahl vorweg." (V. 21.) Und daraus folgte
natürlich: „Und der eine ist hungrig, der andere ist trunken."
Der Grundsatz des Ichs brachte hier Früchte zum Vorschein,
die so sichtbar und verabscheuungswürdig waren, daß sie selbst
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das natürliche Gefühl verletzten. Aber wenn ich zur Versammlung gehe oder mich dort befinde und nur an das Kapitel oder
das Lied denke, das ich vorzulesen oder vorzuschlagen beabsichtige, oder mich, mit anderen Worten, mit der Stellung beschäftige, die ich beim Gottesdienst einnehmen will, so ist
ebenso in geistlichen Dingen das Ich der Mittelpunkt, um den
sich alle meine Gedanken und Beschäftigungen drehen, als
wenn ich, wie die Korinther in natürlichen Angelegenheiten,
ein Abendessen herbeigetragen hätte und es genösse, während
mein armer Bruder, der sich nichts zu verschaffen vermag,
hungrig weggehen würde. Wir sind versammelt in der Gemeinschaft des einen Leibes Christi, und zwar geweckt, belebt, belehrt und beherrscht durch den einen Geist; und die
Gedanken unserer Herzen sollten in der Versammlung nicht
auf das Mahl, das ich zu genießen habe, und nicht auf die
Stellung, die ich einzunehmen habe, sondern auf die Güte und
bewundernswürdige Gnade dessen gerichtet sein, der uns der
Bewahrung des Heiligen Geistes anvertraut hat. Un d sicher
wird der Heilige Geist, wenn wir uns Ihm demütig unterwerfen,
einen jeden die Handlung und den Platz anweisen, die für ihn
passen, ohne daß eine fieberhaft aufregende Vorbereitung in
uns stattfinden muß. Jeder Christ ist nur ein Teil des Leibes
Christi, und wenn die Korinther dieses zu begreifen und zu
verwirklichen vermocht hätten, so würde sicher der, welcher
mit Speise versehen war, auf die, welche keine Speise hatten,
gewartet und die Speise mit ihnen geteilt haben. Ebenso werde
ich, wenn meine Seele die kostbare Einheit des Leibes verwirklicht und ich den niedrigen Platz eines Einzel-Gliedes einnehme, mich in der Versammlung vor übereiltem Sprechen
hüten, wodurch andere Heilige verhindert würden, es zu tun.
Wenn ich fühle, daß ich im Auftrage des Herrn ein Wort zu
reden oder irgend einen Dienst auszuüben habe, so sollte ich
mich dennoch stets daran erinnern, daß andere ebenfalls einen
gleichen Ruf vom Herrn erhalten haben können, und sicher
werde ich ihnen dann nicht im Wege stehen. Vor allem aber
sollte ich, wenn irgend ein Bruder bereits sein Buch geöffnet
hat, um einen Abschnitt des Wortes vorzulesen, oder ein Lied
anzugeben, warten, bis er seine Absicht ausgeführt hat, und
ich sollte nicht ihm zuvorzukommen suchen. Die Worte:
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„Wartet aufeinander", kann man hierauf sicher ebensogut anwenden, wie auf das Essen; und in Kapitel 14 werden die
Glieder der Versammlung zu einer solchen gegenseitigen Unterwerfung aufgefordert, daß, selbst wenn einer der Propheten
unter ihnen redete und der andere eine neue Offenbarung
empfing, der erste „schweigen" sollte. Überhaupt würde, wenn
wir unseren Platz an dem Leibe und die Einheit des Leibes
besser verwirklichten, das Wort: „Jeder Mensch sei schnell zum
Hören, langsam zum Reden", (Jak 1, 19.) uns leiten, aufeinander zu warten.
Erinnern wir uns stets daran, daß der Zweck unserer Zusammenkunft die Erbauung ist. Wir finden dies deutlich in
1. Kor 14. In Kapitel 12 haben wir den Leib Christi. Er ist
Christo als Seinem Herrn unterworfen und ist hienieden, kraft
der Innewohnung und Wirkung des Heiligen Geistes, der
Zeuge dieser Oberhoheit Christi, welcher jedem insbesondere
Seine Gaben austeilt, wie Er will. Dieses Kapitel schließt mit
der Bezeichnung der verliehenen Gaben, als Apostel, Propheten
usw., die Gott in ihren verschiedenen Stellungen zum Nutzen
und Dienst des ganzen Leibes in der Kirche eingesetzt hat. Es
wird uns anempfohlen, „um die größeren Gnadengaben zu
eifern"; aber in Kapital 13 wird uns ein vortrefflicherer Weg
gezeigt, und das ist die Liebe, ohne welche die herrlichsten
Gaben nichts sind, und welche die Ausübung der Gaben leiten
muß, wenn überhaupt die Erbauung das Resultat sein soll.
Und hierüber handelt das 14. Kapitel. Da die Gabe der Sprachen in den Augen der Menschen die meiste Bewunderung
erregte, so zeigte sich bei den Korinthern in hohem Grade die
Sucht, sie zur Schau zu tragen. Statt der Liebe, die die Auferbauung aller sucht, war die Eitelkeit beschäftigt, um glänzende
Talente zu zeigen. Die Gabe der Sprachen war in der Tat eine
Gabe des Heiligen Geistes; und es ist für uns, geliebte Brüder,
eine ernstlich zu erwägende Sache, wenn wir sehen, daß die in
den Gaben für den Dienst geoffenbarte Macht des Geistes getrennt sein kann von der lebendigen Leitung desselben Geistes
in der Ausübung dieser Gaben. Diese Leitung kann nur da
gefühlt werden, wo das Ich beiseitegesetzt ist, wo Christus
alles für die Seele ist. Der Zweck des Heiligen Geistes ist nicht,
die armen irdischen Gefäße, die im Besitz Seiner Gaben sind,
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zu ehren, sondern durch die Auferbauung Christum selbst zu
verherrlichen, der diese Gaben darreicht, damit die Empfangenden mit Gnade, Demut und Verzichtleisten auf sich selbst
davon Gebrauch machen sollen. Wie herrlich tritt bei dem
Apostel Paulus dieses Verzichtleisten auf seine eigene Person
in den Vordergrund! Im Besitz aller Gaben, blieb er dennoch
aller Prunksucht fern. Und mit welcher Herzenseinfalt war er
bemüht, seinen Herrn zu verherrlichen und die Heiligen zu
erbauen! „Ich danke Gott, ich rede mehr in einer Sprache, als
ihr alle. Aber in der Versammlung will ich lieber fünf Worte
reden mit meinem Verstände, auf daß ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in einer Sprache." (1. Kor. 14,
18 — 19.) — Welche Kraft haben die aus der Feder eines solchen
Mannes hervorkommenden Worte des Heiligen Geistes: „Alles
geschehe zur Erbauung." (1. Kor 14, 26.) „Also auch ihr, da
ihr um geistliche Gaben eifert, so suchet, daß ihr überströmend
seid zur Erbauung der Versammlung." (1. Kor 14, 12.)
Vor allen Dingen muß jeder Diener, um treu zu sein, nach den
Vorschriften seines Herrn und Meisters handeln. Es kann nicht
genug hervorgehoben werden, daß, wenn ich in der Versammlung der Heiligen tätig sein will, nichts weniger zum Antriebe
dazu nötig ist, als die vollkommene und ernste Überzeugung
in meiner Seele und vor Gott, daß dieses der wirkliche Auftrag
und Wille meines Herrn ist. „Denn ich sage durch die Gnade,
die mir gegeben ist, jedem, der unter euch ist, nicht höher von
sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern so zu
denken, daß er besonnen sei, wie Gott einem jeden das Maß
des Glaubens zugeteilt hat." (Röm 12, 3.) Das mir von Gott
verliehene Maß des Glaubens soll das Maß von dem sein, was
ich tue; und Gott wird dafür sorgen, daß Seine Diener, indem
Er ihnen das Maß des erforderlichen Glaubens darreicht, das
tun können, was sie nach Seinem Willen tun sollen. Eine feste
und aufrichtige Überzeugung, daß es so der Wille Gottes ist,
kann also allein mich ermächtigen, als Sein Diener sowohl in
der Versammlung als auch anderswo tätig zu sein.
Da nun aber mit diesem Grundsatz Mißbrauch getrieben werden könnte, so hat Gott auch hier durch jene Vorschrift vorgebeugt, die wir in der Stelle finden: „Propheten aber laßt
zwei oder drei reden, und die anderen laßt urteilen." (1. Kor
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14, 29.) Das wird ein Zügel gegen derartige Mißbräuche in der
Versammlung sein. Zunächst ist es an mir, zu beurteilen und
zu wissen, ob der Herr mich beruft, zu reden oder auf irgend
eine andere Weise in der Versammlung tätig zu sein, aber
nachdem ich geredet oder gehandelt habe, ist es an meinen
Brüdern zu urteilen; und in den meisten Fällen werde ich mich
ihrem Urteil unterwerfen müssen. Es wird in der Tat eine
höchst seltene Erscheinung sein, daß sich ein Diener Christi
ermächtigt fühlt, in seinem Wirken fortzufahren, wenn dieses
von seinen Brüdern mißbilligt wird. Wenn Gott mich beruft,
zu reden oder zu beten in den Versammlungen, vorausgesetzt,
daß meine Überzeugung, berufen zu sein, von Ihm ist, so ist
es klar, daß es Ihm ebenso leicht ist, die Herzen der Heiligen
zu lenken, daß sie meinen Dienst anerkennen und sich mit
meinen Gebeten zu vereinigen, wie es Ihm leicht ist, mein
eigenes Herz zu einem solchen Dienst fähig zu machen. Wenn
es wirklich der Geist ist, der mich zum Wirken antreibt, so
wohnt der Geist auch in den Heiligen; und in neunundneunzig
Fällen unter hundert wird der Geist in den Heiligen durch
irgend einen Bruder auf meinen Dienst antworten. Wenn ich
daher wahrnehme, daß mein Wirken in den Versammlungen,
anstatt die Heiligen zu erbauen, für sie eine Last ist, so muß
ich daraus schließen, daß ich mich in betreff meiner Stellung
täusche und daß ich nicht berufen bin, also tätig zu sein. Gesetzt nun aber, daß nicht der Zustand eines wirkenden Bruders, sondern der der Versammlung der Grund wäre, daß sein
Dienst eine Zeitlang nicht gebilligt wurde, gesetzt, daß dieser
Bruder weit geistlicher wäre als die Versammlung, so daß
diese seinen Dienst weder verstehen noch würdigen könnte!
In diesem höchst seltenen Falle würde dieser Diener Christi
sich vielleicht prüfen müssen, ob er nicht etwas zu lernen habe,
um zu sein, wie sein Herr und Meister, der lehrte und „das
Wort zu ihnen richtete, wie sie es zu hören vermochten",
(Mark 4, 33.), oder ob er nicht etwa der Gesinnung des Paulus
bedürfe, der sagen konnte: „Wir sind in eurer Mitte zart gewesen, wie eine nährende Mutter ihre eigenen Kinder pflegt,"
(1. Thess 2, 7.) und wieder: „Ich habe euch Milch zu trinken
gegeben, nicht Speise; denn ihr vermochtet es noch nicht; aber
ihr vermöget es auch jetzt noch nicht." (1. Kor 3, 2.) — Wenn
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nun aber, trotz dieser mit Sorgfalt und Einsicht geübten Zartheit, der Dienst dieses Bruders auch fernerhin nicht anerkannt
wird, so wird das sicher eine Prüfung für seinen Glauben sein.
Aber dennoch würde es, da die Erbauung der Zweck jedes
Dienstes ist, und die Heiligen unmöglich durch einen Dienst,
der sich ihrem Gewissen nicht empfiehlt, erbaut werden können, ohne Nutzen sein, ihnen einen solchen Dienst aufzubürden, abgesehen davon, ob der Zustand des einen Bruders oder
der Versammlung die Schuld der Nicht-Anerkennung trägt.
Der allgemeine Zustand der Schwäche oder der Krankheit
eines Körpers kann die Verrenkung eines Gelenkes herbeiführen; in einem solchen Falle würde man dadurch, daß man
das verrenkte Glied zur Erfüllung seiner Verrichtungen zwingen wollte, den Zustand des Körpers keineswegs verbessern.
Daß dieses Glied nicht tätig sein kann, ist freilich beklagenswert; aber der einzige Weg, es wieder herzustellen, wird sein,
daß man ihm volle Ruhe gewährt, während man durch andere
Mittel die Genesung des Körpers zu fördern strebt. Ebenso
verhält es sich in dem von uns angeführten Falle. Die Ausübung eines Dienstes da fortsetzen zu wollen, wo er, selbst
wegen des schlechten Zustandes der Versammlung, nicht anerkannt wird, würde zu den traurigen Erscheinungen nur noch
Verwirrung hinzufügen und sie dadurch verschlimmern. Der
Diener des Herrn wird finden, daß es dann weise ist, zu
schweigen, oder, sollte sein Herr ihm in dieser Weise Seinen
Willen kund tun, anderswo seinen Dienst auszuüben.
Andererseits, geliebte Brüder, laßt Euch ernstlich vor jener
Schlinge warnen, die Satan in seiner List so gern zu unserem
Schaden zu legen sucht, nämlich vor dem Geiste lieblosen
Kritisierens über das, was in der Versammlung vorfällt. Die
Anstrengungen des Feindes gehen immer dahin, uns von einem
Extrem ins andere zu treiben. Wenn wir nämlich zu einer Zeit
durch Gleichgültigkeit gesündigt haben, indem wir für das,
was in der Versammlung geschah, fast kein Auge hatten, so
ist es oft mehr als wahrscheinlich, daß wir zu einer anderen
Zeit gerade der entgegengesetzten Klippe zusteuern. Der Herr
wolle uns in Seinem Erbarmen davor bewahren! Nichts zeigt
so sehr einen beklagenswerten Zustand an, und nichts kann so
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sehr der Segnung hemmend in den Weg treten, als ein Geist
lieblosen Richtens und Kritisierens. Wir versammeln uns, um
Gott anzubeten, und um uns einander zu erbauen, und nicht
in der Absicht, um einen wirkenden Bruder zu beurteilen und
um zu entscheiden, ob ein solcher Bruder seinen Dienst in
einer fleischlichen Weise ausübt und ob ein anderer durch den
Geist betet. Wenn das Fleisch sich offenbart, ist es nötig, daß
es gerichtet wird; aber es ist eine traurige und demütigende Sache,
es in der Versammlung unterscheiden und richten zu müssen,
anstatt uns, was unser glückseliges Vorrecht ist, der Fülle unseres göttlichen Herrn und Heilands zu freuen. Hüten wir uns
daher vor dem Geiste des Richtens! Es gibt sowohl geringe als
mehr hervorragende Gaben; und wir kennen den, der den
Gliedern des Leibes, die uns die schwächeren zu sein scheinen,
eine um so reichlichere Ehre verleiht. Die Handlungen eines
Bruders in der Versammlung sind nicht geradezu alle fleischlich, weil er bis zu einem gewissen Punkte fleischlich wirksam
ist; und in dieser Beziehung würde es für uns alle von Nutzen
sein, die Worte eines der geachtetsten Diener des Herrn unter
uns ernstlich zu erwägen. „Es ist vor allen Dingen nötig", sagt
er, „daß wir zunächst die Natur unserer Gabe prüfen, und dann
ihr Maß. Was das Maß betrifft, so glaube ich, daß manche
Gabe nicht anerkannt wird, weil der Bruder, der sie empfangen
hat, bei deren Ausübung das Maß überschreitet. „ .. . es sei
Weissagung, so laßt uns weissagen nach dem Maß des Glaubens". (Röm 12, 6.) Alles was außerhalb dieser Grenzen liegt,
ist vom Fleisch. Der Mensch stellt sich dann in den Vordergrund; die Sache wird gefühlt und die Gabe verworfen, weil
der wirkende Bruder sich nicht mit dem Maße seiner Gabe
begnügt hat. Weil aber sein Fleisch wirkt, so darf man sich
nicht wundern, daß das, was er sagt, als fleischlich verworfen
wird. Ebenso verhält es sich bezüglich der Natur der Gabe.
Wenn ein Bruder, der eine Gabe des Ermahnens hat, zu lehren
beginnt, so wird es sicher an der Erbauung mangeln. Ich
möchte sehr wünschen, daß jeder Bruder, der im Dienst des
Wortes tätig ist, auf diese Bemerkung sein Augenmerk richtete,
weil vielleicht bei dem Mangel an Treue seiner Zuhörer kein
anderes Mittel vorhanden ist, um in dieser Beziehung klar zu
werden.
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Diese Worte sind zunächst an solche gerichtet, die einen Dienst
ausüben; aber ich führe sie hier an, damit wir, geliebte Brüder,
nicht alles, was ein Bruder redet oder tut, als fleischlich bezeichnen, weil wir darin irgend etwas Fleischliches erblicken.
Laßt uns mit Dank alles anerkennen, was vom Geiste ist, indem wir es, selbst in dem Dienst und den Handlungen einer
und derselben Person, von jeder anderen Sache unterscheiden!
Es gibt noch zwei oder drei kleine Einzelheiten, die ich hier in
der Einfalt brüderlicher Liebe kvirz zu berühren wünsche. Zunächst möchte ich die Aufmerksamkeit meiner Leser auf die
Austeilung des Brotes und Weines am Tisch des Herrn lenken.
Einerseits wäre es sehr wünschenswert, wenn Brot und Wein
nicht beständig und ausschließlich von denselben Brüdern ausgeteilt würde, als ob ein kirchlicher Unterschied vorhanden sei;
aber andererseits finde ich nichts in der Schrift, das irgend
einen Bruder ermächtigen könnte, das Brot zu brechen oder
den Kelch darzureichen, ohne die Danksagung darzubringen.
In Mt 24, 26. 27; Mk 14, 22. 23; Lk 22, 19 und 1. Kor
11, 24 wird uns gesagt, daß der Herr danksagte, als Er das
Brot brach und den Kelch nahm; und in 1. Kor 10, 16 wird
uns der Kelch, als der Kelch der Segnung und der Danksagung
bezeichnet. Wenn nun die Heilige Schrift unser Führer sein
soll, ist es dann nicht augenscheinlich, daß der, welcher das
Brot bricht und den Kelch nimmt, auch zu gleicher Zeit die
Danksagung verrichten muß? Und wenn nun jemand unter
uns sich zur Danksagung unfähig fühlt, sollte das nicht für
ihn eine Ursache sein, sich zu fragen, ob er berufen sei, das
Brot und den Wein auszuteilen?
Ferner sollten wir alle betreffs der Aufsicht und der Leitung in
den Versammlungen sowie betreffs der so notwendigen Befähigungen derer, die inmitten der Heiligen irgend einen
Dienst ausüben, die Kap. 1. Tim 3 und Tit 1 mit betendem
Herzen betrachten. Das erste dieser beiden Kapitel enthält in
Vers 6 etwas ganz Besonderes, und es kann für uns alle von
großem Nutzen sein, uns daran zu erinnern: „Nicht ein Neuling, damit er nicht, aufgebläht, ins Gericht des Teufels verfalle." Es kann der Fall sein, daß sich die Berufung Gottes und
die Gabe Christi/ wie im Alten Testament bei Jeremias, bei
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einem jugendlichen Mann wie Timotheus finden, und die an
Timotheus gerichteten Worte: „Niemand verachte deine Jugend", würden in einem solchen Fall auch jetzt am Platze
sein. Aber die Worte: „Nicht ein Neuling", waren gerade an
Timotheus gerichtet. Seine Jugend sollte keineswegs für solche
ein Anlaß zum Wirken sein, in denen sich weder die Gnade
noch die Gabe fand, die ihm zuteil geworden waren. Schon das
Gefühl natürlicher Schicklichkeit verlangt es, daß ein Jüngling
weit eher den Platz der Unterwürfigkeit als den des Regierens
einnimmt. Wir finden im ersten Brief Petri in dieser Beziehung
eine vortreffliche Ermahnung, die leider, wie mir's scheint, nicht
genug beherzigt wird. „Gleicherweise ihr Jüngeren seid den
Älteren unterwürfig; alle aber seid gegeneinander mit Demut
fest umhüllt; denn Gott widersteht den Hochmütigen, den
Demütigen aber gibt er Gnade." (1. Petr 5, 5.)
Möge der Herr in Seiner Gnade uns allen geben, geliebte Brüder, daß wir in Demut vor Ihm wandeln, auf daß unsererseits
nichts das Werk des Heiligen Geistes in unserer Mitte hemme
und störe!
*
Der Herausgeber dieser Briefe erlaubt sich noch, einige kurze
Bemerkungen beizufügen.
1. Wenn ein Bruder in der Versammlung betet und sich an
Gott wendet mit den Worten: „Mein Gott!" so hat ihm sicher
der Heilige Geist diese Worte nicht eingegeben. Wir sollten
uns stets erinnern, daß der Geist an diesem Platze niemanden
antreibt, persönlich für sich zu beten, sondern, daß Er den
Betenden, als den Mund der Versammlung, mit allen Brüdern
auf den gleichen Boden stellt.
2. Wenn ein Gebet oder eine Danksagung lange Darstellungen
bestimmter Lehren enthält, so kann ich auch darin keineswegs
eine Wirkung des Heiligen Geistes erkennen. Wer betet, redet
mit Gott und nicht mit seinen Brüdern; und es geziemt uns
durchaus nicht, Gott eine Predigt zu halten.
3. Ich bezweifle es, daß die Handlungen beim Gottesdienst,
die immer nach derselben Ordnung geschehen, sich stets der
Leitung des Geistes erfreuen. Will es z. B. der Heilige Geist,
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daß jede Versammlung durch ein Gebet geschlossen werde,
ohne welches es niemand wagen dürfte, sich zu erheben, um
nach Hause zu gehen? Ohne Zweifel ist ein Schlußgebet jedenfalls passend und an seinem Platze, wenn Gott es ist, der es
eingibt. Ist dies aber nicht der Fall, so ist das Gebet eine armselige Form, die nicht mehr Wert hat als eine Liturgie.
Die goldenen Fäden
2. Mose 39, 3.
„Und sie plätteten Goldbleche und man zerschnitt sie zu Fäden, zum Verarbeiten unter den blauen und unter den roten
Purpur, und unter den Karmesin und unter den Byssus."
In dem „gezwirnten Byssus" haben wir ein Vorbild von der
fleckenlosen Menschheit des Herrn Jesu Christi; und in den
„goldenen Fäden" ein ebenso treffendes und schönes Vorbild
von Seiner Gottheit. Der Geist Gottes liebt es, in dieser Weise
die Person und das Werk Christi darzustellen. Jedes Vorbild,
jede Figur, jede Ordnung der mosaischen Gebräuche, alles
duftet von dem Wohlgeruch Seines kostbaren Namens. Wie
scheinbar unbedeutend der eine oder andere Umstand auch
sein mag, so ist er nach dem Urteil des Heiligen Geistes dennoch unaussprechlich köstlich, wenn er nur irgend etwas von
Christo ausdrückt.
Der „blaue und der rote Purpur, der Karmesin und der Byssus"
stellen die verschiedenen Züge der vollkommenen Menschheit
Christi dar; aber die Weise, in welcher der goldene Faden
unter diese Stoffe, aus denen das Priesterkleid Aarons bestand, gewirkt wurde, verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Der Faden von Gold wurde so künstlich unter jene
anderen Stoffe gewirkt, daß er mit ihnen unzertrennlich verbunden und dennoch wieder vollkommen von ihnen unterschieden war. — Die Anwendung von all diesem auf den
Herrn Jesus ist von hohem Interesse. In den verschiedenen
Szenen, die uns das Evangelium mitteilt, können wir leicht
62
diese seltene und schöne Vereinigung der Menschheit und
Gottheit, und zu gleicher Zeit das geheimnisvolle Hervortreten der einen und der anderen deutlich erkennen.
Schauen wir z. B. Christus auf dem See Genezareth. Mitten
im Sturm war Er „auf einem Kopfkissen eingeschlafen." Welch
herrliches Bild von Seiner vollkommenen Menschheit! Aber
im nächsten Augenblick erscheint Er in der ganzen Größe Seiner
Majestät und Gottheit; und als der unumschränkte Beherrscher des Weltalls stillt Er den Wind und beruhigt den See.
Betrachten wir Ihn ferner in dem Falle, wo sich die Einnehmer
der Doppeldrachme an Petrus wenden. Als der höchste Gott,
der Besitzer des Himmels und der Erde, legt Er Seine Hand
auf die Schätze des Meeres und sagt: „Sie sind mein!" und
nachdem Er erklärt hat, daß Ihm das Meer gehört, verändert
Er plötzlich Seine Sprache und verbindet Sich, Seine vollkommene Menschheit offenbarend, mit Seinem armen Jünger
durch die rührenden Worte: „Diesen nimm und gib ihn für
mich und dich." — Welche gnadenreichen Worte.
Richten wir ferner unseren Blick auf Ihn am Grabe des Lazarus. Er seufzt und weint; diese Seufzer und Tränen dringen
aus den Tiefen einer vollkommenen Menschheit hervor. Dann
aber erhebt Er als die Auferstehung und das Leben Seine
Stimme zu dem Ruf: „Lazarus, komm heraus!" — Beides —
Seine Gottheit und Seine Menschheit — tritt hier in voller
Klarheit vor uns.
Und noch viele andere Szenen des Evangeliums könnten als
Erläuterung der Verbindung der goldenen Fäden mit dem
„blauen und roten Purpur, dem Karmesin und dem Byssus"
dienen; und das ist die Verbindung der Gottheit mit der
Menschheit in der geheimnisvollen Person des Sohnes Gottes.
Es ist für unsere Seelen stets nützlich, mit dem Herrn Jesus,
als dem wahrhaftigen Gott und dem wahrhaftigen Menschen
beschäftigt zu sein.
O möchten doch unsere Herzen solche Belehrungen zu schätzen wissen! Nichts vermag die Frische des geistlichen Lebens
zu erhalten, als eine stete, ununterbrochene Gemeinschaft mit
der Person Christi.
63
Stromaufwärts
Ein Christ kann in seinem Lauf unmöglich stehen bleiben, denn wir gehen gegen den Strom dieser Welt;
sobald wir stehen bleiben, zieht uns die Strömung notwendigerweise mit sich fort. Fährt man mit dem Strom, so ist es
nicht nötig zu rudern, man kommt von selbst, und zwar sehr
rasch vorwärts; aber ein Abgrund ist das Ziel. Um gegen den
Strom zu fahren, muß man beständig rudern, blickt man aber
nach oben, so geht's auch von selbst. — Ich stelle mir die
Sache in folgender Weise vor: Der Herr Jesus ist oben bei
der Quelle angekommen und Er zieht das Schiffchen mittels
eines Seils, das nur für das Auge des Glaubens sichtbar ist.
(Vergl. Hebr 6, 11-20 und 12, 1-3. 4 ff.) - Der Heilige Geist
ist mit uns im Schiffchen, Er hält das Steuerruder und spricht
mit uns durch die Heilige Schrift von der herrlichen Person
Jesu, von den Freuden und Herrlichkeiten, die wir am Ziel der
Reise finden werden. (Joh 14, 15-20. 25. 26; 16, 12—15 und
1. Joh 2, 20. 27).
So lange nun unser Auge auf Jesum gerichtet ist, sehen wir,
wie straff das Seil angezogen ist, um uns zu ziehen; unsere
Ohren merken auf die köstlichen Worte, die unser Steuermann
uns sagt; und durch diese beiden Mittel unterstützt, bewegen
wir die Ruder, ohne es zu merken. Sie scheinen uns so leicht
wie Federn zu sein; der Weg ist kurz, das Herz glücklich,
alles geht gut. — Sehen wir hingegen rechts oder links vom
Schiffchen auf die Größe der Wellen und die Stärke der
Strömung, so verlieren wir das Seil und Ihn, der es zieht, aus
den Augen; und weil wir uns nach unten gegen das Wasser
bücken, so hindert uns dessen Geräusch, die Worte unseres
Steuermanns zu verstehen. Das aber betrübt Ihn; unsere Arme
lassen die Ruder sinken und unsere Blicke, die ihre Richtung
geändert haben, begegnen den Schiffen, die mit dem Strom
fahren. Diese sind voll gutgekleideter und lustiger Leute, die
uns zurufen: „Kommt mit uns, hier belustigt man sich sehr!"
Ach! wie oft waren wir in Gefahr, in eins dieser Schiffchen
zu springen, wenn der Steuermann uns nicht ergriffen hätte,
64
damit wir das Haupt erheben und unsere Ohren öffnen möchten, um Seine köstlichen Belehrungen über die Person Jesu
und die Dinge, die wir bald sehen werden, zu vernehmen, —
denn die Zeit ist nahe! F. P.
Das Gebet
Die Fürbitte setzt immer voraus, daß wir nahe genug bei Gott
sind, um in den Interessen der Kirche mit Gott zu sein. Das
Interesse, das wir an dem Zustand der Heiligen und an dem
ganzen Leibe — der Kirche — nehmen, ruft Gebet und Fürbitte
bei uns hervor, und ein Ringen, das die Seele mit dem Herrn
Jesu in Seiner Zuneigung für die Kirche aufs innigste vereinigt.
Befinden wir uns für das Wohl der Kirche im Kampfe mit
geistlichen Mächten in himmlischen Oertern, (Eph. 6, 10) so
macht das Gebet den größten Teil des Kampfes aus. Ein
Christ, der in ringendem Gebet über die Angelegenheiten der
Kirche viel mit dem Herrn verkehrt, hat mehr gearbeitet und
Früchte gebracht, als andere durch viele äußere Anstrengungen. Wenn mehr Treue unter uns vorhanden wäre, mehr
wahres Interesse für die Förderung des Glaubens der Heiligen
und für den Fortschritt des Evangeliums, so würde viel mehr
gewirkt werden durch unsere Gebete, als durch unsere Gegenwart und unsere tätige Dazvvischenkunft.
Was läßt mich Interesse nehmen an der Kirche, wenn nicht der
Geist Christi in mir die Quelle ist? Wenn ich das Interesse
verstehe, das Christus für Seine Kirche hat, so wird das die
Wirkung hervorbringen, daß ich mich mit Ihm darüber unterhalte; und Christus antwortet auf meine Gebete, weil Er die
Kirche liebt und sie auf Seinem Herzen trägt. „Er hat die Versammlung geliebt und sich selbst für sie dahingegeben"; Er
nährt und pflegt sie; „denn wir sind Glieder seines Leibes,
von seinem Fleische und von seinen Gebeinen." (Eph 5,
22—33.) Ich sehe die Vertraulichkeit und die heilige Freiheit
mit Jesu in vielen Stellen der Heiligen Schrift dargestellt. Als
Jesus in einem Gesicht den Ananias aufgefordert hatte, einen
Mann namens Saulus von Tarsus zu suchen und ihm die
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Hände aufzulegen, antwortete Ananias: „Ich habe von vielen
von diesem Manne gehört, wieviel Böses er deinen Heiligen
in Jerusalem getan hat. Und hier hat er Gewalt von den
Hohenpriestern, alle zu binden, die deinen Namen anrufen."
(Apg 9, 13—16.) Dieser Zug stellt die Vertraulichkeit des
Herrn Jesu mit den Seinigen, sowie das Interesse ins Licht,
das Er an der Kirche nimmt. — Wir haben noch ein anderes
Beispiel der Vertraulichkeit im Buch der Apostelgeschichte. In
Kap. 23, 11 stellt sich Jesus vor Paulus und sagt ihm: „Sei
gutes Mutes! Denn wie du von mir in Jerusalem gezeugt hast,
so mußt du auch in Rom zeugen." — Ferner spricht Paulus
von einem Kampf, den er für die Treuen zu Kolossä zu bestehen habe. (Kol 2.) Denn jeder Vorteil, den man erlangt,
kann als ein Sieg über den Feind betrachtet werden. Die Wirkung der Macht des Heiligen Geistes ist, die Kirche zu stützen,
damit Satan sie nicht überwinden kann. Wenn die Arme
Moses sanken, so war Amalek der Sieger; und wenn sie gehoben blieben, war Josua der stärkere. So ist es noch jetzt
in unserem Kampf. Israel kämpfte und wußte nichts von diesem Gebetskampf. Wenn es Dinge gibt, die für uns von
Interesse sind, so sieht man Satan sie angreifen. Wenn ich
mich beklage über den, der das Werkzeug des Bösen ist, so
ist das ein Gedanke des Fleisches. Der Geist setzt mich in die
direkte Beziehung zum Herrn, um Ihm zu sagen, wie jener
Hauptmann: „Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht
gesund."
Gedanken
Ein Christ sah ein Gemälde, das den Tod vorstellen sollte.
Der Maler hatte durch ein Skelett, neben dem ein Mann mit
einer Sense stand, den Tod darstellen wollen.
Der Christ bemerkte, daß er den Tod, wenn er ihn bildlich
darstellen sollte, anders malen würde; und auf die Frage,
wie er dies tun würde, antwortete er, daß er einen Mann mit
goldenem Schlüssel malen würde, weil der Tod ihm die Pforten des Lebens aufschlösse!
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Man hört so oft von Gott als dem „lieben Gott" reden,
während Er in der Schrift nie so genannt wird. Die Christen
sollten, dünkt mich, Gott nie anders nennen, als Ihn die
Schrift nennt.
Mancher möchte wünschen, schon jetzt diesen Leib der
Schwachheit nicht mehr zu haben, aber in diesem Falle würde
man vergessen, daß unser jetziger schwacher Zustand nötig
ist, damit die Kraft Gottes darin vollbracht würde.
Der Teufel handelt immer im Gegensatz zu Christo. Er stellt
uns die Sünde als einen Himmel voll süßer Genüsse vor, und
überläßt uns nach der Sünde ihren schmerzlichen Folgen. Der
Herr Jesus warnt uns vor der Sünde als einem Betrug, und
wenn wir uns dennoch vergessen, dann tilgt er die Folgen
der Sünde durch Seine Fußwaschung wieder aus.
„Denn das Leben ist für mich Christus und das Sterben Gewinn." Paulus hat nicht gesagt, daß er wünsche, daß es so
bei ihm sein möchte, sondern er sagt, daß es so bei ihm sei,
und zwar das eine ebenso gewiß wie das andere. Man kann
glauben, daß das Sterben Gewinn ist, ohne sagen zu können,
daß das Leben für mich Christus ist. Philipper 1, 21.
Unmöglich — möglich
Wenn wir unsere Blicke auf die vielen Erfindungen richten, die
seit einem halben Jahrhundert in die Erscheinung getreten sind,
und noch von Tag zu Tag durch neue vermehrt werden, so
müßte man fast sagen, daß für die Welt nichts Unmögliches
mehr besteht. Was noch vor drei Jahren als ein Hirngespinst
erschien, gehört jetzt schon zu den alltäglichen Dingen; was
noch vor einem halben Jahrhundert als ein Wunder betrachtet
wurde, wird jetzt bereits wieder als unvollkommen beiseitegestellt; was ehemals als unmöglich bezeichnet wurde, ist jetzt
möglich geworden. Das Neue verdrängt im Fluge das Alte. Wo
irgend eine Idee auftaucht, da sind gleich Menschenhände dabei, sie auszuführen.
67
Aber wie sehr es auch den Nachkommen Kains geglückt sein
mag, die Welt zu verschönern und sie mit allem, was den
Sinnen gefällt, zu versehen, und wie viele Denkmäler ihnen
auch für ihre Werke errichtet sein mögen, so gibt es doch
eine Sache, die für sie unmöglich ist, zu erlangen. Alle Anstrengungen der Menschen bis zu diesem Augenblick sind an ihr
gescheitert; für die Errettung der Seele haben sie kein Mittel
ausfindig zu machen gewußt, um sich dieser Sache rühmen zu
können. Die Wissenschaft, die Weisheit der Menschen brüstete
sich von jeher sehr; und mit gespannter Aufmerksamkeit
lauschten Tausende auf ihre hochklingenden Aussprüche in der
sehnlichsten Erwartung, etwas unter ihren aufgeschichteten
Schätzen betreffs dieser wichtigen Frage zu entdecken. Aber
ach! unmöglich vermochte die Weisheit dieser Welt Gott in
Seiner Weisheit zu erkennen; man verwarf das Licht, das Gott
vom Himmel sandte; man kreuzigte den Herrn der Herrlichkeit, man tappte umher in der tiefsten Finsternis. Zwar richtete
man unzählige Systeme auf; aber keines war imstande, über
die Frage der Ewigkeit Licht zu verbreiten; keines konnte dem
Gewissen Ruhe, wahre Ruhe geben in der Stunde des Todes.
Wie viel Neues die Weisheit daher auch hervorgerufen haben
mag, so hat sie es doch nicht dahin gebracht, den Boden der
Unsicherheit, auf dem die Füße ihrer Anhänger gestellt sind,
zu zertrümmern und durch ein unerschütterliches Fundament
zu ersetzen. Hätte die Frage der Jünger: „Wer kann dann
errettet werden?" ihr Ohr berührt, sie hätten zu allen Zeiten
nur die Antwort geben können: „Bei Menschen ist dies unmöglich." (Mt 19, 25-26.)
In der Tat, der Mensch mag die überraschendsten Erscheinungen zutage fördern; aber eine einzige Seele in den Himmel zu
bringen, das überschreitet weit die Grenzen seiner Macht. Sobald er mit seiner Weisheit dieses Gebiet betritt, wird seine
Ohmacht und Unwissenheit bloßgestellt. Ach! sowohl die
klaren Zeugnisse der Heiligen Schrift, als auch die täglichen
Erfahrungen aller Menschen, die selig zu werden wünschen, beweisen es unzweideutig, daß alle eigenen Anstrengungen des
Menschen nutzlos und eitel sind. Sie sind nichts als tote Werke
und verraten es mit ganzer Deutlichkeit, daß der arme Mensch
in seinem Stolze dem Zeugnisse Gottes nicht glaubt. Und ist
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es nicht genug, wenn der Herr Jesus selbst betreffs der Errettung die Worte sagt: „Bei Menschen ist dies unmöglich"? Die
Jünger schenkten diesem Wort, ohne Einrede dagegen zu erheben, völligen Glauben; denn Petrus sagte: „Siehe, wir haben
alles verlassen und sind dir nachgefolgt; was wird uns nun
werden?" O, möchten doch alle, in deren Herzen ein Verlangen
nach Errettung durch die Gnade geweckt worden ist, gleich
diesem Jünger mit einfältigem Herzen dem Worte des Herrn
glauben!
Glaubst Du, mein teurer Leser, daß es „bei Menschen unmöglich ist"? Glaubst Du, daß alle Deine Arbeit ohne Frucht bleibt,
und daß alles, was Du zur Erlangung Deiner Seele anwendest,
Dich um keinen Schritt näher bringt? Ja, das Wort: „Bei
Menschen ist dies unmöglich", ist sicher nicht geeignet, den
Menschen in seinem Wahn und in seinem Hochmut zu stärken;
denn wie weit er es auch in seinen Künsten und Wissenschaften im Reich der Natur gebracht haben mag, so zeigt er
doch in dieser Beziehung nichts als Ohnmacht und Unwissenheit. Hier wird er seines ganzen Ruhmes entkleidet; und während er in fieberhafter Anstrengung bemüht ist, sich durch
sein Tun ein Anrecht auf den Himmel zu erwerben, ruft ihm
eine Stimme zu: „Halt! Alle deine Werke nützen nichts; alle
Deine Bestrebungen, Anstrengungen und Spendungen sind
eitel und wertlos in den Augen Gottes!" — O, wie manchem,
dessen Gewissen durch diese Worte erschüttert wird, entsinkt
die Stütze, auf die er sich lehnte und die er als untrüglich
erachtete, wie mancher sieht sein Gebäude, an dem er seither
mit so vieler Mühe gearbeitet hat, in Trümmer stürzen, wie
mancher, der bisher Trost fand in dem Gedanken, nicht mehr
fern vom Reiche Gottes zu sein, sieht sich auf einmal zurückgesetzt, ohne Hoffnung, ohne Gott!
Der reiche Jüngling im Evangelium, der in der Meinung zu Jesu
gekommen war, daß noch irgend etwas, um das ewige Leben
zu erlangen, getan werden könnte, ging betrübt hinweg, als er
vernahm, daß er trotz all seines Tuns und trotz Beobachtung der
Gebote nicht vollkommen sei. Er hatte in der Tat vieles getan.
Er konnte sagen: „Alles dieses habe ich beobachtet von meiner
Jugend an." Und hätte es für ihn noch etwas zu tun gegeben,
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um für sein Herz mehr Sicherheit und Gewißheit betreffs des
ewigen Lebens zu erlangen, so würde er es willig ausgeführt
und den an ihn gestellten Anforderungen mit eigener Aufopferung genügt haben. Die Jünger selbst waren darüber verwundert, daß jemand, der so vieles getan hatte, noch nicht
sagen konnte, daß er errettet sei. Das zeigt uns unzweideutig
die Frage: „Wer kann dann errettet werden?" Ach! „bei Menschen ist dies unmöglich." Und ist dies eine Wahrheit in
bezug auf jemand, der brav und tugendhaft war, der sich
kühn seiner Treue betreffs der Beobachtung der Gebote
rühmen konnte, ach! wie viel mehr ist es dann anzuwenden auf die, die sich nicht dieser Dinge rühmen könne, sondern sich vielmehr den Sündern und Übertretern beizählen müssen, auf solche, die sich, hinschauend auf ihr Leben,
schuldig fühlen gegenüber den Geboten Gottes, und die bei
dem Gedanken an das gerechte Gericht zitternd zurückschrecken.
Es ist wahr, daß es in dem äußeren Leben und Wandel einen
Unterschied gibt, daß der eine Mensch sittlicher und ehrbarer
wandelt als der andere; und sicher ist dies, insoweit es sich
auf das Leben auf Erden bezieht, beachtenswert. Aber in bezug
auf das ewige Leben fällt unter den Menschen jeder Unterschied weg. Alle stehen vor derselben geschlossenen Tür.
Hunderte und Tausende mögen es versuchen, sie zu öffnen, —
sie wird geschlossen bleiben. Für alle heißt es: „Bei Menschen
ist dies unmöglich." Kein Gebet, keine Träne, keine Reue,
keine Tugend, nein, nicht der höchste Grad der Sittlichkeit
kann sie öffnen. Schrecklich, aber wahr! Pharao mit seinem
Heer hinter ihm, das Rote Meer vor ihm, das ist die traurige
Lage des Menschen. Und so unmöglich es für den Israeliten
war, das Rote Meer durchschreiten zu können, so unmöglich
ist es für den Sünder, sich die Tür des Himmels zu öffnen.
Hast Du wohl einmal mit Ernst über diese Dinge nachgedacht,
mein teurer Leser? Dann wirst Du auch sicher, angesichts
Deines trostlosen Zustandes von Natur, mit Angst und Schmerz
an Deine Brust geschlagen haben. Alle Hoffnungen auf Rettung, sobald es sich um das Tun des Menschen handelt, ist
verschwunden. Vergeblich sucht er einen Ausweg, vergeblich
strengt er sich an, seine Füße aus dem Schlamm der Sünde
70
herauszuziehen; von allen Seiten tönt ihm das Wort entgegen:
„Bei Menschen ist dies unmöglich."
Aber siehe! für Israel durchbrach ein Lichtstrahl die Finsternis.
Gott, der den Notschrei des armen Volkes vernommen hatte,
kam hernieder und spaltete die Fluten des Roten Meeres. Ein
Pfad wurde gebahnt, damit das Volk der Macht des gewaltigen
Feindes entrinnen konnte; und die Fliehenden, die soeben noch
vergeblich einen Ausweg gesucht und geschrieen hatten: „Unmöglich! Unmöglich!" — empfingen jetzt die Botschaft: „Aber
bei Gott sind alle Dinge möglich." Das was unmöglich war, ist
möglich geworden. Welch kostbare Wahrheit!
Es ist wahr, jeder natürliche Mensch ist in der Gewalt des
Fürsten dieser Welt, und zu seinen Füßen wälzen sich die
Wellen des Todes. Was kann er tun, um der Macht eines
solchen schrecklichen Feindes und dem Zorn eines gerechten
Gottes zu entfliehen? Nichts. „Bei Menschen ist dies unmöglich." Aber Gott in Seiner Gnade konnte etwas tun; denn „bei
ihm sind alle Dinge möglich". Und Er hat für den Sünder
einen Weg zum Entrinnen bereitet; Er hat das Unmögliche
möglich gemacht, Er gab Seinen Sohn. Jesus ist der Weg, die
Wahrheit und das Leben; Er kam auf die Erde, starb am
Kreuze, verließ das Grab, fuhr auf gen Himmel und rief den
Seinigen zu: „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten."
Durch Ihn ist der Himmel zugängig gemacht; Er hat die Tür
geöffnet. Jetzt kann niemand sagen: „Es ist unmöglich." Aber
es ist nur möglich durch Jesum. Für die Kinder Israel gab es
nur einen Weg zum Entrinnen; es war der Weg, den Gott
gebahnt hatte. Jeder Unterschied war zu Boden gefallen. Und
ebenso verhält es sich jetzt mit den Sündern. Vor Gott stehen
sie alle auf gleichem Boden, sowohl der Mörder am Kreuz, der
sein Leben in Sünden zugebracht hatte als auch der reiche
Jüngling, der sagen konnte: „Alles dieses habe ich beobachtet
von meiner Jugend an." Für beide galt das Wort: „Bei Menschen ist dies unmöglich." — Und dennoch entdecken wir in
ihnen einen bedeutenden Unterschied. Der Mörder am Kreuz
erkannte, daß es ihm unmöglich sei, errettet zu werden; darum
wandte er sich an Jesum, der ihm mit den Worten entgegenkam: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Der reiche
Jüngling kam zwar ebenfalls zu Jesu, aber nicht mit dem
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Bedürfnis, Gnade zu empfangen, und nicht mit der Überzeugung, daß es ihm unmöglich sei, errettet zu werden; und
darum ging er betrübt hinweg.
Mit einem Worte, mein teurer Leser: So lange der Mensch
denkt, es sei ihm Rettung „möglich", sagt Gott: „Unmöglich";
aber sobald der Mensch im Gefühl seines Unvermögens sagt:
„Unmöglich"; ruft ihm Gott mit Macht zu: „Möglich." Ja, bis
zu diesem Punkt der Hoffnungslosigkeit muß es mit dem
Menschen kommen; erst dann öffnen sich die Arme Jesu, um
den Verlorenen aufzunehmen, um ihm zu zeigen, daß das bei
den Menschen Unmögliche bei Gott möglich ist.
Ruhe für das Herz
„Seid um nichts besorgt; sondern in allem lasset durch Gebet
und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kund werden; und der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt,
wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christo Jesu."
(Phil 4, 6. 7.) Fürwahr, das gibt dem Herzen wahre Ruhe! In
welchen Umständen wir uns auch befinden, welche Sorgen
unser Herz auch erfüllen mögen — der Herr, unser Gott, fordert uns auf, zu Ihm unsere Zuflucht zu nehmen. Er ist völlig
bereit und auch mächtig genug, alles auf Sich zu nehmen. In
Seiner zärtlichen Liebe gegen uns will Er mit uns tauschen. Er
will unsere Sorgen nehmen und uns Seinen Frieden geben.
Welch ein herrlicher Tausch! O, wie unaussprechlich gut ist Er!
Er will nicht, daß eine einzige Sorge unser Herz beschweren
soll. Er will, daß unser Herz ebenso frei von Sorgen sein
soll, wie unser Gewissen frei ist von Schuld. Anstatt unserer
Sünde gab Er uns Seine Gerechtigkeit, und anstatt unserer
Sorgen will Er uns Seinen Frieden geben.
Mit welch einer anbetungswürdigen Güte ist doch der Herr
mit uns beschäftigt! Er bemüht Sich mit unseren Torheiten
und Mängeln, um uns davon zu befreien, und Er bemüht Sich
mit unseren Sorgen und Kümmernissen, um uns davon zu
entlasten und unsere Herzen mit Seinem seligen Frieden zu
erfüllen. Er sagt uns ausdrücklich und in einer für jeden deutlichen Sprache: „Gib mir deine Sorgen, welcher Art sie auch
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sein mögen, ob klein oder groß, ob sie auf dein persönliches,
häusliches oder öffentliches Leben Bezug haben; gib sie mir,
und ich will dir dafür meinen Frieden geben, der jede Vernunft übersteigt." Herrliche Gnade! O, möchten unsere Herzen
allezeit eine völlig geziemende Antwort darauf geben! Warum
wollen wir unsere Sorgen, die doch nur eine schwere Bürde
für uns sind, für uns behalten, wenn Gott sie haben will?
Warum wollen wir selbst für uns sorgen, wenn Gott es tun
will? Er denkt allezeit an uns. Niemand hat noch getan, was
Er tat. Er, der große und herrliche Gott, der Schöpfer des
Himmels und der Erde, hat die Haare unseres Hauptes gezählt.
Welch eine Liebe! Welch eine Zärtlichkeit! Fürwahr, wir können uns Ihm anvertrauen; unsere Herzen können ruhig sein
inmitten all der Stürme dieses Lebens und Seinem Namen
lobsingen.
„Ihr seid vollendet in Ihm"
Kol 2, 10.
Gegenüber der Neigung vieler Seelen, den Frieden des Gewissens auf etwas zu gründen, was sie in und bei sich selbst
wahrnehmen, sowie angesichts der steten Schwankungen, der
Unbeständigkeit und Unzulänglichkeit eines solchen Friedens
ist es von unberechenbarer Bedeutung, den wirklichen, wahren
und unerschütterlichen Grund zu kennen, auf dem allein ein
dauernder, beständiger Friede seinen Stützpunkt hat. Wo
anders aber könnte die Seele diesen Grund finden, als nur in
dem vollbrachten Werke Christi? Das ist der wahre, unbewegliche Boden, den Gott selbst gelegt hat, ein Fels, der den
Stürmen trotzt und dem Platzregen und den Strömen widersteht. (Mt 7, 25.) Es ist der alleinige Grund, auf dem wir
Gott stets mit einem guten Gewissen und einem mit Ruhe erfüllten Herzen nahen können. Jeder andere Grund des Friedens, wie vernünftig und sicher er auch zu sein scheinen mag,
ist trüglich und nichtig. Sowohl das Wort Gottes als auch die
täglichen Erfahrungen des Gläubigen liefern dafür unwiderlegbare Beweise.
73
Und dennoch ist leider bei so vielen Seelen die Neigung vorherrschend, den Grund ihres Friedens weit lieber in den trügerischen Erfahrungen ihres eigenen Herzens, in ihrer Buße, in
ihren Gebeten und ihren Tränen, in ihren Gefühlen und ihren
Vorsätzen, in ihrer Erkenntnis, ihren Werken und in zahllosen
anderen Dingen zu suchen, als in Christo und nur in Ihm
allein. Und was ist die Folge? Der Friede kann nicht wirklich
und dauernd sein, sondern ist nur Schein und stetem Wechsel
und mannigfachen Störungen unterworfen. Wie konnte auch
von Seiten des Menschen etwas imstande sein, das „Gewissen
vollkommen zu machen", oder bewirken, daß „kein Gewissen
von Sünden" mehr vorhanden wäre? (Hebr 9, 9; 10, 2.) Eine
solche gesegnete Wirkung hat nur das Werk Christi, weil es
göttlich und mithin vollkommen ist; und hat die Seele durch
den Glauben in diesem Werk ihren Stützpunkt gefunden, so
ist der Friede für immer gesichert, das Gewissen entlastet und
das Herz an jener Stätte, wo die göttliche Gerechtigkeit betreffs unserer Sünden gänzlich befriedigt und Gott selbst verherrlicht ist, in glückselige Ruhe versetzt. Nur von dieser Stätte
aus vermag Gott uns zu segnen und in vollkommener Gnade
mit uns zu handeln.
Diese gesegnete Wahrheit sollte allen Fleiß in uns erwecken,
jeden menschlichen Grund zu verlassen, jede fleischliche Stütze
zu verwerfen und nur auf das vollbrachte Werk Christi unser
völliges Vertrauen zu setzen. Je tiefer wir in diese Wahrheit
eindringen, desto bestimmtere Schranken werden wir den Einbildungen unserer selbstgerechten Herzen entgegenstellen und
um so unzweideutiger werden wir Gott die Ihm allein gebührende Ehre geben. Wo anders finden wir eine so deutliche
Offenbarung dessen, was der Mensch und was Gott ist, als in
dem Kreuz Christi? Von hier aus dringen dem armen, entblößten und verdammungswürdigen Sünder die Strahlen einer
göttlichen Liebe und Treue, Gnade und Gerechtigkeit im herrlichsten Glänze entgegen; ja, hier begegnet das Auge des Mühseligen und Beladenen allem, was für ihn erforderlich ist, daß
er für immer und mit einem völlig glücklichen Herzen in der
heiligen und gesegneten Gegenwart Gottes seinen Platz einnehmen darf.
74
Es wird daher für unsere Leser von nicht geringem Interesse
sein, wenn wir in diese große und herrliche FundamentalWahrheit ein wenig näher eingehen. Möge es geschehen unter
der Leitung des Heiligen Geistes, der allein fähig ist, uns
wahrhaft zu erleuchten.
1.
Zunächst möchte ich einige kurze Augenblicke bei dem Zustand
des Menschen von Natur verweilen. Ein klares Verständnis
über diesen Punkt zu besitzen, mit anderen Worten, das Urteil
Gottes in dieser Beziehung zu kennen, ist wichtig und notwendig. Hier handelt es sich nicht um das, was der Mensch
selbst von sich hält und wie er über sich urteilt, sondern allein
um das, wie Gott ihn betrachtet und beurteilt. Nur das Urteil
Gottes ist maßgebend. Der Mensch urteilt nach dem, was vor
Augen ist, nach dem äußeren Schein; aber Gott ist ein „Beurteiler der Gedanken und Gesinnungen des Herzens, und kein
Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben."
(Hebr 4, 12. 13.) Das menschliche Urteil unterscheidet ehrbare
und ruchlose, treue und gewissenlose, gütige und hartherzige,
religiöse und gottlose Menschen; und diese Unterschiede sind,
nach dem Maßstabe der menschlichen Gerechtigkeit und insoweit es sich um das Leben auf dieser Erde handelt, auch in der
Tat vorhanden. Wer wollte das Dasein löblicher und anerkennenswerter Eigenschaften unter den Menschen leugnen?
Aber welchen Wert haben alle menschlichen Vorzüge und Tugenden vor Gott, wenn es sich um die himmlische Herrlichkeit
handelt? Nicht den geringsten. Das Urteil Gottes ist in dieser
Beziehung bestimmt und entscheidend; denn wir lesen: „Denn
es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes." (Röm 3, 23.) Und wiederum: „Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tue, da ist auch nicht einer."
(Röm 3, 12.) In den Augen der Menschen war Saulus ein
„Eiferer für Gott" (Apg 22, 3) und tadellos hinsichtlich der
Gerechtigkeit im Gesetz; aber in den Augen Gottes war er ein
„Lästerer und Verfolger und Gewalttäter". (1. Tim 1, 13.) Vor
Gott ist der Mensch ein unwürdiges Geschöpf. Mag er in sorg75
loser Leichtfertigkeit und träger Gleichgültigkeit, oder in dünkelhaftem Selbstvertrauen und stolzer Eigengerechtigkeit dahin gehen, er ist und bleibt ein Sünder.
Und dennoch, wie schwer ist es dem natürlichen Herzen, dies
zu erkennen! Ja, ohne Licht von oben ist eine solche Erkenntnis undenkbar. Nie wird es der eigengerechte Mensch einräumen, daß alle seine Werke ihm auf ewig den Himmel verschließen und die Pforten der Hölle öffnen. Ob auch Gott gesagt hat: „Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von
seiner Jugend an", (1. Mo 8, 21 vergl. Jer 17, 9) so fährt doch
der Mensch fort, nach eingebildeten Guttaten zu haschen und
sich ihrer zu rühmen. Zu seiner Rechtfertigung zählt er Sünden
und Vergehungen auf, deren er sich nicht schuldig gemacht hat
wie andere. Er ist kein Mörder, kein Ehebrecher, kein Dieb,
kein Lästerer, und er glaubt, deshalb schon ein Anrecht auf
den Himmel zu haben. Welche eitle Verblendung und Selbsttäuschung! Trotz allen Anmaßungen des eitlen Herzens bezeichnet Gott den Menschen einfach als einen Sünder, als
einen Feind Gottes, als einen Gottlosen, (Röm 5, 6—10) als
einen Lügner, (Ps 116, 11) als tot in seinen Sünden und Vergehungen, als ein Kind des Zornes, (Eph 2, 1—3) als einen Verlorenen; (Röm 2, 12) und in diesem Zustande wird er nach
Ablauf des Tages der Gnade vor den Richterstuhl Christi gestellt und gerichtet werden. (Mt 12, 36; Röm 14, 12.) Es ist
„dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das
Gericht"; (Hebr 9, 27) und „kein Lebendiger ist vor ihm gerecht". Und wäre auch nur das gegebene Gesetz das einzige
Maß der Forderungen Gottes, so würde sicher rchon „jeder
Mund verstopft werden und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sein". (Röm 3, 19.)
Es kann daher nicht stark genug betont werden, daß jeder
Mensch von Natur, ob Jude, Heide oder Christ, vor Gott als
Sünder erfunden und darum schuldig und verloren ist. Die
]uden, obwohl sie unter Gesetz und in Erkenntnis Gottes
waren, haben sich auf jeder Stufe ihrer Geschichte als ein undankbares, trotziges und halsstarriges Volk erwiesen; und
ohne alle Gerechtigkeit vor Gott tragen sie auf ihren Stirnen
den göttlichen Urteilsspruch: „Verflucht sei, wer nicht aufrecht
hält die Worte dieses Gesetzes, sie zu tun; und das ganze
76
Volk sage: Amen!" (5. Mo 27, 26.) Was aber die Heiden, als
ohne Gesetz und ohne Erkenntnis Gottes und Christi betrifft,
so finden wir in Röm 1, 18—32 eine wahre Schilderung ihres
hoffnungslosen Zustandes; und in ähnlicher Weise wird uns
in 2. Tim 3, 1—5 der Zustand derer charakterisiert, welche,
lebend in der „wohlangenehmen Zeit" der Gnade, unter dem
Namen von Christen, „die eine Form der Gottseligkeit haben,
ihre Kraft aber verleugnen". Mit einem Wort, alle, ohne Unterschied, sind schuldig, alle sind verloren.
Das ist das einfache und bestimmte Urteil des göttlichen Wortes, ein höchst demütigendes, aber, da es „unmöglich ist, daß
Gott lüge", ein völlig wahres Urteil. Doch der Mensch bedarf
der göttlichen Gnade, um sich unter ein solches unumstößliches
Zeugnis zu beugen. So lange er sich und sein Leben nach dem
Licht seiner eigenen Erkenntnis mißt, unterscheidet er in und
an sich Gutes und Böses; und indem er sich des einen rühmt
und das andere abzulegen sich anmaßt, glaubt er einen passenden Weg zum Eingang in den Himmel entdeckt und gefunden
zu haben. Wie schnell aber zerrinnen und verfliegen die dicken
Nebel seiner eitlen Vorspiegelungen, wenn der Lichtglanz der
Gerechtigkeit Gottes in seine Seele dringt und all sein Tun,
Dichten und Trachten des eingebildeten Schmuckes entkleidet!
Dann sieht er, wie die Überlegungen seines Herzens, die Worte
seiner Lügen und die Werke seiner Hände ganz und gar von
der Sünde befleckt und verunreinigt sind: ja, dann ist er zu
dem demütigenden Bekenntnis gezwungen, daß er nichts getan
hat und nichts zu tun vermag, um die Herrlichkeit Gottes zu
erreichen. Und das ist die Wahrheit nach dem unumstößlichen
Urteil Gottes. Der Mensch ist ohne Leben und mithin ohne
Kraft. Die Quelle ist verderbt; wie könnte etwas Gutes daraus
hervorsprudeln? Der Mensch ist in Sünden geboren und lebt
in Sünden; er verwirft das Böse, und dennoch übt er es aus;
er rühmt das Gute, und dennoch vollbringt er es nicht. Das
düstere Gemälde, das der Apostel in Eph 2, 1—3 über den
natürlichen Menschen entwirft, zeigt nicht einen einzigen Lichtpunkt. Er zeichnet ihn hier in seinem moralischen Zustand vor
Gott als völlig verderbt, blind und tot, und darum als gänzlich
verloren. Und kein Heilmittel ist in der Hand des unglücklichen Menschen; nirgends zeigt sich ihm ein Ausweg zum Ent77
rinnen. In seinem wirklichen Zustand, in seiner wahren Gestalt
muß er dem heiligen und gerechten Gott begegnen. Kann er
etwas anderes erwarten, als jenes schreckliche, niederschmetternde Wort: „Weichet von mir, ihr Übeltäter?" Kann er den
Armen einer ewigen und qualvollen Verdammnis ausweichen,
die sich ihm entgegenstrecken, um seine arme Seele für immer
zu umschlingen? Ach! „es ist furchtbar, in die Hände des
lebendigen Gottes zu fallen!" (Hebr 10, 31.)
Und, geliebter Leser, welches wird Dein Los sein? Machst Du
etwa eine Ausnahme von der göttlichen Regel? Hat die Sünde
ihren Stempel nicht auch auf Deine Stirn gedrückt? O, täusche
Dich nicht! Traue nicht den Vorspiegelungen Deines eitlen,
törichten Herzens! Dein Wandel mag nach dem Maßstabe
menschlicher Gerechtigkeit tadellos sein; Deine Tugenden und
guten Eigenschaften mögen Dir das ehrende Lob der Menschen
einbringen; aber Gott allein ist es, der Dich durchschaut, beurteilt und richtet. Willst Du es wagen, in die Hände dessen
zu fallen, der ein „verzehrendes Feuer" ist?
Aber gibt es denn gar kein Mittel zur Errettung aus diesem
schrecklichen Zustande? Gewiß, Gott sei ewig dafür gepriesen!
Aber dieses Rettungsmittel liegt nicht in der Hand des schwachen Menschen, sondern in der Hand des allmächtigen Gottes.
Gott selbst ist die Quelle dieser Errettung; aus Ihm sprudeln
ihre lebendigmachenden Ströme hervor. Nicht die fruchtlose
Untersuchung dessen, was ich zu tun habe, um gerettet zu
werden, sondern nur die Frage: „Was hat Gott zu meiner Rettung getan?" findet hier ihren göttlich bezeichneten Platz. Die
Sünde auszuüben war meine Sache, von der Sünde und ihren
Folgen zu erretten ist ausschließlich die Sache Gottes. Er hat
für arme, verderbte und verlorene Sünder in Christo Jesu eine
ewige und vollkommene Erlösung vollbracht. Er hat es getan
nach Seinem Wohlgefallen, nach Seiner Erbarmung, Seiner
Liebe und um Seines Namens willen; und darum hat die Erlösung des Sünders ihre unversiegbare Quelle in Gott selbst.
Der Mensch erhebt stets, bewußt oder unbewußt, seine Stirn
in Empörung wider Gott und weigert sich hartnäckig, den an
ihn gestellten weisen und gerechten Anforderungen Genüge
zu leisten. Er ist, wie die Schrift sagt, „unverständig, ungehor78
sam, irregehend; er dient mancherlei Lüsten und Vergnügungen,
führt sein Leben in Bosheit und Neid, verhaßt und einander
hassend". (Tit 3, 3.) Wird man sich nicht mit Abscheu und
Ekel von einer Quelle abwenden, die nur schmutziges, stinkendes Wasser aussprudelt? Und eine solche Quelle war und
ist das menschliche Herz im Angesicht des heiligen und gerechten Gottes. Konnte Sein alles durchdringendes Auge hier etwas
entdecken, das Ihn hätte anziehen, anspornen und bewegen
können, die rettende Hand auszustrecken? Kann der so tief
gesunkene, völlig verderbte Mensch Ansprüche auf irgendwelche Segnungen erheben? Keineswegs. Der alleinige Beweggrund Gottes zur Rettung des Sünders ruht in dem eigenen
Wohlgefallen Gottes, in Seiner eigenen grenzenlosen Liebe und
Gnade, in Seinem unergründlichen Erbarmen.
Für diese herrliche Wahrheit liefert die Heilige Schrift unwiderlegbare Beweise. Wir finden in Hebr 10, 8—10, wo der
Herr Jesus redend eingeführt wird, die beachtenswerten Worte:
„Schlachtopfer und Speisopfer und Brandopfer und Opfer für
die Sünde hast du nicht gewollt, noch Wohlgefallen daran gefunden . .. Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun. . .
durch welchen Willen wir geheiligt sind durch das ein für
allemal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi." Nur als
Vorbilder hatten die Opfer des alten Bundes ihre Bedeutung
und ihren Wert. Gegenüber einer wirklichen, tatsächlichen Erlösung waren sie ohne Kraft. Das vergossene Blut aller in der
ganzen Schöpfung lebenden Tiere hätte nicht die kleinste
Sünde zu tilgen, geschweige denn einen Sünder zu erretten
vermocht. Wie konnte daher Gott Wohlgefallen haben an
Opfern, die der Ausführung Seiner Gnadenabsichten nicht
entsprachen? Aber — o wunderbare Liebe! — Er hatte Wohlgefallen an unserer Errettung; und darum tritt der Herr Jesus
in Seinem Erbarmen in die Welt mit den Worten: „Siehe, ich
komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun." Und durch das
„einmal geschehene Opfer seiner selbst" hat Er diesen Willen
erfüllt und eine „ewige Erlösung" (Hebr 9, 12) und eine vollkommene Reinigung von Sünden vollbracht. „Das Blut Jesu
Christi reinigt uns von aller Sünde." (1. Joh 1, 7.)
Aber noch an einer anderen Stelle bezeugt der Herr, daß die
Errettung des Sünders ihren Ursprung in dem Willen Gottes
79
hat. Er sagt in Joh 17, 4: „Ich habe dich verherrlicht auf der
Erde; Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben
hast, daß ich es tun sollte." ~ Welch ein festes Fundament
trägt unsere Errettung! Sie ist weder aus dem Willen des
Menschen hervorgegangen, noch durch die Hand des Menschen vollbracht, sondern sie verdankt ihren Ursprung allein
dem Willen Gottes, ist vollbracht durch den Sohn Gottes und
zugleich bezeugt und bestätigt durch den Geist Gottes. (Hebr
10, 15.) Sie ist göttlich in ihrer Quelle, göttlich in ihrer Vollbringung, göttlich in ihrer Bestätigung. Und darum ist das
Werk Christi die einzige und wahre Freistatt für den verlorenen Sünder; nur dieses Werk ist sein sicherer Bergungsort
am Tage des Zorns und sein lieblicher Ruheplatz in Zeit und
Ewigkeit. Welch eine gesegnete Wahrheit!
Wenn aber nun die Errettung des Sünders ihren alleinigen
Ursprung, ihre einzige Quelle in dem Willen oder Wohlgefallen Gottes hat, so vermochte auch nur die Macht Seiner
Liebe und Seines Erbarmens die Schleusen zu öffnen, um die
Ströme lebendigen Wassers hervorbrechen zu lassen. „Denn
also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen
Sohn gab, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren
gehe, sondern ewiges Leben habe." (Joh 3, 16.) Waren es
Gerechte und Gütige, für die diese unendliche Liebe tätig war?
Nein! Für gottlose, feindselige und verlorene Sünder sandte
Gott Seinen eingeborenen Sohn. „Also hat Gott die Welt
geliebt." Nicht erst dann, nachdem unsere Errettung eine vollendete Tatsache war, setzte sich diese Liebe in Tätigkeit, nein,
sondern unsere Errettung selbst ist, da wir noch Sünder und
Feinde waren, das Werk dieser Liebe. „Gott erweist seine Liebe
gegen uns darin, daß Christus, da wir noch Sünder waren, für
uns gestorben ist." (Röm 5, 8.) „Gott aber, der reich ist an
Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns
mit dem Christus lebendig gemacht." (Eph 2, 4.) „Hierin ist
die Liebe: nicht daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er
uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnimg für
unsere Sünden .. . — Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt
hat." (1. Joh 4,10. 19.) Wie klar und bestimmt bezeugen diese
80
und viele andere Stellen, daß Gott die Liebe ist, und daß unsere
Errettung diese Seine Liebe zur Quelle hat!
Nichts aber verleiht dieser Liebe einen bestimmteren Ausdruck als das Kreuz Christi; und nirgends tritt das unergründliche Erbarmen Gottes so lebendig an den Tag, wie bei einem
erlösten Sünder. „Gott hat seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben." (Röm 8, 32.) Die
Errettung in ihrer ganzen Ausdehnung trägt das unverkennbare Gepräge Seiner vollkommenen Liebe. Hat der verlorene
Sünder etwas hinzugefügt? Hat er etwa den Glanz des auf
Golgatha vollbrachten Werkes Christi durch irgend eine Beifügung von seiner Seite erhöht? Ach! nichts als seine Sünden
und Vergehungen konnte er für dieses glorreiche Werk bringen; alles andere tat Gott, der die Armut, die Blöße, das Verderben des Menschen kannte und nichts erwartete und nichts
suchte, als dessen Sünden. Ja, Gott allein hat nach dem Wohlgefallen Seines Willens gehandelt und, geleitet durch Seine
unendliche Liebe und Sein unergründliches Erbarmen, ein vollkommenes Werk der Erlösung vollbracht.
Und die Pforten des Himmels sind jetzt weit geöffnet. „Die
Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen."
(Tit 2, 11.) Teurer Leser! Hast Du diese gesegnete Wahrheit
an Deinem Herzen noch nicht erfahren, dann nahe ohne
Zögern zu Gott, nahe zu Ihm, wie Du bist, als ein armer, verlorener und verderbter Sünder; und sicher, Du wirst bei Ihm
eine vollkommene Gnade und eine ewige Erlösung finden,
nahe zu Ihm mit der ganzen Sündenbürde, die zentnerschwer
auf Deinem Gewissen lastet; und gewiß, Du wirst aus eigener
Erfahrung einstimmen können in die Worte des Psalmisten:
„Glückselig der, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde
zugedeckt ist! Glückselig der Mensch, dem Jehova die Ungerechtigkeit nicht zurechnet und in dessen Geist kein Trug ist."
(Ps 32, 1, 2.) Mag Deine Sünde groß und überströmend sein,
so ist doch die Gnade weit überschwenglicher. (Röm 5, 20.)
Darum nahe zu Ihm, denn Du begegnest einem Gott, dessen
Herz nicht erst durch Dein Gebet und Flehen zum Mitgefühl
und Erbarmen erweicht werden muß, sondern der Wohlgefallen an Deiner Rettung hat und völlig bereit ist, Dich mit der
innigsten Liebe und dem herzlichsten Erbarmen zu empfangen.
81
Er selbst sucht Dich und ladet Dich ein; Er fordert Dich auf
durch den Mund des Apostels: „Laß dich versöhnen mit Gott!"
(2. Kor 5, 20.)
Möge der Herr uns alle befähigen, die Wirksamkeit und Tragweite des Opfers Christi immer tiefer zu ergründen! Möge Er,
indem wir die heiligen Schriften erforschen, die Überzeugung
tief in unsere Herzen prägen, daß wir es nicht mit dem unsicheren Wort eines Menschen, sondern mit dem untrüglichen
Wort des wahrhaftigen Gottes zu tun haben. Nur wenn die
sich widersprechenden Gefühle und die menschlichen Vernunftschlüsse und Meinungen zum Schweigen gebracht sind
und unser Glaubensauge in dem Lichte und der Kraft des
Heiligen Geistes auf das vollbrachte Werk Christi gerichtet ist,
nur dann werden unsere Gewissen von aller Furcht befreit und
unsere Herzen in Ruhe sein.
2.
Die Gedanken eines Sünders, dessen Gewissen erwacht ist,
richten sich zuerst auf seine Sünden und Vergehungen. Das
Licht Gottes durchbricht die finsteren Schatten seiner Seele; und
in diesem Licht erkennt er, daß Er Gott auf tausendfache
Weise verunehrt und beleidigt hat. Der Gedanke an die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes und an das ewige Gericht füllt
sein Herz mit Furcht und Entsetzen. Er fühlt, daß er „ihm auf
tausend nicht eins antworten kann". (Hi 9, 3.) Was wird die
Ewigkeit für ihn in ihrem dunklen Schöße bergen? Was
anderes als den ewigen Tod, die ewige Verdammnis? Und
nirgends zeigt sich seinem ängstlichen Blick ein Ausweg, um
diesem schrecklichen Los zu entrinnen, nirgends ein Mittel, um
nur ein Sümmchen seiner unberechenbaren Sündenschuld zu
tilgen und in irgend einer Weise den heiligen und gerechten
Gott zu befriedigen. Wohl traut sich in solcher Lage noch
mancher die Fähigkeit zu, die Bahn des Bösen verlassen und
sein Leben bessern zu können; wohl legt mancher mit einer
Energie, deren seine Natur fähig ist, Hand ans Werk, um
gute, Gott wohlgefällige Früchte hervorzubringen; aber ach,
die in ihm wohnende Sünde setzt allen seinen Anstrengungen
eine mächtige, unübersteigliche Schranke entgegen. Er seufzt
82
und kämpft; aber es sind die wirkungslosen Seufzer und
Kämpfe eines mit starken Ketten gebundenen Sklaven; er will
das Gute und trachtet den Anforderungen Gottes zu genügen;
aber es ist das Wollen und das Trachten eines verurteilten
Gefangenen hinter Schloß und Riegel. Und mit jedem Tage
drängt sich mächtiger und fühlbarer seiner Seele die trostlose
Überzeugung auf, daß er „fleischlich und unter die Sünde verkauft" ist, und daß er „sich selbst Zorn aufhäuft für den Tag
des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes,
welcher einem jeden vergelten wird nach seinen Werken .. .
an dem Tage, da Gott das Verborgene der Menschen richten
wird .. . durch Jesum Christum." (Röm 2, 5—16.)
Armer, verblendeter Mensch! Deine Anstrengungen legen
offenes Zeugnis ab von der Unkenntnis bezüglich Deines wirklichen Zustandes und sind ganz und gar geeignet, Deine Blöße
und Deine Ohnmacht noch völliger ins Licht zu stellen. Und
selbst vorausgesetzt, daß Dein Streben, das Leben zu bessern,
von einem glücklichen Erfolg gekrönt wäre, würdest Du dann,
im Blick auf die vorher begangenen, unzähligen Sünden, aufhören, Gottes Schuldner zu sein? Könntest Du hinfort mehr
tun, als Du schuldig bist zu tun, um durch einen Überschuß
guter Werke die Sünden der Vergangenheit zu sühnen? Wird
nicht Deine Sündenschuld offen bleiben und wider Dich zeugen? „Aber", sagst Du, „Gott ist doch gnädig." Ohne Zweifel,
Sein Name sei bis in alle Ewigkeit dafür gepriesen! Aber nie
wird Er auf Kosten Seiner Gerechtigkeit gnädig sein; nie in
Gnaden handeln, während Er Seine Gerechtigkeit beiseite
setzt. Das ist unmöglich. Und dennoch wird, bewußt oder unbewußt, von vielen Seelen eine solche Gnade erwartet und
erfleht. Wollte aber Gott einem derartigen Verlangen genügen,
so müßte Er Sich selbst verleugnen und aufhören, Gott zu sein.
Unleugbar übersteigt die Oberschwenglichkeit Seiner Gnade
alle menschlichen Begriffe; aber es ist eine Gnade, die in der
völlig befriedigten und verherrlichten Gerechtigkeit Gottes
ihren sicheren Ruhepunkt findet — eine Gnade, welche „herrscht
durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum,
unseren Herrn." (Röm 5, 21.) Und auf diese Gnade möchte ich
hier vornehmlich die Aufmerksamkeit meiner Leser richten.
83
I
Von dem Augenblick an, wo ein Sünder sich vor Gott wirklich
schuldig und verloren fühlt, erwacht in seiner Seele das Verlangen nach Gnade; und je tiefer und gründlicher jenes Bewußtsein ist, desto mächtiger und wahrer ist auch dieses Verlangen. Er mag zwar von jeher im allgemeinen die Gnade als
wünschenswert betrachtet haben; aber erst jetzt, wo er sie so
nötig braucht, erkennt er ihre Notwendigkeit. Nur ein schuldbewußter, verurteilter Verbrecher weiß die Gnade wahrhaft
zu würdigen. Und wo findet der verdammungswürdige Sünder
eine Gnade, die alle seine Sünden zudeckt und vergibt, und
die ihn nach allen Seiten hin sicherstellt? Wo anders als in
Christo Jesu? Außer Christo muß Gott jedem Sünder, und
wäre er auch der tugendhafteste, vorzüglichste Mensch auf
Erden, in Gerechtigkeit und Gericht entgegentreten; in Christo
aber, und ob auch seine Sünden noch so zahlreich und himmelschreiend sein mögen, begegnet Er ihm in vollkommener,
überschwenglicher Gnade. Wer in Ihm Gott sucht, der findet
den Gott, der Gottlose rechtfertigt, (Röm 4, 5.), und zwar auf
dem Grunde Seiner vollkommenen Gerechtigkeit. Und wie
ist dies möglich? Richte Deinen Blick auf das Kreuz Christi,
und Du findest eine völlige Lösung dieser Frage.
Durch die Sünde ist Gott von Seiten des Menschen auf jegliche
Weise verunehrt worden. Der Mensch hat alles, was in Gott
ist und worin Er Sich ihm geoffenbart hat, mit Füßen getreten
und der Mensch steht jetzt mit einem schuldbeladenen Gewissen vor einem verunehrten, aber völlig heiligen und gerechten Gott. Und vor einem solchen Gott ist der Platz des Sünders
unbeschreiblich schrecklich. Kein menschlicher Verstand vermag die Tiefe seines Elends zu ergründen; kein menschliches
Auge kann die finsteren Todesschatten durchbrechen, die die
Größe seines Jammers bergen. Aber gerade auf dieser Stätte
des Elends und des Jammers sah ihn die Liebe Gottes; ihn zu
retten, war der Beschluß Seiner Liebe, Seines Erbarmens. Aber
wie war dies möglich? Wie konnte Gott in Gnade handeln,
solange Seine Gerechtigkeit nicht voll befriedigt war? Ach! die
Ströme einer vollkommenen, göttlichen Gnade, die der Sünder
brauchte, waren gehemmt durch den mächtigen Damm einer
vollkommenen, göttlichen Gerechtigl<eit. Wo war ein Ausweg?
84
Nur die Liebe Gottes fand die Lösung dieser verhängnisvollen
Frage. „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun!"
So sprach der Sohn Gottes (Ps 40). Ja, es war jemand da, der
Macht und Liebe besaß, um den wohlgefälligen Willen des
Gottes der Liebe erfüllen zu können, einer war da, der bereit
war, von der mächtigen Hand der Gerechtigkeit den Todesstoß
zu empfangen, damit aus dem Herzen eines gerechten und in
allen seinen Forderungen befriedigten Gottes die Fluten einer
überschwenglichen Gnade ungehindert hervorströmen konnten; und dieser eine war der eingeborene, vielgeliebte Sohn
Gottes. Außer Ihm war niemand im Himmel und auf Erden,
der den Platz des Sünders einnehmen und Tod und Gericht,
den wohlverdienten Lohn des Sünders, auf sich nehmen
konnte, um auf diese Weise die Gerechtigkeit Gottes völlig zu
befriedigen. Ach, welch eine anbetungswürdige Gabe der
Liebe Gottes für gottlose und feindselige Sünder! Tausend und
aber tausend Welten sind nichts gegen eine solche Gabe. Die
Liebe Gottes zeigt sich in ihren glänzendsten Strahlen gegenüber einem Geschöpf, das abgefallen ist und die freche Stirn
der Empörung wider Ihn erhebt. Eine größere Probe konnte
diese Seine Liebe nicht bestehen; über ihr Maß hinaus gibt es
keine Liebe weder im Himmel noch auf Erden. In ihrer Bemühung, bis zur Stätte des Todes herabzusteigen und hier den
verlorenen, feindseligen Sünder zu ergreifen, gleicht sie einem
blendenden Strahl auf dunklem Grund. Kein höherer Beweis
von der Größe einer Liebe konnte geliefert werden. Mit Recht
ruft der Apostel aus: „Kaum wird jemand für einen Gerechten
sterben; denn für den Gütigen möchte vielleicht jemand zu
sterben wagen. Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin,
daß Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben
ist." (Röm 5. 7—8.) — Ja, die Gerechtigkeit Gottes ist in all
ihren Forderungen zufriedengestellt; die „Gnade herrscht durch
Gerechtigkeit"; und der Gläubige kann mit völliger Zuversicht
seinen Blick auf das Kreuz richten und mit einem glücklichen
Herzen ausrufen: „Der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat; wie wird er
uns mit ihm nicht auch alles schenken?"
Christus nahm also nach dem wohlgefälligen Willen Gottes
und in Seiner eigenen Liebe unseren Platz auf Golgatha ein.
85
Dort belud Er Sich mit unseren Sünden; dort erlitt Er an
unserer statt den Tod und das Gericht, Er, „der Gerechte für
die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe." (1. Petr 3,18.)
„Er ist einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart
worden, zur Abschaffung der Sünde durch seine Opfer," (Hebr
9, 26.) Um unserer Übertretungen willen war er verwundet
und um unserer Missetaten willen zerschlagen. Die Strafe zu
unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist
uns Heilung geworden." (Jes 53, 5.) Er war im Gericht für
unsere Sünden, Er trug den Zorn, den wir verdient hatten. —
„Ohne Blutvergießen ist keine Vergebung", (Hebr 9, 22) sagt
die Schrift; und darum war es nötig, daß zur Tilgung unserer
Sünden Sein Blut floß, das Blut des Lammes Gottes. „Das
Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller
Sünde". (1. Joh 1, 7.) „Mit seinem eigenen Blute ist er ein für
allemal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte". (Hebr 9, 12.) — Bis zu jener Zeit war
der Weg zum Heiligtum verschlossen; der Anbeter mußte
draußen bleiben. Jetzt aber hat der Glaubende „Freimütigkeit
zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut ]esu, auf dem
neuen und lebendigen Wege, den er uns eingeweiht hat durch
den Vorhang, das ist sein Fleisch." (Hebr 10, 19. 20.) Das
Lamm Gottes vergoß auf Golgatha Sein Blut, hauchte Seinen
Geist aus, und der Vorhang zerriß von oben bis unten und
öffnete auf diese Weise den Weg in die unmittelbare und unverhüllte Gegenwart Gottes. Jeder, der jetzt einfach im Glauben an dieses kostbare Blut naht, hat hier ungehinderten
freien Zutritt. Er betritt dann einen Weg, auf dem auch
Christus „mit seinem eigenen Blute" in das Heiligtum eingegangen ist, und wird um dieses Blutes willen hier ebenso willkommen sein, wie Christus selbst. In der ganzen Vortrefflichkeit Christi nimmt er mit ihm Platz im Heiligtum, um für
immer bei Ihm zu sein und im Genuß Seiner Herrlichkeit mit
allen Erlösten zu Seinem Lobe ausrufen zu können: „Dem, der
uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in
seinem Blut, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu
Priestern seinem Gott und Vater, ihm sei die Herrlichkeit und
die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit", (Offb 1, 5. 6.)
Und wie unendlich groß ist der Wert Seines kostbaren Blutes!
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Denn kraft dieses Blutes werden wir auf ewig mit Ihm unseren
Platz in Seiner Herrlichkeit haben, auf ewig uns in Seiner
Liebe erfreuen und auf ewig Ihn preisen und anbeten. Noch in
jener letzten Nacht richtete der Herr bei Gelegenheit der
Feier des Abendmahls die Blicke Seiner betrübten Jünger auf
dieses Sein Blut, indem Er sagte: „Dieses ist mein Blut, das
des neuen Bundes, welches für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden." (Mt 26, 28.) Auf einen festeren, sichereren Boden konnte Er die Füße der Seinigen nicht stellen.
Nicht mit Silber oder Gold sind sie erlöst worden, sondern
„mit dem kostbaren Blute Christi, als eines Lammes ohne
Fehl und ohne Flecken", (1. Petr 1, 18. 19.) — eines Lammes,
das für die Erlösten selbst in der Herrlichkeit ein Gegenstand
ihres Lobes und ihrer Anbetung sein wird, indem sie zu Seinen
Füßen niedersinken und das neue Lied anstimmen: „Du bist
würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn
du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft durch
dein Blut aus jedem Geschlecht und Sprache und Volk und
Nation." (Offb 5, 9.) Dort werden sie den vollen Wert dieses
kostbaren Blutes verstehen. Dort, durch das Blut in völlige
Sicherheit, in die unmittelbare Gegenwart Gottes gebracht,
wird ihr Lob ohne Mißton und des Gegenstandes würdig sein.,
dem es gewidmet ist. Ja, dort wird nimmer ihr Lob enden,
wenn auch „Blitze und Stimmen und Donner" aus dem
Throne Gottes hervorbrechen (Offb 4, 5.) und in zerstörender
Wirkung die Erde und ihre Bewohner schrecken.
Das Blut Christi ist also das alleinige Mittel, durch das die
Gerechtigkeit Gottes völlig befriedigt ist, und durch das alle
unsere Sünden getilgt sind. Welche Segnungen bereitet dieses
kostbare Blut dem Glaubenden! „Es öffnet ihm", wie jemand
gesagt hat, „die glänzenden Perlentore des Himmels und
verschließt ihm für immer die finsteren Pforten der Hölle; es
öffnet die ewigen Quellen der errettenden Liebe Gottes und
löscht die Flammen des brennenden Sees aus; es reißt ihn wie
einen Brand aus dem Feuer, reinigt ihn von jedem Flecken der
Sünde und stellt ihn, in Kleidern von fleckenlosem Glanz, in
die unmittelbare Gegenwart Gottes." — Ja, das ist für jeden
Glaubenden die gesegnete Frucht des auf Golgatha vollbrachten Werkes Jesu Christi. Doch vergessen wir es nicht, daß es
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nur und allein Sein Werk ist. Es ist frei von aller menschlichen
Mitwirkung, und darum auch frei von allen menschlichen
Mängeln und Gebrechen; es ist ein göttlich vollkommenes
Werk. Wer unter den geschaffenen Wesen hätte ihn auch darin
unterstützen können? Ach, unsere Sünden waren groß genug,
um die grauenhaften Schatten jener Stunde der Finsternis heraufzubeschwören, die Seine reine Seele mit Angst und Bestürzung erfüllte; unsere Übertretungen waren zahlreich genug,
um Ihn am Kreuz die ganze Schrecklichkeit eines göttlichen
Gerichts fühlen zu lassen; und das Maß unserer Ungerechtigkeit war voll genug, um die Wellen des Todes bis zur höchsten
Höhe anschwellen zu lassen und über sein Haupt zu wälzen.
Er mußte diesen bitteren, schrecklichen Kelch allein trinken,
mußte sich allein dem gerechten Zorn Gottes über unsere
Sünden aussetzen und Sein Haupt allein beugen unter dem
wuchtigen Schlag der Hand einer göttlichen Gerechtigkeit. Ach!
nie wird der Sterbliche fähig sein, die Tiefen der Schrecken
dieses furchtbaren Todes auch nur annähernd zu ergründen.
Und hätte es jemand wagen wollen, Ihm auf diesem Wege zu
folgen, so würden sicher die zermalmenden Arme eines ewigen
Todes ihn für immer umschlungen haben. Doch, vermochte
Ihn der Tod zu halten, Ihn, der selbst das Leben ist? Keineswegs. Nachdem durch das Opfer Seiner selbst der göttlichen
Gerechtigkeit völlig genügt und unsere Schuld getilgt war, hat
„Gott ihn auferweckt und zu seiner Rechten gesetzt". Ihm
allein gebührte dieser Platz; denn Er, „gehorsam bis zum Tode,
ja, bis zum Tode am Kreuz", (Phil 2, 8.) konnte sagen: „Ich
habe dich verherrlicht auf der Erde." (Joh 17, 4.) Und gerade
diese Seine Auferstehung und Seine Aufnahme bei Gott sind
für den Glaubenden der unumstößliche Beweis und die sichere
Bürgschaft, daß das Opfer Christi angenommen und Gott zufrieden gestellt ist, daß die Sünde weggenommen und der
Sünder völlig gerechtfertigt ist. „Er ist unserer Übertretung
wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden." (Röm 4, 25.) Da gibt es keine Sünde mehr,
die ihn verdammen, keine Sünde, die je noch eine Scheidewand
zwischen ihm und Gott aufrichten könnte, das Blut Christi
hat alle Sünden abgewaschen, die ganze Schuld getilgt und
zugleich Gott vollkommen verherrlicht.
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Ja, Gott ist in dem Werke Christi vollkommen verherrlicht;
und auf diese Verherrlichung Gottes sollten wir vor allen
Dingen unser Auge richten. Wie sehr wird dieses von den
Gläubigen vernachlässigt! Die erste, unser ganzes Interesse
fesselnde Frage lautet: „Welches ist unser Teil in diesem
Werke?" Und sicher hat diese Frage ihre volle Berechtigung;
denn von ihrer Beantwortung hängt die Ruhe unseres Gewissens ab. Aber manche Seelen überschreiten kaum die
Grenze dieser Frage und verraten dadurch nur ihre Selbstsucht und Undankbarkeit. Sie vergessen, daß das Kreuz noch
eine Seite von tieferer Bedeutung hat, eine Seite, die nicht die
Versöhnung des Sünders, sondern vielmehr die Verherrlichung
Gottes hervortreten läßt. Ein treffendes Vorbild liefert uns in
dieser Beziehung das 16. Kapitel des 3. Buches Mose in den
beiden Böcken des großen Versöhnungstages der Kinder
Israel. Das Los bestimmte den einen Bock für den Herrn, den
anderen für das Volk. Der erste Bock stellte die Rechte Jehovas fest und hielt, ungeachtet der Übertretungen des Volkes,
Seine Beziehungen zum Volk aufrecht, während die Hand
des Hohenpriesters auf das Haupt des anderen Bokkes die Missetaten und Übertretungen des Volkes legte
und ihn dann, als den Träger der Sünden des Volkes, in die
Wüste trieb. Diese beiden Tatsachen finden wir vereinigt und
verwirklicht in dem Opfer Christi. Die Darstellung des Charakters und der Majestät Gottes nimmt darin den hervorragendsten Platz ein. Der Tod Christi hat die Herrlichkeit Gottes festgestellt, und alle Seine Rechte wieder geltend gemacht.
Da ist kein Zug in dem Charakter Gottes, der nicht in der
völligsten Klarheit in dem Opfer Christi geoffenbart und
verherrlicht wäre. Seine Wahrheit, Seine Majestät, Seine Gerechtigkeit gegenüber der Sünde, Seine unendliche Liebe und
unermeßliche Barmherzigkeit gegenüber dem Sünder, kurz
alles, was in Gott ist, findet in dem Kreuzestode Jesu die
herrlichste Entfaltung. Der Tod Jesu allein setzt- Gott in den
Stand, gegen den Sünder, mit Aufrechthaltung der ganzen
Autorität Seiner Gerechtigkeit und göttlichen Würde, in vollkommener Liebe und Gnade handeln zu können. Nur das
Kreuz Christi allein bahnte in einer gotteswürdigen Weise
dem gewaltigen Strom der Gerechtigkeit und den erquicken89
den Fluten der Gnade einen Weg, sich ungehindert in den
Ozean der Liebe Gottes gegen den verlorenen Sünder stürzen
zu können. „Gerechtigkeit und Friede haben sich geküßt."
(Ps 85, 10.) Der Herr Jesus verließ die Herrlichkeit, die Er
bei dem Vater hatte, damit der Vater auf der Erde verherrlicht werde; Er machte Sich selbst zu nichts, damit Gott, völlig
befriedigt in Seinen Rechten und Forderungen, in der ganzen
Fülle Seiner Liebe und Gnade Seinen durch die Sünde verderbten Geschöpfen begegnen könnte. Und also vollkommen
verherrlicht, kann Gott jetzt gegen alle, die Ihm nahen, nach
dem Wert des kostbaren Blutes Christi handeln.
Anbetungswürdige Liebe! Der Damm der Gerechtigkeit Gottes ist göttlich durchbrochen; ungehindert ergießen sich die
breiten Ströme der Gnade dem gefallenen Menschen zu. „Siehe,
jetzt ist die wohlangenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des
Heils!" (2. Kor 6, 2.) Auf das Haupt unseres zur Sünde gemachten Herrn lagerte sich das niederdrückende Gericht der
Gerechtigkeit Gottes, damit der Sünder jetzt sich der überschwenglichen göttlichen Liebe erfreue; auf Ihn wälzte sich
der Fluch in seiner ganzen Schrecklichkeit, damit der Sünder
jetzt die Fülle des Segens genieße. Und Er Selbst sucht jetzt
die elenden Sünder und ruft ihnen in Seiner erbarmenden
Liebe zu: „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen; und ich werde euch Ruhe geben." (Mt 11, 28.) Und
von den Lippen Seiner Apostel hören wir die ermunternden
Worte: „Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch versöhnen mit
Gott!" (2. Kor 5, 20.) — und wiederum: „Wen da dürstet, der
komme; und wer da will, nehme das Wasser des Lebens
umsonst." (Offb 22, 17.) Wie unvergleichlich ist diese Liebe!
Wer faßt ihre Höhe und Tiefe, ihre Länge und Breite?
In welch erhebender Weise stellt uns der Herr Selbst in Seinem
Gleichnis vom verlorenen Sohn diese Liebe und Gnade vor
Augen! Kaum erblickt das Auge des Vaters den unglücklichen
Sohn in der Ferne, so eilt er ihm entgegen, umarmt und küßt
ihn sehr, kleidet ihn und führt ihn an seinen Tisch; und weder
überhäuft er ihn wegen seiner Sünden mit Vorwürfen, noch
stellt er irgend welche Bedingungen betreffs seiner Aufnahme.
Mag auch der bußfertige Sohn, wie es sich für ihn geziemte,
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seine Sünden bekennen, aber der Vater berührt sie nicht mit
einem Wort. Sein Herz fließt über von Liebe und Gnade und
ist erfüllt mit einer Freude, die nur in einem Vater- oder
Mutterherzen wohnen kann. Was anders hätte da für den
Sohn übrig bleiben können, als daß auch er sich mit ungeteilter Wonne der Liebe und des Glückes seines Vaters erfreute! Wie hätte er noch trauern können, da über die Lippen
des Vaters die Worte drangen: „Lasset uns essen und fröhlich
sein!" Und was anderes bleibt dem armen, elenden, gottlosen
und feindseligen Sünder übrig, als anzunehmen, was die erbarmende göttliche Liebe ihm aus Gnaden darreicht? Ach! der
Mensch von Natur ist in Wahrheit ein armer, hilfsbedürftiger
Sünder; nur die Liebe und die Gnade des erbarmenden Gottes
kann ihn retten und glücklich machen. In der Dahingabe Seines eingeborenen und geliebten Sohnes ist Gott der ganzen
Armut und Hilfsbedürftigkeit des Sünders in vollkommener
Weise begegnet, (Apg 13, 38.) so daß dieser weiter nichts zu
tun hat, als diese frohe Botschaft zu hören und zu glauben.
Paulus konnte auf die Frage des zitternden Kerkermeisters:
„Ihr Herren, was muß ich tun, auf daß ich errettet werde?" —
keine andere Antwort geben, als: „Glaube an den Herrn Jesum Christum, und du wirst errettet werden, du und dein
Haus." (Apg 16, 30. 31.) Und überall begegnen unsere Blicke
in der Heiligen Schrift dem Zeugnis, daß es nur des einfachen
Glaubens an Jesum Christum bedarf, um Seiner Errettung
teilhaftig zu werden. „Denn wir urteilen, daß ein Mensch
durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke."
(Röm 3, 28; Gal 2, 16.) „Dem aber, der nicht wirkt, sondern
an den glaubt, der die Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube
zur Gerechtigkeit gerechnet." (Röm 4, 5.) „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit
Gott durch unseren Herrn Jesum Christum." (Röm 5, 1.) „Das
Evangelium ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden."
(Röm 1, 16.) „Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet. . ."
Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem
Sohne nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der
Zorn Gottes bleibt auf ihm." (Joh 3, 18. 36.) „Ohne Glauben
ist es unmöglich, ihm wohlzugefallen." (Hebr 11, 6.)
91
Alle diese und viele andere Stellen zeigen klar und bestimmt,
daß nur der Glaube an Christum der einzige Weg ist, um an
dem köstlichen Heil teil zu haben! Jeder andere Weg ist ausgeschlossen, jede andere Anstrengung völlig nutzlos. Jene
Israeliten, die ihres Ungehorsams wegen durch den Biß feuriger Schlangen vergiftet waren, brauchten zu ihrer Heilung
einfach auf die durch Mose erhöhte Schlange aufzuschauen;
und ebenso haben die gottlosen Sünder, um gerettet zu werden, nur den einfachen Glauben an den erhöhten Christus
nötig. Hierin liegt das einzige Heilmittel verborgen, eine Torheit für die menschliche Vernunft, aber die Kraft Gottes für
den Glauben. Der Glaube gleicht einer Hand, die sich mit der
festen Überzeugung öffnet, das Ersehnte zu empfangen. Der
Glaube hat die Gewißheit, daß er sich an den Gott wendet,
der die Liebe ist und der Seinen eingeborenen und geliebten
Sohn für gottlose und verlorene Sünder dahingegeben hat,
und daß er sein Auge auf den wahrhaftigen Gott richtet,
dessen Wort Ja und Amen ist, und das den Apostel zu dem
Zeugnis drängt: „Das Wort ist gewiß und aller Annahme
wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder
zu erretten." (1. Tim 1, 15.) Kurz, alles, was der schuldbeladene, verdammungswürdige, verlorene Sünder braucht, findet
der Glaubende in überströmender Fülle in Christo, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Christus ist sein Lösegeld,
sein Stellvertreter, seine Versöhnung, sein Friede, sein Leben,
seine Gerechtigkeit, sein Alles; denn „der Anführer unserer
Errettung ist durch Leiden vollkommen gemacht worden."
(Hebr 2, 10.) In diesen göttlichen Vollkommenheiten bietet Er
Sich dem Sünder an, ladet ihn ein zu kommen und alles umsonst zu nehmen, und handelt mit ihm, wie groß und unzählig seine Sünden und Vergehungen auch sein mögen, in vollkommener Gnade und Liebe.
Doch ach! wie gering ist die Zahl derer, die bereit sind, sich
mit Gott versöhnen zu lassen! Wie wenige erkennen, gleich
dem verlorenen Sohn, mit einem bußfertigen, angsterfüllten
Herzen ihr Leben voller Sünde, ihren hoffnungslosen Zustand
und ihr schreckliches Ende! Nur der, der dem Zeugnis Gottes
über den Menschen glaubt und sein Elend erkennt, wird sich
aufmachen und Gnade und Erbarmen suchen; nur der, welcher
92
Bedürfnis nach Hilfe und Rettung fühlt, wird sich von Herzen
zu Dem hinwenden, der die Liebe ist, und gegen dessen Bitten
bisher sein Ohr taub und sein Herz gefühllos geblieben ist.
Und was wird der Erfolg seines Kommens sein? Zu seiner
unbeschreiblichen Freude und zu seinem ewigen Trost vernimmt er die Wahrheit, daß Gott schon lange zuvor an ihn
gedacht, daß Er Seinen eingeborenen vielgeliebten Sohn für
ihn dahingegeben hat, daß Er alle seine Sünden auf das vor
Grundlegung der Welt zuvorerkannte, fehl- und fleckenlose
Lamm Gottes gelegt und an Ihm sein Gericht vollzogen hat;
er vernimmt, daß die Gerechtigkeit Gottes befriedigt, das
Werk der Versöhnung vollbracht und jede Frage zwischen
Gott und ihm göttlich gelöst ist. Er fühlt sein Gewissen von
einer zermalmenden Bürde entlastet und sein Herz mit himmlischem Frieden erfüllt; und zu den Füßen Jesu sinkend, betet
er an. Was könnte ihn auch noch beunruhigen? Er hat Jesum,
Ihn, den die Liebe Gottes umsonst schenkte, in seinem Herzen
durch Glauben aufgenommen; und seine Seele erfreut sich der
glücklichen Gewißheit, daß alle seine Übertretungen vergeben
und seine Missetaten für immer bedeckt sind, daß er von allen
seinen Sünden so rein gewaschen ist, wie das Blut Christi die
Kraft dazu besitzt, und daß seine Versöhnung von Gott geschätzt wird nach dem Wert dieses kostbaren Blutes. Jede
Anklage gegen' ihn muß verstummen, denn Gott selbst ist es,
der ihn rechtfertigt. Er ruht auf dem Werke Dessen, der alle
seine Sünden auf Sich genommen hat, der das Gericht für ihn
erduldet und alles, alles gut gemacht hat; und mit einem glücklichen und dankerfüllten Herzen kann er sagen:
Wo ist meine Sund' geblieben?
Christus starb an meiner Statt.
Meinen Freibrief, längst geschrieben,
Christi Blut versiegelt hat.
Ganz gereinigt,
Ihm vereinigt,
Der zur Rechten Gottes ist;
Der den Weg zum Heiligtum
Mir geweiht zu Seinem Ruhm.
93
Kann der Kläger noch bestehen,
Da zur Rechten Gottes jetzt
Er des Menschen Sohn muß sehen,
Auf den Thron von Gott gesetzt?
Alle Klagen,
Abgeschlagen,
Sind dort außer Kraft gesetzt.
Vor dem Lamm auf Gottes Thron.
Geht der Kläger stumm davon.
Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, der mit dem bereits Gesagten in enger Verbindung
steht, und ohne dessen Verständnis der Friede des Glaubenden, der auf dem Versöhnungswerk Christi ruht, nur zu bald
wieder erschüttert werden wird. Da bei einem erleuchteten
Gewissen zuerst die erkannten Sünden und Vergehungen
ihren Druck auf das Herz ausüben und den Mund zu einem
Notschrei öffnen, so ist es auch zunächst nur das Bewußtsein
der durch das Blut Jesu bewirkten Versöhnung und Rechtfertigung, das der Seele Ruhe und Frieden gibt. Das Auge des
Glaubens, durch die Gnade geöffnet, erblickt in dem Kreuz
Christi die Hand jener sich erbarmenden Liebe, welche die
Sündenschuld gänzlich durchstreicht und die schwarzen Punkte
des vergangenen Lebens für immer hinwegwischt. Die Sonne
einer überschwenglichen Gnade sendet ihre belebenden, erquickenden Strahlen in die finstere Nacht eines mühseligen
und beladenen Gewissens; und in namenloser Freude erhebt
sich das Herz, von jedem Druck befreit, zum Lobe und zur
Anbetung Dessen, der zur Rettung des Sünders in diese Welt
gekommen ist. Jedoch, wenn der Gläubige auf diesem Punkte
stillsteht, wird der Ton dieser Freude gar bald wieder herabgestimmt und einem ängstlichen Seufzen öffnen sich Tür und
Tor; denn nach kurzen, flüchtigen Augenblicken entdeckt die
Seele zu ihrem Schrecken jene bisher unerkannte Quelle aller
bösen Gedanken, Worte und Werke, die im Fleische wohnende
Sünde. Ach, wie viele Seelen, die sich der Gewißheit der Vergebung ihrer Sünden erfreuten, aber jene Verderben spru94
delnde Quelle nicht erkannten, sind durch das Böse, das sie
kurz nach ihrer Bekehrung in sich gewahrten, von neuem
in Unruhe und Verlegenheit gebracht worden! Hatten sie doch
der Meinung Raum gegeben, daß infolge ihrer Bekehrung
auch das in ihnen wohnende Böse beseitigt, oder doch wenigstens Kraft in ihnen vorhanden sein würde, um es überwinden
und nach und nach gänzlich ausrotten zu können. Und sind
sie sogar nicht nach dieser Richtung hin belehrt worden? Zeigt
nicht eine große Zahl christlicher Schriften und Lehrbücher
das geflissentliche Bestreben, jene schriftwidrige Meinung
zu verbreiten, als ob ein tägliches Absterben der Sünde stattfinde und die Verbesserung und Umwandelung des alten
Menschen auf solche Weise erzielt werden könne? Ach, welche
Selbsttäuschung und Unkenntnis! Das „Ersäufen des alten
Menschen durch tägliche Reue und Buße" wird sich stets als
eine nutzlose, vergebliche Anstrengung erweisen; die alte Natur bleibt, was sie ist, das Fleisch wird nie seinen Charakter
verleugnen und jedem Veredlungsversuch entschieden widerstreben. Mag auch in den ersten Tagen der Bekehrung das
glückselige Bewußtsein der Sündenvergebung alle Gefühle und
Neigungen des Herzens so sehr in Anspruch nehmen, daß die
Begierden und Leidenschaften des Fleisches regungslos verstummen, so wird doch, je nachdem die hochgestimmten Saiten des Rettungsjubels allmählich ihre • Spannkraft verlieren,
auch die alte Natur wieder ihre Ansprüche fühlbar machen.
Und die enttäuschte Seele macht dann die demütigende Erfahrung, daß das Fleisch, jetzt wie einst im unbekehrten Zustande, dieselben alten Leidenschaften und Begierden in sich
trägt, und sieht sich sogar, da sie sie in jenem Licht,
welches „alles offenbar macht", (Eph 5, 13) erblickt, zu dem
trostlosen Bekenntnis gezwungen, daß das Herz ehedem nie
eine solche Hartnäckigkeit und Bosheit an den Tag gelegt
habe. Wie könnte es anders sein, da doch die Strahlen der
Sonne des neuen Tages bis in die verborgensten Schichten
des Herzens eingedrungen sind und hier den feinsten Staub
zeigen?
Und was wird die Folge solcher Entdeckungen sein? Der Frieden flieht, die Freude verstummt, die Folter der Angst und der
Unruhe kehrt in das Herz zurück. Die Seele kämpft und ringt,
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der Mund öffnet sich zu flehentlichem Gebet und Anhalten;
neue Vorsätze werden gefaßt, neue Gelübde abgelegt; aber
ach! das Böse behauptet hartnäckig seinen Platz; und das
Absterben macht nicht nur keine Fortschritte, sondern im Gegenteil ruft jede Anstregung dieser Art die schlummernden
Elemente des Bösen zu wilder Empörung wach. „Als das
Gebot kam, lebte die Sünde auf/' (Röm 7, 9.) Was anders
vermöchten solche trostlose Erscheinungen in einem ernsten,
aufrichtigen Herzen hervorzubringen, als eine Unruhe, die
sich bis zur Verzweiflung steigert?
Freilich wissen oberflächliche und leichtfertige Gemüter ohne
große Sorge über solche Schwierigkeiten hinwegzukommen.
Entweder verbergen sie ihren wahren Zustand vor anderen,
oder sie lauschen auf die Sprache derer, die in gewissenloser
Leichtfertigkeit die Entdeckungen ihrer Sünden, ihrer Ohnmacht
und ihrer Dürre als die Frucht einer gründlichen Erkenntnis
und mithin als den wahren Zustand eines erfahrenen Christen bezeichnen, und die sich sogar nicht schämen, die Bosheit
ihres Herzens mit dem heiligen, fleckenlosen Gewände des
Wortes Gottes zu bedecken. So hat doch nach ihrer Meinung
selbst der Apostel Paulus über sich die Worte aussprechen
müssen: „. . . ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. . . . das Wollen ist bei mir vorhanden; aber das Vollbringen dessen, was recht ist, finde ich nicht. . . . das Gute,
das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht
will, dieses tue ich." (Röm 7, 14. 18. 19.) Ach! diese Seelen
verstehen nicht, daß solche Erfahrungen unter dem Gesetz
und nicht unter der Gnade gemacht werden. Wie äußerst
mangelhaft aber würde unsere Errettung sein, wenn wir, obgleich wir von der Vergebung unserer Sünden überzeugt sind,
hinsichtlich der in uns wohnenden Sünde nur bis zu dem
trostlosen Bewußtsein ihrer Herrschaft über uns gelangen
könnten, einer Herrschaft, von der uns keine Macht zu befreien vermöchte! Wie unvollkommen würde das Resultat des
Werkes Christi sein, wenn, im Blick auf unsere Gefangenschaft
und Sklaverei in der Sünde, auf die Frage des bekümmerten
Herzens: „Ich elender Mensch! wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?" keine befriedigende Antwort zu finden wäre! Könnte auf diesem Wege in dem Werke Christi
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jene so wichtige Absicht Gottes, ein „Eigentums-Volk, eifrig
in guten Werken" zu haben, je erreicht werden? Nimmermehr,
sondern unausbleiblich würden die himmlischen Pilger wie
einst das irdische Volk Gottes, die Kinder Israel, das Zeichen
der Verwerfung an ihren Stirnen tragen und aus dem Munde
Gottes die Worte vernehmen: „Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herz und Ohren!" (Apg 7, 51.) „Ein Volk
irrenden Herzens sind sie. Aber sie haben meine Wege nicht
erkannt." (Ps 95,10.)
Ach, wie trügerisch sind die Überlegungen und Vernunftschlüsse des menschlichen Herzens! Würden die Seelen bei
der Entdeckung der im Fleische wohnenden Sünde mit einem
einfältig glaubenden Herzen auf die untrüglichen Unterweisungen des Wortes Gottes lauschen, so würden sie auch sicher
zu der Überzeugung gelangen, daß der Gott aller Gnade über
jene unreine Quelle ebenso bestimmt entschieden hat, wie
über das, was aus ihr hervorsprudelt. Allein anstatt sich der
alleinigen Leitung dieses Wortes anzuvertrauen, tragen sie
vielmehr in eitler Selbstverblendung ihre eigenen menschlichen Anschauungen in das Wort hinein, deuten es nach den
Erfahrungen ihrer unfreien und irrenden Herzen und rufen
auf diesem Wege die schriftwidrigsten Grundsätze ins Leben.
Ach! von Jahrhundert zu Jahrhundert hat der Mensch, geleitet
durch den trügerischen Schimmer seines Scharfsinns, in der
Heiligen Schrift nach Schätzen gegraben, aber als einzige Ausbeute nur wertlose Schlacken zu Tage gefördert. Und dennoch
haben die auf diese Weise gewonnenen Grundsätze und Anschauungen, weil sie mit den Erfahrungen einer fleischlichen
Gesinnung übereinstimmen, bei vielen Seelen eine beklagenswerte Aufnahme und, besonders wenn sie ein höheres Alter
und den Namen einer anerkannten Persönlichkeit an ihrer Stirn
tragen, eine solche Anerkennung gefunden, daß man kaum noch
daran denkt, den Prüfstein des Wortes Gottes an sie zu legen.
Wozu anders aber bedienen sich unfreie Seelen dieser Grundsätze, als um sich Ruhe zu verschaffen in den Fesseln der
Sünde, deren Herrschaft sie anerkennen und unter deren
Macht sie sich unter schweren Seufzern beugen? Ist es da ein
Wunder, wenn sich endlich die Meinung völlig Bahn bricht,
daß Gott nach Seiner weisen Absicht die Fortdauer eines sol97
chen trostlosen Zustandes bestimmt habe, um durch die Ergebnisse aller erfolglosen Kämpfe das Herz in wahrer Demut zu
erhalten und die Überzeugung von unserer gänzlichen Verderbtheit zu befestigen? Ja, dann freilich bleibt für den Gläubigen, trotz der Gewißheit der Vergebung seiner Sünden,
nichts als die traurige Aussicht übrig, ein armer, elender Sünder sein und bleiben zu müssen.
Obgleich indes die bitteren Erfahrungen zahlreich genug sind,
um eine Enttäuschung herbeizuführen, so lassen doch manche
Seelen jenes falsche Vertrauen nicht fahren, als ob das Werk
des Sünden-Absterbens innerlich seiner Vollendung entgegengehe. Wenn sich aber vollends eine Zeitlang diese oder jene
Begierde nicht wirksam gezeigt hat, so erkennen sie darin
einen augenscheinlichen Fortschritt und wiegen sich in sorglose Sicherheit ein. Doch ach, wie bald sehen sie sich in ihren
Erwartungen getäuscht! Plötzlich erwacht, angelockt durch
äußere Einflüsse, jene böse Begierde aus ihrem Schlummer
und fordert ihre Befriedigung um so mächtiger, je weniger
gegen sie gewacht worden ist. Und gerade in dem Augenblick, wo sie in falscher Sicherheit ihre Fortschritte bewunderten, öffneten sie zugleich dem gewaltsam heranstürmenden
Feinde die Tore, der dann, wenn die Sünde vollbracht ist, unablässig bemüht ist, entweder Mutlosigkeit und Verzagtheit,
oder Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit gegen die Sünde
in ihren Herzen zu wirken. Wie viele Seelen gehen von Jahr
zu Jahr in diesem Zustande dahin, ohne sich auf dem Wege
der Heiligung auch nur einen einzigen Schritt vorwärts zu
bewegen! Sie befinden sich entweder auf der Folter fortdauernder Anklage ihres eigenen Gewissens, oder ihre Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegen die Sünde nimmt einen
stets bedenklicheren Grad an, indem sie sich trösten, daß
andere gleiche Erfahrungen machen, oder sich gar einreden,
daß das Leben des Christen sich durch stetes Fallen und Aufstehen charakterisieren müsse. Sie machen die Erfahrungen
Jakobs und nicht die Erfahrungen Abrahams; und in der
Voraussetzung, daß keine andere gemacht werden können,
betrachten sie die Freude im Herrn nur als einen Rausch der
ersten Gefühle, oder gar als Täuschung und Einbildung, und
die Ermahnungen zu einem würdigen Wandel sehen sie an
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als ein Treiben des Gesetzes. Wo aber findet sich dann jene
glückselige Ruhe des Herzens, die sie den Unbekehrten anpreisen? Wo der alle Vernunft übersteigende Friede Gottes?
Wo der Wandel zur Verherrlichung Gottes? Wo finden sie
die guten Werke, wozu wir „in Christo Jesu geschaffen sind"?
Dieses alles fehlt; der Name des Herrn wird verunehrt, Sein
Wort verachtet und Sein Werk geringgeschätzt.
Aber gibt es denn keine Errettung aus diesem Zustande, keine
Befreiung aus der Macht der Sünde? Ohne Zweifel. Aber die
Befreiung aus dieser Macht liegt ebensowenig in unserer Hand,
und ist ebensowenig die Frucht unserer Anstrengung, wie die
Sühnung für unsere Sünden. Beide Tatsachen sind einzig und
allein das gesegnete Resultat des auf Golgatha vollbrachten
Opfers Jesu Christi; und der Glaube ist das einzige Mittel,
die kostbare Frucht dieses vollkommenen Werkes genießen
und verwirklichen zu können. Der Glaube erblickt in dem
Opfer Jesu Christi sowohl die Reinigung von unseren Sünden, als auch die Befreiung von der in uns wohnenden Sünde.
Die Hand der errettenden Liebe, die unsere Sünden tilgte,
vernichtete auch die Macht der Sünde; die Gnade, die dem
Sünder eine ewige Versöhnung brachte, zerbrach auch für
immer die Ketten und Banden des Sklaven; das Blut, das uns
von allen Sünden reinigte, setzte auch den Gefangenen in
völlige Freiheit. Welch eine wunderbare Gnade! welch eine
anbetungswürdige Liebe! welch ein kostbares Blut! O möchten unsere Seelen sich doch von den trügerischen Erfahrungen
unserer eitlen Herzen mit aller Entschiedenheit abwenden und
die untrüglichen und klaren Zeugnisse des Wortes Gottes
betreffs des glorreichen Werkes Christi in einfältigem Glauben
aufnehmen! Das allein wird imstande sein, unsere Herzen zu
befestigen und mit seliger Ruhe zu erfüllen.
Um aber überhaupt zu einem klaren Verständnis über diese
zweifache Wirkung des Kreuzes Christi zu gelangen, müssen
wir zuvor erkannt haben, daß der Mensch nicht nur seiner
Sünden, sondern auch seines Zustandes wegen ein Verlorener
ist. Als Nachkomme des ersten Adam ist er in Sünden geboren; und das Wort Gottes charakterisiert seinen moralischen Zustand als Sünde, Finsternis und Tod. Im Blick auf
einen solchen Zustand ist eine Gemeinschaft zwischen Gott
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und ihm undenkbar, selbst wenn man die Möglichkeit einer
Vergebung der Sünden voraussetzen dürfte. Die Quelle ist
und bleibt verderbt, wenn auch ihre trüben Ausströmungen
ausgetrocknet sind, der faule Baum behält unverändert seine
schädlichen Säfte, wenn auch seine bitteren Früchte abgeschüttelt und beseitigt werden könnten. Das ist eine Wahrheit,
die nicht genug verstanden und beachtet wird. Wer aber über
die Heiligkeit Gottes und über das Verderben des Menschen
einiges Verständnis besitzt, der wird auch sicher die Nutzlosigkeit aller Anstrengungen und Bestrebungen zur Veredlung des Menschen erkennen. Wie könnte jemand der Anmaßung Raum geben, die unermeßliche Kluft zwischen Heiligkeit und Sünde, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Liebe
und Haß, zwischen Leben und Tod ausfüllen zu wollen! Oder
sollte Gott etwa den Charakter Seiner Heiligkeit verleugnen,
um sich dem Menschen in seiner Gottlosigkeit zu nähern und
Gemeinschaft mit ihm zu machen? Wer wollte sich zu einer
solchen Behauptung erkühnen! Diese Gemeinschaft durch
menschliche Anstrengungen erstreben zu wollen, ist nichts
anderes, als die stolzen Überlegungen des Menschen aufzurichten und die Wahrheit und Ehre Gottes gering zu schätzen.
Solche Bestrebungen führen nur die Erhöhung des Menschen
und die Erniedrigung Gottes im Schilde.
Aber dennoch, Gott sei dafür gepriesen, darf sich jeder Gläubige der „Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem Sohne
Jesu Christo" erfreuen. (1. Joh 1, 3.) Aber diese Gemeinschaft
steht auf einem Boden, auf dem jede menschliche Anstrengung ausgeschlossen ist; sie findet in dem Werk, das Gott
selbst auf Golgatha in Christo Jesu vollbracht hat, ihre einzige
Grundlage. Dort hat Er nicht den Zustand des Menschen
verändert oder seine Natur veredelt, sondern hat ihn vielmehr
gerichtet, getötet und beseitigt, aber zugleich auch einen neuen
Menschen ins Leben gerufen. Da hat Er nicht nur das schwere
Gewicht aller unserer Sünden auf das Haupt des von Ihm
ausersehenen Opferlammes gelegt um sie von unseren Gewissen abzuwälzen, sondern hat da auch „Den, der Sünde
nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes
Gerechtigkeit würden in ihm". (2. Kor 5, 21.) Welch eine
gesegnete Wahrheit! Christus wurde am Kreuze mit der gan100
zen Schwere unserer Sünden beladen und für uns zur Sünde
gemacht. Die ganze Häßlichkeit der Sünde wälzte sich auf das
Haupt des Menschensohnes, der allein sagen konnte: „Wer
von euch überführt mich einer Sünde?" — und gebeugt unter
der zermalmenden Hand der Gerechtigkeit preßten sich Seiner
bestürzten Seele im Gefühl tiefen Jammers die Worte aus:
„Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?" —
In Ihm, dem also Geschlagenen und Gemarterten, sehen wir
unseren Zustand, unsere Sünde, unser Gericht, unseren Tod;
in Ihm erblicken wir das traurige Ende des alten Menschen,
mit dem der heilige und gerechte Gott niemals in Verbindung
treten konnte. „Der Lohn der Sünde ist der Tod."
Doch, Gott sei Lob, das schreckliche Gericht ist beendet, das
Werk der Errettung ist vollbracht; und darum gibt es „keine
Verdammnis für die, welche in Christo Jesu sind. . . . Denn
das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er seinen eigenen Sohn in Gleichheit
des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde
im Fleische verurteilte." (Röm 8, 1. 3.) „Die des Christus
sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften
und Lüsten." (Gal 5, 24.) Wie göttlich erhaben ist das Werk
Christi! Wie bedeutungsvoll sind seine Wirkungen! Freilich
bleibt, so lange der Gläubige hienieden ist, die Sünde in seinem Fleische; aber sie ist eine verurteilte, gerichtete Sache.
Bezüglich seiner Errettung hat er die in ihm wohnende Sünde
ebensowenig wie seine Sünden und Vergehungen zu fürchten; denn jene ist verurteilt und diese sind vergeben. Das eine
ist so vollkommen wie das andere; beides ist die gesegnete
Frucht des ein für allemal geschehenen Opfers des Leibes
Jesu Christi. Der Glaube erfaßt und verwirklicht diese köstliche Wahrheit, und das Herz ruht in seligem Frieden.
So hat also das Gericht auf Golgatha nicht nur die in uns
wohnende Sünde getroffen, sondern auch wir selbst, die wir
von Natur nichts anderes als Sünde sind, haben dort in Christo
unser Gericht gefunden. Die Sünde drückt unserem natürlichen
Zustande das wahre Gepräge auf; sie charakterisiert uns als
die Nachkommen und Erben des gefallenen ersten Adam;
aber als solche sind wir in Christo mitgekreuzigt, mitgestorben und mitbegraben, denn das Wort Gottes sagt mit völli101
ger Bestimmtheit: „Indem wir dieses wissen, daß unser alter
Mensch mitgekreuzigt ist, auf daß der Leib der Sünde abgetan sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen." (Röm 6, 6.)
Wir haben also, was unseren alten Zustand betrifft, unseren
Tod in dem Kreuzestod Christi gefunden; und mit Bezug auf
diese Tatsache sagt der Apostel Paulus von sich: „Ich bin mit
Christo gekreuzigt"; (Gal 2, 20.) und von den Kolossern:
„Ihr seid gestorben." „Wisset ihr nicht", ruft er den Römern
zu, „daß wir, so viele auf Christum Jesum getauft worden,
auf seinen Tod getauft worden sind? So sind wir denn mit
ihm begraben worden durch die Taufe auf den Tod." (Röm
6, 3. 4.) Und an die Kolosser schreibt er: „In welchem (d. i.
in Christo) ihr auch beschnitten seid mit einer nicht mit
Händen geschehenen Beschneidung, in dem Ausziehen des
Leibes des Fleisches, in der Beschneidung des Christus, mit
ihm begraben in der Taufe usw." (Kap 2, 11.) In ähnlicher
Weise lesen wir in 1. Petr 4, 1: „Da nun Christus für uns
im Fleische gelitten hat, so waffnet auch ihr euch mit demselben Sinne; denn wer im Fleische gelitten hat (d. h. mit
Christo gestorben ist), ruht von der Sünde."
Aus diesen Stellen erhellt deutlich, daß der alte Mensch, d. h.
das, was ich von Natur bin, in dem Kreuz Christi vor Gott
für immer beseitigt ist. Jetzt kann selbst der schwächste
Gläubige seinen Blick auf das Kreuz richten und mit Freimütigkeit ausrufen: „Ich bin mitgekreuzigt, mitgerichtet, mitgestorben; meine Verantwortlichkeit als Nachkomme des
ersten Adam, als Sünder, als Gottloser hat für immer ihr
Ende erreicht." Er kann in das Grab Christi schauen und mit
Freuden in die Worte ausbrechen: „Hier bin ich, in betreff
meines Zustandes von Natur, mit Christo begraben und vor
Gott für immer hinweggetan." Er kann als ein neuer, mit
Christo auferstandener Mensch an der Himmelsseite des leeren
Grabes stehen und mit dem Apostel in den Jubelruf einstimmen: „Wer wird wider Gottes Auserwählte Anklage erheben?
Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme? Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der auch auferweckt,
der auch zur Rechten Gottes ist, der sich auch für uns verwendet. Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi?" (Röm
8, 33. 34.) Wie glücklich ist die Seele, die mit unerschütterli102
chem Glauben in dem vollbrachten Werke Christi ihren Ruhepunkt gefunden hat! Die Sünden sind vergeben, die im Fleisch
wohnende Sünde ist gerichtet und der Sünder selbst ist für
immer vor Gott hinweggetan.
Weiter bezeichnet das Wort den Menschen von Natur als
einen Sklaven der Sünde und als völlig ihrer Macht und Herrschaft unterworfen. Der Apostel gibt dieser Wahrheit einen
bestimmten Ausdruck, wenn er sagt: „Ich aber bin fleischlich,
unter die Sünde verkauft"; (Röm 7, 14.) und die Erfahrung
eines jeden, der das Wort des Herrn zu verwirklichen trachtet,
wird damit übereinstimmen. Man könnte auch hier die Worte
des Herrn anwenden: „Wenn jemand seinen Willen tun will,
so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist." Alle
Anstrengungen und Kämpfe eines aufrichtigen Herzens gegen
jene schreckliche Macht lassen nur um so augenscheinlicher die
Ohnmacht und Verderbtheit des Menschen hervortreten.
Nichts bleibt diesem übrig, als der Notschrei: „Ich elender
Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?"
(Röm 7, 24.) und alle seine Weisheit ist außerstande, diese
Frage der Angst und des Schreckens eine befriedigende Lösung zu geben. Welch ein Glück daher, in Christo eine nach
allen Seiten hin genügende Antwort zu finden! Nur Ihm, der
für uns gestorben und auferstanden ist, und in dem wir mitgestorben und mitauferweckt sind, verdanken wir unsere völlige Befreiung aus den Fesseln dieser schrecklichen Herrschaft.
In Seinem Tode sind wir als Sklaven der Sünde gänzlich beseitigt und, in Seiner Auferstehung mit lebendig gemacht, zu
Sklaven der Gerechtigkeit geworden, wie geschrieben steht:
„Freigemacht von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden." (Röm 6, 18.) In dem auferstandenen Christus
ist der Gläubige in eine ganz neue Stellung versetzt worden.
Als alter Mensch, als Sklave der Sünde, ist er gerichtet und
hinweggetan; als neuer Mensch, als Sklave der Gerechtigkeit,
ist er in und mit Christo gesegnet. „Wenn jemand in Christo
ist, da ist eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; siehe,
alles ist neu geworden." (2. Kor 5, 17.) Die Fesseln des Sklaven sind gesprengt, das Lösegeld ist für ihn bezahlt, und
die Arme des Bürgen nehmen den Befreiten auf. Nicht durch
eine allmählich fortschreitende Veredlung seiner Natur, son103
dem durch eine gänzliche Erneuerung ist er, der einst ein
Sklave der Sünde war, ein Sklave der Gerechtigkeit geworden
und, als „das Werk Gottes, geschaffen in Christo Jesu zu
guten Werken", (Eph 2, 10.) fähig gemacht, Gott Frucht zu
bringen. Trotz aller Anstrengungen wird der alte Mensch nie
die Herrlichkeit Gottes erreichen; aber der neue Mensch ist
im Besitz des Lebens des auferstandenen Christus und wird
bei Seiner Ankunft auch einen Leib empfangen, der „gleichförmig mit seinem Leibe der Herrlichkeit sein wird, nach der
wirksamen Kraft, mit der er vermag, auch alle Dinge sich zu
unterwerfen." (Phil 3, 21.)
Welch eine erhabene Wahrheit! Der Glaube nimmt jetzt schon
seinen Platz in dieser neuen Stellung ein und verwirklicht sie
durch die Kraft des Heiligen Geistes. Er erblickt in dem Tode
Christi das Ende des alten Menschen und in der Auferstehung
Christi den Anfang einer neuen Kreatur, und mitgepflanzt zu
der Gleichheit des Todes und der Auferstehung Christi hat
der Christ mit der Sünde und ihrer Herrschaft ebensowenig
gemein wie der auferstandene Christus. Im Tode Christi ist er
der Sünde gestorben (Röm 6, 2.) und im Leben Christi der
Herrschaft der Sünde und des Todes für immer entronnen.
„Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde.
Wenn wir aber mit Christo gestorben sind, so glauben wir,
daß wir auch mit ihm leben werden, da wir wissen, daß
Christus, aus den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der
Tod herrscht nicht mehr über ihn. Denn was er gestorben ist,
ist er ein für allemal der Sünde gestorben; was er aber lebt,
lebt er Gott. Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot,
Gott aber lebend in Christo Jesu." (Röm 6, 7.—11.) Sind
diese Schriftstellen nicht einfach und klar genug, um die Herzen aller, die angesichts des Richterstuhls Christi mit Zuversicht die Worte: „Gleich wie er ist, sind auch wir in dieser
Welt", (1. Joh 4, 17.) ausrufen dürfen, mit Lob und Anbetung zu erfüllen? Haben die, die einst so elende Sklaven der
Sünde waren, nicht einen sicheren Bergungsort gefunden, wo
Sünde, Tod und Teufel sie nie mehr erreichen können? Ist
nicht ihre Schuld getilgt, die im Fleisch wohnende Sünde gerichtet und der Leib der Sünde, der alte Mensch, für immer
hinweggetan? Befinden sie sich nicht mit Christo jenseits
104
des Kreuzes, des Todes und des Gerichts? Warum noch trauern, da alles, was gegen sie war, auf Golgatha zum Schweigen
gebracht ist und sie auf einem neuen und lebendigen Wege
im ungetrübten Glanz einer ewigen und unvergleichlichen
Liebe ihres Gottes und Vaters in Christo Jesu wandeln können? Und wie unerschütterlich fest ist der Fels, auf dem ihr
Fuß ruht! Nichts kann sie scheiden von der Liebe, die in
Christo Jesu ist; nichts ist imstande, sie aus Seiner Hand zu
rauben; nichts kann die mächtigen Fluten Seiner überschwenglichen Gnade zurückhalten. O möchten wir doch nicht ermüden,
Ihm, der uns für immer dem Rachen eines ewigen Todes
entrissen hat, stets die Opfer des Lobes darzubringen!
Wir dürfen es indes nicht unbachtet lassen, daß wir, d. h. die
Gläubigen, diesen gesegneten Platz jetzt nur durch den Glauben einnehmen können. Bleibt das Auge auf uns selbst gerichtet, so finden wir nach wie vor nichts als Sünde und Feindschaft in uns, eine Entdeckung, die das Herz nur mit Zweifel,
Furcht und Unruhe erfüllen wird. Der Glaube lauscht nur auf
die wahrhaftigen Worte Gottes und klammert sich fest an
einen Gegenstand außer ihm, an Christum Jesum. Er beschäftigt sich nicht mit dem, was wir getan haben, sondern was
Christus getan hat, nicht mit dem, was wir sind, sondern was
Er ist; er erforscht einzig und allein das Werk Christi und
findet darin nicht nur die ewige Versöhnung unserer Sünden,
sondern auch eine ewige Befreiung von allem, was wider uns
war; er erblickt darin nicht nur das Ende des über uns verhängten Zorns und Gerichts Gottes, sondern auch den unausforschlichen Reichtum der Gnade und Liebe für uns, die Erlösten; er erkennt, daß nicht nur der Tod und das Grab für
immer versiegelt, sondern auch das Leben und die Herrlichkeit
ans Licht gebracht sind. Wo findet sich da noch eine Ursache
zur Furcht?
Wir haben also deutlich gesehen, daß wir, die wir an Christum
glauben, in eine ganz neue Stellung, und zwar in dem auferstandenen Christus, versetzt sind — eine Stellung, die wir
jedoch nur durch den Glauben einnehmen und durch die Kraft
des in uns wohnenden Heiligen Geistes bewahren und verwirklichen können. Die Sünde, obgleich sie noch in uns ist, ist
105
gerichtet, und wir sind ihr gestorben, so daß der Apostel uns
zurufen darf: „Ihr seid nicht im Fleische, sondern im Geiste,
wenn anders Gottes Geist in euch wohnt." (Röm 8, 9.) Einst
war vor Gott unsere Stellung in dem ersten Adam, jetzt ist sie
in dem letzten, in Christo; einst im Fleische, jetzt im Geiste;
einst im Tode, jetzt im Leben; einst waren wir Sklaven der
Sünde, jetzt sind wir Sklaven der Gerechtigkeit; einst unter
Gesetz, jetzt unter Gnade, kurz „das Alte ist vergangen, siehe,
alles ist neu geworden". Freilich wird diese Erneuerung erst
dann vor aller Augen offenbar werden, wenn unser Leib der
Niedrigkeit bei der Ankunft Christi entweder durch Verwandlung oder durch Auferweckung umgestaltet und Christus Jesus
geoffenbart werden wird. (Vergl. 8, 11; 1. Thess 4, 15—17;
Kol 3, 4.) Jetzt kann, wie bereits gesagt, nur der Glaube diese
neue Stellung ergreifen und durch die Kraft des Heiligen
Geistes in unserem Wandel verwirklichen. „Der Glaube ist
eine Oberzeugung von Dingen, die man nicht sieht." (Hebr
11, 1.) Das Wort Gottes ist die einzige Leuchte und Stütze des
Glaubens, und der Geist Gottes seine Kraft. Durch den
Glauben allein vermögen wir jetzt zu wandeln und den Namen
des Herrn zu verherrlichen; nur durch den Glauben erkennen
wir, „daß wir" — wie der Apostel sagt — „was den früheren
Lebenswandel betrifft, den alten Menschen, der nach den betrügerischen Lüsten verdorben wird, abgelegt haben, aber in
dem Geiste unserer Gesinnung erneuert worden sind und den
neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger
Gerechtigkeit und Heiligkeit, angezogen haben". (Eph 4,22—24.)
Zu welchem Zweck aber hat uns Gott in diese gesegnete Stellung berufen? Warum hat die erbarmende Liebe Gottes in der
Hingabe Seines Sohnes die Sklavenketten der Sünde und des
Todes gesprengt und uns in Freiheit gesetzt? War es nur, um
uns einen Platz in der Herrlichkeit zu bereiten? Hat Christus
uns nicht von „aller Gesetzlosigkeit losgekauft und sich selbst
ein Eigentums-Volk, eifrig in guten Werken, gereinigt"?
(Tit 2, 14.) Jeder Gläubige weiß es, daß er berufen ist, Gott
durch einen würdigen Wandel zu verherrlichen. „Denn wir
sind sein Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken,
welche Gott zuvor bereitet hat, auf daß wir in ihnen wandeln
106
sollen." (Eph 2, 10.) Die Gesinnung Christi und Sein Wandel
auf Erden sind allein das Maß und die Richtschnur unseres
Lebens und Wandels. Deshalb lesen wir: „Diese Gesinnung
sei in euch, die auch in Christo Jesu war"; (Phil 2, 5.) und
wiederum: „Wer da sagt, daß er in ihm bleibe, der ist schuldig,
selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat." (1. Joh 2, 6.)
Wie aber ist ein solcher Wandel denkbar ohne einen Glauben,
der jedes Vertrauen auf die eigene Kraft und auf alles Sichtbare ausschließt und der das Werk Christi zu seiner alleinigen
Grundlage, das Wort Gottes zu seiner alleinigen Leuchte und
den Geist Gottes zu seiner einzigen Kraft hat? Alles in uns
und um uns her ist nur geeignet, unseren Glauben zu schwächen; und deshalb bedürfen wir allezeit der Wachsamkeit, der
Nüchternheit und des Gebets, damit es dem Feinde unserer
Seelen nicht gelinge, das Auge unseres Glaubens zu trüben,
sie auf die sichtbaren Dinge zu richten und von Gott und
Seinem untrüglichen Worte abzulenken.
Da es indes nicht unsere Absicht ist, hier auf den Wandel eines
Christen näher einzugehen, so möchte ich nur noch mit einigen
Worten auf zwei gefährliche Klippen, an denen schon manche
Seelen gescheitert sind und scheitern, die Blicke des Lesers
richten. Man hört nämlich oft von einem Kampf wider die
Sünde reden und man begreift unter dieser Bezeichnung jenes
nutzlose Abmühen, den im Fleische wohnenden Lüsten und
Begierden den Todesstoß zu geben. Es mag ein vielleicht unter
vielfachen Flehen und Seufzen begonnener und fortgesetzter
Kampf sein; aber es ist nicht der Kampf jenes Glaubens, der
die Welt überwindet, sondern vielmehr das verzweifelte Ringen des Unglaubens, wobei der Kämpfer stets unterliegt und
sich verunreinigt. Ohne Zweifel wird das Vorhandensein des
Fleisches oder der im Fleische wohnenden Sünde Unruhe und
Kämpfe in mir hervorrufen; jedoch möchte ich im Blick auf
diese Erscheinung nicht gern sagen, daß ich „mit der Sünde zu
kämpfen" habe, weil eine solche Ausdrucksweise einerseits
zu einem falschen Begriff über den Kampf des Gläubigen
Anlaß gibt, und weil andererseits sie an keiner Stelle der
Heiligen Schrift gebraucht wird. Allerdings findet man in
Hebr 12, 4 die Worte: „Ihr habt noch nicht, wider die Sünde
ankämpfend, bis aufs Blut widerstanden"; aber bei etwas
107
näherer Beleuchtung wird man auf den ersten Blick entdecken,
daß hier nicht von einem Kampf wider die im Fleische wohnende,
sondern wider jene Sünde die Rede ist, welche von außen
her in dem Gewände mannigfacher Versuchungen auf die
Hebräer eindrang. So lesen wir im vorhergehenden Vers:
„Denn betrachtet den, der so großen Widerspruch von Sündern
gegen sich erduldet hat, auf daß ihr nicht ermüdet, -indem ihr
in euren Seelen ermattet"; (V 3) und da auch die Hebräer
bereits vieles in dieser Weise im „Kampfe wider die Sünde"
erduldet, (vergl. Kap. 10, 32—34.) jedoch noch nicht „bis aufs
Blut" widerstanden (d. h. bis zum Tode ausgeharrt) hatten, so
lag die Gefahr des Ermattens nahe. Wir sehen daher augenscheinlich, daß es sich hier keineswegs um einen Kampf wider
die im Fleische wohnende Sünde handelt, wiewohl dadurch
durchaus nicht geleugnet werden soll, daß den Gläubigen auch
von dieser Seite viel Kampf und Unruhe bereitet wird. Denn
nicht umsonst ermahnt der Apostel: „So herrsche denn nicht
die Sünde in eurem sterblichen Leibe, um seinen Lüsten zu
gehorchen; stellet auch nicht eure Glieder der Sünde dar zu
Werkzeugen der Ungerechtigkeit." (Röm 6, 12, 13.) Und
ebenso lesen wir in Kol 3, 5, wo nicht von den Gliedern des
äußeren Leibes, sondern des Leibes der Sünde die Rede ist:
„Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind: Hurerei, Unreinigkeit, Leidenschaft, böse Lust und Habsucht, welcher
Götzendienst ist." Daß das Vorhandensein der Sünde im
Fleisch Kampf in der Seele hervorruft — wer wollte es leugnen?
Wie und auf welche Weise aber werden wir imstande sein,
solchen und ähnlichen Ermahnungen nachzukommen? Ohne
Zweifel werden sich alle Anstrengungen der eigenen Kraft
wider die Sünde als nutzlos und ohnmächtig erweisen. Aber
auch hier wie überall wird der Kampf des Glaubens den Sieg
verleihen. Nur dürfen wir es nie aus dem Auge verlieren, daß
der Glaube seine Kraft zur Ausführung seines Kampfes nicht
in uns selbst sucht. Sein Blick ist unverrückt auf Christum und
Sein Werk gerichtet. Dort allein ist die verborgene Quelle
seiner Kraft und die unumstößliche Gewißheit seines Sieges.
Nur im Werke Christi sind wir, wie wir bereits gesehen, durch
unsere Einpflanzung in Seinen Tod und Seine Auferstehung
108
der Herrschaft der Sünde entronnen, und dort haben unsere
Glieder der Sünde ihren Tod gefunden. Und was ist die Folge?
In dem Maße wie wir nun durch den Glauben diese Wahrheit
festhalten und unseren Platz in dem Auferstandenen verwirklichen, werden wir auch in unserem Wandel die Befreiung von
jener Herrschaft der Sünde ans Licht stellen und unsere „Glieder, die auf der Erde sind", so oft sie sich regen, durch die
Kraft des Heiligen Geistes „töten". „Also auch ihr, haltet euch
der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christo Jesu." (Röm
6, 11.) „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so
suchet, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten
Gottes. Sinnet auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf
der Erde ist." (Kol 3, 1. 2.) Nur der Glaube ist fähig, diese
Ermahnungen in der Kraft des Heiligen Geistes zu erfassen,
und ihnen nachzukommen; nur der Glaube vermag uns über
die niedrige Atmosphäre zu erheben, wo Sünde und Tod ihr
Lager aufgeschlagen haben und wo der Unglaube nur stets
seine Niederlagen zu beklagen hat. Möge der Herr uns daher
in Seiner reichen Gnade nüchtern und wachsam zum Gebet
erhalten, damit wir allezeit „kraft des Glaubens" wandeln und
den „guten Kampf des Glaubens" bis zu Ende kämpfen.
Die zweite Klippe für die Gläubigen besteht darin, daß sie,
wie schon bemerkt, die Wahrheit Gottes oder ihre Stellung in
Christo nach ihren eigenen Erfahrungen abmessen und beurteilen. Das ist eine Erscheinung, die leider nur zur Folge hat,
daß dadurch jene Wahrheit verdunkelt und die wahre Stellung
der Gläubigen unsicher gemacht wird. Die Erfahrungen sind
segensreich und köstlich, wenn der Glaube sie macht; aber
wie viele trübe Erfahrungen macht der Unglaube! Wie viele
solcher Erfahrungen eines unlauteren Herzen mußte Jakob
machen! Aber wie traurig klingt sein Bekenntnis am Ende
seiner Tage? Er sagt: „Wenig und böse waren die Tage meiner
Lebensjahre." (1. Mos 47, 9.) Gleich den zahlreichen Christen
unserer Tage hatte er fast nur die Falschheit und Unbeständigkeit seines bösen Herzens kennengelernt, keineswegs aber
wie Abraham die ungetrübte und erquickende Gemeinschaft
Jehovas genossen. Doch welchen Wert wir auch den Erfahrungen, die wir machen, beilegen mögen, so können sie doch nie
unser Leiter in der Wahrheit sein und nicht dem Worte Gottes
109
gleichgestellt oder gar zum Prüfstein des Wortes benutzt werden. Weshalb bedürfte auch dieses „wohl geläuterte" Wort
(Ps 119, 140) noch irgend eines Prüfsteins? Ist es nicht vielmehr selbst ein Prüfstein — „lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert?" — ein „Beurteiler der
Gedanken und Gesinnungen des Herzen?" (Hebr. 4, 12.) Jede
Erfahrung unseres Herzens haben wir nach diesem Wort zu
beurteilen und, wenn sie nicht mit dem Wort übereinstimmt,
mit Entschiedenheit zu verwerfen. Wo unter der Leitung des
Heiligen Geistes der Glaube wirksam ist, da wird auch sicher
das Wort Gottes die einzige Regel und Richtschnur unseres
Wandels und Kampfes hier auf Erden sein, während der Unglaube, fern von dem Worte Gottes, vergeblich einen Ruheund Stützpunkt in den schwankenden Gefühlen und Erfahrungen des eigenen Herzens sucht. Der Geist Gottes ist unablässig bemüht, unsere Füße auf den Boden des an das untrügliche Wort gebundenen Glaubens zu stellen. Sobald die Kolosser auf diesem Boden eine rückgängige Bewegung zu machen
schienen, rief ihnen der Apostel zu: „Wenn ihr mit Christo
den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerfet ihr
euch Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?" (Kol 2, 20.)
Das ist die Sprache des Wortes und des Glaubens, während die
Erfahrung und die Vernunft gesagt haben würden: „Ihr unterwerft euch den Satzungen, und daher ist es sonnenklar, daß
ihr noch am Leben in der Welt seid." Das Wort und der
Glaube sagen: „Ihr seid gestorben"; aber die Erfahrung und
die Vernunft urteilen: „Ich sterbe täglich", eine Sprache, die
deutlich verrät, daß man diese Worte des Apostels in 1. Kor
15, 31 nicht versteht, wo er von seinen großen Gefahren redet,
die einem täglichen Sterben gleichzuachten waren, und die er
in Röm 8, 36 mit den Worten bezeichnet: „Um deinetwillen
werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind
wir gerechnet worden." Gewiß, das Wort Gottes bildet einen
völligen Gegensatz zu den Erfahrungen des Herzens; und die
Sprache des Glaubens widerspricht den Eingebungen der Vernunft unter allen Umständen.
Herr! erleuchte mehr und mehr unser Auge, damit wir diese
Klippen sehen, vermehre unseren Glauben und befestige ihn
von Tag zu Tag!
110
4.
Im Vorhergehenden haben wir also sowohl den bejammernswerten Zustand des Menschen von Natur, als auch seine völlige Befreiung daraus kennengelernt. Das vollbrachte Werk
Christi hat alle Fragen gelöst. In dem vergossenen Blut des
Lammes Gottes sieht der Gläubige die völlige Vergebung seiner Sünden, sowie die gänzliche Verurteilung der in seinem
Fleische wohnenden Sünde, so daß er, gestorben und auferweckt mit Christo, befreit von der Sünde und im Besitz eines
neuen Lebens, fähig gemacht ist, Gott Frucht bringen zu
können.
Jetzt aber möchte ich die Aufmerksamkeit meiner Leser auf
einen Gegenstand hinlenken, dessen Bedeutung um so mehr
in den Vordergrund tritt, als sich im allgemeinen in bezug auf
seinen wahren Charakter eine Unkenntnis kundgibt, die fast
ans Unglaubliche grenzt. Unter vielen Christen ist nämlich die
Meinung verbreitet, als ob das „Gesetz" die Regel und Richtschnur des Lebens für den Gläubigen sei. Eine solche Anschauung aber verrät nicht nur, wie wenig man die Natur
des Gesetzes kennt, sondern zeigt auch zu gleicher Zeit die
Neigung des menschlichen Herzens, die Grundsätze des Gesetzes mit denen der Gnade zu verwirren. Das aber ist eine
Neigung, wodurch man sowohl das Gesetz seiner unbestechlichen, unbeugsamen Strenge, als auch die Gnade ihrer herrlichen Schönheit und Kraft entkleidet. Es ist daher unerläßlich nötig, genau den Platz zu bezeichnen, den das Gesetz
einerseits dem Sünder und andererseits dem Gläubigen gegenüber einnimmt.
Gnade und Gesetz sind geradezu zwei ganz entgegengesetzte
Grundsätze. Ihre Verbindung ist undenkbar. Das Gesetz, obwohl es zunächst den Juden gegeben war, ist im allgemeinen
der Ausdruck dessen, was der Mensch sein sollte, während
die Gnade zeigt, was Gott ist. Das Gesetz richtet seine gerechten Forderungen an den Sünder, fordert ihre pünktliche Erfüllung und verurteilt, ohne Kraft darzureichen, den Übertreter mit unnachsichtiger Strenge, während die Gnade nichts
fordert, die Sünden vergibt und alles schenkt, was der Mensch
zu seinem ewigen Heil nötig hat. Unter das Gesetz gestellt,
111
hat der Mensch, angesichts des gerechten Urteils des Gesetzes, nichts zu erwarten als Tod und Verdammnis; und selbst
die Gnade kann weder sein trauriges Los ändern, noch die
Forderungen des Gesetzes verringern. Das Gesetz mit der
Gnade vermengen zu wollen, ist daher eitel und nutzlos. Eine
Errettung, teils durch das Gesetz, teils durch die Gnade gehört
ebensowohl in das Reich törichter Einbildungen, als eine Stellung teils unter dem Gesetz, teils in der Gnade. „Durch die
Gnade seid ihr errettet" (Eph 2, 8.) und: „Ihr seid nicht unter
Gesetz, sondern unter Gnade." (Röm 6, 14.) Das Gesetz
enthüllt dem Auge des schuldigen Sünders den trostlosen
Zustand seiner Natur und schreibt mit unverwischbaren Zügen das Todesurteil auf seine Stirn; aber nicht ein Fünklein
von Gnade mildert die strengen Ansprüche des Gesetzes.
„Jemand, der das Gesetz Moses verworfen hat, stirbt ohne
Barmherzigkeit." (Hebr 10, 28.) „Der Mensch, der diese Dinge getan hat, wird durch sie leben." (3. Mo 18, 5; Röm 10, 5.)
„Verflucht sei, wer nicht aufrecht hält die Worte dieses Gesetzes, sie zu tun." (5. Mo 27, 26; vergl. Gal 3, 10.) Wo findet
sich in der gewaltigen Schärfe dieser Forderungen irgend die
lindernde Einwirkung der Gnade? Von der Höhe des in „Dunkel, Finsternis und Sturm" gehüllten Berges Sinai herab
wandte es sich an den gefallenen Menschen; und nicht der
matteste Lichtschimmer der in Christo Jesu geoffenbarten
Gnade durchbrach die finsteren Nebel.
Schon von dem ersten Augenblick an, wo eine Seele durch die
Gnade Gottes erweckt und unter den Einfluß des neuen Lebens gebracht ist, erkennt sie an, daß die Gerechtigkeit Gottes
zu den Forderungen des Gesetzes berechtigt ist; aber zu gleicher Zeit entdeckt sie bei sich selbst gerade das, was durch
das Gesetz verdammt wird. Sie ist überzeugt, daß Gott weder
Seine Autorität mindern, noch Seine Heiligkeit verleugnen
kann; und sie spannt daher alle ihre Kräfte an, um Seinen
gerechten Forderungen zu genügen. Aber ach! bei dem ersten
Anlauf sieht der arme Kämpfer seinen Schritt gelähmt. Das
Gesetz fordert eine unbedingte, vollkommene Vollbringung;
das Gewissen und der erneuerte Wille erkennen diese Forderung an als „heilig, gerecht und gut" (Röm 7, 12.) und wünschen nicht, daß sie gemildert werde; aber wo ist die Kraft,
112
um das vorgesteckte Ziel zu erreichen? Die neue Natur hat in
der Tat die Gerechtigkeit Gottes lieb; aber das Gesetz, anstatt
Kraft zum Vollbringen zu geben, weckt vielmehr die bisher
schlummernde und ungekannte Lust zu entschiedenem Widerstände auf, so daß jede Anstrengung nutzlos und vergeblich ist. Das Gesetz verlangt völligen Gehorsam als die Bedingung des Lebens und der Gerechtigkeit; aber gerade dies
stellt ins Licht, daß ich mich von Natur in einem Zustand
des Todes und der Ungerechtigkeit befinde und mithin von
vornherein die Dinge nötig habe., die das Gesetz als Ziele
vor mich hinstellt. Ich finde in mir dieselben Grundsätze,
gegen die jene Verbote ausdrücklich gerichtet sind. Was nützen da alle Seufzer, alle Tränen, alle Vorsätze und alle Anstrengungen, wenn bei jedem meiner Schritte das in mir wohnende Böse immer mächtiger in den Vordergrund tritt und gar
gegen all mein Wirken einen so entschiedenen, hartnäckigen
Widerspruch erhebt, daß ich nicht nur an. der Vollbringung des
Guten behindert, sondern sogar zur Ausführung des Bösen
gedrängt werde? Ach! alle Anstrengungen unter dem Gesetz,
um den Willen Gottes zur Erlangung des Lebens und der
Gerechtigkeit zu vollbringen, verraten nur zu deutlich die verborgene Eigengerechtigkeit des stolzen Herzens und bezeugen nur die traurige Verblendung des Menschen über seinen
eigentlichen, wahren Zustand. Nutzlos und eitel wird daher
das Ringen eines erwachten Gewissens sein; die Früchte eines
solchen Kampfes werden ein leichtfertiges Gemüt bald erschlaffen und ein aufrichtiges Herz zur Verzweiflung treiben.
Unter dem Gesetz kann eine Seele nur von ihrer ganzen Ohnmacht überzeugt werden; wenn sie auf die Heiligkeit und
Gerechtigkeit Gottes blickt, kann das bei ihr nur Unruhe und
Furcht hervorrufen. Das Gewissen ist niedergedrückt von der
Geistlichkeit und Unerbittlichkeit des Gesetzes. Indem die
Seele sich der eigenen fleischlichen, unverbesserlichen Natur
bewußt wird, bleibt nichts anderes übrig als auszurufen:
„Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe
des Todes?" (Röm 7, 24.)
Aber können solche traurigen Resultate befremden? Keineswegs. Das Erwachen des Gewissens genügt nicht, das Gesetz
zu vollbringen. Wenn ich mich im Licht des Gesetzes prüfe,
113
kann es mich wohl überführen, daß ich das bin, was ich
nicht sein sollte; aber es bietet mir keine Kraft, das Gute tun
und das Böse lassen zu können. Wenn eine Lampe den finsteren Kerker eines gefesselten Gefangenen beleuchtet, so
kann der Gefangene wohl die trostlose Öde seiner Umgebung
und das Schreckliche seiner bedauernswürdigen Lage überschauen und sich bei diesem Anblick vielleicht zu den verzweifeltsten Anstrengungen, seine Ketten zu sprengen, drängen lassen. Aber was nützt es? Er bleibt ein Gefangener, ein
Gebundener; gerade die Erkenntnis seines Zustandes und die
fruchtlosen Versuche, sich davon zu befreien, machen sein herbes Schicksal um so unerträglicher. Ebenso das Gesetz. Es ist
eine Lampe, die in die dunklen Räume des menschlichen Herzens hineinleuchtet, ein Spiegel, der dem Sünder die wahre
Gestalt seines Elends und seiner Hilfslosigkeit unverhüllt vor
das Auge rückt, es ist der Prüfstein seiner Gesinnung, seiner
Worte und seiner Handlungen und stellt ihn, weil er ein Sünder und nicht das ist, was er sein sollte, unter den Fluch. Als
der Maßstab dessen, was Gott von dem natürlichen Menschen
fordert, kann das Gesetz nur durch eine vollkommene Erfüllung seiner Vorschriften befriedigt werden, und wird daher,
gemäß der unerbittlichen Strenge seines Charakters, den Übertreter zum Tode und zur Verdammnis verurteilen. Das ist die
einfache Erläuterung der Wirkung des Gesetzes.
Was aber ist die Ursache einer solchen trostlosen Erscheinung?
Diese Frage erhält erst dann die richtige Antwort, wenn
wir uns daran erinnern, daß ein unter Gesetz gestellter
Mensch mit einem Grundsatz in Verbindung ist, auf
Grund dessen zwar die Gerechtigkeit gefordert und das Leben
zugesagt wird, aber dieser Grundsatz kann nichts als die im
Fleische schlummernden Leidenschaften hervorrufen, und er
birgt den Tod und die Verdammnis in seinem Schoß. In
Röm 7 finden wir eine vollständige Aufklärung über diesen
Punkt. Dort lesen wir die Worte: „Wisset ihr nicht, Brüder,
daß das Gesetz über den Menschen herrscht, so lange er lebt?"
— Das ist einfach und klar. Der einem Gesetze unterworfene
Mensch ist an dessen Vorschriften gebunden, so lange das
Gesetz in Kraft ist; nur der Tod kann diese Verbindung
rechtskräftig auflösen. Das Gesetz der Ehe liefert in den Dar114
Stellungen des Apostels ein erläuterndes Beispiel. Wenn eine
Frau bei Lebzeiten ihres Mannes eine Verbindung mit einem
anderen Manne eingeht, so begeht sie Ehebruch; erst nach
dem Tode ihres angetrauten Mannes ist sie frei, mit einem
anderen Mann in Verbindung zu treten. (V. 3) Ebenso kann der Mensch, weil die an ihn gerichteten Forderungen
des Gesetzes göttlich gerecht sind, der Herrschaft des Gesetzes
nicht entrinnen, es sei denn, daß die Hand des Todes dazwischen greife und die Verbindung für immer auflöse. Ist es
nun ein Wunder, wenn der gefallene Mensch unter der Herrschaft eines Gesetzes, das nichts anderes tun kann, als den
Fluch, den Tod und die Verdammnis auf sein Haupt zu
schleudern, nur Früchte des Todes hervorbringt? Kann
es da befremden, wenn der gegen die Sünde kämpfende
Gesetzesmensch nach langen vergeblichen Anstrengungen zu
Boden sinkt und mit dem Rufe: „Ich aber bin fleischlich,
unter die Sünde verkauft; denn was ich vollbringe, erkenne
ich nicht; denn nicht was ich will, das tue ich, sondern was ich
hasse, das übe ich aus", (V. 14. 15) die Tiefe seines Elends
bezeichnet? Keineswegs.
Aber wozu ist denn das Gesetz gegeben? Der Apostel belehrt
uns darüber, wenn er sagt: „Das Gesetz aber kam daneben
ein, auf daß die Übertretung überströmend sei." (Röm 5, 20.)
Ja, es ist nebeneingekommen, um die übermäßige Sündigkeit
der Sünde ans Licht zu stellen und um dem Menschen die wahre
Gestalt seines kläglichen Zustandes zu offenbaren. „Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde." (Röm 3, 20.) „Die Sünde
hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von
der Lust hätte ich nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Laß dich nicht gelüsten." (Röm 7, 7.) Das ist der
eigentliche Zweck des Gesetzes. Gott will die aufrichtige Seele
von ihrem Elend und ihrer Ohnmacht überzeugen. Wie könnte
Er ihr Seinen mächtigen Arm zur Stütze darreichen, während
sie mit eigener Kraft gegen die Macht der Sünde ihre Waffe
schwingt? Würde Er nicht der Eigengerechtigkeit und dem
Stolz des menschlichen Herzens Nahrung geben? Würde nicht
Sein Beistand eine Anerkennung des Fleisches in sich tragen
und die Notwendigkeit des Werkes Christi in Frage stellen?
Sicher, und niemals würde auf solche Weise der unter die
115
Sünde verkaufte Sklave zur Erkenntnis seines wahren Zustandes gelangen können. Darum läßt Gott dem Druck Seiner
Gerechtigkeit auf das Gewissen des Sünders Seine volle, vernichtende Kraft, was nichts anderes zur Folge haben kann, als
daß der unglückliche, stets besiegte Kämpfer von der stolzen
Höhe seiner vermeintlichen Kraft herabsteigt und, von den
unerbittlichen Schlägen des Gesetzes in den Staub gelegt,
seine Erlösung anderswo zu suchen beginnt. Und das ist der
Platz, der dem fluchwürdigen Sünder geziemt. Hast Du, mein
teurer Leser, diesen Platz noch nicht eingenommen, so wird
es sicher einmal geschehen müssen. Du bist Sünder und der
Gerechtigkeit des Gottes unterworfen, der ein „verzehrendes
Feuer" ist. Wie willst Du entfliehen? Nur in einer Stellung,
wo die „Leuchte des Allmächtigen". (Hi 29, 3.) Dein finsteres
Herz erhellt hat, und wenn Du, gebrochen in Deinem Stolz,
am Boden liegst und zu dem Angstruf: „Wer wird mich retten
von diesem Leibe des Todes?" — die Lippen öffnest, nur dann
findet der Gott aller Gnade Gelegenheit, Seine rettende Hand
auf Dein mit Sünden beladenes Haupt zu legen und Dich, fern
von der Stätte des Todes und der Verdammnis, in jene Freistadt des Glaubens zu führen, wo Dich der Fluch des Gesetzes
nie mehr erreichen kann.
Es wird, wie ich hoffe, jetzt dem Leser einleuchten, daß
die Errettung des Sünders, so lange er sich in Verbindung
mit dem Gesetz befindet, unmöglich ist. Wie könnte auch
eine Sache die Grundlage seines Lebens und seiner Gerechtigkeit bilden, die nur Fluch, Tod und Verdammnis über den
Menschen verhängt, da doch der Zustand des Sünders und
der Charakter des Gesetzes unverändert bleiben?
Aber wie? Ist das Gesetz denn nicht „heilig, gerecht und gut"?
Sind seine Vorschriften nicht göttlich? Und legen sie dem
Menschen nicht wirkliche Verpflichtungen auf, denen er gewissenhaft nachkommen soll? Allerdings. Das Gesetz ist, wie
gesagt, der Maßstab davon, was Gott von dem Menschen
fordert; und selbst das, was der Mensch in Form einer Gnade
hineinzubringen trachtet, ist nicht imstande, seine Forderungen zu mäßigen und die Verantwortlichkeit des Menschen zu
vermindern. Und gerade weil das Gesetz göttlich vollkommen
und der Mensch ein Sünder ist, wird vor Gott „aus Gesetzes
116
Werken kein Fleisch gerechtfertigt werden." Nur ein vollkommener Gehorsam bietet eine Aussicht zum Leben und zur
Gerechtigkeit; der Blitzstrahl Seines Fluches trifft und zerschmettert jeden Übertreter. Wie ernst und bedeutungsvoll
ist daher die Frage: Wie werde ich befreit von einer Sache,
die mich, weil ich Sünder bin, nur in namenloses Elend stürzen kann? Eine Trennung muß stattfinden, das ist unleugbar.
Aber wie? Eine Trennung auf unrechtmäßigem Wege wird
Gott nicht gestatten, und nicht gelingen lassen. Wo ist nun
der von Gott erlaubte und von Ihm selbst aus Gnaden bereitete Weg?
Wie wir bereits erwähnt haben, kann nur der Tod die Auflösung eines in jeder Beziehung trostlosen Verhältnisses bewirken. Es ist die weise Anordnung eines gnadenreichen
Gottes. Wenn daher eine erweckte Seele, erschreckt über den
fleckenlosen Glanz der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes,
und im Blick auf die eigene Sündhaftigkeit und Ohnmacht,
von der schmerzlichen Überzeugung durchdrungen ist, daß
sie den Forderungen des Gesetzes nicht genügen kann, so
offenbart ihr Gott nur jenen einzigen Weg zur völligen Befreiung vom Gesetz und seinen gerechten Ansprüchen: dieser
einzige Weg, der sie ganz und gar und für immer aus dem
Bereich der Forderungen und des Urteils des Gesetzes führt,
ist der Tod des Sünders. Das Gesetz, weil es „heilig, gerecht
und gut" ist, kann weder aufgelöst, aufgehoben oder beseitigt, noch in seiner göttlichen Autorität irgendwie geschwächt
oder beeinträchtigt werden. Es fordert die ungehemmte und
unverkümmerte Ausübung seiner Rechte und die Vollziehung
seines gerechten Urteils. Armer, verurteilter Sünder! Wie
willst Du entrinnen? Wohin willst Du Dein bekümmertes
Auge richten? Wohin Deine Zuflucht nehmen? Deine Seufzer, Deine Tränen, Deine Kämpfe — was haben sie genützt?
Sind nicht die schlummernden Leidenschaften Deines Fleisches zum hartnäckigsten Kampf geweckt worden? Haben sie
nicht mit unverwischbaren Zügen das Brandmal eines Sklaven
auf Deine Stirn gedrückt?
Doch, gottlob, es ist ein Rettungsweg da. Gott selbst hat ihn
bereitet, in dem Tode Christi. Hier hat sich die Autorität des
Gesetzes in ihrer ganzen Tragweite verherrlicht; denn im
117
Tode dessen, der zur Sünde gemacht wurde, sehen wir das
Urteil des Gesetzes vollzogen; und der Apostel ruft allen, die
unter Gesetz waren, aber an Jesum gläubig geworden sind,
die Worte zu: „Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz
gestorben durch den Leib des Christus." (Röm 7, 4.) Welch
eine kostbare Wahrheit! Das Gesetz verhängte den Tod über
jeden Sünder, aber in dem Tode Christi ist an jedem Gläubigen, weil er in Ihm mitgestorben und mitauferweckt ist, dieses
Urteil bereits gänzlich vollstreckt worden. Wird das Gesetz
etwa noch einem Gestorbenen gegenüber seine Ansprüche
erheben? Sicher nicht. Jeder Gläubige kann jetzt aus dankerfülltem Herzen rufen: „Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz
gestorben"; (Gal 2, 19.) ich bin, weil in dem Tode Christi
das über mich gefällte Urteil vollzogen ist, für die Flüche des
Gesetzes nicht mehr da, sondern sehe durch Glauben meine
frühere Stellung im Fleische und unter dem Gesetz vor Gott
für immer aufgehoben. Welch eine wunderbare, preiswürdige
Gnade! Für alles, was vor dem Angesicht Gottes und im Licht
Seiner Gegenwart Sünde ist und für alles, um dessentwillen
mich die furchtbaren Flüche des Gesetzes hätten treffen müssen, — für dies alles ist Christus auf dem Kreuze gestorben.
Sein Tod ist mein Tod, Sein Leben ist mein Leben. Jetzt ist,
Gott sei Dank, alles vorübergegangen. Das Werk ist vollbracht; die zuckenden Blitze des Zornes haben in Christo
mich getroffen, und die schweren Gewitter eines ewigen Gerichts sind .für immer vorübergezogen. Auf die Frage des bekümmerten Sklaven: „Wer wird mich retten von diesem Leibe
des Todes?" drängt sich aus dem wonneerfüllten Herzen des
Befreiten die Antwort: „Ich danke Gott durch Jesum Christum,
unseren Herrn." (Röm 7, 24.)
Könnte nach solchen Erfahrungen wohl noch jemand wagen
zu behaupten, daß das Gesetz, das nichts anderes als den Tod
zu bringen vermochte, noch irgendwelche Ansprüche auf das
neue Leben eines Gläubigen habe? Es ist kaum denkbar. Ist
das alte Verhältnis durch den Tod Christi so vollständig zerstört, daß ich „eines anderen, des aus den Toten auferstandenen" geworden bin, wie könnte ich dann noch in irgendwelcher
Verbindung sein mit einer Sache, die mich verurteilt, verworfen und getötet hat? Und dennoch gibt es viele Seelen, die
118
zwar einräumen, daß das Leben nicht durch das Gesetz zu
erlangen sei, die aber zugleich behaupten, daß das Gesetz
für den Gläubigen die Regel und Richtschnur seines Lebens
bilden müsse. Sie machen sogar die Liebe des Herrn zu einem
Gesetz für sich; sie erkennen diese Liebe, geoffenbart in
Seinem Werke auf dem Kreuze, völlig an und erblicken in
dieser Liebe die gerechten Ansprüche Christi auf eine vollkommene Gegenliebe, die sie in ihrem Herzen vergeblich
suchen. Sie sollen Ihn von ganzem Herzen lieben; aber sie
entdecken in sich das Gegenteil. Sie sind mit sich, mit ihrer
Liebe beschäftigt, aber keineswegs mit der Liebe Christi. Obwohl sie behaupten, vom Gesetz befreit zu sein, stellen sie
sich unter ein Gesetz, welches Liebe fordert, aber keine darreicht. Sie geben dem Gesetz nur eine neue Form, bekleidet
mit dem Namen Christi, und machen sich, mit einem Wort,
Christus selbst zum Gesetz. Ach! wie schwer wird es dem
törichten Herzen „fest zu stehen in der Freiheit, für die Christus uns freigemacht hat!" (Gal 5, 1.) Hat denn etwa das
Gesetz, das den Sünder verurteilt und tötet, seinen Charakter
verändert, wenn der Gläubige mit ihm in Berührung kommt?
Der Apostel gibt uns auf diese Frage eine bestimmte Antwort, wenn er, abgesehen von dem persönlichen Zustande
dessen, der sich das Joch des Gesetzes auferlegt, den Galatern
zuruft: „So viele aus Gesetzes Werken sind, sind unter dem
Fluche." Das ist genug, um zu zeigen, daß, wenn die Gnade
Gottes den Menschen nicht aus dem Bereich des Gesetzes
führen konnte, sie ihm auch nicht außerhalb der Grenzen des
Fluches einen Platz anweisen konnte. Befindet sich der Christ
noch in etwa unter dem Gesetz, so ist er auch unleugbar dem
Fluche des Gesetzes ausgesetzt. Vermengt man das Gesetz mit
Gnade, raubt man ihm die göttliche Vollkommenheit, Reinheit und Unbeugsamkeit; man stellt dadurch die Gerechtigkeit Gottes in Frage, und man leugnet die Fülle der bedingungslosen, unumschränkten Gnade. Sicher wird ohne Unterschied jeder, der sich das Gesetz zum Führer wählt, auch den
vollen Schlag seines zweischneidigen Richtschwertes fühlen
müssen. O welch ein Glück daher, daß nicht die Gedanken und
Anschauungen eines eigengerechten Herzens, sondern die untrüglichen Worte Gottes auch in dieser Frage den Ausschlag
119
geben! „Christus hat uns losgekauft vom Fluche des Gesetzes,
indem er ein Fluch für uns geworden ist." (Gal 3, 13.) „Als
er ausgetilgt die uns entgegenstehende Handschrift in Satzungen, die wider uns war, hat er sie auch aus der Mitte
weggenommen, indem er sie an das Kreuz nagelte." (Kol 2,
14.) Schöpfen wir daher ununterbrochen aus dieser lauteren,
unvermischten Quelle, dann werden wir nicht irregehen!
Im 15. Kapitel der Apostelgeschichte sehen wir, wie der Heilige
Geist dem Versuch der jüdischen Gesetzeslehrer, den heidnischen Gläubigen das Gesetz als Regel und Richtschnur ihres
Lebens aufzudrängen, mit großer Entschiedenheit entgegentritt. „Man muß sie beschneiden und ihnen gebieten, daß sie
das Gesetz Moses halten" rufen die Pharisäer. Aber in der
Kraft des Heiligen Geistes und mit einer bewundernswürdigen Einstimmigkeit bekämpfen die Apostel dieses Ansinnen,
indem sie sagen: „was versuchet ihr Gott, um ein Joch auf
den Hals der Jünger zu legen, das weder unsere Väter, noch
wir zu tragen vermochten." (Apg 15, 10.) Und Petrus fügt
hinzu: „Brüder! Ihr wisset, daß Gott vor längerer Zeit mich
unter euch auserwählt hat, daß die Nationen durch meinen
Mund das Wort des Evangeliums hören und glauben sollten."
(Apg 15, 7.) — Wie bestimmt und deutlich sind diese göttlichen Aussprüche! Nein, sicher wollte Gott nicht „ein Joch
auf den Hals" derer legen, deren Herzen durch das Wort des
Evangeliums Frieden gefunden hatten; im Gegenteil läßt Er
durch den Mund jenes treuen Apostels, der einst in betreff
des Gesetzes tadellos gewandelt hatte, (Phil 3, 6.) die Gläubigen auffordern, festzustehen „in der Freiheit Christi und
sich nicht wiederum unter einem Joche der Knechtschaft halten zu lassen." Wie hätte er sie auch wieder führen können zu
dem in „Dunkel, Finsternis und Sturm gehüllten Berge, der
betastet werden konnte", nachdem der Lichtglanz der Gnade
in ihre Herzen geleuchtet hatte? Sowohl die Juden, die unter
dem Gesetz waren, als auch die Heiden, die ohne Gesetz gewesen waren, alle waren durch dieselbe Gnade „errettet" worden; (Apg 15, 11.) Alle „standen" in der Gnade (Röm 5, 2;
Gal 5, 1.) und alle sollten „wachsen" in der Gnade. (2. Petr
3, 18.) Nirgends wird im Neuen Testament das Gesetz als
Lebensregel für die Gläubigen aufgestellt; sie hören und glau120
ben dem Wort des Evangeliums und werden aufgefordert,
„würdig des Evangeliums des Christus" zu wandeln. (Phil 1,
27.) Wer daher sowohl jetzt wie ehedem den Hals der Jünger
unter das Joch des Gesetzes zu beugen trachtet, erschüttert,
gleich jenen Pharisäern, die Fundamente des christlichen Glaubens, und versucht Gott. „Ich wollte, daß sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln", ruft der Apostel im Ton gerechten Unwillens; und sein durch den Heiligen Geist geleitetes Verhalten gegen die Gesetzeslehre stellt es klar ins Licht,
welch ein Greuel die Gesetzlichkeit in den Augen Gottes ist.
Sind Seine Gedanken etwa verändert? Gelten Seine Aussprüche
nicht mehr für unsere Tage? Versuchen wir Ihn nicht, wenn
wir den Seelen das Gesetz aufzubürden trachten? Beantworten wir im Lichte der Gegenwart Gottes diese Fragen, und
vergessen wir nicht, „daß alles, was das Gesetz sagt, es denen
sagt, die unter dem Gesetz sind", (Röm 3, 19.) daß aber,
als Gott die Botschaft des Heils durch das Blut des Lammes
vor das Ohr derer brachte, die „unter dem Himmel sind",
nicht die Flüche des Gesetzes, sondern die süßen, lieblichen
Worte der freien, unumschränkten Gnade von Seinen Lippen
ertönten. —
Dem Leser wird es daher einleuchten, daß das Gesetz weder
für den Sünder das Fundament ist, noch für den Gläubigen
die Richtschnur des Lebens. Aber, gottlob, sowohl das eine
wie das andere erblicken wir in Christo. Er ist unser Leben
und die Richtschnur unseres Lebens. Wie wir gesehen haben,
kann das Gesetz nur verfluchen und töten; aber Christus ist
unser Leben und unsere Gerechtigkeit. Als ein Fluch für uns
hing Er am Kreuze. Er stieg hinab bis zu der finsteren Stätte,
wo der gefangene, ohnmächtige und fluchwürdige Sünder lag
— hinab zu dem Platz des Todes und des Gerichts; und nachdem Er uns durch Seinen Tod von allem, was wider uns war,
befreit hat, ist Er für alle, die an Seinen Namen glauben, in
der Auferstehung die Quelle des Lebens und das Fundament
der Gerechtigkeit geworden. Weil wir nun aber in dieser
Weise in Ihm das Leben und die Gerechtigkeit besitzen, so
sollen wir auch wandeln, nicht wie das Gesetz vorschreibt,
sondern „wie er gewandelt hat". (1. Joh 2, 6.) Eine genaue Beobachtung der zehn Gebote würde sicher noch kein Wandeln
121
sein, wie Er gewandelt hat. Man würde in diesem Falle zwar
nicht „töten", nicht „stehlen", oder ähnliche Verbrechen begehen; aber daß man den Feind speisen, kleiden und segnen,
und das Herz des Beleidigers durch Wohltun erfreuen soll,
das gehört nicht zu den Vorschriften des Gesetzes.
Aber wie? wenn ich die Vorschriften des Gesetzes nicht erfüllen konnte, wie kann ich dann den weit höher gestellten Forderungen des Evangeliums nachkommen? — Weil ich, unter
dem Gesetz stehend, mit etwas verbunden war, das die in
mir schlummernde Sünde lebendig machte und mich verurteilte und tötete, während ich jetzt einem anderen angehöre,
der mein Leben und meine Gerechtigkeit ist und mich durch
die Gnade in der Kraft des Heiligen Geistes befähigt, Gott
Frucht bringen zu können. „Denn die Sünde wird nicht über
euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern
unter Gnade." Ich bin mit Ihm verbunden, der das Gesetz
vollkommen erfüllt hat und der des Gesetzes Ende ist. Das
Gesetz fordert Kraft von dem, der keine besitzt, und verflucht,
wenn er keine beweist, während das Evangelium Kraft darreicht dem, der keine besitzt und ihn segnet in der Ausübung
dieser Kraft. Das Gesetz bietet einem der Sünde unterworfenen
Sklaven das Leben als die Frucht des Gehorsams, während die
Gnade die Sklavenketten löst und das Leben als das einzige,
wahrhaftige Fundament des Gehorsams im voraus darreicht.
Was das Gesetz als Ziel bezeichnet, das ist in der Gnade der
Auslaufpunkt.
Wenn daher eine Seele ihren gänzlich hilflosen Zustand erkannt und die Überzeugung erlangt hat, daß sie die Gerechtigkeit des Gesetzes niemals erfüllen kann, so offenbart ihr Gott
die vollkommene Befreiung vom Gesetz. Mit dankerfülltem
Herzen erkennt sie, daß das Werk Christi für sie vollbracht
ist, und daß sie zufolge dieses Werkes in eine gänzlich neue
Stellung, in Verbindung mit dem auferstandenen Christus
gebracht ist, um Gott Frucht zu tragen. Sie kann triumphierend
sagen: „Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu
hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes;
denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch
kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in der
Gleichheit des Fleisches der Sünde und (als Opfer) für dieSün122
de sendend, die Sünde im Fleische verurteilte." (Röm 8, 2. 3.)
Der Mensch hat das Gesetz der Sünde in seinen Gliedern
durch das Gesetz kennengelernt; er hat die Sünde in sich
gesehen und gehaßt, konnte sich jedoch nicht von ihr befreien.
Aber jetzt, gläubig geworden an Christum, befindet er sich
nicht nur in der Stellung eines Befreiten, sondern in Christo
ist ihm auch die Kraft, dieser neuen Stellung gemäß zu leben,
zuteilgeworden. Zwar ist das Fleisch noch vorhanden und
nichts hat dessen böse Natur verändert; aber die Stellung der
Gläubigen vor Gott ist „nicht mehr im Fleische, sondern im
Geiste"; und an sie ergeht jetzt die Mahnung: „Wandelt im
Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen." (Gal 5, 16.) Eine Seele unter dem Gesetz weiß, daß sie
Gott und den Nächsten lieben soll von ganzem Herzen und
aus allen Kräften; aber das Gesetz wirkt keine Liebe, sondern
Zorn, und enthüllt den Haß und die Feinschaft des Herzens
gegen Gott und den Nächsten. „Die Gesinnung des Fleisches
ist Feindschaft gegen Gott; denn sie ist dem Gesetz Gottes
nicht Untertan; denn sie vermag es auch nicht." (Röm 8, 7.)
Wie ganz anders aber ist es, wenn die lieblichen Töne der
Gnade das Ohr des Sünders berühren und durch Glauben
Aufnahme im Herzen finden. Dann fühlt sich die Seele in
betreff der Gerechtigkeit in vollkommenem Frieden, weil sie
weiß, daß Gott, anstatt zu verdammen, etwas getan hat, was
das Gesetz nie tun konnte; dann sieht sie sich in Verbindung
mit Ihm, der die Liebe ist, und der, weil Er diese Seine Liebe
durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen hat,
ihr auch die Fähigkeit verliehen hat, Liebe üben zu können.
„Wer aber den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. So ist
nun die Liebe die Summe des Gesetzes." (Röm 13, 8. 10.;
vergl. Gal 5, 14. 22. 23.) Wie tief betrübt daher auch ein aufrichtiger Christ über die Wirkung der Sünde in seinem Fleische sein mag, so weiß er doch, daß Christus für seine Sünde
gestorben ist und daß in Ihm die Gerechtigkeit ihre völlige
Befriedigung gefunden hat. Er tritt mit Freimütigkeit in die
Gegenwart Gottes; denn er hat die Gewißheit, daß für alles,
was in Gottes Gegenwart Sünde ist, sich in Christo ein vollgültiges Schlachtopfer gefunden hat. Und weil er sich in einer
unauflöslichen Verbindung mit Christo, dem wahrhaftigen
123
Menschen, befindet, so besitzt er ein Leben, das fähig ist, für
Gott Frucht tragen zu können. Nur in der Gemeinschaft mit
Gott kann dies verwirklicht werden. Unter dem Gesetz und
mit dem Bewußtsein der Sünde war diese Gemeinschaft unmöglich und darum war keine Kraft zur Heiligung da. Die
durch das Gesetz bewirkte Furcht konnte ihn wohl zu verzweifelten Anstrengungen drängen; aber sie befähigte ihn zu
keinem guten Werk. Jetzt aber, nachdem das Gewissen gereinigt und die Liebe Gottes in sein Herz ausgegossen ist,
treibt ihn nicht gesetzliche Furcht zur Vollbringung toter
Werke. Jetzt ist die Liebe, gewirkt durch den in ihm wohnenden Heiligen Geist, die Quelle und Triebfeder seiner Handlungen. Die Verbindung mit dem über den alten Menschen
herrschenden Gesetz der Sünde und des Todes ist, und zwar
durch den Tod, göttlich aufgelöst; ein neues, unauflösliches
Verhältnis mit Christo ist durch die Gnade hergestellt; und
jede Seele, die sich in dieser neuen Verbindung befindet, sieht
vor ihren Blicken die mächtigen Züge des Charakters Gottes
enthüllt, die geeignet sind, das eisige Herz zu zerschmelzen
und die Seele zu ungefärbter Liebe und aufrichtiger Anbetung zu erheben.
Wir sehen also, wie himmelweit verschieden der Charakter des
Gesetzes von dem der Gnade ist. Das Gesetz herrscht über
den alten, die Gnade über den neuen Menschen; das Gesetz
verflucht, verurteilt und tötet, die Gnade segnet, vergibt und
macht lebendig; das Gesetz wirkt Zorn und Feindschaft, die
Gnade Frieden und Liebe. Wo finden sich unter diesen beiden
Grundsätzen Anknüpfungspunkte, die ihre Vermengung zulassen könnten? Gott hat jedem Grundsatz seinen besonderen
Platz angewiesen. Möge Er uns bewahren, damit wir diese
Wahrheit durch unsere Gedanken nicht verwirren! Möge Er
einen jeden der Seinigen verstehen lassen, daß das auf Golgatha vollbrachte Werk Christi die einzige Ursache der Vergebung unserer Sünden, das einzige Mittel zur Verurteilung
der in unserem Fleisch wohnenden Sünde, und der einzige
Weg zur Befreiung von dem Gesetz des Todes und der Sünde
ist! Ja, das Kreuz Christi allein scheidet den Gläubigen von
allem, womit er als Sünder in Verbindung war: — von seinen
Vergehungen und ihren Folgen, von der Sünde und ihrer
124
Macht, vom Gesetz und seinem Fluch, von der Welt und ihrer
Lust, von der Gewalt Satans und der Macht der Finsternis.
Nur im Licht dieser Erkenntnis werden wir uns nicht durch
das Gesetz zu einem Wirken drängen lassen, um dadurch das
Leben und die Gerechtigkeit zu erlangen, sondern wir werden
Gott Frucht tragen, weil wir durch die Gnade bereits das
Leben und die Gerechtigkeit empfangen haben.
5.
Schließlich möchte ich noch verschiedene Arten von Hindernissen des Glaubens bezeichnen, durch die in unseren Tagen
so viele Seelen aufgehalten werden, zum Frieden zu gelangen
oder sich des Friedens dauernd zu erfreuen. Obwohl sie über
ihren verlorenen Zustand wirklich beunruhigt und zugleich
überzeugt sind, daß nur in Christo das Heil ist, quälen sie
sich fort und fort mit der Frage, ob auch für sie dies Heil
da sei. Sie bedenken nicht, daß nur der Unglaube ihres Herzens solche Fragen erhebt; und daß, während sie bisher den
Herrn durch ihr Fortleben in der Sünde verunehrten, sie Ihm
jetzt durch ihren Unglauben den Rücken wenden. Wenn, mein
lieber Leser, auch Du der Zahl dieser Seelen angehörst, so bedenke doch, daß „der Sohn des Menschen gekommen ist, zu
suchen und zu erretten, was verloren ist"; (Lk 19, 10.) und
daß Er nirgends eine Ausnahme gemacht und nirgends festgestellt hat, etliche Verlorene nicht suchen und erretten zu
wollen. Vielmehr richtet Er durch den Mund des Apostels die
Bitte an alle Menschen: „Laßt euch versöhnen mit Gott."
(2. Kor 5, 20.) Welch eine erbarmende Liebe! Nicht genug,
daß Er die Versöhnung des Sünders mit Gott vollbracht hat;
Er fordert auch noch den Sünder dringend auf, diese Versöhnung anzunehmen. Könnte eine solche Liebe etwa dem Gedanken Raum geben, daß sie Dich übergangen habe? Und
hat der Herr selbst nicht in den Tagen Seines Fleisches gesagt: „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen! und ich werde euch Ruhe geben?" (Mt 11, 28.) Und
wenn nun alle Mühseligen und alle Beladenen eingeladen sind,.
bist Du dann ausgeschlossen? Ach! möchtest Du Dich doch
Deines Unglaubens schämen und Seiner beharrlich Dich bittenden und einladenden Liebe mit völligem Vertrauen entge125
genkommen! Er starb für Dich und lebt für Dich; darum
glaube und gehe hin in Frieden!
Vielleicht aber drängt Dich Dein ungläubiges Herz zu dem
Einwand: „Ich weiß nicht, ob ich mühselig und beladen genug
bin, ob ich meinen verlorenen Zustand tief genug fühle, und
ob meine Buße von rechter Art ist." Ja, das ist ein Berg, vor
dem manche Seelen oft lange Jahre haltmachen und sich
nutzlos abmühen. Doch beantworte mir folgende Fragen:
Weißt Du etwa, wie tief und gründlich das Gefühl über Deinen verlorenen Zustand sein muß? Hat der Herr irgendwo
in Seinem Worte ein bestimmtes Maß davon angegeben? Und
hat Er die Erlösung, die er auf dem Kreuz schon längst vollbracht hat, von der Tiefe und Größe Deines Sündengefühls
abhängig gemacht? Sicher, Du wirst auf diese Fragen keine
Antwort zu geben wissen; aber warum quälst Du Dich denn
mit diesen nutzlosen Gedanken? Du weißt, daß Du ein gottloser und verlorener Sünder bist, und daß, wenn in diesem
Augenblick der Tod Dich ereilen sollte, die ewige Verdammnis Dein Los sein würde. Ist das für Dich nicht hinreichend,
um mit Furcht und Schrecken an Dein Ende zu denken? Die
Schrift sagt einfach und bestimmt, daß Gott die Gottlosen
rechtfertigt, und daß Christus sucht und errettet, was verloren ist. Wird hier etwa noch hinzugefügt, daß dieses unsererseits durch ein bestimmtes Maß der Erkenntnis und des
Gefühls unserer Sünde bedingt sei? Wenn aber nicht, warum
fügst Du denn solche Gedanken hinzu? Ach! Du verschließest
nur dadurch Dein Herz gegen eine völlige, unumschränkte
Gnade Gottes und beraubst Dich des Friedens mit Gott. „Denn
also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen
Sohn gab, auf daß jeder, (nicht nur solche, die tief genug
ihre Sünden fühlen) der an ihn glaubt, nicht verloren gehe,
sondern ewiges Leben habe." (Joh 3, 16.) Und wiederum:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und
glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und
kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das
Leben hinübergegangen." (Joh 5, 24.) Hier gibt es keine Vorbehalte, und darum stelle auch Du Dir keine in den Weg,
sondern höre und glaube an Ihn, der schon so lange vorher
in Liebe und Gnade an Dich gedacht hat. Nur Sein vollendetes
126
Werk, und nicht die Tiefe Deines Sündengefühls, macht Deine
Errettung sicher und gewiß; und je fester Dein Glaube einzig
und allein auf Seinem Werke ruht, nicht auf Deiner Buße,
desto völliger ist auch der Genuß des Friedens in Deiner
Seele.
Andere suchen dadurch zum Frieden zu gelangen, daß sie
beständig um ein neues Herz bitten; und nicht selten wird
von vielen Seiten diese Bitte empfohlen, während das Wort
Gottes durchaus keinen Anlaß dazu gibt. Nirgends hat der
Herr Jesus Seine Jünger zu einer solchen Bitte aufgefordert.
Wohl verheißt Jehova Seinem Volke Israel nebst künftigen
Segnungen die Hin wegnähme des „steinernen", und die Gabe
eines „neuen Herzens"; (Hes 36, 26.) aber in keiner Stelle der
Schrift wird der Sünder zur Bitte um ein „neues Herz" aufgefordert. Für ihn gibt es kein anderes Rettungsmittel als
den Glauben an den Herrn Jesum Christum. Das war das
Werk, das der Herr den eigengerechten Juden anpries; das
war der Weg, den Paulus dem zitternden Kerkermeister bezeichnete; und das ist der einzige sichere Grund, worauf das
Wort Gottes jeden verlorenen Sünder zu stellen sucht. Das
„neue Herz", wollen wir nun einmal bei diesem Ausdruck
bleiben, ist nichts anderes, als die Frucht des Glaubens oder
das Werk des Heiligen Geistes in der Seele, nachdem wir
gläubig geworden sind; und es ist daher offenbar, daß die
Bitte um ein „neues Herz" den Glauben an Christum, als die
einzige Grundlage unserer Errettung, völlig ausschließt und an
dessen Stelle das Werk des Heiligen Geistes setzt. Ist es da
ein Wunder, daß so viele Seelen bei all ihrem Bitten um ein
neues Herz in steter Unruhe bleiben, während sie zur wahren
Ruhe gelangen würden, wenn sie gemäß der Aufforderung
des Wortes Gottes an Jesum glaubten, der am Kreuz für
Gottlose starb?
Vielleicht sagt Du: „Ich glaube, ja ich glaube alles, was von
dem Werke Christi gesagt ist, und dennoch habe ich keinen
Frieden, sondern gehe stets unter einem geheimen Sündendruck einher/' — Das aber ist kaum möglich, denn wo ein
lebendiger Glaube an Christum ist, da ist keine Unruhe, kein
Druck der Sünde mehr. „Wer an ihn glaubt, der ist gerechtfertigt" und hat das „ewige Leben". „Da wir nun gerechtfer127
tigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit
Gott." Und wie könnte da, wo ewiges Leben ist, die Errettung
eine ungewisse Sache sein? Glaubst Du aber in Wirklichkeit
an Christum, während noch Dein Herz von Furcht und Unruhe gefoltert wird, so verrät das sicher Unwissenheit über
das Werk, wie auch über die Person Christi, der an unserer
statt unter dem Gericht und dem Fluch war und unser Bürge
und Stellvertreter geworden ist. Sein Opfer ist die Versöhnung für unsere Sünden, und Er wurde zur Sünde gemacht,
„auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm." Wie kannst
Du nun dies alles glauben, ohne Frieden zu haben? Doch
erlaube mir einige Fragen. Hast Du wohl je eine Zeit erlebt,
wo Du von Deinem verlorenen Zustande sicher überzeugt
warst, und wo Du erkanntest, daß beim Ausscheiden aus
dieser Welt die ewige Verdammnis Dein unausbleibliches Los
sein werde? Und hast Du in diesem Zustand Deine Zuflucht
zu Jesu genommen? Bist Du zu jener Zeit an Seinen Namen
gläubig geworden? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt
alles ab; denn man begegnet in unseren Tagen nicht selten
einer natürlichen Erkenntnis des Werkes Christi, einem bloßen
Fürwahrhalten, so wie man auch andere Dinge glaubt, die mit
uns in keiner weiteren Verbindung stehen. Ist dies aber der
Fall, so kann allerdings von keinem Frieden, von keinem Leben die Rede sein. Der wahre Glaube ist die feste und lebendige Überzeugung von dem Werk Christi in dem Herzen
eines verlorenen Sünders. Deine Unruhe kann daher entweder in dem Mangel der Erkenntnis des Werkes Christi, oder
in dem Mangel eines wirklichen Glaubens an dieses Werk
ihre Quelle haben. Der Herr ladet alle Mühseligen und Beladenen ein, um ihnen Ruhe zu geben. Eile daher zu Ihm,
wie Du bist, vertraue Dich Ihm und Seinem vollbrachten Werke
mit ganzer Seele an, und Du wirst sicher nicht länger unter
einem geheimen Sündendruck einhergehen.
Ferner begegnet man nicht selten solchen Gläubigen, die der
Meinung Raum geben, als ob es die weise Absicht Gottes
sei, uns zu Zeiten in Ungewißheit kommen zu lassen, damit
das Herz nicht zu sicher, sondern vielmehr in Demut erhalten
werde. Jedoch möchte ich den Seelen zu bedenken geben, daß
nur der Glaube es ist, der Gott die Ehre gibt und die Ohn128
macht des Menschen bekundet. Und das ist die wahre Demut,
hervorgegangen aus der Gewißheit des Glaubens. Abraham
„zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben,
sondern wurde gestärkt im Glauben, Gott die Ehre gebend!"
(Röm 4, 20.) Meine Ungewißheit aber verrät den Unglauben
meines Herzens, ich zweifle dann an der Wahrheit des untrüglichen Wortes Gottes und des vollbrachten Werkes Christi; und sicher wird dadurch der Herr nicht verherrlicht. Sollte
nun die Verunehrung Gottes das Mittel sein, wodurch mein
Herz in der Demut erhalten bliebe? Und sollte es mich hochmütig machen, wenn ich in betreff der Genugtuung des Opfers Christi völlig gewiß bin und mit völliger Zuversicht in
der Liebe und Gnade Gottes meine Ruhe finde? Nimmermehr.
Der Hochmut sucht und findet, etwas in dem Menschen,
dessen er sich rühmt, während ein demütiges Herz gänzlich
von sich absieht und seinen ganzen Ruhm in Gott findet,
über dessen Gnade es sich in völliger Gewißheit befindet.
Und wenn der Heilige Geist durch das Wort stets bemüht ist,
uns im Glauben zu ermuntern und zu befestigen, ist es dann
nicht eine große Vermessenheit, die Ungewißheit als ein Mittel zur Demut und zur Abhängigkeit von Gott zu bezeichnen?
Ach! hinter so falschen Aufstellungen verbirgt sich nur der
Unglaube unserer armen Herzen. Wahrlich, mein Leser, je
mehr Du der Liebe und der Gnade Gottes versichert bist, desto
mehr wirst Du in Demut niedersinken und Den anbeten, der
durch Sein eigenes Blut alle Deine Sünden abgewaschen hat.
Auch wagen es sogar etliche, zur Rechtfertigung ihres Unglaubens die Worte des Apostels anzuführen: „Der Glaube ist
nicht aller Teil." (2. Thess 3, 2.) Man sollte es kaum für
möglich halten, daß Seelen, die sich Gläubige nennen und
durch diesen Namen ihren Charakter bezeichnen, es wagen
würden, durch eine falsche Anwendung dieser Stelle dem Unglauben das Wort zu reden. Wir lesen in dem vorhergehenden
Vers: „Übrigens, Brüder, betet für uns, daß das Wort des
Herrn laufe und verherrlicht werde, wie auch bei euch, und
daß wir errettet werden von den schlechten und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht aller Teil." (V. 1. 2.) Gibt
uns nun diese Stelle Anlaß, anzunehmen, daß der Glaube nur
129
ein Vorrecht einiger und nicht aller Gläubigen sei? Oder will
sich der Gläubige mit jenen unvernünftigen und bösen Menschen auf ein und denselben Boden stellen? Nur der Feind
deutet in solcher Weise das Wort Gottes; und das ungläubige
Herz ist geneigt, seinen Deutungen Glauben zu schenken.
Eine solche Erklärung aber würde mit der ganzen Heiligen
Schrift im Widerspruch stehen; denn zu jeder Zeit gilt hier
das ernste Wort: „Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott
wohlzugefallen." (Hebr 11, 6.)
Viele Gläubige werden auch oft dadurch beunruhigt, daß sie
ihre Errettung von ihren Gefühlen abhängig machen. Ihr
Blick ruht nicht einzig und allein auf dem vollbrachten Werke
Christi, sondern zugleich auf dem, was in ihnen vorgeht. Aber
da unsere Gefühle einem steten Wechsel ausgesetzt sind, ist
selbstverständlich der auf ihnen ruhende Friede nicht weniger
unbeständig und schwankend. Der Glaube aber ist nie auf
das gerichtet, was in uns, sondern nur auf das, was außer
uns liegt, auf das Werk Christi. Alles, was Christus für uns
vollbracht hat, ist unser Teil, und nicht das, was wir davon
erkennen oder fühlen. Wir sind versöhnt, weil Christus uns
versöhnt hat; wir haben Frieden mit Gott, weil Christus ihn
gemacht hat; und dies alles in so vollkommenem Maße, wie
sein vergossenes Blut vor Gott geschätzt wird. Christus und
Sein Werk sind vor Gott der Maßstab unserer Errettung und
aller unserer Segnungen. Wir mögen wenig davon genießen,
weil unser Glaube und unsere Erkenntnis schwach sind; aber
wir verunehren Christum und Sein Werk, wenn wir dessen
Fülle und Tragweite nach unserem Genuß abmessen. Je mehr
dagegen unser Glaube auf Ihm und seinem Werke ruht, um
so mehr erkennen und genießen wir die unergründlichen
Ströme der Liebe und Gnade Gottes, und soviel mehr wird
unser Herz, erfüllt mit Friede und Freude, Seinem Namen
Lob, Ehre und Anbetung darbringen, während wir, wenn wir
in unseren Gefühlen ruhen, einer Meereswoge gleichen, die
vom Winde bewegt und hin und her getrieben wird. (Jak 1,6.)
Ähnliche Erscheinungen gewahren wir bei solchen, die deshalb an ihrer Errettung zweifeln, weil sie nicht wandeln, wie
sie wandeln sollten. Allerdings soll man den Baum an seiner
130
Frucht erkennen; keineswegs aber die Gewißheit der Errettung von einem guten Wandel abhängig machen. Solange
der Seele die Gewißheit der Errettung folgt, ist kein guter
Wandel denkbar, weil er nur aus dieser Gewißheit durch die
Kraft des Heiligen Geistes hervorgehen kann. Unser Wandel,
wie sehr auch der Genuß unserer Segnungen von ihm abhängig ist, wird stets unvollkommen sein, weil das Wesen,
durch das der Wandel ausgeübt wird, unvollkommen ist; aber
die Errettung ist vollkommen, weil sie das Werk Christi ist.
Christus hat sie bereits auf Golgatha vollbracht, als ich noch
ein gottloser und verlorener Sünder und ein Feind Gottes
war. Er hat weder auf meinen guten Wandel gewartet, noch
meine Errettung irgendwie davon abhängig gemacht. Wir können, mit einem Worte gesagt, uns nicht vertraut genug mit
dem Gedanken machen, daß die Errettung außer uns in Christo
vollbracht ist, und daß sie für alle, die an Ihn glauben, eine
vollendete Tatsache ist. Wer an Ihn glaubt, der ist gerettet
und hat das ewige Leben. Und je völliger durch den Glauben
die Gewißheit meiner Errettung ist, desto mehr bin ich fähig,
Gott durch einen würdigen Wandel zu verherrlichen. Je mehr
ich aber auf meinen Wandel blicke, um darin die Gewißheit
meiner Errettung zu erkennen, desto ungewisser und mithin
auch desto unfähiger werde ich zu einem Gott wohlgefälligen
Wandel sein.
Schließlich mache ich noch auf solche Seelen aufmerksam, die
ihren Glauben an die Stelle Christi setzen, die, mit anderen
Worten, statt Christum den Glauben suchen, um diesen zu ihrem
Erretter zu machen. Sie sind von allem, was man ihnen auch
über Christum und Sein Werk reden mag, völlig überzeugt;
aber ihr letztes Wort bleibt immer: „Wenn ich nur glauben
könnte!" Nach ihrer Meinung ist der Glaube ein Werk, durch
das sie die Errettung zu erlangen hoffen, und nicht einfach ein
Mittel, um die durch Christum vollbrachte Errettung zu ergreifen. Würden sie aber dies erkennen, dann würden sie auch
verstehen, daß gerade ihr Glaube sich in ihrer ausgesprochenen Überzeugung von Christo und Seinem Werke kund gibt.
Würde nicht die Torheit eines Menschen offenkundig sein,
der bezüglich einer irdischen Schuld die Worte sagte: „Ich bin
völlig überzeugt, daß diese Schuld bezahlt ist, wenn ich es nur
131
glauben könnte"? „Der Glaube ist eine Überzeugung von
Dingen, die man nicht sieht." (Hebr 11, 1.) Christus ist die
uns verliehene Gabe Gottes; der Glaube ist die Hand, die diese
Gabe empfängt. Christus hat auf dem Kreuz unsere Sünden
getilgt und unsere Erlösung vollbracht; der Glaube erkennt
dieses und läßt uns diese Tatsachen genießen. Christus ist
unser Stellvertreter auf dem Kreuze, sowie unsere Rechtfertigung und unser Leben in der Auferstehung; der Glaube
erfaßt Ihn als solchen und macht das Resultat davon für uns
zur Wirklichkeit.
O, möchten daher alle meine Leser, die geneigt sind, auf sich
selbst, auf ihre Gefühle, oder auf ihren Glauben zu blicken,
doch zu der Überzeugung kommen, daß sie auf diesem Wege
nie zu einem dauernden Frieden, zu einem würdigen Wandel
und einem anhaltenden Lobe des Herrn gelangen werden,
während sie dieses Ziel sicher, wenn auch in Schwachheit erreichen werden, wenn ihr Auge unverrückt auf Christum und
Sein vollendetes Werk gerichtet bleibt. Möge der Herr deshalb durch Seine Gnade in uns wirken, damit wir, wachsam
und nüchtern zum Gebet, allezeit im Glauben beharren und
Seinen Namen verherrlichen!
Wir sind dem Gesetz gestorben
„Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß
ich Gott lebe." (Gal 2, 19.) Dies ist besonders in unseren
Tagen ein höchst wichtiges Wort. Die geistliche Anwendung
der hierdurch vorgestellten Wahrheit wird die Seele vor zwei
Irrtümern bewahren, nämlich einerseits vor dem Geist der
Gesetzlichkeit und andererseits vor dem Geist der Gesetzlosigkeit. Wenn ich diese beiden Übel miteinander vergleiche, oder
wenn ich gezwungen wäre, eins vor beiden zu wählen, so würde
ich ohne Zweifel dem Geist der Gesetzlichkeit den Vorzug geben.
Ich sehe weit lieber einen Menschen unter der Autorität des
Gesetzes Mose, als jemanden, der in Gesetzlosigkeit und
Leichtfertigkeit dahinlebt. Wohl weiß ich, daß das Gesetz unerfüllbare Forderungen an den in Sünden toten Menschen
132
stellt und nichts als Fluch und Verdammnis in seinem Schöße
birgt; ich weiß auch, daß es mit dem Evangelium der Gnade
in geradem Widerspruche steht; aber nichtsdestoweniger habe
ich mehr Achtung vor einem Menschen, der, da er nicht über
Moses hinauszuschauen vermag, durch Beobachtung des Gesetzes, dessen Autorität er anerkennt, seinen Wandel in dieser Welt zu regeln sucht, als vor einen Menschen, der dieses
Gesetz verachtet, um sich selbst zu gefallen.
Gott sei Dank! die Wahrheit des Evangeliums gibt uns ein
Heilmittel für beide Übel. Aber in welcher Weise? Werde ich
etwa belehrt, daß das Gesetz gestorben sei? Keineswegs. Aber
das Evangelium belehrt mich, daß ich, weil ich an den Herrn
Jesus glaube, gestorben bin. „Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben." Und zu welchem Zweck? Um Gefallen an
mir selbst zu haben? Um meine eigenen Vorteile und Vergnügungen verfolgen zu können? Durchaus nicht, sondern
damit „ich Gott lebe".
Dies ist die Fundamental-Wahrheit des Christentums — eine
Wahrheit, ohne die wir überhaupt nicht wissen, was Christentum ist. In gleichem Sinne finden wir in Röm 7 die Worte:
„Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht
brächten." (V. 4.) Und wiederum: „Jetzt aber sind wir von
dem Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden, so daß wir dienen in dem
Neuen des Geistes und nicht in dem Alten des Buchstabens."
(V. 6.) Merken wir es uns wohl, daß wir dienen und nicht
Gefallen an uns selber haben sollen. Wir sind von dem unerträglichen Joch Moses befreit worden, um das „leichte Joch
Christi" zu tragen, und nicht um unserer Natur freien Lauf
zu lassen.
Die Weise jener Menschen, die sich auf gewisse Grundsätze
des Evangeliums berufen, um dadurch für die Befriedigung
des Fleisches irgend einen Rechtsgrund hervorzuheben, ist für
ein ernstes Gemüt höchst anstößig. Sie bemühen sich, der
Autorität Mose auszuweichen, und zwar nicht, um sich unter
die Autorität Christi zu stellen, sondern bloß um sich und
ihren Begierden zu leben. Eitle Mühe! Dies kann nicht ge133
schehen auf dem Grunde der Wahrheit; denn es ist in der
Schrift nicht gesagt, daß das Gesetz gestorben oder beseitigt,
sondern daß der Gläubige dem Gesetz und der Sünde gestorben sei, damit er die Lieblichkeit eines Lebens für Gott genießen könne, und damit „seine Frucht zur Heiligkeit und sein
Ende ewiges Leben" sei.
Wir legen diesen wichtigen Gegenstand dem Leser dringend
ans Herz. Er wird ihn in Röm 6 und 7, sowie in Gal 3 und 4
gründlich entwickelt finden. Ein richtiges Verständnis dieser
Wahrheit wird uns über tausend Schwierigkeiten hinweghelfen, wird eine Menge Fragen beantworten und uns von zahllosen Irrtümern fernhalten. Möge der Herr Seinem Worte
völlige Macht über unsere Herzen und Gewissen verleihen!
Ein Wort für alle, welche unseren Herrn
Jesum Christum lieben
Wenn wir in der Tat aus Gnaden gerettet sind, so sind wir
alle, unter welchem Namen wir auch bei den Menschen bekannt sein mögen, durch dasselbe kostbare Blut Christi erkauft
worden, das uns von allen unseren Sünden gereinigt hat. Ich
bitte daher jeden gläubigen Leser im Angesichte Gottes, die
folgenden Betrachtungen mit Aufmerksamkeit zu erwägen.
1. Die himmlische Familie bildet eine Einheit. Als von Gott
geboren, haben wir einen Vater, der uns Jesum gegeben und
den Jesus uns geoffenbart hat. Er ist der eine Herr Jesus Christus
— „Gott, geoffenbart im Fleische", „der Eingeborene vom
Vater", „der Erstgeborene unter vielen Brüdern", „der Erstgeborene aus den Toten". Jeder von uns ist in Ihm gestorben
und auferstanden. Ein und derselbe Heilige Geist wohnt in
uns als unser Tröster, unser Erhalter, unser Führer und unser
steter Begleiter während unserer ganzen Reise durch die Wüste.
Und Er, der uns, und zwar „nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und nach der Gnade, die
uns in Christo Jesu gegeben ist vor den Zeiten der Zeitalter,
134
gerettet und mit heiligem Rufe berufen hat", (2. Tim 1, 9)
fordert uns in Seinem Worte dringend auf, „würdig zu wandeln der Berufung, womit wir berufen sind, uns befleißigend,
die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens", indem Er hinzufügt: „Da ist ein Leib und ein Geist, wie
ihr auch berufen werden seid in einer Hoffnung eurer Berufung.
Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der
da ist über alle, und durch alle, und in uns allen." (Eph 4,1—6.)
2. Das Kreuz Christi ist der Sammelplatz aller Heiligen. Der
Herr Jesus gab Sein Leben für uns hin, damit „er die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte". (Joh 11, 52.)
Vor Seinem Hingange betete Er für die Seinigen, „auf daß sie
alle eins seien, gleich wie du, Vater, in mir und ich in dir, auf
daß auch sie in uns eins seien". (Joh 17, 21.) Daß nun diese
erbetene Einheit eine sichtbare Einheit sein sollte, geht klar
aus den hinzugefügten Worten hervor: „Auf daß die Welt
glaube, daß du mich gesandt hast." Die Welt, tot in Sünden
und Vergehungen, ist außerstande, die unsichtbare Einheit der
Kirche zu sehen; denn „der natürliche Mensch nimmt nicht an,
was des Geistes Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit und
er kann es nicht erkennen; weil es geistlich beurteilt wird."
(1. Kor 2, 14.) Nur der Glaube sieht die unsichtbaren Dinge;
und darum muß die vom Herrn erflehte Einheit eine sichtbare
sein. In welchem Widerspruch steht dies mit den Erscheinungen in unseren Tagen, wo der eine sagt: „Ich bin des Paulus"
und der andere: „Ich bin des Apollos" (1. Kor 3, 4.) und wo
sich der eine unter diesem und der andere unter jenem Namen
einer Partei anschließt. Ach, wie betrübend sind solche Dinge
für das Herz unseres gesegneten Herrn. Wie ganz anders waren
die Zustände in jenen Tagen, wo „die Menge derer, die gläubig geworden war, ein Herz und eine Seele war"! (Apg 4, 32.)
Hat Er denn nicht auch uns zu demselben hohen Preis Seines
kostbaren Blutes gekauft; und sollten wir nicht mit demselben
Eifer Seine Wünsche zu erfüllen suchen? Gewiß wird der neue
Mensch in Euch die Frage bejahen und dieser Forderung nachzukommen verlangen. Nun, dann horcht auf die letzte Bitte
eures Herrn, als Er von der Welt schied, und seid eifrig, die
Einheit des Leibes darzustellen.
135
3. Der Heilige Geist ist das Band der Einheit. Aus dem Geiste
geboren, wohnt er in jedem von uns, wir haben einen Geist
empfangen. Er hat uns zu Jesu gebracht. „In einem Geist sind
wir alle zu einem Leibe getauft, es seien Juden oder Griechen,
es seien Sklaven oder Freie; und sind alle mit einem Geist
getränkt worden." (1. Kor 12, 13.) Gerade die Vernachlässigung des wahren Bandes der Einheit hat den gegenwärtigen
traurigen Zustand der Kirche hervorgerufen. — Wir sind gesalbt
als die wahren Söhne Aarons. (3. Mo 8.) Dasselbe kostbare
Salböl, womit der wahre Aaron gesalbt wurde, ist auch unser
Teil geworden, wie geschrieben steht: „Das köstliche ö l auf
dem Haupte, das herabfließt auf den Bart, auf den Bart
Aarons, das herabfließt auf den Saum seiner Kleider." (Ps 133.)
Nachdem das geringste wie das höchste Glied des Leibes dieser
Salbung teilhaftig geworden ist, sind wir berufen, die Wahrheit zu offenbaren, daß wir alle „einen Geist" empfangen
haben, und daß wir „einen Leib" bilden. — „Wisset ihr nicht,
daß ihr Gottes Tempel seid, und daß der Geist Gottes unter
euch wohnt?" (1. Kor 3, 16.)
4. Jede Aufrichtung einer Partei ist Fleischlichkeit und sie zerreißt das Band der Einheit. Wie betrübend ist es, wenn
Christen irgend eine Person oder irgend eine besondere Lehre
oder irgend einen Teil der Wahrheit zu einem Mittelpunkt
wählen, um den sie sich versammeln. Wird nicht Christus dadurch von Seinem Ihm allein gebührenden Platz verdrängt?
„ .. . ihr seid noch fleischlich. Denn da Neid und Streit unter
euch ist, seid ihr nicht fleischlich, und wandelt nach Menschenweise? Denn wenn einer sagt: Ich bin des Paulus; der andere
aber: Ich des Apollos; seid ihr nicht menschlich?" (1. Kor 3,
3. 4.) Ein Glied dieser oder jener Benennung zu sein, steht in
entschiedenem Widerspruch gegen das Wort Gottes; das nur
eine Vereinigung mit dem Leihe Christi anerkennt. „Denn
gleichwie der Leib einer ist und viele Glieder hat, alle Glieder
des Leibes aber, obgleich viele, ein Leib sind, also ist auch der
Christus. Denn auch in einem Geiste sind wir alle zu einem
Leibe getauft worden.. ." (1. Kor 12, 12. 13.) „Denn wir sind
Glieder seines Leibes, von seinem Fleische und von seinen
Gebeinen." (Eph. 5, 30.) Und wiederum: „Denn gleichwie wir
136
in einem Leibe viele Glieder haben, aber die Glieder nicht alle
dieselbe Verrichtung haben, also sind wir die Vielen, ein Leib
in Christo, einzeln aber Glieder von einander"; (Röm 12,4.5.)
„auf daß keine Spaltung in dem Leibe sei". (1. Kor 12, 25.)
5. ]eder Gläubige ist ein Priester. „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum." (1. Petr 2, 9.) Eine
nicht wiedergeborene Person ist, wenn sie auch noch so kenntnisreich ist, nicht ein Priester; nur die Vereinigung mit dem
großen Hohenpriester macht ein Kind Adams zu einem Priester. — Ach! heutzutage wird man belehrt, daß das Priestertum nur solchen angehöre, die, ob sie bekehrt oder unbekehrt
sind, von ihren Mitmenschen dazu bestimmt und ordiniert
seien. Es gehört ja zu den gewöhnlichsten Erscheinungen, daß
Menschen, die tot in Sünden und Vergehungen sind, sich in
das priesterliche Amt hineindrängen. Mögen solche in 4. Mo 16
die traurige Geschichte und das schreckliche Ende der Rotte
Korahs betrachten, die das Priestertum an sich rissen, ohne
Söhne Aarons zu sein. Aber jeder Gläubige ist ein Priester;
denn Christus „hat uns gemacht zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater". (Offb 1, 6.) Wir haben keinen
Menschen nötig, der sich zwischen Gott und uns stellt, sondern
wir sind vielmehr aufgefordert, zu „nahen" und als wahre
Söhne Aarons geistliche Opfer darzubringen. „Durch ihn nun
laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen." (Hebr
13, 15.) Und „da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum
Eintritt in das Heiligtum", so genießen wir das allgemeine
Vorrecht der Heiligen, dort eintreten zu dürfen, wo Aaron nur
einmal im Jahr eintreten durfte, und wo selbst den Söhnen
Aarons der Eintritt verwehrt war. Ja, jetzt, wo der Vorhang
zerrissen ist, sind die „Brüder" zum Eintritt ins Heiligtum, in
den Himmel selbst, berufen, wo ihr großer Hoherpriester bereits eingetreten ist. Dort ist unser Anbetungs-Platz. Aber die
Unterscheidungen zwischen den sogenannten Geistlichen und
den Laien, zwischen den Priestern und dem Volk sind dem
„Neuen Testament" gänzlich fremd. Gerade die Anstrengung,
die Kirche nach dem Muster des Judentums zu bilden, hat den
Grund zu diesem Irrtum gelegt; und leider nur zu oft wird
Moses statt Christus, Gesetz statt Gnade gepredigt. Ach! über137
all begegnet man den Zeichen der letzten Zeit. Man findet die
Form der Gottseligkeit ohne die Kraft. Möchten doch alle
Kinder Gottes ein offenes Ohr haben, um die Worte zu verstehen: „Gehet aus aus ihrer Mitte und sondert euch ab,
spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich werde
euch aufnehmen, und ich werde euch zum Vater sein; und ihr
werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr,
der Allmächtige." (2. Kor 6, 17.)
6. Der Heilige Geist ist der Regierer in der Kirche. Es ist der
hervorstehendste Zug des Abfalls, daß der Mensch sich in der
Kirche die Herrschaft anmaßt. Er zeigt darin den Geist des
Antichristen, der in seinem Hochmut und Eigenwillen den
Platz Gottes einnimmt. Die Kirche steht ganz und gar unter
der Herrschaft des Heiligen Geistes; Er allein ordnet ihre
Angelegenheiten durch Personen, die Er dazu beauftragt und
begabt hat. (Hebr 13, 7. 17; 1. Tim 5, 17; Apg 20, 28.) Es
sind aber verschiedene Gnadengaben, der Heilige Geist teilt
sie aus, wie Er will. (1. Kor 12, 4—31.) Alle Kraft zum Dienen
ist von Gott, sowohl das Predigen des Wortes und das Ermahnen, als auch jede andere Art des Dienstes, sogar das Darreichen eines Bechers Wasser. Einen Menschen in einen solchen
Dienst einführen und ihn gar als den Inhaber aller Gaben
betrachten, findet in dem Worte Gottes keine Anwendung;
denn „dem einen wird durch den Geist das Wort der Weisheit
gegeben, und einem anderen aber das Wort der Erkenntnis
nach demselben Geiste". (1. Kor 12, 8.) Und wiederum: „Da
wir aber verschiedene Gnadengaben haben, nach der uns verliehenen Gnade; es sei Weissagung, so laßt uns weissagen
nach dem Maße des Glaubens." (Röm 12, 6—9.)
7. Menschliche Gelehrsamkeit oder nur natürliche Talente befähigen nicht zum Dienst. Ach] in diesen gefahrvollen Zeiten,
wo man in der augenscheinlichsten Weise den Platz Gottes an
sich reißt, wird der Mensch auf Hochschulen durch Menschen
für diesen Dienst herangebildet und, gleichviel, ob begabt oder
nicht, durch Menschen als Pastor gewählt und eingesetzt. Man
fordert, hinsichtlich der Kenntnisse, ein Zeugnis der Reife und
einen moralischen Lebenswandel; und niemand kann die
Wahlfähigkeit eines in dieser Beziehung genügenden Men138
sehen streitig machen, bei dem man alle Gaben, wie die eines
Hirten, eines Lehrers, eines Evangelisten usw. voraussetzt.
Aber wo lesen wir im Worte Gottes, daß die Herde sich einen
Hirten wählt? Sorgt Gott allein nicht für dies alles? Sich selbst
Lehrer aufhäufen, ist das Zeichen der letzten Tage. (Siehe
2. Tim 4, 3. 5.) Natürlich muß ein so eingesetzter Diener, ob
von Gott begabt oder nicht, durch ein festgesetztes Jahrgehalt
für die Ausübung der Gaben bezahlt werden. Im Fall nun
eine Gabe von Gott vorhanden wäre, ist es dann nicht traurig,
sie für eine jährliche Summe in Tätigkeit zu setzen? Ist die
Gabe aber nicht von Gott, was soll man dann sagen? Geliebte
Brüder! der Herr befähigt uns, jedes Ding auf der Waage des
Heiligtums abzuwiegen. Wenn die Kinder dieser Welt eingeladen werden, um für Geld das Evangelium zu hören, so steht
dies ganz im Widerspruch mit jener Gnade, welche sagt:
„Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebet." (Matthl0,8.)
Ach! auch solche Erscheinungen sind die bitteren Früchte des
faulen Baumes!
8. Der Dienst in Gnade und das Vorrecht derer, die bedient
werden. Aber was soll geschehen, wenn jemand für das Werk
eines Pastors begabt ist, oder für das eines Lehrers, oder
eines Evangelisten? Woher soll er seinen Unterhalt nehmen?
Zunächst und vor allen Dingen hat ein solcher das Beispiel
des Apostels Paulus zu betrachten, den wir sagen hören: „Ich
habe niemandes Silber oder Gold oder Kleidung begehrt. Ihr
selbst wisset, daß meinen Bedürfnissen und denen, die bei
mir waren, diese Hände gedient haben." (Apg 20, 33. 34.)
Er arbeitete nicht nur selbst als Zeltmacher, (Apg 18, 3.)
sondern forderte auch die Ältesten von Ephesus zur Arbeit
ihrer Hände auf. (Apg 20, 35.) Wie wenig stimmt dies
mit den Erscheinungen in unseren Tagen überein! Andererseits aber steht auch geschrieben: „Du sollst dem Ochsen,
der da drischt, nicht das Maul verbinden." „Also hat
auch der Herr denen, die das Evangelium verkündigen
verordnet, vom Evangelium zu leben." (1. Kor. 9, 9. 14.)
Überhaupt wird es nützlich sein, unter Gebet das 9. Kapitel
des 1. Korintherbriefes in Verbindung mit Apg 20, 17—35
und 2. Thess 3, 8, 9 zu lesen, wo der Apostel, wiewohl er das
139
Recht des Arbeiters im Werke des Herrn hervorhebt, sich
selbst dieses Rechtes nicht bedient, „auf daß wir dem Evangelium des Christus kein Hindernis bereiten." „Nicht daß wir
nicht das Recht dazu haben", — sagt er — „sondern auf daß
wir uns selbst euch zum Vorbild gäben, damit ihr uns nachahmet." — Andererseits fühlte er sich sehr erquickt durch die
Beweise der Liebe seitens der Philipper, indem er an sie
schreibt: „Ihr habt wohlgetan, daß ihr an meiner Drangsal
teilgenommen habt. . . Denn auch in Thessalonich habt ihr
mir einmal und zweimal für meine Notdurft gesandt. Nicht
daß ich die Gabe suche, sondern ich suche die Frucht, die
überströmend sei für eure Rechnung." (Phil 4, 14.—17.) Es
mag ein geringer Grad von Liebe unter den Heiligen sein,
wenn sie einen arbeitenden Bruder Mangel leiden sehen; sie
mögen kein Ohr für die Ermahnung des Apostels haben, wenn
er sagt: „Wer in dem Worte unterwiesen wird, teile von allerlei Gutem dem mit, der ihn unterweist", (Gal 6, 6.) und:
„Wenn wir euch das Geistliche gesäet haben; ist es ein Großes, wenn wir euer Fleischliches ernten?" (1. Kor. 9, 11.) —
aber für den Arbeiter selbst ist es ein Vorrecht zu sagen:
„Ich aber habe von keinem dieser Dinge Gebrauch gemacht.
Was ist nun mein Lohn? Daß ich, das Evangelium verkündigend, das Evangelium kostenfrei mache, daß ich mein Recht
am Evangelium nicht gebrauche." „Ich suche nicht das Eure,
sondern euch." (1. Kor. 9, 15.—19; 2. Kor. 12, 14.) Wie deutlich vermag dieser gesegnete Apostel die Gnade Christi darzustellen. Er kann den Ältesten der Versammlung in Ephesus
sagen: „Geben ist seliger, als nehmen", und er kann, erquickt
durch die Liebe der Philipper, ihre Gabe nennen: „einen duftenden Wohlgeruch, ein angenehmes Opfer, Gott wohlgefällig." (Phil 4, 18.)
9. Die Predigt des Evangeliums ist nicht nur das Vorrecht,
sondern auch die Pflicht jedes Heiligen. Und sicher wird die
Liebe Christi, wenn sie in unseren Herzen wirksam ist, uns
dringen, jedes Mittel und jede Gelegenheit zu benutzen, um
Seelen zu gewinnen. Wir sehen uns von Tausenden umringt,
die tot in Sünden und Vergehungen sind, und auf denen der
Zorn Gottes liegt; wir sehen die Stunde herannahen, wo „der
140
Herr Jesus vom Himmel geoffenbart werden wird, mit den
Engeln seiner Macht, in flammendem Feuer, wenn er Vergeltung gibt denen, die Gott nicht kennen, und denen, die dem
Evangelium unseres Herrn Jesu Christi nicht gehorchen." Und
jeder Heilige sollte, nach dem Maße seiner Fähigkeit, Hand
ans Werk legen, oder wenigstens durch Gebet und Flehen
helfen. Das Werk der Evangelisation durch das Geld, das
Ansehen und den Einfluß der Welt fördern zu wollen, ist eine
Verzichtleistung auf die Macht Gottes. Aber wie gesegnet
würde es sein, wenn alle Heiligen in dieser Hinsicht treu ihren
Beruf erfüllten!
10. Kirchliche Versammlungen sind Versammlungen der Heiligen zur gegenseitigen Auferbauung, wo die Brüder in der
Abhängigkeit vom Heiligen Geiste mit ihren verschiedenen
Gaben dienen. „Propheten aber laßt zwei oder drei reden."
(1. Kor. 14, 28.) „Denn ihr könnt einer nach dem anderen
weissagen, auf daß alle lernen und alle getröstet werden."
(V. 31.) „Erbauet einander!" Und wie oft sind die Heiligen,
wenn sie einfach im Namen Jesu und in der Abhängigkeit von
dem Heiligen Geiste versammelt waren, durch irgend ein Lied
oder durch das Lesen irgend eines Schriftabschnitts gesegnet
worden. Mögen auch unbekehrte Menschen zugegen sein, so
bleibt der Gottesdienst der Heiligen dennoch der einzige Zweck
der Versammlung.
11. Das Wort Gottes ist für die Heiligen die einzige Richtschnur, sei es in der Lehre oder im praktischen Wandel. Jedes
für die Kirche notwendige Ding ist dort zu finden. Laßt uns
daher, geliebte Brüder, alles in dem Lichte dieses Wortes
prüfen; alle Dinge, die im Widerspruch mit dem Wort stehen,
sind verwerflich. Finden wir aber, wenn wir als kleine Kinder
das Wort unseres Vaters hören, daß diese Dinge wahr sind,
so laßt uns demgemäß handeln. Der Herr Jesus wird bald
zurückkehren. „Denn noch über ein gar Kleines, und der
Kommende wird kommen und nicht verziehen." Möchten
wir alle dann als solche erfunden werden, die Seinem Worte
treu anhangen! Sicher werden wir dann die süße Einladung
vernehmen: „Wohl, du guter und treuer Knecht! — gehe ein
in die Freude deines Herrn." —
141
Eine gesegnete Mischung
„Das Wort der Verkündigung nützte jenen nicht, weil es bei
denen, die es hörten, nicht mit dem Glauben vermischt war."
(Hebr 4, 2.)
Wir halten es für bedeutsam, die Aufmerksamkeit unserer
Leser auf die Autorität und den Wert des Wortes Gottes
zu richten, und zwar verbunden mit der Wirksamkeit des
Glaubens an dieses Wort. Hier finden menschliche Gedanken,
Gefühle, Urteile, Überlieferungen und Aufstellungen keinen
Platz. Wie könnten wir auch den Seelen der Menschen wirksamer dienen als dadurch, daß wir sie ermuntern, dem lauteren
Worte Gottes einen höheren Wert beizulegen, und es zu betrachten als das, was allein ihrer Überzeugung, ihrem Charakter und Wandel eine göttliche Unerschütterlichkeit und Festigkeit verleihen kann. Es gibt in der ganzen Welt keine kostbarere und nützlichere Mixtur, als die, welche durch die Mischung des Wortes Gottes und des Glaubens entstanden ist.
Viele scheinen ihre Gefühle an den Platz des Glaubens stellen zu wollen. Das ist ein großer Irrtum. Der Apostel spricht
von einer solchen Mischung nicht. Das Wort Gottes ist an und
für sich selbst genügend; wird es einfach geglaubt, so gibt es
dem Herzen Frieden. Wenn ich ihm aber meine Gefühle beimischen müßte, um es wirksam zu machen, so würde ich es
eitel und ungültig machen.
Wir wollen ein Beispiel wählen. Gott hat im 1. Buch Mose,
Kapitel 9 erklärt, daß Er die Erde nicht wieder durch eine
Flut verderben werde. Muß ich etwa dieser Erkärung meine
Gefühle beimischen, um mich von ihrer Wahrheit zu vergewissern? Ist sie nicht göttlich genügend, um, wenn sie im
Glauben aufgenommen wird, mein Herz in bezug auf die
Flut in Ruhe zu bringen? Sicherlich. Würde daher der
Regen auch Monate lang in Strömen auf die Erde fallen, so
würde gewiß mein Herz durch keine Befürchtung bezüglich
einer Flut geängstigt werden. Das Wort Gottes aber, das
mir versichert, daß die Erde nicht wieder durch die Flut des
Wassers verderbt werden solle, erklärt mir auch, daß die
142
Erde für das „Feuer behalten" werde. Das eine ist so wahr
wie das andere. Menschliche Gefühle finden dabei keinen
Platz. Das Wort Gottes ist die Autorität für beide Ereignisse;
und dieses Wort braucht nur mit dem „Glauben vermischt" zu
werden, damit es der Seele „nützen" möge.
So verhält es sich mit „jedem Worte, das durch den Mund
Gottes ausgeht." Es muß nur „mit dem Glauben vermischt"
sein. Es bedarf unserer Gefühle nicht, um es wahr zu machen;
es ist| in sich selbst wahr. Jedes Wort Gottes ist wahr; und
der Glaube empfängt es als ein wahrhaftiges Wort. Gefühle
bilden nicht das Fundament des Glaubens. Das Wort Gottes
ist das Fundament; und die Gefühle sind bloß die Frucht.
Gott sagt mir, daß ich ein verlorener Sünder bin, ich glaube
es. Gott sagt mir, daß Christus gekommen ist, einen solchen
zu retten, ich glaube es. Gott sagt mir, daß Christus starb und
am dritten Tage wieder auferstanden ist, ich glaube es. Gott
sagt mir, daß jeder, der glaubt, daß Christus gestorben und
auferstanden ist, das „ewige Leben" habe und „von allem
gerechtfertigt" sei, (Joh 5, 24; Apg 13, 39.) ich glaube es.
Gott sagt mir, daß ich, gerechtfertigt aus Glauben, Frieden
mit Gott habe, (Röm 5, 1.) ich glaube es. Gott sagt mir:
„Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung",
(2. Kor 5, 17.) ich glaube es. Gott sagt mir, daß ich mit Christo gekreuzigt, gestorben, begraben und auferstanden bin,
(Eph 2, 5. 6; Kol 2, 11-13; 3, 1-3.) ich glaube es. Was hätte ich
auch anders zu tun? Soll ich in mein armes, wankendes Herz,
auf meine flüchtigen Gefühle schauen, um etwas ausfindig zu
machen, wodurch das Wort des lebendigen und wahrhaftigen
Gottes bekräftigt, bestätigt und wirksam gemacht werden
könnte? Leider schlagen Tausende diesen traurigen Weg ein;
und darin liegt das Geheimnis des kränkelnden Zustandes,
der bei so vielen Christen vorherrschend ist. Die in Hebr 4, 2
angeordnete Mischung ist sehr herabgeschwächt. Einer der
kostbaren Bestandteile, woraus diese Mischung zusammengesetzt ist, ist beiseite gesetzt, und eine falsche Zutat nimmt
dessen Stelle ein. Das „verkündigte Wort" ist mit „Gefühlen",
anstatt mit dem „Glauben gemischt". — Beachten wir daher
allen Ernstes das Wort des Apostel, wenn er sagt: „Fürchten
wir uns nur, daß nicht etwa, da eine Verheißung, in seine
143
Ruhe einzugehen, hinterlassen ist, jemand von euch zurückgeblieben zu sein scheine. Denn auch uns ist eine gute Botschaft verkündigt worden, gleichwie auch jenen; aber 'das
Wort der Verkündigung nützte jenen nicht, weil es bei denen,
die es hörten, nicht mit dem Glauben vermischt war."
Die Tätigkeiten Christi für Sein Volk
Er gab Sich für ihre Sünden. Gal 1, 4.
Er erweckt sie durch Seine Stimme. Joh 5, 25.
Er versiegelt sie durch Seinen Geist. Eph 1,13.
Er nährt sie durch Sein Fleisch und Blut. Joh 6, 56. 57.
Er reinigt sie durch Sein Wort. Joh 13, 5. Eph 5, 26.
Er erhält sie durch Seine Fürbitte. Röm 8, 34. Hebr. 7, 25.
1. Joh 2,1 .
Er nimmt sie einzeln zu Sich auf. Apg 7, 59.; Phil 1, 23.
Er wacht über ihre verwesliche Hülle und wird sie auferwecken
durch Seine Macht. Joh 6, 39. 40; 1. Kor 15, 52; 1. 1116554,16.
Er wird ihnen entgegenkommen in der Luft. 1. Thess 4, 17.
Er wird sie gleichförmig machen Seinem Bilde. Phil 3, 21 ;
1. Joh 3, 2.
Er wird sie mit Sich vereinigen in Seinem ewigen Reich.
Joh 14, 3; 17, 24.
Das sind also die Tätigkeiten Christi für Sein Volk; sie umfassen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Sie erstrecken sich wie eine goldene Linie von Ewigkeit zu
Ewigkeit. Wohl mag gesagt werden: „Glückselig das Volk,
dem also ist! Glückselig das Volk, dessen Gott Jehova ist!"
(Psalm 114,15)
144
Ein auffallender Gegensatz
(Man lese Apostelgeschichte 8, 5—40.)
Das achte Kapitel der Apostelgeschichte zeigt uns einen bedeutenden und äußerst lehrreichen Gegensatz zwischen dem Zauberer von Samaria und dem Kämmerer von Aethiopien. Betrachten wir daher für einige Augenblicke die beiden Charaktere, und wir werden Gelegenheit finden, irgend eine nützliche Belehrung für uns daraus zu schöpfen.
Das Kapitel beginnt mit einer Mitteilung betreffs der Wirksamkeit des Philippus. „Philippus aber ging hinab in eine
Stadt von Samaria, und predigte ihnen den Christus." (V. 5.)
In der Tat ein gesegnetes Thema! Bei einem treuen Prediger ist
Christus der Anfang, die Mitte und das Ende seiner Predigt.
„Und die Volksmenge achtete einmütig auf das, was von
Philippus geredet wurde, indem sie zuhörten und die Zeichen
sahen, die er tat. .. Und es war eine große Freude in jener
Stadt." (V. 6—8.) So muß es stets sein. Wenn Christus gepredigt wird und die Zuhörer darauf achten und die frohe
Botschaft aufnehmen, dann wird „große Freude" die unausbleibliche Folge sein. Die Beschäftigung des Predigers ist,
„Christum zu predigen", und die Beschäftigung der Zuhörer
ist, darauf zu „achten und zu glauben". Nichts kann einfacher
sein.
Aber ach! dieser Himmelsglanz sollte bald überzogen werden
mit jenen dunklen Wolken, die stets hervorgerufen werden
durch die Selbstsucht und Eigenliebe der Menschen. Alles war
einfach und schön, heiter und frisch, so lange Christus erhoben wurde und die Seelen in der Erkenntnis des Heils ihre
Segnungen fanden. „Ein gewisser Mann aber, mit Namen
Simon, befand sich vorher in der Stadt, der Zauberei trieb
und das Volk außer sich brachte, indem er von sich selbst
sagte, daß er etwas Großes sei." (V. 9.) Hier zeigt uns der
inspirierte Geschichtsschreiber etwas, wodurch die herrliche,
feierliche Stille plötzlich unterbrochen wird. An den Platz
jenes Herolds des Heils, welcher Christum erhob, tritt vor
145
unser Auge ein armer Wurm, der Anstrengungen macht, sich
selbst zu erheben, und statt jener auf die Worte der Wahrheit lauschenden Volksmenge sehen wir ein durch Zauberei
außer sich gebrachtes Volk.
Simon gab vor, daß er etwas Großes sei; und die öffentliche
Meinung begünstigte seine Anmaßungen. „Welchem alle,
vom Kleinen bis zum Großen, anhingen und sagten: Dieser
ist die Kraft Gottes, genannt die große." (V. 10.) Es ist nicht
selten der Fall, daß die, welche die hochmütigsten Ansprüche
erheben, auch den höchsten Platz in den Gedanken der Menschen einnehmen. Was schadet es, ob auch das Fundament,
worauf sich diese Ansprüche stützen, noch so schwach und
gebrechlich ist? Die Menge kümmert sich weder um das Fundament, noch um das, was hinter der Szene ist. Ihre Gedanken schwimmen stets auf der Oberfläche und sind darum leicht
zu täuschen. Der Großtuer und Prahler bahnt sich mit leichter Mühe einen Weg zu den Herzen der Menge, während der
Demütige, der Anspruchslose, der Bescheidene von seiten der
Menschen dieser Welt der Vergessenheit und der Nichtachtung
anheimgegeben ist. Darum wurde der hochgepriesene Herr,
der Sich selbst zu nichts machte, der nicht Seine eigene Ehre
suchte, und nichts hatte, wohin Er Sein Haupt legte, preisgegeben für einen Mörder und Räuber und zwischen zwei Missetäter an ein entehrendes Kreuz genagelt.
Aber Simon, der Zauberer, gab vor, daß er etwas Großes sei;
und die pomphaften Anmaßungen dieser Selbst-Überhebung
fanden Eingang bei der ungläubigen Menge. Auf ihn richteten
alle ihre Blicke. Warum? War es vielleicht, weil er ihnen zu
nützen suchte durch die eifrigen Anstrengungen eines hochherzigen Wohlwollens? Keineswegs. Was war also die Ursache? „Weil er sie lange Zeit mit den Zaubereien außer sich
gebracht hatte." (V. 11.) So ist der Mensch, so ist die Welt.
Ja, und so sind auch die Christen. Laßt uns nur lauschen auf
die Worte: „Denn ihr ertraget gern die Toren, da ihr weise
seid. Denn ihr ertraget es, wenn jemand euch knechtet,
wenn jemand euch aufzehrt, wenn jemand von euch nimmt,
wenn jemand sich überhebt, wenn jemand euch ins Angesicht
schlägt." (2. Kor 11, 19. 20.) Diese Worte sind an Heilige gerichtet; und wir wissen, wie sie leider auch in unseren Tagen
146
Anwendung finden. Die Heilige Schrift hat im voraus diese
Dinge bezeichnet, und „es gibt nichts Neues unter der Sonne."
Jene dünkelhaften, prahlerischen, übermütigen Apostel hatten
dem wahren, sich selbst verleugnenden, geweihten Diener
Christi die Zuneigung und Würdigung selbst der Heiligen
Gottes fast gänzlich geraubt. Welch eine schreckliche Erläuterung der Worte: „Jehova kennt die Gedanken der Menschen, daß sie Eitelkeit sind." — Ja, in der Tat, es kann nichts
Eitleres geben als die Gedanken und Überlegungen der Menschen.
Indes hatte sich die Zeit in Samaria geändert, und zwar durch
die Einführung des Evangeliums. „Als sie aber dem Philippus
glaubten, der das Evangelium von dem Reiche Gottes und
dem Namen Jesu Christi verkündigte, wurden sie getauft,
sowohl Männer als Weiber. Aber auch Simon selbst glaubte,
und als er getauft war, hielt er sich zu Philippus; und als
er die Zeichen und großen Wunder sah, geriet er außer sich."
(V. 12. 13.)
Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu prüfen, ob Simon wirklich ein bekehrter Mann war, oder nur ein heuchlerischer Bekenner. Wir können, ohne diese Frage zu berühren, eine höchst
lehrreiche Unterweisung und einen praktischen Nutzen aus
dieser Geschichte ziehen. Simon war ein selbstsüchtiger Mensch
von Anfang bis zu Ende. Die eigene Erhebung war für ihn
Zweck und Ziel. Zuerst machte er Gebrauch von der Zauberei, um dieses Ziel zu erreichen; und als die Zeit des christlichen Bekenntnisses ihm das Fundament, worauf er sich erhob, unter den Füßen wegrückte, da umklammerte er ein
neues Ding. Er stellte seinen Fuß auf den Boden des Bekenntnisses, nicht wie jemand, der für sein gebrochenes Herz
und für sein ihn verklagendes Gewissen Ruhe sucht, sondern
wie jemand, der etwas zu sein trachtet. Aus der inspirierten
Erzählung geht augenscheinlich hervor, daß Simon weit mehr
beschäftigt war mit den Zeichen und Wundern, von denen
das Evangelium begleitet war und wodurch es bestätigt wurde,
als mit den Tröstungen, die das Evangelium darreichen will.
Hier zeigte sich in der Tat kein Herz, das durch die Gnade
des Evangeliums mit Frieden erfüllt war, sondern ein Gemüt,
das über die Zeichen und Wunder staunte, die geschahen.
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Denn „als er die Zeichen und großen Wunder sah, geriet er
außer sich". Nur darauf richteten sich seine staunenden Blicke.
Jene Erscheinungen, die bloß dazu bestimmt waren, die Aufmerksamkeit der Herzen auf Christum zu lenken, wurden von
Simon als solche betrachtet, die ihn selbst erhöhen konnten.
Er hoffte, in dem Christentum für seinen Ruhm einen festeren
Boden zu finden, als er ihn bis dahin durch die Zauberei
haben konnte.
Alles dieses tritt klarer ins Licht, sobald der Heilige Geist
auf den Schauplatz tritt. „Als aber die Apostel, die in Jerusalem waren, gehört hatten, daß Samaria das Wort Gottes
angenommen habe, sandten sie Petrus und Johannes zu ihnen,
welche, als sie hinabgekommen waren, für sie beteten, damit
sie den Heiligen Geist empfangen möchten; denn er war noch
nicht auf einen von ihnen gefallen, sondern sie waren allein
getauft auf den Namen des Herrn Jesu. Dann legten sie ihnen
die Hände auf, und sie empfingen den Heiligen Geist. Als
aber Simon sah, daß durch das Auflegen der Hände der Apostel der Heilige Geist gegeben wurde, bot er ihnen Geld an
und sagte: Gebet auch mir diese Gewalt, auf daß, wem irgend
ich die Hände auflege, er den Heiligen Geist empfange. Petrus
aber sprach zu ihm: „Dein Geld fahre samt dir ins Verderben,
weil du gemeint hast, daß die Gabe Gottes durch Geld zu
erlangen sei! Du hast weder Teil noch Los an dieser Sache;
denn dein Herz ist nicht aufrichtig vor Gott. Tue denn Buße
über diese deine Bosheit, und bitte den Herrn, ob dir etwa
der Anschlag deines Herzens vergeben werde; denn ich sehe,
daß du in Galle der Bitterkeit und in Banden der Ungerechtigkeit bist." (V. 14-25.)
Welch ein feierlich ernstes Gemälde! Welch eine heilige Unterweisung! Selbstsucht führt stets zur Bitterkeit, mag sie uns
bei einer bekehrten oder bei einer unbekehrten Person begegnen. Jeder, der sich selbst zu erhöhen trachtet, jeder, der etwas
sein will, der zu glänzen sucht vor dem Auge seiner Mitmenschen, wird früher oder später Bitterkeit und Galle zur
Reife bringen. Es kann nicht anders sein. Man kann es als
einen bestimmten Grundsatz festsetzen, daß in dem Maße,
wie unser Ich der Gegenstand und das Ziel ist, auch die Bitter148
keit die Folge sein wird. Hätte Simon den Gegenstand seines
Herzens in Christo, den Philippus predigte, gefunden, so
würde er nicht nötig gehabt haben, die erschreckenden Worte
des Petrus zu hören. Sein Herz wäre dann „aufrichtig vor
Gott" gewesen. Nur wenn Christus der Blickpunkt für uns
ist, ist das Herz aufrichtig vor Gott. Allein, es stand so traurig
um Simon, und sein Herz war so völlig entfernt von Gott, von
Christo und von dem Heiligen Geiste, daß, als Petrus ihn aufforderte, Gott zu bitten, ob ihm vielleicht der Anschlag seines
Herzens vergeben würde, er keine andere Antwort hat als:
„Bittet ihr für mich den Herrn, damit nichts über mich komme
von dem, wovon ihr gesagt habt." (V. 24.) Anstatt seine Sünden zu bekennen, forderte er andere auf, für ihn zu beten,
damit die Folgen seiner Sünde ihn nicht treffen möchten.
Hier endet die Geschichte des Zauberers, und Simon ist unseren Blicken entzogen. Möge die in dieser Geschichte enthaltene Lehre sich tief in unsere Herzen einprägen! Möge der
Herr in Seiner Gnade uns völlig von Selbstsucht befreien und
unsere Herzen erfüllen mit Liebe für Seinen Heiligen Namen!
Wenden wir uns jetzt von diesem traurigen Ereignis ab, und
richten wir unsere Blicke auf ein Gemälde, das von dem vorigen ganz verschieden ist.
„Ein Engel aber des Herrn redete zu Philippus und sprach:
Stehe auf und gehe gegen Süden, auf den Weg, der von Jerusalem nach Gaza hinabführt; derselbe ist öde. Und er stand
auf und ging hin. Und siehe, ein Äthiopier, ein Kämmerer,
ein Gewaltiger der Kandace, der Königin der Äthiopier, der
über ihren ganzen Schatz gesetzt war, war gekommen, um zu
Jerusalem anzubeten, und er war auf der Rückkehr, und saß
auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaias." (Apg 8,
26. 27.)
Welch ein Kontrast tritt uns hier vor Augen! Statt eines Zauberers, der mit Hilfe der Künste seiner Zaubereien etwas Großes zu sein vorgibt, erblicken wir hier einen Mann von wirklich hohem Ansehen und Rang, einen Mann von Gewicht
und Würde, der ganz und gar sich selbst und seine Stellung
aus dem Auge verloren hat und beschäftigt ist, den Gegenstand seines Gottesdienstes und seiner Anbetung zu finden.
149
Er war einer von den Großen dieser Erde und hatte nicht nötig
vorzugeben, daß er ein solcher sei; aber statt mit sich selbst
oder mit seiner Größe beschäftigt zu sein, dürstete seine Seele
nach etwas, das weit über seine Person und seine Umgebung
hinausging. Er war von Äthiopien nach Jerusalem gegangen,
um anzubeten, und befand sich, augenscheinlich unbefriedigt,
auf dem Rückwege.
Dies alles ist von außerordentlicher Bedeutung. Wir sind erfreut, den Simon, der sich selbst sucht, verlassen zu können
und einen Kämmerer begleiten zu dürfen, der Christus suchte.
Es ist zu sehen, wie erfrischend, dieser ernste, einsame Mann
in den Schriften des Propheten den Gegenstand für sein Herz
sucht. Wir werden sicher fühlen, daß dieses ein Anblick
war, an dem der Himmel selbst seine Wonne hatte. Ein
Engel wurde nach Samaria gesandt, den Apostel von den
dortigen blühenden Gefilden des Dienstes abzurufen und ihn
hinzusenden in die Einsamkeit der Wüste Gaza, um sich hier
mit einer einzelnen Person zu beschäftigen. Wie bemerkenswert ist es, daß der inspirierte Schreiber zwei solche Männer,
wie Simon und den Kämmerer, nebeneinanderstellt! Sie bilden ganz und gar zwei Gegensätze. Philippus fand in Simon
einen Mann, der das Volk durch Zauberei außer sich brachte
und etwas Großes zu sein vorgab; und in dem Kämmerer
einen, der sich mit ganzem Ernst in das Studium des Wortes
Gottes vertiefte. Er fand den einen mitten in dem Geräusch
und dem Gedränge der Stadt in rastloser Tätigkeit, um vor
den Augen der Welt eine Rolle zu spielen, und für sich selbst
aus allem Nutzen zu ziehen; den anderen fand er in der
Wüste, zurückkehrend von dem Orte seiner Anbetung, um
sich wieder zu seinem Wirkungskreise in Äthiopien zu begeben. Sie bildeten in der Tat zwei entschiedene Gegensätze.
Verfolgen wir aber ein wenig die Geschichte dieses interessanten, höchst begünstigten Äthiopiers. Es mochte dem Evangelisten seltsam erscheinen, den glänzenden Wirkungsplatz in
Samaria, wo eine so große Menge auf ihn hörte, verlassen
und eine Wüste betreten zu müssen, wo er kaum erwarten
durfte, jemanden zu finden. Wem sollte er hier predigen?
Die Natur würde sicher eine solche Frage erhoben haben;
150
aber wie uns hier mitgeteilt wird, blieb Philippus nicht lange
in Unwissenheit in betreff seiner Arbeit. „Der Geist aber
sprach zu Philippus: Tritt hinzu und schließe dich diesem
Wagen an. Philippus aber lief hinzu." (V. 29.) Wie einfach!
Welch ein liebliches Bild von einem Diener! Für das Herz
eines rechtschaffenen Dieners ist es gleich, ob er in eine Stadt
oder in eine Wüste, zu einer Menge oder zu einer einzelnen
Person gesandt wird. Der Wille seines Herrn gibt stets den
Ausschlag. O, möchten auch wir dieses mehr verwirklichen!
Möchten auch wir mehr die wirkliche und tiefe Segnung genießen, unser angewiesenes Werk vor dem unmittelbaren
Auge Jesu auszuführen, ohne uns zu kümmern um den Wirkungsplatz und den Charakter dieses Werkes! Wir mögen
berufen sein, vor versammelten Tausenden stehen, oder im
Verborgenen unsere Wege von Gasse zu Gasse, von Dachstübchen zu Dachstübchen machen zu müssen, wir mögen das
Evangelium in großen vollen Räumen verkündigen oder es
im Zimmer eines Krankenhauses dem Ohr eines Sterbenden
nahebringen — der treue Diener tut beides mit der gleichen
Freude. Und gewiß wird es auch bei uns so sein, wenn nur
die wahre Gesinnung eines Dieners unsere Herzen belebt. Der
Herr wolle uns mehr davon gewähren!
„Philippus aber lief hinzu, und hörte ihn den Propheten Jesajas lesen, und sprach: Verstehst du wohl, was du liesest? Er
aber sprach: Wie könnte ich denn, wenn nicht jemand mich
anleitet? Und er bat den Philippus, daß er aufsteige und sich
zu ihm setze." (V. 30.) Der Herr weiß, wie und wo sich die
Pfade des Predigers und des Zuhörers kreuzen sollen; und
wenn sie sich einander begegnen, dann ist eine Kette gebildet, die nicht gesprengt werden kann. In Jerusalem befanden
sich jene, welche die frohe Botschaft dem Ohr des Kämmerers
hätten nahebringen können; aber Gott hatte es angeordnet,
daß Philippus das Vorrecht genießen sollte, diesen Fremdling
zu den Füßen Jesu zu führen, und daß sie sich nach Seiner
gnadenreichen Vorsehung in der Wüste Gaza begegnen sollten.
Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf die Schriftstelle,
auf der das Auge des Kämmerers ruhte, als Philippus seinen
Platz neben ihm einnahm. „Die Stelle der Schrift aber, die er
151
las, war diese: Er wurde wie ein Schaf zur Schlachtung geführt, und wie ein Lamm stumm ist vor seinem Scherer, also
tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde
sein Gericht weggenommen; wer aber wird sein Geschlecht
beschreiben? denn sein Leben wird von der Erde weggenommen." (Jes 53, 7. 8.) „Der Kämmerer aber antwortete dem
Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem sagt der Prophet dieses? von sich selbst oder von einem anderen? Philippus
aber tat seinen Mund auf, und, anfangend von dieser Schrift,
verkündigte er ihm das Evangelium von Jesu." (V. 32—35.)
Bei dem Kämmerer war die Frage geweckt: „Wer ist diese
geheimnisvolle Person?" — Gesegnete Frage! Er forderte den
Philippus nicht auf, ihm irgendeinen Text zu erklären. Ach
nein! er verlangt etwas, was viel bedeutender war. Erwünschte,
etwas von dieser wunderbaren Person zu erfahren, welche gleich einem Schaf zur Schlachtung geführt worden war.
Dieses war alles, wonach er fragte. Wer konnte diese Person
sein? Es war Jesusl Glückseliger Kämmerer! Er hatte endlich
sein Ziel erreicht. Sein Auge hatte auf dieser kostbaren Schriftsteile geruht und hier die Erzählung von dem „Lamme Gottes"
gefunden, das an das Fluchholz geführt und unter der gerechten Hand eines Gottes, der die Sünde haßt, zermalmt worden
war. Und für wen? Für jeden Mühseligen und Beladenen, der
dem Schutz Seines versöhnenden Blutes vertraut. Das war
der herrliche Gegenstand, der dem Auge und Herzen dieses
ernsten und aufrichtigen Kämmerers dargestellt wurde. Die
große Fundamental-Wahrheit des Evangeliums — die Lehre
von dem Blut eines die Sünde tragenden Christus machte sich
mit göttlicher Kraft und Fülle in seiner Seele Bahn. Kein auffallendes Zeichen oder Wunder wurde hier der verkündigten
Wahrheit beigefügt. Das war unnötig. Das Wort kam mit
Macht. Der Boden war gut und für den köstlichen Samen
herrlich zubereitet. Das ernste Suchen des Kämmerers war
in ein glückseliges Finden umgewandelt. Der Sünder und Jesus waren zusammengetroffen, der Glaube vereinigte sie, und
alles war in Ordnung gebracht.
„Als sie aber auf dem Wege fortzogen, kamen sie an ein
gewisses Wasser. Und der Kämmerer spricht: Siehe da ist
152
Wasser; was hindert mich, getauft zu werden? Und er hieß
den Wagen halten, und sie stiegen beide in das Wasser hinab,
Philippus und der Kämmerer; und er taufte ihn. Als sie aber
aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn
den Philippus, und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; denn
er zog seinen Weg mit Freuden."
Die schöne und bezeichnende Anordnung der Taufe stellt das
Begräbnis des alten Menschen vor. In diesem Lichte betrachtet
ist die Frage des Kämmerers bedeutungsvoll: „Was hindert
mich, getauft zu werden?" Sicher nichts. Er hatte Jesum gefunden und hatte Ursache, sein Ich zu begraben. Wie einfach!
„Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung."
(2. Kor 5, 17.) Der alte Mensch ist nicht besser gemacht, sondern hinweggetan; und Christus ist jetzt der eine große Gegenstand vor der Seele. Wenn diese Dinge verstanden sind,
wenn das Ich aus dem Gesichtskreis verloren ist und Christus
die Seele erfüllt, dann können wir mit Freuden unseren Weg
verfolgen. So war es bei dem Kämmerer. Er stieg aus seinem
Wassergrabe hervor, um seine Reise fortzusetzen, jenen heiligen, glückseligen Pfad entlang, der von dem Kreuz aus beginnt und in der Herrlichkeit endet. — Wir sehen also, wie von
Anfang bis zu Ende der Kämmerer von Äthiopien und der
Zauberer von Samaria zwei entschiedene Gegensätze bilden.
Und sicher repräsentierten diese beiden Männer zwei große
Klassen, nämlich die, welche mit sich selbst, und die, welche
mit Christo beschäftigt sind. Simons Gegenstand war sein
Ich, und sein Ende „Bitterkeit"; der Gegenstand für das Herz
des Kämmerers war Jesus, und sein Ende „Freude".
Möge der Herr diese Unterweisungen tief in unsere Herzen
prägen! Mögen wir befreit sein von dem Elend der Selbstsucht in allen ihren Erscheinungen und Graden, und mögen
wir erfüllt sein mit Christo, um unseren Weg mit Freuden
ziehen zu können! —
153
Die Abnahme im geistlichen Leben
und ihre Kennzeichen
So wie von Ephraim gesagt worden ist, daß sein Haar ergraut
sei, ohne daß er es gemerkt habe, so tritt auch im allgemeinen
der offenbare Rückgang oder die Abnahme im geistlichen Leben nicht so plötzlich und sichtbarlich in die Erscheinung. Im
Gegenteil geht gewöhnlich eine lange Reihe von Symptomen
voraus, die einen Zustand ankündigen und vorbereiten, der
nicht entdeckt wird, bis er endlich nicht mehr verborgen bleiben kann. Daher ist es für unser geistliches Wohl von Bedeutung, daß wir diese vorausgehenden Erscheinungen frühzeitig und schnell wahrnehmen. „Wenn wir uns selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet." Ist ein geistlicher Sinn
vorhanden, um die ersten Spuren der Abnahme zu sehen und zu
fühlen, so werden diese selbstverständlich verurteilt und unterdrückt. Wir werden weder billigen noch fördern, was wir als
unrecht erkannt haben. Ist dagegen die Schärfe unseres Gewissens abgestumpft, so sehen wir das Böse nicht, oder, wenn
wir es auch sehen, finden wir es unter den Umständen, in
denen wir uns gerade befinden, verzeihlich und geben ihm
immer mehr nach. „Das Licht ist es, welches alles offenbar
macht." „Gott ist Licht und gar keine Finsternis ist in ihm."
— Wir sind Licht in dem Herrn. Wenn wir im Licht wandeln,
so befinden wir uns in der Nähe des Herrn und werden dort
alles so sehen, wie Er es sieht. Es ist möglich, daß wir etwas
nicht ganz klar sehen, aber wir sehen es doch; und da wir es
in Seiner Gegenwart sehen, so werden wir uns von allem
zurückziehen, was Seiner nicht würdig ist. Wenn wir in der
Finsternis wandeln, so haben wir keine Gemeinschaft mit
Ihm. Es handelt sich hier nicht bloß um ein gutes Gewissen,
um darin vor Ihm zu wandeln, sondern um praktische Gemeinschaft mit Ihm. Die ist aber undenkbar, wenn wir nicht
im Lichte sind; nur im Licht sind alle Dinge offenbar, wie
Gott sie offenbar macht. Wir werden auf die Linie, die gezogen werden muß, aufmerksam gemacht, und wir nehmen sie
an. Dies aber gibt uns einen freimütigen Zugang zu einer
154
engeren Gemeinschaft mit Ihm. Die Finsternis begreift das
Licht nicht. Wenn ich im Lichte bin, so beurteile ich mich selbst,
und klage mich alles dessen an, was Gott zuwider ist; und
eben weil ich im Lichte, in meiner mich schirmenden Waffenrüstung stehe, werde ich nicht gerichtet. Jedoch hat dies nur
Bezug auf den Wandel und auf die daraus entspringende
Freude der Seele; man kann darin sehr mangelhaft sein und
dennoch ein gewisses Maß von Frieden des Gewissens und
von Tätigkeit im Dienste für den Herrn kundgeben. Wenn
nun aber diese Unfähigkeit zum Selbstgericht fortdauert, so
werden wir von dem Herrn gezüchtigt, und dieses Gericht
wird auf mannigfache Weise ausgeübt.
Es wird nützlich und belehrend sein, aus der Schrift die Kennzeichen der Abnahme zu sammeln. Das erste und untrüglichste
Kennzeichen ist die Unzufriedenheit. „Begnüget euch mit dem,
was vorhanden ist", (Hebr 13, 5.) hat eine viel weitere Anwendung, als nur auf irdische Dinge, es bildet auch eine Waffe
gegen die Macht des Menschen. Diese Stelle deutet auf die
folgende hin: „ .. . so daß wir kühn sagen dürfen: Der Herr ist
mein Helfer, und ich will mich nicht fürchten; was wird mir
ein Mensch tun?" Wegen der Hilfe des Herrn haben wir
nichts von dem zu fürchten, was in der Macht des Menschen
liegt. Doch wir sind es uns oft kaum bewußt, welchen unscheinbaren Anfang dieses Gefühl der Unzufriedenheit haben
kann, während es, wenn es unentdeckt und ungerichtet bleibt,
tödlichen Schaden anrichtet, und man es schließlich als eine
Tugend achtet, unzufrieden zu sein. „Aber" — wird man
vielleicht einwenden — „soll man denn selbst mit dem zufrieden sein, was nicht nach Gottes Rat und Willen vorhanden
ist?" Darauf antworte ich, wenn dies die einzige Unzufriedenheit unseres Herzens wäre, daß sie sich in einer anderen Weise
als in der Unzufriedenheit der Natur kundgeben würde.*) —
Untersuchen wir daher, wie die Unzufriedenheit den Weg
zur Abnahme des geistlichen Lebens bahnt und vorbereitet.
Wenn mein Herz in Einfalt versichert ist, daß der Herr mich
nicht verlassen noch versäumen wird, so denke ich nicht an
mich. Ich ruhe in der Überzeugung, daß ein Größerer als ich
*) Eifer für den Herrn gibt sich durch eine größere Fürsorge für die Heiligen
und durch eine entschiedenere Trennung von der Welt kund.
155
sich mit mir beschäftigt. Wenn ich im Glauben Sein Wort aufnehme: „Ich will dich nicht verlassen noch versäumen", so
legt mein geistliches Betragen Zeugnis davon ab, daß ich kühn
sagen kann: „Der Herr ist mein Helfer; und ich will mich
nicht fürchten; was wird mir ein Mensch tun?" Das aber ist
nicht ein bloßes Zufriedensein, sondern ein energisches, glückliches und bestimmtes Vertrauen auf Gott. Sicher, die eigentümlich schlaue und sonderbare Weise, in der dieses erste
Kennzeichen wirkt, ist kaum zu beschreiben; aber jede Seele,
die vom Wege des Irrtums zurückgekehrt ist, wird sich bekennen müssen, daß ihre anfängliche Abweichung auf Keime
dieser Art zurückzuführen ist. Das eigene Ich wird ein Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens; daher bestrebt man sich, mehr dafür zu erlangen, als Gott dafür
bestimmt hat. Das war Achans Sünde; (Jos 7.) er eignete sich
das Eigentum Gottes an; er war nicht zufrieden — er suchte
sich selbst.
Man wird zugeben müssen, daß die Kinder Israel, als sie den
Herrn in der Wüste versuchten, durch den tödlichen Biß der
feurigen Schlangen zu der Überzeugung hätten kommen können, daß jene Unzufriedenheit, die durch Satan ursprünglich
in Evas Herzen erzeugt worden war, den Tod zur Folge hatte,
und daß es gegen den Schlangenbiß kein anderes Hilfsmittel
gibt, als in dem Leben vorhanden war, das Gott dem Glauben
gibt. Diese Unzufriedenheit gab sich kund, weil sie das Manna,
die göttliche Versorgung, für ungenügend hielten. Sie sagten:
„Unserer Seele ekelt vor dieser losen Speise"; sie versuchten
Christum. Was aber einst das Manna war, das ist jetzt für
uns Christus und nur Christus während unseres Lebens in
dieser Welt. Wie sehr fürchtet der Apostel in Kolosser 2 den
Abfall von Christo; seine Ermahnungen, daran festzuhalten,
sind nichts anderes als Ermahnungen zur Rückkehr zu der
in die Worte gekleideten Wahrheit: „Ich will dich nicht verlassen noch versäumen." Es ist klar, daß jemand, der einfältig und wahrhaft glücklich in Christo ist und in Ihm seine
volle Befriedigung findet, durchaus nicht die Zeichen des Abfalles an sich trägt. Dagegen kann man überzeugt sein, daß
jeder, der über seine Vermögensumstände, seine Familie, seine
Arbeit, seine Gesundheit, über die Brüder oder irgend etwas
156
seufzt, vor dem Manna einen Ekel empfindet, oder daß sein
Auge von Christo abgewandt ist und die ersten Keime der
Abnahme seines geistlichen Lebens hervorgesprossen sind.
Und was wird dem Murren auf dem Fuße folgen? Man wird,
sobald die Fähigkeit und Gelegenheit dazu vorhanden ist, den
entdeckten Mangel aus dem Wege zu räumen trachten. Man
wird eben nicht sehr auf die Mittel und Wege achten, die man
anwendet und einschlägt, um aus einer mißlichen Lage herauszukommen. Nur im Blick auf die Umstände läßt man sich
leiten; und werden die Anstrengungen nicht durch einen günstigen Erfolg gekrönt, so steigert sich die Unzufriedenheit.
Man gebärdet sich gleich einem gefangenen, umstrickten
Wilde, weil das Auge nichts sieht, als jene Schranke, die
unserer Natur im Wege steht. Das sind die betrübenden Folgen des Murrens.
Wie ganz anders aber ist es, wenn ich mich Gott unterwerfe.
Dann murre und seufze ich nicht; denn ich fühle mich in Christo völlig befriedigt und befinde mich in einer Region, zu
welcher den eigenen, selbstsüchtigen Wünschen der Eintritt
verwehrt ist. (Joh 4, 14.) Wenn wir mit Aufmerksamkeit die
Geschichte einzelner Personen des Alten Testaments verfolgen, so werden wir bald den besonderen Umständen begegnen, die zu der Abnahme ihres geistlichen Lebens führten,
weil ihr ganzes Verhalten durch jene Umstände, denen sie
abzuhelfen trachteten, beeinflußt wurde, und das Murren
und die Unzufriedenheit ihres Herzens offenbar machte. Lot
brauchte Futter für sein Vieh, und die Wiesen Sodoms zogen
ihn an. Jakob verlangte nach Ruhe nach seiner Flucht von
Mesopotamien, und Sichern genügte ihm. Israel verlor Jehova,
seinen Gott, aus den Augen und fand seine Befriedigung in
einem goldenen Kalbe. Achan verlangte nach persönlicher Auszeichnung und vergriff sich an dem, was Gott angehörte. Mit
einem Worte: Wer den Wünschen seiner Seele Raum gibt,
tut den ersten Schritt zu der Abnahme seines geistlichen Lebens. Das Herz, anstatt in der Genügsamkeit Christi zu ruhen,
strengt sich mit großer Mühe an, die erwachten Wünsche zu
befriedigen. Es ist stets die Bemühung Satans, irgendein Verlangen zu erwecken und dann die Seelen zu drängen, einen
ungeziemenden Weg einzuschlagen, um dieses Verlangen zu
157
stillen. Tragen wir nicht schon den Schein des Abfalles an
uns, wenn das eigene Ich in irgendeiner Form unsere Aufmerksamkeit fesselt und uns die Hilfe und Befriedigung in
Christo vergessen und übersehen läßt? Gerade das, woran
wir uns wenden, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, verrät unsere wahren Gedanken über das Bedürfnis, wie überhaupt den Zustand unseres geistlichen Lebens. So deckte das
Gesetz in Galatien und die Philosophie in Kolossä die Neigung
der Herzen auf. Möge der Herr uns daher in Gnaden bewahren, den Wünschen unserer Herzen nachzugeben; denn dadurch verlieren wir unsere Stellung in Christo aus den Augen
und berauben uns der Kraft zum Fortschreiten in der Gnade
und der Erkenntnis.
Wenn unser Gewissen noch wach ist, so müssen wir seinen
Mahnungen unbedingt Gehör geben; im anderen Falle werden wir unsere Gefühle bezüglich dessen, was Wahrheit ist,
immer mehr in uns abstumpfen. Wollen wir den Ansprüchen
unseres Gewissens entsprechen, dann wird es nötig sein, daß
wir die Stellung einnehmen, die Gott wohlgefällig und Seiner
Offenbarung gemäß ist, die Er von Sich Selbst gemacht hat.
Wir werden dann alles richten, was Ihm zuwider ist, und uns
durch Seine Gnade über alle Begierden und Wünsche der Natur erheben. Wenn wir andererseits der Unzufriedenheit
unseres Herzens nachgeben, müssen wir entweder geradezu
gegen unser Gewissen handeln, oder wir sind genötigt, uns
Gott in einer Weise darzustellen, die ganz ungeeignet ist,
unseren Zustand zu verurteilen. Wie könnte ich in einem
meiner Natur angemessenen Zustande leben, über den ich
die Überzeugung besäße, daß Gott ihn nicht anerkennen und
erlauben würde. Ich muß entweder ohne Gewissen, ohne Gottesfurcht sein, oder ein böses Gewissen haben; ich muß entweder im Glauben Schiffbruch gelitten haben, oder mich in
einem unerträglichen Zustande befinden; und beide Erscheinungen bilden schon weit vorgeschrittene Stufen in der Abnahme des geistlichen Lebens.
Und ach! wie oft geschieht es, daß die Gläubigen sich eine
beschränkte Vorstellung von Gott machen, um das Gewissen
nicht zu stören und zu beunruhigen. Lot stand sicher als eine
gerechte Seele mit Gott in einiger Verbindung; denn wie hätte
158
er sonst mit dem Gefühl völligen Getrenntseins auch nur den
geringsten Grad von Behaglichkeit in Sodom genießen können? Ja, sicher würde er bald in das ihn umgebende Böse
völlig hinabgesunken sein, wenn er nicht irgendwelche Beziehungen mit Gott unterhalten hätte. Allein diese Beziehungen, wie weit standen sie unter seiner Berufung? Daher mußte
er eine Vorstellung von Gott angenommen haben, die weit
unter derjenigen stand, in der Gott sich ihm geoffenbart hatte.
Das aber sind stets die ersten Folgen, wenn man der Unzufriedenheit des Herzens irgendeinen Spielraum gestattet.
Ebenso errichtete Jakob, als er sich in Sichern niedergelassen
hatte, einen Altar, und rief den Namen des starken Gottes
Israels an. Solange er sich in einem Zustande befand, der
seiner Natur angemessen war, unterhielt sein Gewissen allerdings Verbindungen mit Gott, jedoch nur solche, die seine
Stellung, die ihm nicht von Gott angewiesen war, keineswegs
tadelten und verurteilten. Er dachte nur an Gott in Beziehung
auf seine eigene Person. Für Gedanken an die Verherrlichung
Gottes gab es keinen Raum in seinem Herzen. Die Ratschlüsse
Gottes blieben gänzlich unbeachtet und vergessen. Konnten
unter solchen Umständen die traurigen Erscheinungen in der
Familie Jakobs befremden? Keineswegs. Wie ganz anders war
es, als Jakob dem Ruf Gottes folgte und im Begriff stand, nach
Bethel aufzubrechen. Jetzt erst vernehmen wir seine ernste
Mahnung: „Tut die fremden Götter hinweg, die in eurer Mitte
sind, und reiniget euch und wechselt eure Kleider."
Wie deutlich lehrt uns diese Geschichte, daß so manches, was
wir uns außer der wahren Gemeinschaft mit Gott erlauben
können, unmöglich geduldet werden kann, wenn wir in Seine
heilige Nähe treten; und sicher, wenn wir das Unheilige in
unserer Mitte dulden, zeigt das stets an, daß die Seele fern
von Ihm ist. O, möchten unsere Herzen dies doch tief erwägen!
Wie sehr würden wir uns fürchten, der Unzufriedenheit der
Natur nachzugeben, wenn wir stets im Lichte Gottes die
traurigen Folgen sähen! Liegt es doch klar am Tage, daß wir
unsere wahre Berufung aus dem Auge verlieren, wenn wir den
Begierden der Natur Genüge leisten. Und, um den Schlägen
des Gewissens zu entgehen, werden wir so die Offenbarung
Gottes auf jenes Maß beschränken, das unsere fleischliche
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Stellung weder tadelt, noch mit ihr zusammenstößt. Dies ist
ein ernstes Übel, das öfter vorkommt, als wir vielleicht meinen.
Von unseren Vorrechten und unserer Berufung abzuweichen,
ist an und für sich schon schlimm genug; allein wenn wir, um
den Vorwürfen unseres Gewissens auszuweichen, die Offenbarung Gottes schmälern und beschränken, so ist das in der
Tat schon ein erschreckender Grad der Abnahme unseres geistlichen Lebens. Aber dies wird stets der Fall sein. Man wird
kein Beispiel anführen können, wo jemand, der auf irgendeine
Art sich selbst sucht, und von seiner Berufung in Christo und
seiner Befriedigung in Ihm abgewichen ist, sich nicht eine Vorstellung von dem Willen Gottes gemacht hat, die weit unter
der Wahrheit steht und diese in den Staub zieht, damit sie
ihm in seiner niedrigen Stellung nicht verweisend begegnen
kann. Anders kann es nicht sein, wenn man den unerträglichen
Vorwürfen des Gewissens entrinnen will.
Ich zweifle nicht, daß Markus, als er sich von Paulus trennte,
um nach Jerusalem zu gehen, auf einem niedrigeren Boden
Erleichterung für sein Gewissen fand, die er nicht gefunden
hätte, wenn er bei Paulus geblieben wäre. So ist es immer. Ist
Christus als der alleinige Grund des Friedens aus den Augen
verloren, dann muß etwas anderes eingeführt werden, um den
Platz wieder auszufüllen; und wenn es nicht die göttliche
Gerechtigkeit ist, so muß es die menschliche sein, oder es ist
kein Gewissen mehr vorhanden. Gleicherweise stand Barnabas
in dem Wortwechsel, den er mit Paulus hatte, mit Markus in
Gemeinschaft und mithin auf derselben Grundlage; denn beide
hatten einen fleischlichen Boden betreten. Beide gingen nach
Zypern, dem Vaterlande des Barnabas. Und sicher, alle, die
Paulus in Asien verlassen und die höheren Wahrheiten aufgegeben hatten, mußten, wenn sie überhaupt noch ein Gewissen hatten, der Offenbarung Gottes ein beschränktes Maß
anweisen, um nicht wegen der Abnahme ihres geistlichen
Lebens getadelt zu werden. Wenn die Versammlung zu Ephesus
die erste Liebe verlassen hatte, so war dies nur die Folge
davon, daß sie die Offenbarung Gottes ihres Stachels beraubt
hatte, um nicht in ihrem Lichte den Gewissensbissen ausgesetzt
zu sein, wiewohl die Epheser sicher eine Stütze in ihrem Eifer
fanden, womit sie „prüften, welche sich Apostel nennen und
160
sind es nicht, und die das Böse nicht ertragen konnten usw."
Sie blickten mit Eifer niederwärts, weil sie aufgehört hatten,
aufwärts zu schauen. Freilich war ihre Handlungsweise gut
und löblich; dennoch stand ihr Eifer wie bei dem fischenden
Petrus auf einer Linie, die den Menschen und ihnen selbst
angemessener war als Christus. Sobald das Sichtbare der
höchste Gegenstand der Seele ist, wird das Unsichtbare, das
Höhere, als Gegenstand des Gewissens gänzlich übersehen. In
diesem Falle muß der wahre Platz des Vorrechtes und der
Berufung Gottes verscherzt werden, sobald das eigene Ich den
Schauplatz betritt. Wenn noch ein Gewissen vorhanden ist,
wird die Offenbarung Gottes bis auf den niedrigsten Grad
herabgezogen, um dadurch die Abnahme des geistlichen Lebens
möglichst lange zu verhüllen.
Man kann versichert sein, daß die Stumpfheit vieler Christen,
höhere Wahrheiten zu begreifen, und ihre Gleichgültigkeit, sie
zu beobachten, ihren Grund darin haben, daß sie zunächst
wegen selbstsüchtiger Zwecke hinweggezogen wurden und
dann sich gezwungen sahen, die Wahrheit zu beschneiden, um
sie ihrem Zustande anzupassen, damit das Gewissen in keiner
Weise beunruhigt wird. *) Zeigt nun aber vollends das Gewissen einen Stachel, der sich nicht beseitigen läßt, so bleibt
nichts anders übrig, als es gänzlich beiseitezusetzen und am
Glauben „Schiffbruch zu leiden", (1. Tim 1, 19.) oder in die
Fußstapfen derer zu treten, die „in betreff ihres eigenen Gewissens wie mit einem Brenneisen gehärtet sind". (l.Tim 4,2.)
Das eine ist der Fall, wo ein wirkliches Werk in der Seele ist,
das zweite, wo ein solches nicht vorhanden ist. Wenn jemand
einen Weg verfolgt und in Fallstricke gerät, denen ein tätiges
Gewissen ausgewichen wäre, so ist ihm nicht zu helfen. Er
muß Schiffbruch leiden, d. h. er muß, da er alle Selbstbeherrschung verloren hat, nutzlos zu einem Wrack herabsinken. Er
hat sein Gewissen nicht in Verbindung mit seinem Glauben
bewahrt. Was er glaubte, vernachlässigte er, oder er weigerte
sich, den von Gott an ihn gerichteten Ansprüchen nachzukommen. Wie konnte es anders sein, als daß er unaufhaltsam ein
Spiel der Winde und Wellen wurde?
*) Wenn man z. B. festhält, daß Christus der Herr ist, aber in Ihm nicht
zugleich das Haupt des Leibes erblickt, so liefert dieses ein Exempel, wie man
die Wahrheit beschränken kann.
161
Der Mann Gottes, der von dem alten Propheten in Bethel verführt wurde, (1. Kön 13.) liefert uns in dieser Beziehung ein
bemerkenswertes Beispiel. Hätte er sein Gewissen in Verbindung mit seinem Glauben gehalten, so hätte er sich nicht
von dem Gebot Gottes abwendig machen lassen. Weil er aber
mit seiner Natur, mit sich selbst beschäftigt war, so wurden
seine anfänglichen Bedenken bald überwunden. Er achtete nicht
auf die Stimme seines Gewissens, setzte das Bewußtsein der
an ihn gestellten Ansprüche Gottes beiseite, lauschte auf die
Worte des Verführers und erntete die traurigsten Folgen.
In ähnlicher Weise war auch das Gewissen des Petrus in
Tätigkeit, als er die einfachen Worte seines Herrn vernahm. Er
hatte auch dafür zu leiden, wenn auch nicht in der gleichen
Ausdehnung, weil er der Furcht erlag, während jener dem
hervorgerufenen Verlangen nachgab. Wir können überhaupt
bei allen moralischen Schiffbrüchen, die uns bekannt sind, eine
beachtenswerte Entdeckung machen. Jeder, der am Glauben
Schiffbruch leidet, hat entweder sich selbst zu gefallen gesucht,
oder ist aus Furcht vor anderen erlegen. In vielen und verschiedenartigen Formen können diese Elemente in unserer
Seele wirken. Bei dem einen ist der Hochmut die Ursache. Der
Apostel sagt zu den Ephesern: „Aus euch selbst werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her." — Bei einem anderen ist es das Verlangen, mit einflußreichen, christlichen Freunden auf gutem
Fuß zu stehen. Bei einem dritten ist es die Liebe zur Gemächlichkeit, zur Häuslichkeit usw. Es ist selten der Fall, daß diese
Elemente in einem fleischlichen Gewände erscheinen, obwohl
es zuzeiten dennoch vorkommt. Aber in jedem dieser Fälle
bahnt das Aufgeben des Gewissens den Weg zum schließlichen
Fall und zur unausbleiblichen Schande.
Indes verfolge ich diesen Gegenstand nicht weiter, wiewohl er
einen der bedenklichsten Grade annimmt, wenn das Gewissen
wie mit einem Brenneisen gehärtet ist, und jemand in betreff
des Glaubens als unbewährt gefunden wird. Das ist dann die
Fortsetzung der niederwärts gehenden Stufen, die wir bisher
betrachtet haben. Wie schrecklich ist dieser Zustand, wenn die
Seele auf diesen Stufen nicht wieder emporsteigen kann und
das Gewissen durch die Gnade wieder befähigt wird, seine
162
Kraft aufs neue zu behaupten! Dies war noch bei Jakob der
Fall, als der Herr ihn aus seiner fleischlichen Ruhe aufweckte
und zu ihm sagte: „Mache dich auf, gehe nach Bethel!" Ebenso
bei Petrus, als er in Kümmernis und Reue durch den Blick des
Herrn zurückgerufen wurde.
Der Zweck dieser Zeilen ist, die Anfänge bei der Abnahme des
geistlichen Lebens zu bezeichnen. Ich habe versucht, die Aufmerksamkeit der Leser auf die im Herzen vorherrschenden
Neigungen in dieser Beziehung zu lenken. Ich verfolge diesen
Gegenstand nicht bis zum offenbaren Ausbruch des gänzlichen
Abfalls. Mein Zweck ist erreicht, wenn es mir gelungen ist,
das Herz der Heiligen zu einem ernsteren Selbstgericht aufzuwecken, ihre Gefühle in Tätigkeit zu setzen, um das Gute und
das Böse zu unterscheiden, und dadurch eine größere Fähigkeit
von ihrer Seite hervorzurufen, gegen jedes zur Abnahme des
geistlichen Lebens führende Wirken allen Ernstes wachsam zu
sein. Solange das Auge des Herzens auf Christum gerichtet
ist, solange wir auf das „sinnen, was droben ist, und nicht auf
das, was auf der Erde ist", werden wir die Zeichen der Abnahme und des Abfalls nicht tragen. Sobald aber die Dinge
der Erde unsere Aufmerksamkeit an sich ziehen, hat die Abnahme schon begonnen. Je mehr ich daher wünsche, bewahrt
zu bleiben, soviel mehr werde ich den wohlgefälligen und in
Seinem Worte geoffenbarten Willen Gottes erforschen und,
getrennt von der Welt, die Innigkeit des Verhältnisses mit
Christo genießen. Es ändert nichts an der Sache, ob mich meine
eigene oder die Not anderer, oder gar die Not der auf der Erde
leidenden Kirche beschäftigt — sobald irgend etwas in Beziehung zur Erde mich beschäftigt und meine Natur in Tätigkeit
setzt, bin ich in der Abnahme meines geistlichen Zustandes
begriffen. Sobald ich meine ängstlichen Blicke auf die Macht
des Menschen richte, habe ich schon das Bewußtsein von der
Hilfe des Herrn verloren. Es ist gerade ein Beweis der Erhabenheit unserer gegenwärtigen und wahren Stellung, daß wir, bei
dem geringsten Abweichen davon, der Gefahr ausgesetzt sind,
Schaden zu leiden. Je reiner eine Sache ist, desto sorgfältiger
muß sie bewahrt bleiben. Das Verlangen, die Wahrheit zu beschränken, oder das Sträuben, die höchsten Wahrheiten anzunehmen, wird nur da entdeckt werden, wo das Geistesauge
163
mit einem Gegenstand oder einem Zustand beschäftigt ist, der
damit nicht im Einklang steht. In diesem Falle weigert sich das
Herz, die Wahrheit anzunehmen, oder paßt sie seinem Zustande an, um das Gewissen in Ruhe zu erhalten. Der letzte
Schritt, um das Gewissen gänzlich zu beseitigen, geschieht in
dem Augenblick, wo man dem Licht der Gegenwart Gottes
völlig ausweicht, um in ungehinderter Freiheit den Willen des
Fleisches vollbringen zu können.
Wie gesagt ist die Unzufriedenheit der Anfang des Abfalls.
Bald findet sich dann ein Plätzchen für das eigene Ich unter
irgendeinem scheinbar geistlichen Vorwande; und man hört
auf, in Christo zu ruhen, in Ihm, der alles in allem erfüllt.
Möge der Herr uns daher allen die Gnade schenken, gegen den
Anfang wachsam zu sein; nur dann werden wir durch Seine
Gnade, in einfältiger und glücklicher Abhängigkeit von Ihm,
geleitet werden können, Seinen Willen zu tun und durch alles
hindurch die Erfahrung zu machen, wie Er unser Stecken und
Stab sein will, bis in alle Ewigkeit.
Glaube und Demut
(Lk 7, 7-17.)
Die Geschichte des Hauptmann zu Kapernaum zeigt uns nicht
nur eine Handlung der Gnade im allgemeinen, sondern eine
Handlung der Gnade, die einem Heiden zuteil wird. Doch dies
ist nicht alles. Wir finden hier auch eine sehr verständliche
Erklärung jenes Grundsatzes, den uns der Apostel durch die
Worte bezeichnet: „Darum ist es aus Glauben, auf daß es nach
Gnade sei, damit die Verheißung dem ganzen Samen fest sei."
(Röm 4, 15.) Hier ist der Glaube, als der einzige große Wendepunkt, eingeführt. Es ist keine bloße Lehre, es ist der lebendige
Glaube, und zwar ein solcher Glaube, wie er in Israel noch
nicht gesehen worden war.
Der heidnische Mann zeigt in seinem Verhalten nicht eine
Spur von jener Vermessenheit, die dem Stolz des menschlichen
164
Herzens entspringt; im Gegenteil bringt sein ganzes Wesen
tiefe Demut seines Herzens ans Licht. Er erkennt die Vorrechte
an, die Gott Seinem Volk geschenkt hat; er erblickt auf den
Stirnen der Kinder Israel das sie ehrende Zeichen Gottes und
läßt sich selbst durch ihren niedrigen, tiefgesunkenen und in
jeder Beziehung unwürdigen Zustand nicht irremachen. Wie
verachtet und verworfen sie auch sein mochten, so liebte er sie
dennoch als das Volk Gottes; und um Seinetwillen erbaute er
ihnen ihre Synogoge. Seine Demut war ungeheuchelt, wiewohl
sein Glaube ihn weit über die stellte, die er ehrte. Er hatte eine
weit höhere Vorstellung von der göttlichen Macht und Herrlichkeit der Person Jesu, als alle Juden zusammen. Er wandte
sich nicht an den Herrn als den Messias, sondern erkannte in
Ihm die Macht Gottes in Liebe. Das war jener gesegnete
Glaube, der in der Erhöhung seines Gegenstandes sich selbst
vergißt. Er hatte, wie es scheint, Jesum nicht gesehen; aber er
hatte aus dem, was „er hörte", den Schluß gezogen, daß Krankheiten für Ihn nur eine Gelegenheit seien, um Seine unumschränkte Autorität und Seine grenzenlose Barmherzigkeit an
den Tag legen zu können. Er war ein Fremdling, während die
Kinder Israel das Volk Gottes waren; mußten nicht sie die
passendsten Boten sein, um diese wunderbare Person in sein
Haus zu bringen? Denn er setzte volles Vertrauen sowohl in
Seine Macht, als auch in Seine Barmherzigkeit; und sein
Knecht, „der ihm wert war, war krank und lag im Sterben".
„Und Jesus ging mit ihnen. Als er aber schon nicht mehr weit
von dem Hause entfernt war, sandte der Hauptmann Freunde
zu ihm und ließ ihm sagen: Herr, bemühe dich nicht; denn ich
bin nicht würdig, daß du unter mein Dach eingehest! Deshalb
habe ich mich selbst auch nicht würdig geachtet, zu dir zu
kommen; sondern sprich ein Wort und mein Knecht wird gesund werden." (V. 6. 7.) Das war in der Tat ein Ausdruck
tiefer Hochachtung und Ehrerbietung. Wie unwissend er auch
in anderen, den Ratschluß Gottes betreffenden Dingen sein
mochte, so fühlte er doch mit voller Stärke die Vortrefflichkeit
der Person Christi, und das verbunden mit einer Demut, die
mit dem Maße in Übereinstimmung war, in welcher Seine
Herrlichkeit gesehen wurde. Diese Botschaft der Freunde des
165
Hauptmanns schildert uns in bewundernswürdiger Weise
seinen Charakter und seine Gefühle. Er selbst sagte Jesu nichts
von seinem Dienst, den er den Juden geleistet hatte, er sprach
nichts über seine eigene Person, als daß er unwürdig sei; und
dies sagte er dazu mit einer bewundernswürdigen Bestimmtheit, so daß er sogar Jesum bat, nicht in sein Haus zu kommen,
weil er zu unwürdig sei, Ihn zu empfangen. In dieser Seele
findet man gerade das Gegenteil von dem, was man leider so
oft in anderen Seelen gewahrt, die meinen, weil sie an Christum
glauben, Ihm eine Ehre anzutun. Er war offenbar weit von der
Anmaßung entfernt, Christum in seinem Herzen aufzunehmen,
um sich dadurch zu erheben. Die Einfalt seines Herzens tritt
hier ebenso hell an den Tag wie sein starker Glaube. In
Israel wurde ein solcher Glaube nicht gefunden, und doch war
er in einem, der Israel liebte. In der Tat, wir finden hier in
jeder Beziehung, sowohl für die Menge, die Jesum folgte, wie
vor allem auch für uns eine höchst lehrreiche Unterweisung
der Gnade.
Wenn wir unsere Betrachtung weiter verfolgen, finden wir,
und zwar in Verbindung mit der den Heiden erwiesenen Gnade,
den Beweis der Macht, Tote ins Leben zu rufen, ein Zeugnis
dafür, daß Gott Sein Volk besucht hat. (V. 11—17.) Es war die
Macht der Auferstehung, eine Macht, die sich einmal in voller
Herrlichkeit entfalten wird und die den Menschen in Verbindung mit dem Gott bringt, der Tote auferweckt. Es war ein
höchst wunderbares Beispiel des Charakters Seiner Wirksamkeit, indem Er umherging, außerhalb der Sphäre des Gesetzes
und der Satzungen. „Denn das Gesetz herrscht über den
Menschen, solange er lebt." (Röm 7, 1.) Was nützt das Gesetz
einem Menschen, der gestorben ist? Aber „das dem Gesetz
Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott,
indem er seinen eigenen Sohn in Gleichheit des Fleisches der
Sünde und (als Opfer) für die Sünde sendend, die Sünde im
Fleische verurteilte, auf daß das Recht des Gesetzes erfüllt
würde in uns". (Röm 8, 3. 4.) Es war in der Tat Gnade und
göttliche Energie, aber zugleich entfaltet in Ihm, der Mitleiden
mit unseren Schwachheiten hatte. Und in welcher Klarheit
wird uns dieses in seinen Einzelheiten gezeigt! „Der Tote war
der einzige Sohn seiner Mutter, und sie war eine Witwe . . .
166
Und als der Herr sie sah, ward er innerlich bewegt über sie
und sprach zu ihr: Weine nicht! .. . Und der Tote setzte sich
auf und fing an zu reden; und er gab ihn seiner Mutter."
(V. 12—15.) Welch eine göttliche Macht und Gabe!
Das Buch und die Seele
Für die Bildung des Charakters eines im Segen wirkenden
Dieners des Wortes Gottes sind zwei Dinge von wesentlicher
Notwendigkeit, nämlich zuerst eine genaue Bekanntschaft mit
der Heiligen Schrift, und dann ein klares Bewußtsein des
Wertes der Seele und ihrer Bedürfnisse. Die Verbindung dieser
beiden Dinge ist von großer Bedeutung für jeden, der berufen
ist, im Worte und in der Lehre zu dienen, und fehlt eines von
ihnen, so fehlt eigentlich alles. Ich mag noch so sehr in der
Schrift belesen sein, ich mag mit dem Inhalt dieses göttlichen
Buches noch so vertraut sein und ein tiefes Gefühl für dessen
moralische Schönheiten besitzen; aber wenn ich die Seele und
ihre tiefen und mannigfaltigen Bedürfnisse nicht kenne, so
wird mein Dienst mangelhaft sein. Trotz meiner an und für sich
schätzenswerten Bekanntschaft mit dem Worte Gottes werde
ich für andere von einem nur geringen Nutzen sein. Meinem
Dienst wird die Schärfe und die Kraft fehlen, und er wird
weder dem Verlangen des Herzens noch den Forderungen des
Gewissens zu begegnen wissen.
Andererseits mag ich mit der Seele und ihren Bedürfnissen
sehr bekannt sein; ich mag die lebhaftesten Wünsche haben,
anderen nützlich zu sein und dem Herzen und Gewissen
meiner Zuhörer oder Leser dienen zu können; aber wenn ich
nicht mit meiner Bibel bekannt und nicht durch das Wort des
Lebens unterwiesen bin, so fehlt es mir selbstverständlich an
dem erforderlichen Stoff, um ein nützlicher Diener sein zu
können. Ich werde der Seele nichts zu geben haben, dem
Herzen nichts darreichen können und nichts besitzen, um auf
das Gewissen, zu wirken. Mein Dienst wird sich als fruchtlos
und ermüdend erweisen. Ich werde die Seelen quälen, statt sie
167
zu belehren; ich werde sie aufregen, statt sie zu erbauen.
Meine Ermahnungen, anstatt die Seelen auf dem steilen Wege
der Jüngerschaft vorwärts zu führen, werden im Gegenteil eher
Entmutigung bewirken.
Diese Dinge verdienen, beachtet zu werden. Richte einmal
Deinen Blick auf jemanden, der am Worte dient und im wesentlichen das Buch und seine moralischen Schönheiten vor seinem
geistlichen Auge hat. Er ist mit ihnen beschäftigt und zuzeiten so erfüllt davon, daß er fast die Zuhörer vergißt. Er kann
keine bestimmte und kräftige Aufforderung an das Herz richten; kein mächtiger Schlag trifft das Gewissen; und jede praktische Anwendung des göttlichen Inhalts auf die Seelen der
Zuhörer fehlt gänzlich. Seine Worte sind schön und richtig,
aber sie haben nicht die Wirkung, die sie haben sollten. Warum? Weil ihm die genannte Ausübung des Dienstes fehlt, ist
er mehr ein Diener des Buches, als ein Diener für die Seele.
Dann wirst Du vielleicht anderen begegnen, die in ihrem
Dienst sehr eifrig mit den Seelen beschäftigt zu sein scheinen.
Sie klagen an, sie ermahnen, sie treiben. Aber wegen Mangels
an Bekanntschaft und regelmäßiger Beschäftigung mit der
Schrift sind ihre Seelen bald erschöpft und abgenutzt in ihrem
Dienst. Freilich machen sie scheinbar das göttliche Buch zur
Grundlage ihres Dienstes; aber ihr Gebrauch des Wortes ist so
ungeschickt und unpassend, und ihre Anwendungen verraten
eine solche Unkenntnis, daß ihr Dienst sich ebenso uninteressant wie nutzlos erweist.
Wenn jetzt die Frage an uns gerichtet würde, welchen von
diesen beiden praktischen Ausübungen des Dienstes wir den
Vorzug geben wollten, so würden wir ohne Zögern die zuerst
genannte wählen. Wenn die moralischen Schönheiten des göttlichen Buches vor unseren Blicken entfaltet sind, dann gibt es
immer etwas, wodurch ein aufrichtiges Herz angezogen und
belebt wird, während im zweiten Falle nur ermüdende Anklagen und scheltende Ermahnungen da sind.
Aber sicher kann es nicht stark genug betont werden, daß
sowohl eine genaue Bekanntschaft mit dem göttlichen Buch
als auch ein klares Bewußtsein des Wertes der Seele und ihrer
Bedürfnisse bei einem jeden erforderlich ist, der das Vorrecht
168
genießen will, die Seelen zu bedienen. Beide Eigenschaften
müssen vereint sein. Möge daher jeder Diener sich sowohl der
Betrachtung des Wortes widmen, als auch unermüdlich mit
den Bedürfnissen der Seele beschäftigt sein. Vergessen wir
nicht, daß das Buch und die Seele zusammengehören.
Jesus Christus, die einzige Triebfeder,
Weisheit und Kraft
Es dauert oft lange, bevor die Gläubigen verstehen, daß
Christus in allen Dingen den Vorrang haben muß, und daß
nach der Absicht Gottes die, „welche er zuvor bestimmt hat,
dem Bilde seines Sohnes, welcher das Bild des unsichtbaren
Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung ist — gleichförmig
zu sein", jetzt in der Freiheit und Kraft des Heiligen Geistes
„nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit verwandelt werden". (Röm 8, 29; Kol 1, 15; 2. Kor 3, 18.) Und
wie wenig wird es daher verstanden, daß, so wie der gnadenreiche Herr Jesus die Heiligen „zur Rechten der Majestät in
der Höhe" darstellt, sie in ihrem Verhältnis Ihn auf Erden darstellen sollen! Der Apostel konnte sagen: „Das Leben ist für
mich Christus, und das Sterben Gewinn." (Phil 1, 21.) Dachte
er dabei bloß an den Besitz dieses Lebens? O nein, er dachte
an die Verwirklichung des Lebens. „Wer da sagt, daß er in
ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er
gewandelt hat." (1. Joh 2, 6.) Jedoch müssen wir uns stets erinnern, daß der Herr Jesus ohne Sünde, ohne Befleckung wandelte, während der Gläubige, von Natur sündig und befleckt,
alles der Gnade verdankt und, indem er die Glieder tötet, die
auf der Erde sind, nur durch die Kraft des Geistes des lebendigen Gottes den Sieg erlangt.
Aber wie lange, ich wiederhole es, dauert es oft, bevor die
Gläubigen in irgendeinem Maße die Erfahrung machen, die
der Apostel uns in Phil 3 schildert! Da er den Herrn Jesum als
Gerechtigkeit Gottes gefunden hatte, schlug er jede andere
Gerechtigkeit entschieden aus; er sah in betreff seiner Seele
alles vor dem ewigen Gott geordnet; und darum war der Herr
169
auch der einzige anziehende Gegenstand der Zuneigungen seiner Seele, so daß er sagen konnte: „Auf daß ich Christum gewinne . . . um ihn zu erkennen, und die Kraft seiner Auferstehung, und die Gemeinschaft seiner Leiden .. . ob ich auf
irgendeine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus
den Toten." (Phil 3, 8—11.) Allerdings muß zunächst den Bedürfnissen des mit Sünde beladenen Menschen begegnet sein,
sein Gewissen muß Frieden gefunden haben, er muß den unendlichen Wert des kostbaren Blutes Christi und sein göttliches
Recht, in der Herrlichkeit Gottes zu stehen, erkannt haben. Er
muß jener unumschränkten Gnade Gottes teilhaftig geworden
sein, die, nachdem alle Menschen als Sünder erfunden sind, in
Röm 5 entwickelt wird und die uns, sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart und die Zukunft als völlig
genügend dargestellt wird. Haben unsere Seelen diese Wahrheiten in sich aufgenommen, so dürfen wir uns einer dreifachen Vorsorge der Gnade Gottes rühmen, nämlich 1) in betreff
der Vergangenheit: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus
Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn
Jesum Christum"; — 2) in betreff unseres gegenwärtigen
Wandels durch die Wüste: „Wir haben mittels des Glaubens
auch Zugang zu dieser Gnade, in welcher wir stehen"; — und
dann 3) in betreff des zukünftigen Tages: „Wir rühmen uns
in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes"'. (Röm 5, 1. 2.) Ach,
wie unendlich sind die Reichtümer der Gnade Gottes! Wie
barmherzig ist unser Gott und Vater! Er, der Seines eingeborenen Sohnes, der in Seinem Schöße war, nicht verschonte,
sondern Ihn für feindselige Sünder in den Tod gab! Dennoch
aber ist es leider in betreff vieler von uns wahr, was
der Herr bei einer Gelegenheit sagte: „O, ihr Unverständigen
und trägen Herzens, zu glauben" usw.; und bei manchem vergeht fast die Zeit ihres Lebens, bevor sie das erreichen, was
eine dem Heiligen Geiste unterwürfige Seele schnell erkennen
möchte; und so fehlt es an der Verwirklichung dessen, was
Gott in betreff ihrer bezweckt. Sie eignen sich nicht alles an,
was in Christo Jesu ist; sie erkennen nicht, daß Er nicht nur
das Leben und die Gerechtigkeit, sondern auch die Kraft die
Weisheit, die Triebfeder, kurz gesagt alles ist; und darum
mangelt ihrer Seele der Genuß der „Gemeinschaft mit dem
170
Vater und mit seinem Sohne Jesu Christo", eine Gemeinschaft,
die ihrem Wandel, ihren Werken und allem, was ihre Seelen
am meisten beschäftigt, unbedingt vorangehen muß. Nehmen'
wir jetzt, um einige Grundsätze der Wahrheit zu beleuchten,
die Heilige Schrift zur Hand: Ich wünsche von Herzen, daß
sich diese Grundsätze tief in unser Gewissen einprägen möchten, damit wir die Hindernisse erkennen, die sich der Erlangung eines größeren Maßes von Kraft in den Weg stellen und
uns unfähig machen, „allezeit das Sterben Jesu am Leibe umherzutragen, auf daß auch das Leben Jesu an unserem Leibe
offenbar werde". (2. Kor 4, 10.)
Wie zahlreich auch die Früchte meiner bösen Natur sein mögen,
so habe ich nicht nur diese, sondern auch ihre Wurzel oder
ihre Quelle zu verurteilen. Nicht die so leicht umstrickende
Sünde, sondern ihre Ursache muß ins Gericht. Die Natur, das
Fleisch muß verurteilt werden, und zwar im Licht der Gegenwart des Herrn, wo allein die Sünde in ihrem wahren Charakter gesehen und erkannt wird, und wo jene Wahrheit gelernt
wird, daß in Seiner Gegenwart sich kein Fleisch rühmen kann,
wie geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich des
Herrn." Viele seufzen fortwährend über die Früchte einer
bösen Natur; aber sie richten nie die Natur selbst in der
heiligen Gegenwart Gottes. Wie machte es aber der Herr, als
Er bemüht war, den gefallenen Petrus wieder herzustellen?
Tadelte Er ihn wegen der Früchte seiner bösen Natur? Keineswegs; sondern Er zeigte auf die Quelle hin, auf das Selbstvertrauen und den Eigendünkel der Natur Seines Jüngers. Er
verurteilte die Wurzel, die Ursache seines Falles. Und das muß
auch bei uns stattfinden, wenn wir überhaupt uns selbst und
die wirkliche Gnade, in der wir stehen, erkennen und verstehen wollen. Es ist der völlig untaugliche, gänzlich verderbte,
hilflose, elende alte Mensch, der in dem heiligen Gericht des
Glaubens ausgezogen ist; es ist das Fleisch, das angesichts der
Herrlichkeit des Kreuzes Christi in gebührender Weise zum
Schweigen gebracht werden muß. Doch der neue Mensch ist
fähig gemacht, sich im Herrn, aber auch nur in Ihm allein
rühmen zu können. Das Wort Gottes zeigt uns zur Erläuterung
eine Menge von Beispielen, welch einen Platz der Mensch, der
gläubige Mensch, in der Gegenwart Gottes einnimmt. Sei es
171
Abraham, in dessen Herz die Herrlichkeit Gottes einen solchen
Strahl warf, daß „er gehorchte und auszog, nicht wissend,
wohin er komme", oder sei es der arme Jakob oder Hiob. Sei
es Jesaias, der sagte: „Wehe mir! denn ich bin verloren; denn
ich bin ein Mann von unreinen Lippen; denn meine Augen
haben den König, Jehova der Heerscharen, (vergl. Joh 12, 41.)
gesehen", — oder sei es Daniel, dessen Angesicht sich in der
Gegenwart Gottes zu Boden senkte, oder Hesekiel; sei es
Petrus, oder Paulus, oder Johannes, der wie tot zu den Füßen
des Herrn niederstürzte, — alle zeigen uns die Wirkung der
Gegenwart Gottes auf den Menschen, der sich dort befindet.
Wenn wir dies alles auf uns anwenden, dann möchte man
wohl fragen: Warum erfahren wir nicht mehr Kraft in unseren Seelen? Warum genießen wir nicht mehr von jener Freude,
welche der Heilige Geist denen gibt, die Ihm gehorchen, eine
Freude, die weit tiefer ist als die, welche die Seele erfüllt,
wenn sie bei völliger Annahme des Evangeliums den Frieden
erlangt? Ach! wir haben uns zu viele Theorien gemacht. Wir
haben uns mit der Lehre beschäftigt, aber sie zu sehr getrennt
von Ihm, in dessen glorreicher Person sich alle Lehre und alle
Wahrheit wie in einem Punkt vereinigt, von Ihm, in Dem,
obgleich Er hienieden erniedrigt war, „die ganze Fülle der
Gottheit leibhaftig wohnt". Viele sind mit ihrer eigenen Widmung, wie vortrefflich sie auch an sich ist, so sehr beschäftigt
gewesen, daß die Widmung weit mehr der vor ihrer Seele
stehende Gegenstand geworden ist, als die Person des Sohnes
Gottes Selbst. Und wie viele Jahre mögen hinter uns liegen,
wo unsere Handlungen, wie schön sie auch an sich sein mochten, von Beweggründen geleitet wurden, die es deutlich verrieten, daß das Auge und das Herz nicht auf Jesum allein
gerichtet waren? Wie aber lautete das Urteil Dessen, der
„Augen hat wie eine Feuerflamme" wider die Versammlung in
Ephesus? Tadelte Er sie etwa, weil sie keine Werke, keine
Mühe, kein Ausharren, keine Treue gegenüber den Bösen aufzuweisen hatten? O nein, sondern Sein Urteil lautet: „Ich
habe wider dich, daß du deine erste Liebe verlassen hast."
(Offb 2, 4.) Die wahre Quelle ihrer Widmung war nicht völlig
rein. Es war nicht die drängende Macht der Liebe Christi;
172
es war nicht Seine Person, der ihre Abhängigkeit und ihr Gehorsam gewidmet war. Er hatte, wie Er zu der Versammlung
in Sardes sagt, die Werke nicht völlig erfunden vor Seinem
Gott. (Offb 3, 2.)
In der Voraussetzung nun, daß wir, soweit wir es vermochten, ein wahres Urteil über die Natur in der Gegenwart Gottes
gefällt haben und uns demzufolge im Genuß einiger Freiheit
der Seele befinden, wird es zu unserer völligen Segnung nötig
sein, daß wir uns auf dem Pfade des Gehorsams und der Abhängigkeit vorwärtsbewegen; denn der Gehorsam gegen Gott
und Sein Wort ist die Kraft der Heiligkeit, und die Abhängigkeit ist der Weg der Stärke. Wie hart der Kampf auch sein
mag, so muß dennoch das gesegnete Werk des Tötens durch
den Geist fortgesetzt werden und das Gefühl der Verantwortlichkeit wach bleiben, um, weil wir den Heiligen Geist haben
und unsere Leiber Sein Tempel sind, im Geiste zu wandeln.
Das ist die wahre Furcht Gottes. „Das Geheimnis Jehovas
ist für die, welche ihn fürchten." (Ps 25, 14.) Wir müssen in
der Tat einen verborgenen Umgang mit Gott haben. Wo
dieser fehlt, da bringt selbst der Verkehr mit anderen Heiligen,
statt jene aus der „Gemeinschaft mit dem Vater und Seinem
Sohne Jesus Christus" hervorströmende Kraft einzuflößen,
nur Schwachheit und Verwirrung in die Seele. Nur der verborgene Umgang mit Gott ist zu allen Zeiten das Geheimnis
der wahren Kraft gewesen. Nur in dieser heiligen Gegenwart
Gottes und in der wahren Abhängigkeit von Ihm kann der
Gläubige jene Stimme voll Majestät und Gnade hören, die
sagt: „Meine Gnade genügt dir; denn meine Kraft wird in
Schwachheit vollbracht. Daher will ich am allerliebsten mich
vielmehr meiner Schwachheit rühmen, auf daß die Kraft
des Christus über mir wohne." (2. Kor. 12, 9. 10.)
Ich verweise hier den Leser auf Joh 14, wo der Herr über den
Gehorsam, der die Abhängigkeit einschließt, eine wahrhaft
praktische Belehrung gibt. Er offenbart sich hier den Jüngern nicht als Messias, sondern in Seiner völlig göttlichen
Herrlichkeit als Sohn Gottes und als Sohn des Vaters. Er
kündigt sich ihnen an als den Gegenstand ihres Glaubens
(V. 1) und, wenn er sagt: „Wer mich gesehen hat, hat den
Vater gesehen", als den Gegenstand ihrer Anbetung. (V. 9.)
173
Und welch eine Fülle von Liebe drücken die Worte aus: „Ich
komme wieder und werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo
ich bin, auch ihr seiet." (V. 3.) Jedoch fährt Er später fort:
„An jenem Tage (d. i. am Tage der Gegenwart des Heiligen
Geistes) werdet ihr erkennen, daß ich in meinem Vater bin,
und ihr in mir und ich in euch. Wer meine Gebote hat und
sie hält, der ist es, der mich liebt; wer aber mich liebt, wird
von meinem Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben
und mich selbst ihm offenbar machen." (V. 20, 21.) Und die
Frage des Judas (nicht des Iskariot) beantwortend, sagt Er:
„Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten; und
mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen
und Wohnung bei ihm machen." (V. 23.) Zeigen uns diese
Worte nicht in bestimmter Weise unsere Verantwortlichkeit?
Die dem Sünder gegebene Verheißung hat eine bedingungslose, unumschränkte Gnade zur Grundlage; aber die Verheißung für den Heiligen ist an die Bedingung des Gehorsams
geknüpft. Ich habe mithin nicht auf Kraft zum Gehorsam zu
warten, sondern da ich Leben und Gnade, hervorströmend
aus jener göttlichen und ewigen Fülle, besitze, so habe ich
nur zu gehorchen, um Kraft zu erlangen. Der Mangel der
Erkenntnis dieser Wahrheit ist das Geheimnis der Hindernisse, die sich so manchem in den Weg stellen. Nur wenn wilden geschriebenen Worten gehorchen, finden wir die nachfolgende Segnung. Die oben angeführten Worte des Herrn lassen
keine andere Deutung zu. Für uns bleibt nichts zu tun übrig,
als daß wir in jeder Lage auf Ihn harren; aber auch nur auf
Ihn, bei dem alle Kraft ist. Ein Beispiel aus dem tagtäglichen
Leben wird uns dies erläutern. Trete ich z. B. in eine Gesellschaft von bekehrten oder unbekehrten Menschen, so muß mein
erster Schritt mich in die Gegenwart des Herrn führejn; denn
hier allein finde ich Weisheit, um der Wahrheit gemäß reden
und handeln zu können. Oder, begegne ich den Schwierigkeiten des Lebens, so werde ich nur, hinschauend auf Jesum,
beim Anblick Seiner Herrlichkeit und im Genuß Seiner Liebe
Kraft genug finden, um „abzulegen jede Bürde und die leicht
umstrickende Sünde, und mit Ausharren zu laufen den vor uns
liegenden Wettlauf." (Hebr 12, 1.) Es ist daher eine unumstößliche Wahrheit, daß dem Gehorsam, der die Abhängigkeit
174
in sich schließt, nie die nötige Kraft mangeln wird. Satan hat
in der Tat große Macht gegenüber dem dünkelhaften Auftreten einer bloßen Erkenntnis; aber er ist machtlos gegenüber dem Gehorsam. Wir haben ungeachtet aller Schwierigkeiten zu gehorchen und unserem eigenen Willen keinen
Raum zu gestatten. Natürlich habe ich für dieses alles das
Bewußtsein der Gegenwart des Herrn nötig, und daß ich mich
in dieser Gegenwart befinde und Seine Liebe genieße. Sein Tod
hat den Vorhang zerrissen und den Glaubenden in die Gegenwart Gottes gebracht, o, möchten wir durch den ungetrübten
Heiligen Geist die Gegenwart Gottes verwirklichen und Seine
Liebe genießen! Der Apostel sagt: „Die Liebe des Christus
drängt uns." In allen Fällen können wir auf diese Liebe rechnen. Er gab Sich für uns in den Tod, zahlte den höchsten Preis
für die Kirche; und sicher, darum können wir in Ihm jede
Quelle der Kraft und des Mitgefühls finden, und darauf Anspruch machen. Es ist Ihm, sowie Seinem und unserem Vater
wohlgefällig, wenn wir in Seine Liebe unser völliges Vertrauen
setzen und mit Zuversicht von ihr die Gewährung unserer Bitten erwarten. Wir dürfen kühn in die Worte des Psalmisten
einstimmen, wenn er sagt: „Den Wunsch seines Herzens hast
du ihm gegeben, und das Verlangen seiner Lippen nicht verweigert." (Ps. 21, 2.)
Mögen der Leser und der Schreiber dieser Zeilen immer tiefer
in diese gesegneten Wahrheiten eindringen! Mögen wir stets
in Jesu allein unsere Triebfeder, Weisheit und Macht finden
und den Glauben, der überwindet, festhalten durch die Erkenntnis der Herrlichkeit des Sohnes Gottes, Der gesagt hat:
„Dem, der überwindet, werde ich von dem verborgenen Manna geben, und ich werde ihm einen weißen Stein geben, und
auf den Stein einen neuen Namen geschrieben, den niemand
kennt, als wer ihn empfängt." (Offb 2,17.)
175
„Madie dich auf, ziehe hinauf
nach Bediel"
Diese Worte fassen eine tiefe praktische Wahrheit in sich,
auf die ich für einige Augenblicke die Aufmerksamkeit meiner
Leser richten möchte. Sie zeigen uns in deutlicher Weise, daß
Gott uns immer wieder in die uns ursprünglich bestimmten
Grenzen zurückführt. Viele Christen mögen dies nicht begreifen. Viele mögen es nicht in Übereinstimmung finden mit
der freien Gnade, in der wir stehen und die „herrscht durch
die Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum,
unseren Herrn"! Viele mögen jede Einschränkung dieser Art,
als den Schein der Gesetzlichkeit an sich tragend, mit einer
gewissen Furcht von sich abweisen, dennoch bleibt die darin
enthaltene Wahrheit unumstößlich, und wir sollten uns wohl
hüten, alles über Bord zu werfen, was dazu bestimmt ist, in
göttlicher Weise auf Herz und Gewissen des Gläubigen zu
wirken. Wenn wir wünschen, daß die Wahrheit alle ihre Seiten vor unserer Seele entfalten soll, dann dürfen wir, falls
irgendeine auf den ersten Blick streng scheinende Forderung
Gottes unser Ohr berührt, sie nicht als „gesetzlich" bezeichnen und verwerfen. Wir sind berufen, das „Wort der Ermahnung zu ertragen" und unsere Herzen auf alle heilsamen
Worte zu richten, die dazu bestimmt sind, unserer praktischen Gottseligkeit und persönlichen Heiligkeit Vorschub zu
leisten. Wir wissen, daß die reinen und kostbaren Lehren der
Gnade, jene Lehren, die in der Person Christi ihren lebendigen
Mittelpunkt, und in Seinem Werke ihr ewiges Fundament finden, die passenden Mittel sind, die der Heilige Geist benutzt,
um die Heiligkeit im Leben des Christen zu fördern; aber wir
wissen auch, daß, wenn diese Lehren bloß mit dem Verstände
aufgefaßt sind und mit den Lippen bekannt werden, das
Herz nichts von ihrer Kraft verspürt und das innere Leben
in seinem Wachstum nicht gefördert werden wird. Und wir
finden nicht selten, daß gerade diejenigen, die sich am lautesten gegen alles, was sie als gesetzlich bezeichnen, erheben, oft
am wenigsten die heilsamen Einflüsse der Gnade kennen, wäh176
rend die, welche wirklich die Gnade kennen und ihre reinigende und unterweisende Kraft erfahren, mit Freuden jeder
Mahnung das Herz und das Gewissen öffnen.
Wenn wir nun aber gesagt haben, daß Gott uns immer wieder
in die ursprünglich bestimmten Grenzen zurückführe, so ist
das in dem Sinne verstanden, daß, wenn Gott uns in eine
besondere Stellung berufen hat, die wir aus Schwachheit oder
aus Untreue verlassen haben, Er uns immer wieder in sie
zurückrufen wird. Freilich trägt Er uns mit großer Geduld
und wartet in langmütiger und gnadenreicher Weise; aber Er
ruht nicht, bis wir den ursprünglichen Platz wieder eingenommen haben.
Und haben wir nicht Ursache, Gott dafür zu preisen? Ohne
Zweifel. Könnten wir den Gedanken ertragen, daß wir den
uns angewiesenen Platz verlassen und uns nach dieser oder
jener Richtung hin verirren könnten, ohne daß Er Sich um
uns kümmern und uns wieder zurechtbringen würde? Unmöglich. Nein, sicher wünschen wir, daß Er uns in einem
solchen Falle wieder an die „alten Grenzen" erinnern möchte.
Und Er tut es und hat es von jeher getan. Als Petrus am See
Genezareth bekehrt wurde, verließ er alles und folgte Jesum
nach; und dennoch strömten von den Lippen des Herrn, der
im Begriff war, gen Himmel aufzufahren, seinem Ohr die
letzten Worte zu: „Folge mir nach!" Der Herr wollte Petrus
in die ursprünglichen Grenzen zurückführen. Das Herz Jesu
konnte sich mit nichts wenigerem begnügen; und ebenso sollte auch Sein Diener nichts anderes wollen. Am See Genezareth
begann Petrus seinem Herrn und Meister nachzufolgen.
Was aber nun? Jahre schwanden dahin; Petrus tat manchen
Fehltritt; er verleugnete seinen Herrn; er kehrte zu seinen
Booten und Netzen zurück. Und was folgte nun? Petrus wurde
völlig wiederhergestellt; und als er in diesem Zustande am
See Tiberias in der Nähe seines liebenden Herrn stand, war
er genötigt, auf das kurze, bestimmte Wort: „Folge mir nach!"
zu lauschen, ein Wort, das in seinem umfassenden Bereich
alle Einzelheiten eines im Dienst tätigen und in der Trübsal
ausharrenden Lebens in sich vereinigt. Mit einem Wort, Petrus wurde in die ursprünglichen Grenzen zurückgeführt, in
177
jene Grenzen, die Christum und seine eigene Seele umschlossen. Er wurde dahin geführt zu lernen, daß das Herz Jesu
keinen Wechsel erlitten habe und Seine Liebe unauslöschlich,
unveränderlich sei, und daß Er, weil dieses so war, darum auch
keinen Wechsel in dem Herzen des Jüngers, keine Entfernung
aus den ursprünglich bestimmten Grenzen dulden könne.
Die gleiche Sache finden wir in der Geschichte des Patriarchen
Jakob. Wenden wir ihm etliche Augenblicke unsere Aufmerksamkeit zu. In der letzten Hälfte des 28. Kapitels des 1. Buches
Mose wird uns die Stätte bezeichnet, die der Herr und Jakob
einnahmen. Da lesen wir: „Und Jakob zog aus von Beerseba
und ging nach Haran. Und er gelangte an einen Ort und
übernachtete daselbst; denn die Sonne war untergegangen.
Und er nahm einen von den Steinen des Ortes und legte ihn
zu seinen Häupten und legte sich nieder an selbigen Orte.
Und er träumte: und siehe, eine Leiter war auf die Erde gestellt, und ihre Spitze rührte an den Himmel; und siehe,
Engel Gottes stiegen auf und nieder an ihr. Und siehe, Jehova
stand über ihr und sprach: Ich bin Jehova, der Gott Abrahams, deines Vaters und der Gott Isaaks; das Land, auf welchem du liegst, dir will ich es geben und deinem Samen. Und
dein Same soll werden wie der Staub der Erde, und du wirst
dich ausbreiten nach Westen und nach Osten und nach Norden
und nach Süden hin; und in dir und in deinem Samen sollen
gesegnet werden alle Geschlechter der Erde. Und siehe, ich bin
mit dir, und ich will dich behüten überall, wohin du gehst,
und dich zurückbringen in dieses Land; denn ich werde dich
nicht verlassen, bis ich getan, was ich zu dir geredet habe."
(1. Mo 28, 10-15.)
Hier also war die gesegnete Stätte, an der der Gott Abrahams,
Isaaks und Jakobs dem armen Flüchtling verhieß, sich seiner
und seines Samens anzunehmen, jene Stätte, an der die denkwürdigen Worte vernommen wurden: „Ich werde dich nicht
verlassen, bis daß ich getan, was ich zu dir geredet habe."
Das waren die Ausdrücke, durch die Er Sich dem Jakob gegenüber verpflichtete, und die Er, gepriesen sei Sein Name!,
buchstäblich erfüllt hat und erfüllen wird, wie sehr auch Erde
und Hölle sich dagegen auflehnen mögen. Der Same Jakobs
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wird einmal das ganze Land Kanaan als sein ewiges Erbteil
in Besitz nehmen; denn wer könnte den Herrn, Gott den
Allmächtigen, an der Erfüllung Seiner Verheißung hindern?
Richten wir jetzt unsere Blicke auf Jakob. „Und Jakob erwachte von seinem Schlafe und sprach: Fürwahr, Jehova ist an
diesem Orte, und ich wußte es nicht! Und er fürchtete sich
und sprach: Wie furchtbar ist dieser Ort! dies ist nichts anderes als Gottes Haus, und dies die Pforte des Himmels. Und
Jakob stand des Morgens früh auf und nahm den Stein, den
er zu seinen Häupten gelegt hatte, und stellte ihn auf als
Denkmal und goß ö l auf seine Spitze. Und er gab selbigem
Orte den Namen Bethel, aber im Anfang war Lus der Name
der Stadt. Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wenn Gott
mit mir ist und mich behütet auf diesem Wege, den ich gehe,
und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen, und ich
in Frieden zurückkehre zum Hause meines Vaters, so soll Jehova mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich als Denkmal
aufgestellt habe, soll ein Haus Gottes sein; und von allem,
was du mir geben wirst, werde ich dir gewißlich den Zehnten
geben." (1. Mo 28, 16-22.)
Gott verpfändet sich innerhalb der Grenzen Bethels dem Jakob; und dieses Pfand muß, mag auch Himmel und Erde
vergehen, einmal in seiner ganzen Vollständigkeit eingelöst
werden. Er offenbart Sich nicht nur dem einsamen Flüchtling,
während dieser auf seinem steinernen Kopfkissen eingeschlummert liegt, sondern verbindet sich sogar mit ihm durch
ein Band, das durch keine Macht der Erde und der Hölle je
zerrissen werden kann. Und was tut Jakob? Er widmet sich
diesem Gott und legt das Gelübde ab, daß die Stätte, auf der
er sich einer solchen Offenbarung erfreuen konnte, und wo er
auf solche unendlich großen und kostbaren Verheißungen
lauschen durfte, zum Gotteshause werden solle. Dies alles
war mit Bedacht vor dem Herrn ausgesprochen und feierlich
von Gott aufgezeichnet worden; und dann setzte Jakob seine
Reise fort. Jahre schwanden, zwanzig lange und ereignisvolle
Jahre, Jahre voller Trübsale und Prüfungen, Jahre, in denen
Jakob die trostlosen Erfahrungen einer unbefreiten Seele
machte; aber der Gott von Bethel wachte über seinen armen
179
Diener und erschien ihm inmitten seiner Drangsale, indem Er
zu ihm sagte: „Ich bin der Gott zu Bethel, wo du ein Denkmal gesalbt, wo du mir ein Gelübde getan hast. Nun mache
dich auf, ziehe aus diesem Lande, und kehre zurück in das
Land deiner Verwandtschaft." (1. Mo 31, 13.) Gott hatte die
ursprünglichen Grenzen nicht aus dem Auge verloren; und
darum durfte auch sein Diener sie nicht vergessen. Ist dies
etwa der Geist der Gesetzlichkeit? Keineswegs. Es ist nichts
anderes, als die einfache Entfaltung der göttlichen Liebe und
Treue. Gott liebte Jakob, und darum konnte Er nicht dulden,
daß Jakob den alten Grenzen fern bleibe. Er wachte mit einer
eifersüchtigen Liebe über den Zustand des Herzens Seines
Dieners; und damit dieser nicht länger jenseits der Grenzen
Bethels bleiben möchte, ermahnte Er ihn so zärtlich durch die
rührenden und bezeichnenden Worte: „Ich bin der Gott von
Bethel, wo du ein Denkmal gesalbt, wo du mir ein Gelübde
getan hast." Das war der liebliche Ausdruck der unwandelbaren Liebe Gottes, die darauf rechnete, daß auch Jakob sich
an die Szenen Bethels erinnern möchte.
Wie bewundernswürdig! Welch einen Wert legt der Allmächtige, Er, der von Ewigkeit her die Himmel bewohnt, auf die
Liebe und auf die Erinnerungen eines armen Erdenwurms!
Und dieses köstliche Bewußtsein sollte mehr in unserer Seele
leben. Leider ist es so wenig der Fall. Wir sind allerdings
bereit genug, die Gnadenerweisungen und Segnungen aus der
Hand Gottes zu nehmen; und sicher ist Er noch mehr bereit,
sie uns darzureichen. Aber wir sollten uns auch erinnern, daß
er der Widmung unserer Herzen für Ihn entgegensieht. Wenn
wir, von Liebe getrieben, beginnen, Christo zu folgen, Ihm
zu leben, alles um Seinetwillen preiszugeben, könnte dann
wohl während eines einzigen Augenblicks der Gedanke in
unserer Seele Raum finden, daß Er kalt und gleichgültig auf
Seine Ansprüche betreffs der Zuneigungen unserer Herzen Verzicht leisten würde? Könnten wir überhaupt den Gedanken
ertragen, daß es für Ihn eine Sache der Gleichgültigkeit sei,
ob wir Ihn lieben oder nicht? Gewiß nicht. Vielmehr wird
es für unser Herz eine ermunternde Freude sein, zu denken,
daß sich unser hochgepriesener Herr nach einer Widmung
unserer Seelen für Ihn sehnt. Nichts Geringeres genügt Ihm;
180
und wenn wir in unserer Schwachheit uns hierher und dorthin wenden, dann führt Er uns in Seiner zärtlichen, freundlichen Weise zurück. Ja, das Banner Seiner Liebe flattert uns
stets entgegen und trägt eine Inschrift, die unsere umherschweifenden Herzen zur Rückkehr zu den alten Grenzen
ermahnt. Er sagt zu uns in der einen oder anderen Weise,
wie Er einst zu Jakob sagte: „Ich bin der Gott von Bethel,
wo du ein Denkmal gesalbt und wo du mir ein Gelübde getan hast." So handelt er mit uns, während wir hinkend und
stolpernd umherirren. Er läßt uns erkennen, daß wir nichts
ohne Seine Liebe tun können, und daß Er auch für Sein
Tun unsere Liebe fordert. Sein Wirken und Handeln zu unseren Gunsten ist wunderbar; Seine Bemühung, uns in unseren
alten Grenzen zu erhalten, läßt sich durch keinen Widerstand
aufhalten. O möchten doch auch die Gläubigen unserer Tage
auf den zärtlichen Ruf des Geistes Christi achten, wenn Er
sagt: „Ich habe wider dich, daß du deine erste Liebe verlassen
hast. Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tue Buße,
und tue die ersten Werke." (Offb 2, 4. 5.) „Gedenket aber
der vorigen Tage!" (Hebr 10, 32.) „Was war denn eure Glückseligkeit?" (Gal 4,15.)
Was anderes ist dies alles, als daß der Herr zurückruft in die
alten Grenzen, von denen man sich entfernt hat? Freilich sollte
das nicht nötig sein. Die Heiligen hätten nie ihre ursprünglichen Grenzen verlassen sollen. Aber sie haben es getan, und
darum hören wir das gnadenreiche Zurückrufen von den
Lippen unseres Herrn und Heilandes. Man könnte einwenden,
daß eine geprüfte Liebe besser sei als die erste Liebe. Wir
räumen dies ein; aber ist es nicht eine unleugbare Tatsache,
daß der erste Gang in der Nachfolge Jesu von einer Einfalt,
einem Ernst, einer Frische, einer Inbrunst, kurz von einer Tiefe
begleitet ist, wovon es uns aus verschiedenen Ursachen in späteren Tagen fehlt? Wir werden kalt und gleichgültig, die Welt
beeinflußt unsere Herzen und erstickt unsere Geistlichkeit;
die Natur gewinnt in der einen oder in der anderen Weise die
Oberhand und tötet unser geistliches Gefühl, dämpft unseren
Eifer und trübt unser Auge. Sollte keiner unserer Leser sich in
dieser Beziehung anklagen müssen? Und würde es in solchem
Falle nicht eine ganz besondere Barmherzigkeit sein, wenn er
181
in diesem Augenblick in die alten Granzen zurückgerufen
würde? Ohne Zweifel. Wohlan denn, seien wir versichert, daß
das Herz Jesu stets auf unsere Rückkehr wartet und bereit ist,
uns wieder aufzunehmen. Seine Liebe ist unveränderlich; und
nicht allein das, sondern Er erinnert uns auch stets daran, daß
es für Sein Herz ein Bedürfnis ist, daß Seine Liebe von unserer
Seite erwidert wird. Daher, geliebte Brüder, was auch das Maß
Eurer früheren Zuneigung gemindert und Euch aus den alten
Grenzen der Übergabe Eures Herzens an Ihn herausgelockt
haben mag, erhebt Euch und kehrt zu Ihm zurück. Säumet
nicht! zögert nicht! Werft Euch zu den Füßen des Euch so sehr
liebenden Herrn und schüttet Euer Herz vor Ihm aus. Nur in
Seiner Gegenwart findet Ihr die verborgen sprudelnde Quelle
jedes wahren Dienstes. Besitzt Christus nicht die Liebe Eurer
Herzen, so verlangt Er auch nicht die Werke Eurer Hände. Er
sagt nicht: „Mein Sohn! Gib mir dein Geld, deine Zeit, deine
Talente, deine Willenskraft, deine Feder, deine Zunge, deinen
Kopf"; alle diese Dinge sind äußerst unnütz und können Ihn
nicht befriedigen. Aber Er sagt: „Gib mir, mein Sohn, dein
Herz!" Sobald das Herz Jesum geschenkt ist, wird alles im
richtigen Gleise gehen. Aus dem Herzen kommen alle Ausflüsse des Lebens; und wenn nur Christus Seinen rechten
Platz im Herzen hat, so werden auch die Werke und Wege,
der Wandel und die Gesinnung am rechten Platze sein.
Kehren wir indes zurück zu Jakob, und wir werden Gelegenheit haben zu sehen, wie klar der Gegenstand unserer Betrachtung in dieser lehrreichen Geschichte erläutert ist. Am
Ende des 33. Kapitels begegnen wir ihm in der Nähe der
Stadt Sichen, wo er allen Arten von Trübsal und Verwirrung
in die Arme fällt. Sein Haus wird entehrt, und seine Söhne,
die an dem Ehrenschänder Rache üben, bringen sein Leben in
die äußerste Gefahr. Dies alles fühlt Jakob in seiner ganzen
Bitterkeit; und darum sagt er zu seinen beiden Söhnen Simeon
und Levi: „Ihr habt mich in Trübsal gebracht, indem ihr mich
stinkend machet unter den Bewohnern des Landes, unter den
Kanaanitern und unter den Perisitern. Ich aber bin ein zählbares Häuflein, und sie werden sich wider mich versammeln
und mich schlagen, und ich werde vertilgt werden, ich und
mein Haus." (1. Mo 34, 30.)
182
Gewiß waren diese Erscheinungen höchst beklagenswert; und
dennoch findet man nicht, daß sich das Herz Jakobs erinnert,
nicht am rechten Platze zu sein. Wie groß die Entehrung und
Verwirrung in der Stadt Sichern auch sein mochte, so war sein
Auge dennoch zu trübe, um sehen zu können, daß er sich nicht
innerhalb der alten Grenzen befand. Und ach! wie oft zeigt
sich dieser Fall! Wir verlassen so oft das aufgepflanzte Banner
des Herrn in unserem tagtäglichen Wandel; wir versäumen es
so oft, die Höhen göttlicher Offenbarungen zu ersteigen; und
obwohl die mannigfaltigen Früchte unserer Fehltritte auf allen
Seiten hervorsprießen, so hat die uns umringende Atmosphäre
unser Auge oft doch so sehr getrübt, und unsere Verbindungen
mit der Welt haben unsere geistlichen Empfindungen oft so
sehr abgestumpt, daß wir nicht zu unterscheiden vermögen,
wie tief wir gesunken sind und wie weit wir uns aus den uns
angewiesenen Schranken entfernt haben.
Aber in welcher Deutlichkeit treten uns in der uns vorliegenden Geschichte die göttlichen Grundsätze vor Augen! Und
Gott sprach zu Jakob: „Mache dich auf, ziehe hinauf nach
Bethel, und wohne daselbst, und mache daselbst einen Altar
dem Gott, der dir erschienen ist, als du vor deinem Bruder
Esau flohest." (1. Mo 35, 1.)
Teurer Leser! Laßt uns hier einen Augenblick verweilen. Hier
zeigt sich unseren Blicken ein vortrefflicher Zug in der Weise
Gottes bezüglich seines Handelns mit unseren Seelen. Die
Stadt Sichern mit all ihren Greueln und Verwüstungen wird
hier durchaus nicht erwähnt. Kein Wort des Tadels trifft Jakob,
daß er sich niedergelassen hat, in dieser Gegend. Nein, das
ist nicht die Art und Weise Gottes. Er wendet eine weit
vortrefflichere Methode an. Hätten wir uns mit Jakob beschäftigen müssen, sicher würde eine harte Zurechtweisung
von unserer Seite ihm begegnet sein; wir würden ihm eine
strenge Predigt über seine Torheit, sich in der Gegend von
Sichern niederzulassen, gehalten, und sein persönliches und
häusliches Betragen allen Ernstes gerügt haben. Doch wie gut
ist es, daß Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken sind und
seine Wege nicht unsere Wege! Statt zu Jakob zu sagen:
„Warum hast du dich in Sichern niedergelassen?" sagt er ein183
fach: „Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel!" Aber eben
mit diesem zärtlichen Ton der Liebe dringt ein Lichtstrahl in
die Seele Jakobs, der ihn in den Stand setzt, sich selbst und
das was in seinem Hause ist zu verurteilen. Denn kaum ist er
aufgefordert, nach Bethel zu gehen, so hören wir ihn zu
seinem Hause und zu allen, die bei ihm waren, die Worte
sagen: „Tut die fremden Götter hinweg, die in eurer Mitte
sind, und reiniget euch, und wechselt eure Kleider; und wir
wollen uns aufmachen und nach Bethel hinaufziehen, und ich
werde daselbst einen Altar machen dem Gott, der mir geantwortet hat am Tage meiner Drangsal und mit mir gewesen ist
auf dem Wege, den ich gewandelt bin." (1. Mo 35, 2—3.)
Das ist augenscheinlich, daß er in die ursprünglichen Grenzen,
die Gott ihm angewiesen hatte, zurückkehrt. Eine Seele wird
wiederhergestellt und auf die Pfade der Gerechtigkeit geleitet.
Jakob fühlte, daß er keine falschen Götter und keine besudelten Kleider in Bethel einführen durfte. Solche Dinge mochten
für Sichern passend sein, aber nicht für Bethel. Und was war
die Antwort auf seine Aufforderung? „Und sie gaben Jakob
alle fremden Götter, die in ihrer Hand, und die Ringe, die in
ihren Ohren waren, und Jakob vergrub sie unter der Terebinthe, die bei Sichern ist. . . Und Jakob kam nach Lus, welches im
Lande Kanaan liegt, das ist Bethel, er und alles Volk, das bei
ihm war. Und er baute daselbst einen Altar und nannte den
Ort El-Bethel; denn Gott hatte sich ihm daselbst geoffenbart,
als er vor seinem Bruder floh." (1. Mo 35, 4—7.)
„El-Bethel" Welch ein kostbarer Name! In Sichern nannte
Jakob seinen Altar: „El-elohe-Israel!" d. h. Gott, der Gott
Israels; aber in Bethel nannte er ihn: „El-Bethel!" d. h. Gott,
das Haus Gottes. Das war in der Tat eine wirkliche Wiederherstellung. Jakob war von all seinen Irrwegen zurückgekehrt,
und zwar bis zu der Stätte, die er verlassen hatte. Nichts
weniger hätte Gott in betreff Seines Dieners befriedigen können. Er konnte mit großer Geduld auf ihn warten, Er konnte
ihn mit göttlicher Langmut tragen, Er konnte ihm dienen,
konnte für ihn sorgen und Sich in der mannigfaltigsten Weise
mit ihm beschäftigen; aber nichts anderes konnte das Herz
Gottes zufriedenstellen, als die pünktliche Ausführung des
Befehls: „Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel!"
184
Mein christlicher Leser! Es wird nützlich sein, hier ein wenig
haltzumachen. Ich möchte gern an Dich einige ernste Fragen
richten. Sagt dir etwa dein Gewissen, daß du die Gegenwart
Jesu verlassen und von Ihm abgeirrt bist? Verspürst du in
deinem Heerzen eine zunehmende Kälte und Abneigung gegen
Ihn? Hast du jene Frische verloren, die in früheren Tagen den
Ton deiner Seele zu heiligen Lobliedern stimmte? Bist du, was
dein moralischer Zustand betrifft, bis zu den Gegenden Sichems
hinabgestiegen? Ist dein Herz den fremden Göttern nachgegangen, und sind deine Kleider besudelt worden? — Nun, dann
laß dich daran erinnern, daß der Herr deine Rückkehr dringend
wünscht. Ja, Er wünscht sie, Er sehnt Sich, daß du noch heute
kommen möchtest. Er sagt gerade in diesem Aubenblick zu
dir: „Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel!" Du wirst
nicht glücklich sein, du wirst keine sicheren Schritte tun, solange du diesem gesegneten, aufmunternden Ruf nicht völlig
entsprochen hast. Darum laß dich bitten und kehre noch heute
zurück. Mache dich auf und wirf jede Bürde und jedes Hindernis beiseite; wirf alle deine falschen Götter weg und wechsle
deine Kleider; wende dich eilig zurück zu den Füßen deines
Herrn, der dich liebt mit einer Liebe, von der dich keine Macht
der Erde und der Hölle zu scheiden vermag und der nicht eher
befriedigt ist, als bis Er dich in Seiner Nähe innerhalb der dir
angewiesenen Grenzen erblickt. Nenne dieses nicht Gesetzlichkeit; gewiß, es ist nichts dieser Art. Es ist die Liebe Jesu, Seine
ernste, brennende, tiefe Liebe, eine Liebe, die eifersüchtig ist
auf jede nebenbuhlerische Zuneigung, eine Liebe, die das
ganze Herz gibt und darum auch das ganze Herz zurückverlangt. Möge daher Gott der Heilige Geist jedes irrende Herz
in die richtigen Grenzen zurückführen! Möge Er mit erneuerter
Kraft jede Seele heimsuchen, welche hinabgestiegen ist zu den
Ebenen Sichems und ihr nicht eher Ruhe geben, als bis sie
völlig der Mahnung gefolgt ist: „Mache dich auf, ziehe hinauf
nach Bethel!"
185
Der Hauptmann Kornelius und
der sterbende Räuber
(Apg 10 und Lk 23, 39-43)
Es ist sehr nützlich und belehrend, unsere Aufmerksamkeit den
beiden völlig verschiedenen Klassen von Personen zuzuwenden, die uns im Neuen Testament als Gegenstände der göttlichen Gnade dargestellt werden. Nach menschlichem Urteil
würden wir die eine Klasse als sehr gut und die andere als sehr
böse bezeichnen. Für die gute Klasse wollen wir den Hauptmann Kornelius von Cäsarea, und für die böse Klasse den
Räuber am Kreuze wählen. Einen bestimmteren Gegensatz
als den, der uns in diesen beiden Männern entgegentritt,
wird man kaum finden; und dennoch bedurfte der eine wie
der andere des Heils, das in Christo Jesu ist. Sowohl der
gottesfürchtige Hauptmann als auch der sterbende Räuber,
beide mußten durch das versöhnende Blut Christi abgewaschen werden, um für die Gegenwart Gottes passend zu sein.
Der eine hatte nichts weniger nötig und der andere nichts
mehr, als dieses kostbare Opfer.
Es ist nun bedeutsam und lehrreich, den Zustand dieser beiden
Männer in jenem Augenblick zu beobachten, als zuerst das
Heil Gottes in ihre Seele strahlte. Horchen wir, wie der Heilige
Geist den Hauptmann Kornelius schildert. „Ein gewisser Mann
aber in Cäsarea, mit Namen Kornelius, ein Hauptmann von
der Schar, genannt die Italische; fromm und gottesfürchtig mit
seinem ganzen Hause, der dem Volke viele Almosen gab und
allezeit zu Gott betete." (Apg 10, 1. 7.) Welch ein Charakter!
Man könnte mit allem Recht fragen: „Was kann ein solcher
Mann über das hinaus, was er bereits besitzt, noch begehren?
Ist er nicht ein frommer, gottesfürchtiger, gebetseifriger Mann?
Was fehlt ihm noch?" Wir würden in der Tat schwerlich
jemanden finden, dessen Betragen zu größeren Hoffnungen
berechtigte und dessen ganze Erscheinung mehr das Gepräge
eines erleuchteten, gottesfürchtigen Christen trüge. Und dennoch fehlte ihm eine Sache, die unerläßlich nötig ist. In der
Erzählung, die wir über seine Person hören, finden wir nichts
186
von Jesu und Seinem versöhnenden Blut. Das dürfen wir
nicht aus dem Auge verlieren. Vielleicht fallen diese Blätter in
die Hände von jemanden, der die Notwendigkeit des Opfers
Christi leugnet und die Erziehung und Veredlung der menschlichen Natur bis zu einem Grade für möglich hält, so daß dadurch der Opfertod des Sohnes Gottes überflüssig sei. Möge
ein solcher an Kornelius denken. Trotz all seiner Frömmigkeit und Mildtätigkeit, verlangte er, nach Petrus zu senden, um
von ihm Worte zu hören, wodurch er und sein ganzes Haus
gerettet werden würde. (Vergl. Apg 10, 22 mit Kap. 11, 14.)
Wir hören die zu Petrus gesandten Boten sagen: „Kornelius . . .
ist von einem heiligen Engel göttlich gewiesen worden, dich in
sein Haus holen zu lassen und Worte von dir zu hören."
(V. 22.) Dies ist das wichtigste Ereignis. Ein Mann, der sich
beständig in der Ausübung guter Werke befand, die an und
für sich höchst wertvoll waren, wurde berufen, auf Worte zu
horchen und in diesen Worten das Heil zu finden. Nicht als ob
die Werke, so weit sie reichten, nicht kostbar gewesen wären.
Vielmehr gibt der Geist Gottes selbst Zeugnis von ihrem
Wert; denn der Engel sagt zu Kornelius: „Deine Gebete und
deine Almosen sind hinaufgestiegen zum Gedächtnis vor Gott!"
(V. 4.) Sie lieferten ein treues Bild von der Aufrichtigkeit und
dem Ernst seiner Seele; und darum waren sie von Gott anerkannt. Dies wird stets der Fall sein; und es ist nützlich,
uns daran zu erinnern. Jede ernste Seele, die aufrichtig ihrem
Lichte gemäß lebt, wird sicher von Gott erkannt werden und
mehr Licht empfangen. Dennoch, und das ist bemerkenswert,
ist Kornelius genötigt, auf Worte zu horchen, um gerettet zu
werden. Auf welche Worte? Auf Worte betreffs des Jesus von
Nazareth, betreffs Seines heiligen, fleckenlosen, liebevollen
Lebens, Seines versöhnenden Todes und Seiner siegreichen
Auferstehung. Das waren die Worte, die vom Himmel gesandt
über die Lippen Petri drangen und in Ohr und Herz des
ernsten und gottesfürchtigen Hauptmanns von Cäsarea fielen.
Diese Worte erschlossen eine neue Welt und stellten einen
gänzlich neuen Gegenstand vor das Herz des Kornelius. Almosen und Gebete waren gut; aber ein gekreuzigter und auferstandener Jesus, ein Jesus, der einst ans Holz genagelt wurde,
187
jetzt aber verherrlicht im Himmel ist, war weit besser. Gebete
und Almosen mochten als ein Gedächtnis zum Himmel emporgestiegen sein; aber nur das Blut Christi vermochte den
Kornelius selbst dorthin zu bringen. Weder alle die Gebete,
die aus einem ernsten Herzen hervorquellen, noch alle Almosen, die eine Hand der Mildtätigkeit spendet, können einen
schuldigen Sünder in die Gegenwart eines heiligen Gottes
leiten. Das Blut Christi und nur dieses Blut allein kann einen
Sünder zu Gott führen, sei er ein Hauptmann oder ein Räuber.
Der beste Mensch hat nicht weniger, und der schlechteste
nicht mehr nötig als dieses kostbare Blut, das von allen Sünden reinigt. Das ist eine wichtige Wahrheit und kann nicht
tief genug dem Herzen des Lesers eingeprägt werden. Wenn
ein Mann wie Kornelius von all seinen Werken wegblicken
und auf „Worte" horchen mußte, wenn er berufen war,
von sich selbst abzusehen und in einem gekreuzigten und
auferstandenen Erlöser alles, was er bedurfte, zu finden, wenn,
mit einem Worte, dieser Mann, der durch Frömmigkeit und
Mildtätigkeit sich einen guten Namen erworben hatte, genötigt war, auf den Tod und die Auferstehung des Jesus von
Nazareth, als auf den einzigen Grund der Annahme eines
Sünders vor Gott zu horchen, dann ist es doch jedenfalls
augenscheinlich, daß ein Mensch, was er auch an Frömmigkeit
und Mildtätigkeit aufzuweisen haben mag, ohne Hoffnung der
Errettung ist, wenn er Christum nicht besitzt. Wenn sich
zwischen die Seele und Christum nur etwas, dünn wie feinstes
Blattgold, gedrängt hat, dann ist sicher kein Leben in der
Seele. Das kann in unseren Tagen, wo die Religiosität in den
verschiedenartigsten Gewändern umhergeht, nicht genug hervorgehoben werden. Der Teufel ist stets beschäftigt, Christum
durch allerlei Satzungen und Zeremonien zu verdrängen und
den hochgelobten Herrn hinter die finstere Wolke religiöser
Formen und Übungen zu verbergen. Er ist immer bemüht, den
gefährlichen und seelenverderbenden Irrtum zu verbreiten, als
ob der Mensch in seiner Natur etwas besitze, das durch Erziehung, Aufklärung und Philosophie entwickelt werden
könnte. Das Kreuz Christi wird auf mancherleich Art beiseite
gesetzt. Die Menschen werden belehrt, daß sie das Kreuz nicht
brauchen, daß jeder gewisse Kräfte in sich trage, die nur einer
188
geeigneten Entwicklung bedürfen, um ihn zu einer solchen
Tugendhöhe und zu einer solch sittlichen Vollkommenheit zu
erheben, die ihm die Erlangung ewiger Glückseligkeit sicher
mache. Trauriger Irrtum!
Wir warnen den Leser mit feierlichem Ernst gegen solchen
Betrug. Wir behaupten es kühn, daß jeder Gedanke dieser Art
eine Lüge Satans ist, eine Lüge, die er mit Eifer in der anziehendsten Weise zu vergolden und zu zieren sucht, um jeden
Gedanken an Jesus und an Sein heiliges Versöhnungswerk
aus dem Herzen zu verdrängen. Wenn dabei noch in etwa der
Name Jesu genannt wird, so geschieht es nur, um Ihn als
jemanden zu bezeichnen, der durch Sein Leben und Sterben
ein Beispiel der erhabensten Tugend hinterließ und daß der
Mensch durch Ausübung der ihm angeborenen Kraft fähig sei,
das nachzuahmen. Der Sündenfall des Menschen wird geleugnet, seine gänzliche Verdorbenheit bestritten und seine Vernunft vergöttert. Die Lehre ist, daß zu seiner Errettung der
Tod Christi nicht nötig war, weil der Mensch sich selbst retten
kann; und daß er die Leitung des Wortes und des Heiligen
Geistes nicht braucht, weil er sich selbst leiten kann durch seine
eigene Vernunft und durch sein moralisches Gefühl.
Wie wichtig ist angesichts dieses Irrtums die Unterweisung des
10. Kapitels der Apostelgeschichte. Dort finden wir einen
Mann, bei dem wir eine erhabene Tugend und eine seltene
Gottesfurcht sehen, einen Mann, der auf seinen familienaltar
das beständige Opfer des Gebets niederlegt und dessen freigebige Hand stets geöffnet ist, um der Notdurft seiner Mitmenschen zu begegnen.*) Und dennoch ist dieser Mann genötigt, auf „Worte" zu lauschen; und in diesen Worten findet
er das Heil und einen Heiland. Wenden wir uns zu der
Anrede des Petrus in dem Hause des Hauptmanns. Sie hier
ausführlich niederzuschreiben, ist nicht nötig. Wir fragen
bloß: Wer ist der einzige Gegenstand dieser Predigt? Wer
bildet hier den Anfang, die Mitte und das Ende? Wer anders
als Jesus? Ja, Jesus, der Gegenstand göttlicher Wonne, Jesus,
der Grund der Zuversicht und der ewigen Errettung des Sün-
*) Wir zweifeln keineswegs daran, daß Komelius eine erweckte Seele war
und nach dem Licht, das er hatte, treu wandelte; aber er erkannte die Erlösung
nicht, und daher erklärt sein Zustand in bestimmter Weise die unabweisbare
Notwendigkeit des Todes und der Auferstehung Jesu.
189
ders. „Diesem geben alle Propheten Zeugnis, daß jeder, der
an ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfängt, durch seinen
Namen." (V. 43.) Merken wir uns die Worte: „Der an ihn
glaubt". Es ist nicht ein Glaube an etwas, was ihn betrifft
oder was Er getan hat, sondern der Glaube an Ihn. Es ist der
Glaube an seine Person, die dem gottlosen und verlorenen
Sünder Leben und Rettung gibt. „Es ist in keinem anderen
das Heil; denn auch kein anderer Name ist unter dem Himmel, der unter den Menschen gegeben ist, in welchem wir
errettet werden müssen." (Apg 4, 12.)
Wenn wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf den sterbenden
Räuber richten, sehen wir in seinem Fall die Macht und den
Wert des Blutes Jesu. Der Gegensatz zwischen ihm und Kornelius ist wichtig und lehrreich. Wir finden hier zwei Arten,
durch die Satan die Seelen zu verderben sucht. Er flüstert dem
einen ins Ohr: „Du bist nicht so schlecht, daß du die Erlösung
nötig hast"; — und dem anderen: „Du bist zu schlecht, als daß
du Anspruch darauf machen kannst." Der Hauptmann von
Cäsarea gibt auf das erste Antwort, und der Räuber am Kreuz
auf das zweite. Wenn jemand durch die blendende Macht des
Betrügers und Verwüsters der Seelen so weit irregeführt ist,
daß er meint, den versöhnenden Tod Jesu zu seiner Rettung
nicht nötig zu haben, wenn er sich auf richtigem Pfade und
außer Gefahr erblickt, weil er nie irgend etwas sehr Böses
getan oder in seinem Herzen genährt hat, und weil er seine
Pflichten als Ehemann, als Vater, als Herr, als Diener, als
Nachbar, als Freund erfüllt und seine Religion beobachtet hat,
worauf setzt er dann, vorausgesetzt, daß alles dieses wahr ist,
seine Hoffnung? Wir wissen, daß der Engel zu Kornelius
sagte: „Deine Gebete und deine Almosen sind hinaufgestiegen
zum Gedächtnis vor Gott." Aber war er deshalb gerettet?
Keineswegs. Wohl verriet sein Betragen, daß er nach dem
Licht, das er hatte, Gott zu dienen trachtete, und daß er mit
Ängstlichkeit die Wahrheit suchte; und Gott sei Dank! er fand
sie in dem gekreuzigten, begrabenen und auferstandenen Jesus
von Nazareth. Aber aus seiner Geschichte lernen wir, daß, wie
vortefflich seine Werke auch waren, nichts als der Versöhnungstod des Sohnes Gottes selbst den besten Menschen zu retten
vermag.
190
Wenn dagegen jemand sagt: „Ich bin zu schlecht, zu gottlos,
zu verderbt, um errettet werden und auf Gnade hoffen zu
können", dann möge ein solcher seinen Blick auf den sterbenden Räuber richten. Man würde wohl schwer jemand auf einer
niedrigeren Stufe finden, als worauf er stand. Er war durch
das Gesetz seines Landes verurteilt, für seine Verbrechen eines
schmachvollen Todes zu sterben. Und nicht nur dies, sondern,
obwohl er am Kreuze hing und an der Pforte der Ewigkeit
stand, konnte er dennoch mit anderen die Lippen öffnen, um
den Sohn Gottes zu lästern. Freilich wußte er nicht, daß der,
welcher an seiner Seite hing, der Sohn Gottes war; aber verriet nicht sein Spott die tiefe Finsternis, in die seine schuldbeladene Seele versunken war?
Es ist wichtig, zu sehen, daß beide Missetäter den sterbenden
Heiland lästerten und verspotteten. Wie glänzend tritt die
Gnade hier bei der Rettung des Bußfertigen hervor! Matthäus
sagt in seiner Erzählung: „Auf dieselbe Weise schmähten ihn
auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren." (Mth 27, 44.)
und ebenso lesen wir in Markus: „Auch die mit ihm gekreuzigt
waren, schmähten ihn." (Mk 15, 32.)
So steht also der sterbende Räuber hier vor uns als ein Muster
der schlechtesten Form der gefallenen Menschheit. Er war ein
verurteilter Missetäter und, obgleich er im tiefsten Elend war,
ein Lästerer des Sohnes Gottes. Aber er stand nicht außer dem
Bereich der göttlichen Liebe; nein, sondern er war gerade ein
solches Geschöpf, an dem diese Liebe ihren Triumph entfalten
konnte. Jesus kam zu suchen und zu erretten, was verloren ist.
Und dieses Wörtchen „verloren" beschreibt den Zustand aller
Menschen, ohne Ausnahme. Der Räuber war verloren, der
Hauptmann war verloren; und obwohl der eine uns auf der
niedrigsten Stufe der Strafbarkeit und Entwürdigung gezeigt
wird, und der andere auf der Höhe der Gottesfurcht und der
Mildtätigkeit, so sind beide doch nichts als schuldige, verlorene
Sünder, indem sowohl der eine wie der andere zu seiner
Waschung das versöhnende Blut des Lammes Gottes nötig hat.
Doch betrachten wir die Geschichte des sterbenden Räubers ein
wenig näher. In Lukas beschäftigt sich der Heilige Geist in
dem Augenblick mit ihm, als der erste Strahl des göttlichen
191
Lichts und göttlicher Gnade in seine verfinsterte Seele drang,
während Matthäus und Markus uns ihn in seiner Schuld darstellen. Beides mußte uns gezeigt werden, um von einem bußfertigen Räuber eine richtige Vorstellung zu haben. Die göttliche Mitteilung betreffs der großen Schuld erhöht den Wert
der göttlichen Gnade. Es wird dadurch ans Licht gestellt, daß
unser Heiland Gott bis in die tiefste Tiefe des menschlichen
Zustandes hinabgestiegen ist, daß es eine völlige, freie und
ewige Errettung selbst für den versunkensten Menschen gibt
und daß sich niemand außer dem Bereich der unumschränkten
Gnade und Barmherzigkeit Gottes befindet. Dies zeigt uns die
Geschichte des Räubers. Sowohl er wie auch der Hauptmann,
beide hatten dasselbe Mittel zu ihrer Errettung nötig. Der eine
hatte nichts mehr und der andere nichts weniger nötig; beide
bedurften des Opfers des Herrn und Heilandes Jesu Christi.
Das Verbrechen des Räubers wurde durch das Blut des Kreuzes
ausgelöscht; und die Almosen und Gebete desKornelius waren
ungenügend ohne dieses Blut. O, möchten doch alle, die sich
für zu schlecht halten, um gerettet werden zu können, ihren
Blick auf den sterbenden Räuber am Kreuze richten; und
möchten alle, die meinen, dieses Heil nicht nötig zu haben,
auf den Hauptmann zu Cäsarea sehen! Wenn aber der Hauptmann dieses Blut nötig hatte, wer könnte es dann entbehren?
Und wenn der Räuber durch dieses Blut gerettet worden ist,
wer könnte dann noch verzweifeln? Diese beiden Fälle zusammengenommen zeigen uns in klarer Weise die Unzulänglichkeit der besten Anstrengungen des Menschen und die vollkommene Wirksamkeit und Hinlänglichkeit des Versöhnungswerkes Christi.
Welches sind nun die Fortschritte des Gnadenwerkes in der
Seele des sterbenden Missetäters? Sicher war er in jeder Beziehung ein passender Gegenstand für die Handlungen dieser
Gnade. Von dem Augenblick an, da der Pfeil der Überführung
in seine Seele drang, begann er seinen Lauf von dem Punkte
an, den die Schrift als den Anfang der Weisheit bezeichnet. Er
ruft seinem Gefährten zu: „Auch du fürchtest Gott nicht?"
(Lk 23, 40.) Welch ein Wechsel! Wodurch er hervorgerufen
worden war, wird uns nicht erzählt. Aber wir wissen, daß nach
der Darstellung des Matthäus und Markus einerseits und der192
jenigen des Lukas andererseits ein sichtlicher Wechsel stattgefunden hat. Ein göttlicher Lichtstrahl ist in seine Seele
gefallen, und da wir voraussetzen dürfen, daß nie ein Lichtstrahl ohne die Vermittlung Jesu in diese finstere Welt geschienen hat, so ist auch sicher das Auge des sterbenden
Räubers geöffnet worden, um etwas von der göttlichen Herrlichkeit Dessen zu sehen, der neben ihm am Fluchholze hing.
„Auch du", sagte er, „fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? Und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts
Ungeziemendes getan." (V. 40. 41.) Er sagt nicht: „Fürchtest
du nicht die Rache, das Gericht oder die zukünftige Strafe?"
Nein, die „Furcht Gottes" ist vor seinen Augen; und das ist
bemerkenswert. Mancher wird durch die Furcht vor der zukünftigen Strafe gequält; und sicher übt der Heilige Geist
öfters diesen Druck aus. Es ist gewiß am Platze, die Menschen
an die zukünftige Rache zu erinnern und ihnen die Folgen
ihrer Sünden vorzustellen; aber wir dürfen nicht vergessen,
daß die „Furcht Gottes der Weisheit Anfang" ist. Der Heilige
Geist wird in der Seele das Bewußtsein wecken, daß sie es mit
Gott zu tun hat; und dann handelt es sich nicht mehr um die
Folgen der Sünde, sondern um deren Häßlichkeit im Angesichte Gottes. Wenn Gott einen Platz im Herzen findet, dann
wird alles andere folgen. Wir werden dann im Lichte dessen,
was Gott ist, uns selbst, unsere Wege, unser Betragen, unsere
Sünden, den Zustand unserer Herzen, unsere Natur und alle
ihre Früchte erkennen. Wohl mag jemand tief erschüttert werden bei dem Gedanken an den Zorn und die ewige Verdammnis. Wohl mag der Gedanke an die Hölle, an den Feuer- und
Schwefelsee und an den nimmer sterbenden Wurm das Herz
für einen Augenblick mit Schaudern und Entsetzen erfüllen.
Wenn aber nicht ein Teilchen der wahren Furcht Gottes vorhanden ist, dann wird sicher, wenn der erste Schrecken vorüber ist, die Lust der Sünde mit vermehrter Kraft zurückkehren und alle guten Entschlüsse verdrängen.
Wie ganz anders ist es, wenn die Seele durch den Heiligen
Geist das Bewußtsein erlangt, daß sie es mit Gott zu tun hat!
Dann wird die Sünde nicht gemessen nach den Folgen, son193
dem nach dem, wie Gott sie betrachtet. Nein, nicht die Folgen,
wie schrecklich sie auch sein werden, werden uns dann
beschäftigen, sondern die Häßlichkeit und Schlechtigkeit der
Sünde selbst. Wir werden die Sünde hassen, weil Gott sie
haßt. Wir werden die gerechte Verdammnis der Sünde anerkennen; aber wir werden im Lichte der Heiligkeit Gottes die
Sünde in ihrer wahren Natur und in ihrem wahren Charakter
sehen.
Indes ist es höchst bewundernswürdig, die Art und Weise zu
sehen, in der dieser sterbende Räuber durch göttliche Unterweisung weitergeführt wird. Er eilt, indem er große Fundamental-Wahrheiten der Offenbarung ergreift, mit staunenswerter Schnelligkeit von Stufe zu Stufe fort. Er nimmt als ein
mit Recht verurteilter Sünder seinen wahren Platz ein. „Wir
empfangen, was unsere Taten wert sind", sagt er. Anstatt mit
seinem Gefährten spöttisch zu sagen: „Wenn du der Christus
bist, so rette dich selbst und uns", erkennt er unter dem Einfluß der Furcht Gottes an, daß er mit Recht verurteilt ist, legt
Zeugnis gegen den anderen Missetäter ab und tadelt dessen
Lästerungen, in die er selbst noch vor kurzem mit eingestimmt
hat. Dann wendet er sich zu Jesu, indem er Seine fleckenlose
Menschheit, diese große Fundamental-Wahrheit des Christentums, durch die Worte bezeugt: „Dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan." Hier bildet er einen entschiedenen Gegensatz zu den Hohenpriestern, den Ältesten, den Schriftgelehrten
sowie dem Volke Israel und der Welt im allgemeinen. Alle
waren übereingekommen, Ihn als einen Übeltäter zu überliefern; aber dieser sterbende Räuber bezeugte von Ihm, daß
Er nichts Ungeziemendes getan habe; und obgleich man einwenden könnte, sein Zeugnis erstrecke sich nur bis zu der
Erklärung, daß Jesus um keines Verbrechens willen zum Tode
verurteilt sei, so hebt dies doch die große Tatsache nicht auf,
daß der Räuber in betreff Jesu die Welt Lügen straft. Die
Welt hatte Ihn verurteilt und ausgestoßen; sie hatte Ihn ans
Kreuz genagelt und mithin die schändlichste Todesart über
Ihn verhängt; aber inmitten der dunklen Schatten dieses
häßlichen Kreuzes drang über die Lippen eines überführten
und bußfertigen Missetäters das klare und rückhaltlose Zeugnis: „Dieser hat nichts Ungeziemendes getan."
194
Welch ein kostbares und herrliches Zeugnis! Wie wird es das
Herz des sterbenden Heilandes erquickt haben, inmitten all
der Vorwürfe und Lästerungen, inmitten der Empörung und
des Hasses der Menschen und der Teufel ein solches Zeugnis
von den Lippen dieses armen Räubers zu hören! Alle Seine
Jünger hatten Ihn verlassen. Sie flohen von Ihm in der finsteren, bösen Stunde. Wie sehr gleicht dies dem Menschen! Die
ganze Welt, die Juden, die Heiden, die weltlichen und geistlichen Mächte, die Kriegsheere der Hölle, alle standen in
Schlachtordnung wider den Sohn Gottes; aber inmitten dieser
unbeschreiblichen und undenkbaren Schreckensszene brach sich
eine einsame Stimme in klaren, offenen Tönen Bahn und
legte das Zeugnis ab: „Dieser hat nichts Ungeziemendes getan."
Es ist mitunter gesagt worden, daß dieser sterbende Räuber
keine Gelegenheit gehabt habe, gute Werke tun zu können.
Wenn darunter verstanden wird, daß er keine Liebeshandlungen ausübte, keine Almosen gab, keine Früchte tätigen Wohlwollens hervorbrachte, so ist diese Bemerkung am Platze; und
wenn solche Dinge zur Errettung durchaus notwendig waren,
dann war sicher der Räuber unrettbar verloren. Seine Hände
waren an das Kreuz genagelt und konnten mithin nicht zu
Handlungen der Liebe in Tätigkeit gesetzt werden. Seine Füße
befanden sich in gleicher Lage und konnten daher den Pfad
des dienenden Wohltuns nicht betreten. Dies alles ist klar
genug. Solange er sich seiner Hände hatte bedienen können,
hatte er sie zu bösen Taten gebraucht, und solange er seine
Füße hatte bewegen können, waren sie auf der Landstraße
der Sünde vorwärtsgeschritten. Jetzt, wo die einen wie die
andern ans Kreuz genagelt waren, war es mit seinen Taten
und Gängen zu Ende. Er hatte seine Hände und seine Füße
für den Teufel gebraucht; aber es bot sich ihm jetzt keine
Gelegenheit mehr dar, sie für Gott zu gebrauchen. Daher,
wenn die Errettung in irgendeiner Weise an Werke geknüpft
war, so befand sich der arme Räuber sicher in einem hoffnungslosen Zustande.
Überdies wußte der Räuber nichts von dem Vorrecht christlicher Anordnungen. Insoweit uns die göttliche Erzählung darüber Aufschluß gibt, war er weder getauft, noch hatte er am
Abendmahl teilgenommen. Auch das ist wichtig. Wir schätzen
195
diese beiden kostbaren Einsetzungen an ihrem wahren Platze
sehr hoch. Sowohl sie, als auch die guten Werke haben in
unseren Augen einen hohen Wert. Gott hat einen Pfad guter
Werke bereitet, auf welchem Sein Volk beständig wandeln
soll; und wenn daher jemand bekennt, ein Christ zu sein und
nicht auf dem göttlich bezeichneten und bereiteten Pfade guter
Werke wandelt, so ist sicher sein Bekenntnis hohl und wertlos.
Ein bloßes Lippenbekenntnis aber ist nutzlos vor Gott und
Menschen; denn wo göttliches Leben in der Seele ist, da wird
sich dieses Leben auch in Früchten der Gerechtigkeit erweisen,
welche durch Jesum Christum sind zur Herrlichkeit und zum
Preise Gottes.
Ebenso belehrt uns die Heilige Schrift hinsichtlich der christlichen Anordnungen über deren wahren Platz, über ihre Natur,
ihren Chrakter und ihren Zweck. Sie belehrt uns, daß die
Taufe, diese einweihende Anordnung des Christentums, in
nachdrücklicher und bestimmter Weise unseren Tod darstellt
gegenüber der Sünde und allem, worin wir von Natur oder als
Kinder des ersten Adam uns befanden. Sie belehrt uns, daß
die Anordnung des Abendmahls den Tod des Herrn, das
Brechen Seines Leibes und das Vergießen Seines Blutes darstellt. Wer könnte eine Zeile niederschreiben, um Anordnungen dieser Art anzutasten oder ihren Wert verringern zu
wollen? Gewiß niemand, der irgendwie Christum liebt und
sich unter die unumschränkte Autorität Seines Wortes beugt,
wird sich dessen schuldig machen. Es wird daher wohl keiner
unserer Leser der Vermutung Raum geben, als ob wir den
Wert der guten Werke und der Anordnungen unterschätzen,
wenn wir behaupten, daß der Räuber am Kreuz weder gute
Werke aufzuweisen hatte, noch an den christlichen Anordnungen teilgenommen hat. Aber welch eine Kraft liegt in dieser
Tatsache! Es ist von großer Bedeutung, daß die Seele eines
versöhnten Menschen, der weder getauft ist, noch an des
Herrn Abendmahl teilgenommen hat noch irgendein gutes
Werk aufzuweisen hat, sich bei dem Herrn in dem glänzenden
Paradiese droben befindet. Man könnte sagen, daß dies, wenn
er am Leben geblieben wäre, anders geworden wäre. Wir
zweifeln nicht daran; aber jetzt konnte er sich nicht auf diese
Dinge berufen; und das sollten sich alle merken, die ihr Ver196
trauen auf Anordnungen und gute Werke setzen. Es wird immer wahr bleiben: „Er errettete uns, nicht aus Werken, die,
in Gerechtigkeit vollbracht, wir getan hatten, sondern nach
seiner Barmherzigkeit." (Tit 3, 5.) Die Taufe hat ihren Platz
und ihren Wert; aber wenn jemand zu uns sagen würde:
„Wenn ihr nicht getauft seid, so könnt ihr auch nicht gerettet
sein"; so würden wir ihn auf den Räuber am Kreuz hinweisen und sagen: „Dort ist jemand ins Paradies gegangen,
ohne durch das Wasser der Taufe gegangen zu sein." Und
ebenso verhält es sich mit des Herrn Abendmahl, wie auch
mit den guten Werken. Der Räuber wurde gerettet ohne dies
alles. Er wurde gerettet durch Gnade, durch Blut, durch Glauben. Dieses kann den Seelen in unseren Tagen nicht tief genug
eingeprägt werden, wo die Religiosität sich so tätig zeigt, und
wo man ein so großes Vertrauen in die kirchlichen Anordnungen setzt. Die Geschichte des sterbenden Räubers ist von
hoher Bedeutung. Sie bildet gleichsam einen mächtigen Damm,
um die Flut der gesetzlichen Religiosität zu hemmen, die
Millionen durch ihre Strömung mit fortreißt, um sie hinabzustürzen in den See, der mit Feuer und Schwefel brennt. Der
Räuber wurde gerettet ohne kirchliche Anordnungen, und wir
schließen daraus, daß sie zur Rettung nicht notwendig sind;
sie haben ihren Wert auf der Erde; aber sie bringen niemanden in den Himmel.
Doch gehen wir noch etwas näher ein in die Geschichte des
sterbenden Räubers! Verrichtete er nicht dennoch gute Werke?
Ja, in der Tat. Er verrichtete eines der größten Werke, die je
ein geretteter Sünder verrichten kann. Und welches gute Werk?
Er legte Zeugnis für die Wahrheit ab. Freilich waren seine
Hände und seine Füße ans Kreuz genagelt und darum machtlos; aber sein Auge, sein Herz und seine Zunge waren frei.
Sein Auge war frei, um auf den Sohn Gottes schauen, sein
Herz war frei, um an dessen gesegnete Person glauben zu
können, und seine Zunge war frei, um Seinen Namen in einer
feindseligen Welt bekennen zu können. Der Glaube an den
Sohn Gottes und das Bekenntnis Seines Namens macht die
Summe des Christentums aus. Als der Herr Jesus in den Tagen
Seines Fleisches durch etliche gefragt wurde: „Was sollen wir
tun, auf daß wir die Werke Gottes wirken?" gab Er zur
197
Antwort: „Dies ist das Werk Gottes, daß ihr an den glaubet,
den er gesandt hat." (Joh 6, 28. 29,) Und der Apostel erklärt,
„daß, wenn du mit deinem Munde den Herrn Jesum bekennen
und in deinem Herzen glauben wirst, daß Gott ihn aus den
Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst. Denn mit dem
Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, und mit dem Munde
wird bekannt zum Heil". (Röm 10, 9. 10.)
Dies alles tat der sterbende Räuber; und hätte er vom Kreuze
herabsteigen dürfen und das Alter Methusalahs erreichen
können, so würde er nichts vermocht haben zu vollbringen,
was vor Gott herrlicher und kostbarer gewesen wäre, als das,
was er während der kurzen Dauer seines christlichen Lebens
vollbracht hatte, eines Lebens, das am Kreuze begonnen, fortgesetzt und, was diese Welt betrifft, beendet, aber in jener
glorreichen Welt wieder zurückempfangen wurde, wo der
Tod nicht eintreten kann. Er hatte für die Wahrheit Zeugnis
abgelegt. Dies ist der große Zweck des christlichen Lebens.
Es mag jemand getauft worden sein und zu hundert Malen
das Brot und den Wein des heiligen Abendmahls empfangen
haben; es mag jemand Tausende für sogenannte Liebeszwecke
ausgeben, er mag in betreff der Moralität und Religiosität sich
unter seinesgleichen eines hohen Rufes erfreuen, und ein
eifriger Förderer und Ausführer menschenfreundlicher Pläne
sein; jemand mag alles dieses sein und haben und sich dennoch auf dem Wege der Verdammnis befinden, indem er nie
den Herrn Jesum mit dem Munde bekannt und nie von Herzen geglaubt hat, daß Gott Ihn von den Toten auferweckt hat.
Dies ist beachtenswert, besonders in unseren Tagen, in denen
man so viel Lärm macht über kirchliche Anordnungen, Gebräuche, Zeremonien, wo man einen so großen Wert auf die
Formen und Amter der Religion legt und so viel Vertrauen auf
menschliche Autorität setzt. Wo, möchten wir fragen, finden
wir in all diesem das edle Bekenntnis des sterbenden Räubers?
Er bekannte „Jesum den Herrn". Das ist es, worauf das Auge
Gottes gerichtet ist. Das ist es, was für Ihn einen Wert hat.
Er fordert von uns, daß wir die Herrschaft Seines Sohnes anerkennen. Zu allen, die auf kirchliche Anordnungen und gute
Werke ihr Vertrauen setzen, wendet sich der göttliche Ausspruch: „Wenn mich hungert, ich würde es dir nicht sagen."
198
(Ps 50, 12.) Er fordert von unserer Seite ein Bekenntnis in
betreff Seines Sohnes; und dieses Bekenntnis des Mundes
muß aus dem Glauben des Herzens hervorfließen. Wenn Jesus
als der Herr anerkannt ist, dann nimmt jedes Ding seinen
rechten Platz ein. Es mag große Schwachheit und große Unwissenheit vorhanden sein; aber wenn das Gewissen sich
unter Ihn, als den Herrn beugt, dann tritt alles in sein richtiges
Gleis. Ich mag so schwach sein, daß ich nur fähig bin „Gemüse" zu essen (Röm 14, 2.), und so unwissend, daß ich „einen
Tag vor dem anderen" halte (Röm 14, 5.); oder andererseits
mag ich so stark sein in dem Gefühl meiner Freiheit, daß ich
fähig bin, „Fleisch" zu essen, und so aufgeklärt, daß ich
„jeden Tag gleich" halte; aber der große moralische Perpendikel ist das Bekenntnis der Herrschaft Jesu. Dieses Bekenntnis legte der Räuber ab. Er sagte zu Jesu: „Herr". Er erkannte
nicht nur Seine fleckenlose, Seine vollkommene Menschheit an,
sondern bekannte Ihn auch als den Herrn. Es ist äußerst interessant, den Weg zu betrachten, auf dem diese kostbare Seele
weitergeführt wurde. Nachdem er die Sünde getadelt und den
Sünder in der Person seines Unglücksgefährten gewarnt hatte,
nachdem er die Wahrheit in betreff seiner selbst und seines
Betragens, als gänzlich im Widerspruch mit der fleckenlosen
Person stehend, die neben ihm am Kreuze hing, anerkannt
hatte, wandte er sich an Jesum; und seine ganze Seele schien
von dieser unvergleichlichen Person erfüllt zu sein. Er scheint
gleichsam mit bewundernswürdiger Schnelligkeit alle die Stufen des „großen Geheimnisses der Gottseligkeit" zu durchschreiten, deren Grundlage die Offenbarung Gottes auf Erden
ist, und deren Gipfel die Verherrlichung des Menschen im
Himmel ist; denn wir lesen in 1. Tim 3, 16: „Und anerkannt
groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist geoffenbart
worden im Fleische, gerechtfertigt im Geiste, gesehen von den
Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der Welt,
aufgenommen in Herrlichkeit." Welch ein kostbares Geheimnis! O, möchten wir doch mehr in dessen Tiefe eindringen!
Allerdings vermögen wir nicht zu ergründen, inwieweit der
sterbende Räuber diese ganze kostbare Wahrheit zu begreifen
vermochte; aber eins war gewiß: er war unterwiesen worden,
in Jesum den „im Fleisch geoffenbarten Gott" zu erkennen.
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Und ebenso war er fähig gemacht, durch die finsteren Wolken,
die sich um das schreckliche Kreuz zusammengezogen hatten,
hindurchzuschauen und die glänzenden Strahlen der zukünftigen Herrlichkeit zu erblicken. Und er sprach zu Jesu: „Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reiche kommst!" Das
ist die bewundernswürdige Frucht der Unterweisung Gottes.
Noch wenige Augenblicke vorher hatte er den Hochgelobten
geschmäht, und jetzt beugt er sich im Geiste vor Ihm, nennt
Ihn „Herr", sieht in Ihm den Gott-Menschen, spricht mit Zuversicht von einem kommenden Königreich und wirft sich in
die Arme jener allmächtigen Gnade, die in den Worten hervorleuchtet: „Rufe mich an am Tage der Bedrängnis; ich will
dich erretten, und du wirst mich verherrlichen." (Ps 50, 15.)
„Gedenke meiner, Herr!" das ist der Weg der Rettung. In
dem Augenblick, wo irgendein armer, schuldiger und bußfertiger Sünder mit dem an das Holz genagelten Menschen
verbunden wird, ist die Errettung eine ewig vollendete Tatsache. Es tut nichts zur Sache, wer oder was er ist. Seine
Sünden mögen sein wie Karmesin oder Scharlach, sie mögen
so schwarz sein wie die Nacht; aber von dem Augenblick an,
wo er mit dem Gott-Heiland in Verbindung tritt, ist er errettet in der Macht einer ewigen Errettung. Seine Sünden und
Vergehungen sind völlig ausgelöscht, und er ist in der ganzen
Kraft und Würdigkeit des Namens Jesu zu Gott gebracht.
Also verhielt es sich mit dem sterbenden Räuber. Er fand
augenblicklich eine völlige, freie und ewige Errettung. Der Herr
Jesus ging weit über alle seine Gedanken und alle seine
Wünsche. Der Räuber sagte: „Gedenke meiner, Herr, wenn
du in deinem Reiche kommst." Der Herr Jesus aber sagt ihm,
daß Er weit mehr für ihn tun wolle. „Wahrlich, ich sage dir,
heute wirst du mit mir im Paradiese sein." In diesen Worten
haben wir die drei großen in dem Evangelium geoffenbarten
Züge der Erlösung, nämlich eine gegenwärtige, eine persönliche und eine vollkommene Erlösung „Heute" — „wirst du"
— „mit mir sein." Wir wollen bei diesen Punkten nicht verweilen; sie sind den meisten unserer Leser bekannt. Jedoch
möchten wir noch gerne einige kurze Bemerkungen über die
Verfahrungsweise unseres Herrn in dieser Szene hervorheben.
Es ist bemerkenswert, daß wir hier kein tadelndes Wort, keine
200
Erinnerung an das Vergangene, keine Anspielung auf die alten
Gewohnheiten oder auf die neueren Schmähungen und Lästerungen des Räubers vernehmen. Nein, nichts der Art. Es
wäre auch nicht dem gnadenreichen Dienst unseres Herrn Jesu
Christi angemessen gewesen. Er rettete alle, die zu Ihm kamen
oder Ihn anblickten, weil Er nach dem Willen des Vaters kam
und weil alle, die zu Ihm kamen, durch den Vater gezogen
waren. Wir wollen in die wichtige Frage von allem, was dieses
Ziehen durch den Vater in sich schließt, nicht näher eingehen,
sondern wünschen nur dem Leser ans Herz zu legen, daß es
eine freie, unumschränkte Gnade war, mit welcher der Herr
den sterbenden Räuber empfing.
Und so ist es in jedem Falle. „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken." Wir mögen uns
ihrer erinnern, wir mögen uns mit zerknirschtem Herzen und
durch ihre Erinnerung in den Staub gebeugt von ihnen abwenden; aber von dem Augenblick an, wo wir zu Jesu kommen, ist alles ausgelöscht, alles vergeben, alles vergessen. Das
ist Seine Gnade, das ist die göttliche Vollkommenheit Seines
Werkes, das ist die Art und Weise Seines Handelns. Der arme,
sich selbst verurteilende Räuber ist ohne Anstand aufgenommen worden. Er warf sich in einfältigem Vertrauen auf Jesum; und unmittelbar folgte die Antwort: „Heute". Es ist,
als hätte der Herr zu ihm gesagt: „Du hast nicht nötig, auf
das Reich zu warten, sondern du sollst die Freude genießen,
bei mir zu sein, ehe noch die Herrlichkeiten des Reiches auf
diese Erde herniederkommen. Noch an diesem Tage werde ich
dich bei mir haben in dem glänzenden Paradies, wohin ich zu
gehen im Begriffe bin." — Das war in der Tat Gnade und
Rettung durch Gnade. Der sterbende Heiland und der sterbende Räuber waren durch eine wunderbare Gnadenkette miteinander verbunden; an demselben Tage waren sie beisammen im Paradiese. Das Wort: „Mit mir" brachte alles in Ordnung. Da gab es keinen Aufschub. Alles war geschehen. Kirchliche Anordnungen waren nicht mehr nötig. Was hätte auch
noch dem Versöhnungswerk Christi beigefügt werden können?
Der Herr Jesus war für den Räuber am Kreuze, und darum
war der Räuber mit Jesu im Paradiese. Was kann einfacher
sein? Der Räuber hatte keinen Rechtsgrund, keinen Anspruch,
201
keinen Titel. Während er seine Freiheit besaß, lebte er in
Sünden, und selbst als er ans Kreuz genagelt war, lästerte
und schmähte er den Sohn Gottes. Aber der Pfeil war in seine
Seele gedrungen, seine Augen waren geöffnet worden, um
die herrliche Person Jesu, den Gott-Menschen, zu schauen und
die Herrlichkeiten des Reiches zu unterscheiden von dem Nebel der Schande und der Herabwürdigung; er erkannte in
dem Einen, den die Welt ausgeworfen und gekreuzigt hatte,
einen fleckenlosen Menschen, seinen Herrn, und den Besitzer
des kommenden Reiches. Er sah, er glaubte, er zeugte; und
als schließlich die römischen Kriegsknechte kamen, um ihre
entsetzlichen Pflichten zu erfüllen, da hätte dieser glückliche,
gerettete Mann sagen können: „Ach! diese Menschen sind
gekommen, um mich geradeswegs zu Jesu, meinem Herrn und
Heiland, zu senden. Ich bin bereit. Mein Herr ist vorausgegangen, und ich habe ihm nur zu folgen. Abzuscheiden, um
bei Christo zu sein, ist weit besser."
Gewiß möchten wir noch länger bei dieser herrlichen Szene
verweilen, aber wir müssen schließen und richten nur noch
die eine Frage an den Leser: „Bist du gerettet?" Das ist eine
klare, bestimmte Frage. Gib eine klare und bestimmte Antwort darauf! Kannst du nicht mit einem vollen „Ja" darauf
antworten, dann bitte ich dich mit allem Nachdruck, diese
ernste Sache nicht länger zu verschieben, sondern wirf dich
jetzt, gerade jetzt, gleich dem sterbenden Räuber, zu den
Füßen Jesu, — und eine völlige, ewige Errettung wird sogleich
dein Teil sein. — Wenn du aber durch die Gnade schon sagen
kannst: „Ja, Gott sei Dank, ich bin gerettet und erfreue mich
dessen", — dann erinnere Dich, daß wir berufen sind, Jesum
nicht nur als unseren Erretter, sondern auch als unseren Herrn
anzuerkennen. Mögen wir nie diese beiden Dinge trennen!
Hat Er uns erlöst, so ist Er auch unser Herr und Meister.
Seine Ansprüche an uns, an alles, was wir sind und haben,
sind gestützt auf den soliden Boden der Erlösung. Das Fundament unserer Erlösung in Ihm und durch Ihn, und das Fundament für Seine absolute Autorität über uns ist eins, nämlich Sein Tod. Er gab Sich für uns. Welch ein Preis! Welch
ein Rechtsgrund für unsere gänzliche Unterwerfung unter
Seine heilige Autorität!
202
„Seid niemandem irgend etwas schuldig"
(Röm 13, 8.)
Es dürfte in der Heiligen Schrift kaum eine Vorschrift geben,
die klarer und bestimmter wäre, als die in der oben angeführten Stelle. Das griechische Wort, welches hier durch „schuldig
sein" übersetzt ist, läßt keine zweifache Deutung zu. Die
Stelle ist daher ebenso einfach und die Vorschrift ebenso bestimmt, wie die im nächstfolgenden Vers: „Du sollst nicht
stehlen!" Jeder Leser, der das geschriebene Wort ehrt und es
nicht nach seinen Wünschen oder Ansichten zu deuten trachtet, wird verstehen, daß es in dieser Stelle förmlich verboten
ist, Schulden zu machen.
Wenn nun jemand einwendet, daß der Schluß des angeführten
Verses den Sinn der oben angeführten Worte ein wenig verändere, so gebe ich das zu, jedoch nur in dem Sinn, daß die
wahre Bedeutung der Stelle dadurch noch verschärft wird.
„Seid niemandem irgend etwas schuldig, als nur einander zu
lieben; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt."
Wie könnte man dies anders umschreiben, als durch die Worte: „Jede Schuld ist euch verboten, mit Ausnahme einer einzigen, von der ihr euch nie befreien könnt, nämlich der Schuld
der Bruderliebe und der damit verbundenen Pflichten." Es ist
klar: solange wir hier sind, werden wir nie sagen können,
daß wir unseren Brüdern nichts mehr schulden, und daß unsererseits keine der Bruderliebe entspringenden Pflichten mehr
zu erfüllen da seien. Außer dieser Ausnahme ist uns aber
jede andere Schuld ausdrücklich verboten, so daß wir keine
machen können, ohne eins der bestimmtesten Verbote des
Wortes Gottes zu übertreten.
Es bedarf indes einiger Erläuterungen in betreff dessen, was
unter die Rubrik des verbotenen Schuldenmachens zu bringen
ist. Ein Christ, selbst ein treuer Christ, kann durch widerwärtige Umstände in Schulden geraten, durch Umstände, die, obwohl sie nicht ohne die Zulassung Gottes gekommen sind,
dennoch unabhängig von dem Willen dessen sind, der darunter leidet. Dies war z. B. der Fall bei der Witwe eines der
203
Söhne der Propheten, welcher, obwohl er gottesfürchtig war,
bei seinem Tode sein armes Weib in den Händen eines grausamen und geldgierigen Schuldherrn zurückließ, der ihr drohte,
ihr alles zu nehmen, selbst ihre beiden Kinder. Doch sie nahm
ihre Zuflucht zu Gott, der verheißen hat, der Witwen Mann
zu sein, und wurde auf wunderbare Weise befreit. Möchten
wir ihr in ähnlichen Umständen gleichen! In einer solchen
Lage, wo wir des Herrn Hand sehen, können wir uns völlig
Ihm anvertrauen und in völligem Glauben um Errettung bitten, die nur Er bewirken kann und bewirken will; denn in
diesem Falle ist diese Lage für uns eine Prüfung und nicht ein
Zustand der Sünde.
Wenn ferner ein Christ irgendwelche Wertsachen besitzt, die
seine Schuld mehr als decken, und wenn das gemachte Anleihen durch entsprechende Pfandverschreibungen mehr als
gesichert ist, so kann man nicht sagen, daß er sich in Schulden
befinde, weil er im schlimmsten Falle sein Eigentum selbst
unter Preis abgeben und die Schuld decken kann. Das beste
und sicherste wäre allerdings für ihn, sich so bald wie möglich freizumachen. Doch außer diesen und etlichen ähnlichen
Fällen darf ein Christ keine Schulden machen, ohne sich zu
versündigen: denn, ich wiederhole es, das Gebot Gottes ist
in dieser Beziehung sehr bestimmt und unzweideutig. Die
Größe des Übels eines solchen Betragens aber wird sich um so
besser herausstellen, wenn wir die Ursache erforschen und
die Folgen ein wenig beleuchten.
Die Triebfedern oder Motive, zufolge deren ein Kind Gottes
auf solchem Pfade wandelt, sind denen, durch die es sich
hätte lassen sollen leiten, stets entgegengesetzt. Meistens sind
Hochmut, Ehrgeiz, Habsucht und Weltförmigkeit die Ursachen solcher betrübenden Erscheinungen. In der Tat, mancher
Christ, der unter Schulden seufzt, hat vielleicht nie recht seine
Augen gerichtet auf die Stelle: „Der Wandel sei ohne Geldliebe, begnüget euch mit dem, was vorhanden ist; denn er hat
gesagt: Ich werde dich nicht versäumen, noch dich verlassen,
so daß wir kühn sagen dürfen: Der Herr ist mein Helfer ... "
(Hebr 13, 5. 6.) Wenn Ihr nun durch Anleihen in Schulden
geratet, beweist Ihr dadurch, daß Ihr Euch mit dem begnügt,
was vorhanden ist, und daß Ihr an die Verheißung glaubt:
204
Ich werde dich nicht versäumen . . ."? Zeigt Ihr, daß Ihr
kühn sagen dürft, daß der Herr Euer Helfer ist, und daß
Euer Herz in dieser köstlichen Wahrheit lebt? Ist Euer Betragen nicht im Gegenteil ein Beweis, daß Ihr Gott nicht vertraut und daß sich Euer Herz in dem Maße von Ihm abwendet, wie es sich auf den Arm des Fleisches stützt und dem
Menschen vertraut?
Warum werden überhaupt so oft Anleihen oder Schulden gemacht? Weil man mit der Lage, in der man sich befindet,
nicht zufrieden ist, und weil man bemüht ist, herauszukommen, und in bessere Verhältnisse zu gelangen, indem man
auf hohe Dinge sinnt, anstatt sich zu dem Niedrigen zu
halten. Ist das die Gesinnung, die den Jünger Dessen ziert,
der Sich Selbst zu Nichts machte und Sich bis zum Tode am
Kreuze erniedrigt hat, und der sanftmütig und von Herzen
demütig war? Heißt das in den Fußstapfen des Jesus wandeln, der auf dieser Erde arm und verachtet war, der nur eine
Krippe und ein Kreuz auf Erden besaß, und der uns auffordert, zu leben und zu wandeln, wie Er Selbst gelebt und gewandelt hat? Ach, für viele Christen würde jetzt noch das
Wort passen, welches Jehova einst zu Baruch redete: „Und du,
du trachtest nach großen Dingen für dich? Trachte nicht danach! Denn siehe, ich bringe Unglück über alles Fleisch, spricht
Jehova; aber ich gebe dir deine Seele zur Beute an allen Orten, wohin du ziehen wirst." (Jer 45, 5.) Und ebenso passend
würden die an den ehrgeizigen, geldgierigen Gehasi gerichteten Worte des Propheten Elisa sein, der sagte: „Ist es Zeit,
Silber zu nehmen und Kleider zu nehmen, und Olivenbäume
und Weinberge, und Kleinvieh und Rinder, und Knechte und
Mägde?" (2. Kön 5, 26.) O, wie selten findet man es bewahrheitet, was einmal jemand durch die Worte ausdrückte: „Lieber wollte ich eine Bildsäule von Marmor im Wege des Gehorsams sein, als die größten Taten auf Kosten des kleinsten
Teiles des Wortes Gottes tun."
Wenn man einwendet, daß man doch etwas zum eigenen und
zum Unterhalte der Seinigen unternehmen müsse, so räume
ich dieses gerne ein. Denn Gott Selbst gebietet uns allen, zu
arbeiten und mit unseren eigenen Händen zu tun, was gut
ist — und dieses nicht allein, um für unseren Unterhalt zu
205
sorgen, sondern auch damit wir imstande sind, dem Dürftigen
mitzuteilen. (Eph 4, 28.) Handelt es sich um gemeinschaftliche
oder private Unternehmungen, seien sie zur Verbreitung des
Evangeliums oder zu Wohltätigkeitszwecken, oder handelt es
sich um persönliche Pläne, die nur unser zeitliches Wohl zum
Zweck haben, so laßt uns wohl daran denken, daß, wenn wir
solches tun sollen, Gott auch die Mittel dazu darreichen wird.*)
In dieser Hinsicht sagt Er zu uns, wie einst zu Gideon: „Gehe
hin in dieser deiner Kraft." (Ri 6, 14.) Mit der Kraft, mit den
von Ihm dargereichten Mitteln, und mit nichts anderem dürfen wir vorwärtsgehen. Weitergehen heißt sich in Schulden
begeben, mithin in die Sünde einlassen, indem man das Wohlergehen auf einem Wege sucht, auf dem Gott nicht mit uns
sein kann und wo wir Seinen Segen weder erlangen noch
erwarten können, einen Segen, der reich machen kann, ohne
irgendwelches Tun von unserer Seite. (Spr 10, 22.) Brüder,
ehe Ihr daher ein Haus oder einen Garten kauft, ehe Ihr
irgendein Unternehmen, ob groß oder klein, beginnt, richten
wir an Euch die Bitte, daß Ihr Euch hinsetzen und vor Gott
die Ausgaben überschlagen möchtet, um zu sehen, ob Ihr
imstande seid, das Unternehmen ausführen zu können, und
ob Euch Gott Erlaubnis dazu gegeben hat. Den Kindern dieser Welt mag es wohl auf einem entgegengesetzten Wege gelingen, sich Reichtümer und Schätze zu erwerben; sie kennen
Gott nicht; sie haben ihre Güter in dieser Welt und leben in
Ungewißheit und Unglauben in betreff des Willens Gottes;
und sie stehen daher in dieser Beziehung nicht auf gleichem
Boden der Verantwortlichkeit mit den Kindern des Lichts.
Aber ach, wie viele Christen machen auf diesem Wege der
Untreue die traurigen Erfahrungen, die das Wort Gottes bezeichnet: „Die aber reich werden wollen, fallen in Versuchung
und Fallstrick und in viele unvernünftige und schädliche Lüste,
welche die Menschen versenken in Verderben und Untergang!"
(1. Tim 6, 9.) Wie viele, die Reichtümer suchten, sind vom
Glauben abgeirrt und haben sich selbst mit vielen Schmerzen durchbohrt! (V 10.)
Geliebte Brüder! möchte es Euch in Gnaden geschenkt wer-
*) Der Christ sollte stets verstehen, daß alles, was in Sachen dieses Lebens
nicht möglich ist, auch nicht nötig ist.
206
den, diesen Fallstricken auszuweichen; sie enden nur zu oft
mit schmählichem Ruin, durch den der Name des Herrn der
Verachtung preisgegeben und das Evangelium von vielen verlästert wird, welche, weil sie größere oder kleinere Verluste
erlitten, sich um solcher Skandale willen von der Wahrheit
abwenden, während ein reiner und treuer Wandel die Lehre
unseres Heilandes Gottes geziert haben würde. Darum, mögt
Ihr Arbeiter, Diener, Angestellte sein, bleibt in Eurer wenn
auch noch so bescheidenen Lage, in die Gott Euch gestellt hat,
und verlaßt sie nicht eher, als bis Gott Euch die Tür öffnet,
um heraustreten zu können. Wenn Euch andererseits Eure
Stellung nötigt, Schulden zu machen, so ist das wohl ein
sicheres Zeichen, daß diese Stellung nicht Gott gemäß ist, und
daß Ihr so bald wie möglich herausgehen sollt. Denn es kann
nicht der Wille Gottes sein, in einer Lage zu verharren, die
Euch einen Anlaß zur Sünde bietet. Nur wenn jemand mit
Gott in seiner Stellung ist, soll er darin ausharren. (1. Kor
7, 24.) Sobald das Gewissen die Gefahr erkennt, ist es nötig
auszugehen, so wie Petrus weinend aus dem Hof des Hohenpriesters trat. Und sollte trotz dieser Umstände Eure Stellung,
Euer Geschäft ein Gegenstand sein, an dem in hohem Maße
Euer Herz hängt, so ist das ein Grund mehr, diesem für Eure
Seele so gefährlichen Fallstrick zu entfliehen und ohne Rückhalt dem Gebote des Herrn zu gehorchen: „Wenn dein Auge
dich ärgert, so wirf es weg. Es ist dir besser, einäugig in das
Reich Gottes einzugehen, als mit zwei Augen in die Hölle
des Feuers geworfen zu werden." (Luk 10, 47.) Sagt Ihr aber:
„Ich muß warten, bis Gott mir zeigt, was ich zu tun habe", —
so antworte ich Euch: „Ihr seid auf einem Wege der Sünde;
Ihr braucht kein Zeichen des Willens Gottes; denn sein Wille,
den ihr kennen solltet, ist, daß ihr nicht mehr sündigt."
„Aber", bemerkt jemand, „wenn ich meine Stellung aufgebe,
so weiß ich nicht, was ich anfangen soll." Ich antworte: „Fange
damit an, das Böse zu lassen. Das ist es, was der Herr zu
allererst von dir fordert; und hast du diesen unvermeidlichen
Schritt getan, so wird er dir sicher beistehen, den folgenden
tun zu können. Vertraue ihm, wandele im Glauben, d. h. ohne
zu wissen, wohin du gehst. Auf diese Weise wirst du, von dir
selbst befreit, von oben geführt und geleitet werden."
207
Überdies begnügt Euch mit Eurer irdischen Lage, wenn sie,
wie sie sonst auch sein mag, Euch das tägliche Brot verschafft.
Vielleicht könnte Euer Geschäft durch Verbesserungen und
Vergrößerungen, durch den Ankauf eines Gebäudes, eines geeigneten Instruments oder durch den Anbau einer Maschine
mit größerem Vorteil und Gewinn betrieben werden. Und
sicher steht Euch, wenn Ihr die Mittel zur Beschaffung und
Einrichtung dieser Dinge besitzt, nichts im Wege, frei zu
handeln. Wenn Ihr aber zu diesem Zweck Geld aufnehmen,
d. h. eine Schuld machen müßt, so seid versichert, daß Euer
Handeln in dieser Weise nicht nach Gottes Willen ist. Lernt
es vielmehr, diese Dinge zu entbehren, stille zu sein und zu
warten. Laßt Euch durch die trostreichen Wahrheiten der folgenden Stellen leiten: „Vertraue auf Jehova und tue Gutes;
wohne im Lande und weide dich an Treue; und ergötze dich
an Jehova: so wird er dir geben die Bitten deines Herzens.
Befiehl Jehova deinen Weg und vertraue auf ihn! und er wird
handeln. . . Besser das Wenige des Gerechten, als der Überfluß vieler Gesetzlosen. . . Ich war jung und bin auch alt
geworden, und nie sah ich den Gerechten verlassen, noch
seinen Samen nach Brot gehen. . . Achte auf den Unsträflichen und sieh auf den Aufrichtigen; denn für den Mann des
Friedens gibt es eine Zukunft." (Ps 37, 3—5. 16. 25. 37.)
„Die Gottseligkeit aber mit Genügsamkeit ist ein großer Gewinn; denn wir haben nichts in die Welt hereingebracht, so
ist es offenbar, daß wir auch nichts hinausbringen können.
Wenn wir aber Nahrung und Kleidung haben, so wollen wir
uns daran genügen lassen." (1. Tim 6, 6—8.) „Die leibliche
Übung ist zu wenigem nütze; die Gottseligkeit aber ist zu
allen Dingen nütze, indem sie die Verheißung hat des jetzigen
und des zukünftigen Lebens." (1. Tim 4. 8.) „Vertraue
auf Jehova mit deinem ganzen Herzen, und stütze dich
nicht auf deinen Verstand. Erkenne ihn auf allen deinen
Wegen, und er wird gerade machen deine Pfade. — Sei nicht
weise in deinen Augen, fürchte Jehova und weiche vom Bösen."
(Spr 3, 5-7.)
Ja, glückselig der, welcher sich so seinem Gott und Vater anvertraut, und dem es am Herzen liegt, Ihm wohlgefällig zu
sein und Seinen Willen zu tun. Wie viele Mühen, Sorgen,
208
Prüfungen und Schmerzen erspart er sich, wenn er mit Gott,
Gott gemäß und in Seiner Nähe wandelt, wenn er sich in den
Schwierigkeiten nur auf Ihn stützt und in der Not seine Zuflucht nur zu Ihm nimmt. Er mag arm, von allem entblößt,
krank und traurig sein, gewiß, das ist das Los, das der Herr
auf dieser Erde den Treuen verheißen hat; aber in dieser Lage
und trotz ihrer kann er im Herrn glücklich sein, Seinen unaussprechlichen Frieden genießen und ohne Sorge sein, weil er das
Bewußtsein hat, daß sein himmlischer Vater alle seine Bedürfnisse besser kennt, als er selbst, und daß er mächtig und
barmherzig ist, um ihnen nach dem Reichtum Seiner Gnade
zu begegnen. Der, welcher Seinen eigenen Sohn für ihn gegeben hat, wird ihm sicher auch das darreichen, was er in dieser Wüste braucht. Er unterwirft sich daher ohne Zögern dem
Gebot des Herrn: „Seid nicht besorgt für das Leben, was ihr
essen, noch für den Leib, was ihr anziehen sollt. . . . euer
Vater aber weiß, daß ihr dieses bedürfet. Trachtet jedoch
nach seinem Reiche, und dieses wird euch hinzugefügt werden." (Luk 12, 22. 30.) Es gibt in der Tat in den schwierigsten Verhältnissen, denen der wahrhaft treue Christ begegnet,
gar nichts, das seine Gemeinschaft mit dem Vater und dem
Sohn trüben oder unterbrechen könnte, nichts, was ihn hindern kann, sich mit völliger Zuversicht an Gott zu wenden
und alle Sorge auf Ihn zu werfen. O, welch ein Glück, vvenn
das Wort zur praktischen Wahrheit wird: „Daher sollen auch
die, welche nach dem Willen Gottes leiden, einem treuen
Schöpfer ihre Seelen befehlen im Gutestun." (1. Petr 4, 19.)
Darum glückselig alle, die den Weg des Glaubens und des
Gehorsams wandeln, einen Weg, der, was auch geschehen
mag, stets mit Segen erfüllt ist! Welche Freude für ihr Herz,
wenn sie, nachdem sie ihr Anliegen vor den Vater gebracht
haben, Seine Durchhilfe zur Zeit der Not erfahren und in
praktischer Weise mit Jesu sagen lernen: „Jehova ist mein
Hirte, mir wird nichts mangeln!" (Ps 23,1.)
Doch sicher kann dieses nicht von denen gesagt werden, die
sich durch Unglauben, Ehrgeiz, Verweltlichung zur Sünde des
Schuldenmachens, des Handeltreibens und des Wohllebens
mit dem Gelde anderer verleiten lassen. Solche sind vielmehr
vom Wege des Glaubens und des Gehorsams abgewichen und
209
können mithin nicht auf Gott rechnen und sich Ihm nicht anvertrauen, um aus einer Not herauszukommen, in die sie sich
durch das Tun ihres eigenen Willens, ohne den Rat des Herrn
gesucht zu haben und im Widerspruch mit Seinem Willen,
hineingestürzt haben. Jeder aufrichtige Christ, dessen aufgewecktes Gewissen ihm zeigt, daß er auf einem Wege der
Sünde ist, wo er nicht im Lichte mit Gott wandeln kann, wird,
wie demütigend und mit welchen Verlusten es auch begleitet
sein mag, ohne Zögern eine Stellung verlassen, die für seine
Seele ein Fallstrick ist. Wenn er diesen Entschluß nicht faßt
und bald zur Ausführung bringt, so werden die traurigsten
Folgen unausbleiblich sein. Folgt er nicht den Mahnungen
seines Gewissens, so stumpft er sich allmählich ab und wird
schließlich so verhärtet sein, daß sein Gewissen alle Empfindlichkeit verliert. Ach! leider kommt es oft so weit, daß man
Christen sieht, die in der eitlen Hoffnung, sich aus ihren
Verlegenheiten herauszuziehen, und ohne in Wirklichkeit
ihrem bösen Wege entsagen zu wollen, nicht selten zu eben
nicht ehrbaren Mitteln greifen, zu denen selbst Weltmenschen
sich scheuen würden, ihre Zuflucht zu nehmen. So z. B. bildet
sich vielleicht mancher ein, daß, wenn er Brüder zu Gläubigern
habe, es nicht nötig sei, seine Schulden zu bezahlen; man
verspricht und hält nicht Wort; man sucht sich und andere
über seinen Zustand dadurch zu täuschen, daß man die Ausgaben, anstatt zu beschränken, nur noch vermehrt; man macht
am Vorabend eines Bankerotts noch Einkäufe, oder man
nimmt Geld auf mit der Verpflichtung, es in kurzem zurückzuzahlen. So ruft eine Schlechtigkeit die andere hervor. Aber
welch ein Leben voll Schande und Abscheu! — ein Leben,
dem oft erst die menschliche Gerechtigkeit ein Ziel setzen
muß.
So weit, ach! kann der Gläubige auf diesem schlüpfrigen Abhang vorwärtsgleiten, sobald er sich ohne Gewissensskrupel
erlaubt, Schulden zu machen und sein Geschäft größer zu
betreiben, als Gott ihm dazu Mittel darreicht. Manche mögen
sagen: „Diese Worte sind hart!" Aber Gott ist unser Zeuge,
daß wir sie in einem Geiste aufrichtiger Liebe zu den Brüdern
niedergeschrieben haben, und zwar mit dem aufrichtigen
Wunsche, daß das Gewissen etlicher überführt, und daß die
210
ehrgeizigen Neigungen des Sichhervortuns in dieser Welt,
das Verlangen nach Reichtum, der Geist der Unzufriedenheit
und der Ungenügsamkeit, sowie das leichtsinnige Überschreiten der Grenzen der Wahrheit und der Rechtschaffenheit
aus unserer Mitte entfernt werden möchten. Würden diese
Zeilen einen einzigen Bruder, der etwa aus Unwissenheit und
in guter Absicht auf diesen gefährlichen Weg geraten ist, in
seinem Laufe aufhalten und ihn, ehe das Übel den höchsten
Grad einnimmt, zur Umkehr bestimmen, so werden wir den
Herrn dafür preisen, so wie wir jetzt den Segen von Ihm zu
diesen Ermahnungen erbitten.
Es gibt oft wohlhabende, ja reiche Christen, die es aus Gleichgültigkeit und Vergeßlichkeit versäumen, die kleinen Forderungen ihrer Lieferanten oder Arbeiter sogleich zu bezahlen.
Wir finden dieses höchst tadelnswert. Dies ist der wahren
Liebe völlig zuwider und zeugt von einem Mangel an Teilnahme für die, welche berufen sind, von ihrer Hände Arbeit
zu leben. Diese Handlungsweise, ich scheue es nicht, sie barbarisch zu nennen, findet man leider oft bei sonst sehr freigebigen Leuten, die für wohltätige Zwecke ihren Beutel weit
zu öffnen wissen. Wir würden ihnen sagen: „Das eine sollte
getan und das andere nicht unterlassen werden"; — oder:
Bevor Ihr schenktet, solltet Ihr bezahlen, was Ihr schuldig
seid; denn da Ihr Euch nie in die Verhältnisse des armen
Arbeiters hineingelebt habt, so wißt Ihr nicht, wie viele Arbeit, wie viele Sorge, wie manches Murren vielleicht durch
Eure Nachlässigkeit im Bezahlen in sein Haus gebracht wird.
Wenn er für das Brot der Seinigen darauf gerechnet hatte,
wenn er dadurch genötigt worden wäre, selbst eine Schuld zu
machen, hättet Ihr dann nicht grausam gehandelt? Könnte
es nicht eine Ursache sein, sich gegen Den zu erbittern, der
nur in seine Tasche zu greifen oder einen Wechsel zu schreiben braucht, um ihm das zu verschaffen, was ihm von Rechts
wegen zukommt? Wäre unter unseren Lesern nur ein einziger Bruder, der diese gottlose Gewohnheit etlicher der Reichen dieser Welt beibehalten hätte, so erinnern wir ihn daran, daß Gott, der von den Umständen der Armen Kenntnis
nimmt, einst Seinem Volke die Vorschrift gab: „Du sollst nicht
bedrücken den dürftigen und armen Mietling von deinen
211
Brüdern oder von deinen Fremdlingen, die in deinem Lande,
in deinen Toren sind. An seinem Tage sollst du ihm seinen
Lohn geben, und die Sonne soll nicht darüber untergehen,
denn er ist dürftig, und er sehnt sich danach: damit er nicht
über dich zu Jehova schreie, und Sünde an dir sei." (5. Mo
24, 14—15.) Und wiederum: „Sage nicht zu deinem Nächsten:
Gehe hin und komme wieder, und morgen will ich dir geben,
da es doch bei dir ist." (Spr 3, 28.) Die Jünger, die Befreiten
des Herrn Jesu, sollten sie weniger barmherzig sein, als die
Knechte unter dem Gesetz?
Man erlaube uns, hier noch die Worte eines teuren englischen
Bruders anzuführen — Worte, die er in betreff der Schuldenfrage an zwei seiner Freunde schreibt:
„Meine Meinung ist" — sagt er — „daß in der Regel die
Christen gar keine Schulden machen sollten. Die Worte:
„Seid niemanden irgend etwas schuldig" enthalten eine so
klare Vorschrift, daß selbst ein Tor sich nicht darüber täuschen
könnte. Wir wollen hier nicht untersuchen, inwieweit die Geschäftsleute dieser heiligen Regel nachkommen können. Es
gibt Termine, an denen der Fabrikant dem Großhändler und
dieser dem Kleinhändler verkauft und ihm einen Kredit von
bestimmten Monaten bewilligt. Solange diese Termine gewissenhaft beobachtet werden, ist es schwer zu beurteilen,
ob und in welchem Grade jemand zu einer bestimmten Zeit
in Schulden ist. Jedoch wäre es nach unserer Meinung für
den Geschäftsmann weit besser und sicherer, wenn er bar
bezahlen würde. Jedenfalls aber liegt es außer jedem Zweifel,
daß der in Schulden ist, dessen Handelsfonds und das, was
man ihm schuldet, nicht genügen, um die eingegangenen Verbindlichkeiten hinreichend decken zu können. Es ist ein elendes, falsches, sittenloses und verabscheuungswürdiges Ding,
mit einem scheinbaren Kapital Handel zu treiben, nach allen
möglichen Auskunftsmitteln zu haschen und auf Unkosten
seiner Gläubiger groß zu fahren."
„Dagegen haben Personen, die sich nicht mit dem Handel
beschäftigen, keinerlei Ausrede, um ihre Schulden zu rechtfertigen. Habe ich vor Gott und Menschen das Recht, einen
Rock oder einen Hut zu tragen, den ich nicht bezahlen kann?
212
Habe ich das Recht, einen Klafter Holz, einen Scheffel Kohlen, ein Pfund Kaffee oder Tee, oder ein Stück Fleisch zu
bestellen, wenn ich nicht imstande bin zu bezahlen? Man
fragt vielleicht: „Was dann machen?" Für einen geraden Sinn
und ein zartes Gewissen ist die Antwort einfach. Es ist viel
besser, zu entbehren, als Schulden zu machen. Es ist viel
besser, ein Stück trockenes Brot, das mein Eigentum ist, als
einen Braten, den ich schuldig bin, zum Mahl zu haben. Aber
ach! wie wenig Gewissenhaftigkeit und welch einen Mangel
an gesunden Grundsätzen findet man in dieser Beziehung!
Wie viele gehen von Woche zu Woche ihren Weg, nehmen
Platz am Tische des Herrn, legen mit ihren Lippen ein lautes
Bekenntnis von ihrem Christentum ab, prahlen mit schönen
und heiligen Grundsätzen und sind dabei bis über ihre Ohren
in Schulden, machen Einkäufe, die ihr Einkommen weit übersteigen, kaufen Nahrung und Kleidung auf Kredit bei Leuten, die Zutrauen zu ihnen haben, und dies alles, obwohl sie
sehr gut wissen, daß sie keine begründete Hoffnung haben,
ihre Schulden früher oder später abtragen zu können. Ist solch
ein Leben nicht schändlich und strafbar? In der Tat, wir
nehmen keinen Anstand, ein solches Betragen für eine praktische Gottlosigkeit zu erklären. Wir warnen daher unsere
christlichen Leser vor einem nachlässigen Wandel in dieser
Beziehung, dessen Folgen viel Schmach auf das Evangelium
bringen."
„Der Mangel an Gewissenhaftigkeit in bezug auf diesen ernsten Gegenstand ist in der Tat verabscheuungswürdig; ohne
Zweifel muß dadurch der Geist Gottes betrübt und in der
Seele Schwachheit, Furchtlosigkeit und Siechtum hervorgerufen werden. Wir glauben nicht, daß das Wort des Christus in
jemand wohne, der sich über seine Schulden kein Gewissen
macht, und wir würden uns berufen fühlen, einen solchen
anzuzeichnen und keinen Umgang mit ihm zu haben. (2. Thess
3, 14.) Nach unserer Meinung würde in solchen Fällen eine
treue, persönliche Zucht gute Wirkung haben. Alle, die in
Konkurs geraten sind, oder mit ihren Gläubigern akkordiert
haben, halten wir für moralisch verpflichtet, die ganze Summe
ihrer Schuld zurückzuzahlen; nach unserer Meinung haben
sie Schulden, bis alles gedeckt ist. Keinerlei gerichtliche Aus_-
213
nähme kann je einen wirklich rechtlichen Mann von der gerechten Verantwortlichkeit, alles zu bezahlen, entbinden. Wir
fühlen uns gedrungen, uns so bestimmt über diesen Punkt auszusprechen, wegen der bedauernswerten Nachlässigkeit, die
in dieser Beziehung unter vielen bekennenden Christen
herrscht. Wir wünschen daher, daß der Herr all den Seinen
ein waches Gewissen verleihen möge. Allerdings kann jemand
ohne seine Schuld in Schulden geraten; hat er aber einen
geraden Sinn und ein gesundes, geübtes Gewissen, so wird
er sich sicher anstrengen, um herauszukommen; er wird so
viel wie möglich seine Ausgaben beschränken und sich allerlei
Entbehrungen auferlegen, um seine Schuld bis auf den letzten
Heller zurückzahlen zu können, indem er alles, was er dazu
ersparen kann, und wäre es auch nur ein Zehngroschen stück
per Woche, beiseitelegt."
„Der Herr gebe uns Gnade, diese wichtige Frage mit allem
Ernst, den sie verdient, zu betrachten. Sicher wird die Sache
Christi auf eine bedauernswürdige Weise verunehrt, und das
Zeugnis der Christen geschwächt durch einen so scharf hervortretenden Mangel an Gewissenhaftigkeit und Rechtlichkeitsgefühl bezüglich des leichtfertigen Schuldenmachens und des
Verharrens auf diesem Wege. Wie sehr ist es zu wünschen,
daß wir alle ein gutes Gewissen haben."
*
So lauten die Worte jenes Bruders. Bevor wir jedoch unseren
Gegenstand verlassen, möchten wir noch gern einige Worte
an eine andere Klasse von Christen richten. Man wird sagen
und man hat auch schon gesagt: „Wenn es aber einem Bruder
untersagt ist, Geld aufzunehmen oder zu entlehnen, wird es
aus diesem Grunde nicht auch anderen Brüdern untersagt sein,
an jene Gelder auszuleihen?" Dieser Einwurf, obwohl der
menschlichen Logik völlig entsprechend, ist nichtsdestoweniger,
wie dies gewöhnlich der Fall ist, im Widerspruch mit den
deutlichsten Belehrungen des Wortes Gottes. Selbst die uns
vorliegende Stelle: „Seid niemandem irgend etwas schuldig",
— enthält die Beifügung: „als nur, daß ihr einander liebet."
214
Diese Schuld der Liebe nun, von der wir uns nie freimachen
können, besteht offenbar auch darin, daß wir unseren Brüdern in der Not mit dem Unsrigen Handreichung tun sollen,
sei es durch Geschenktes oder durch Geliehenes. Dies bestätigen
eine Menge biblischer Unterweisungen, von denen wir hier
etliche anführen werden. Wir lesen ausdrücklich: „Der Gesetzlose borgt und erstattet nicht wieder; der Gerechte aber ist
gnädig und gibt. . . . Den ganzen Tag ist er gnädig und
leiht, und sein Samen wird gesegnet sein." (Ps 37, 21. 26.)
„Wohl dem Manne, der gnädig ist und leiht! Er wird seine
Sachen durchführen im Gericht." (Ps 112, 5.) Und was sagt
der Herr Jesus Selbst in bezug auf diesen speziellen Punkt
der brüderlichen Liebe? Wir lesen: „Gib dem, der dich bittet,
und weise den nicht ab, der von dir borgen will." (Mt 5, 42.)
Und wiederum: „Und wenn ihr denen leihet, von welchen ihr
wieder zu empfangen hofft, was für Dank ist es euch? Denn
auch die Sünder leihen Sündern, auf daß sie das Gleiche wieder
empfangen. Doch liebet eure Feinde, und tut Gutes und leihet,
ohne etwas wieder zu hoffen, und euer Lohn wird groß sein,
und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen
die Undankbaren und Bösen. Seid also barmherzig, wie auch
euer Vater barmherzig ist." (Lk 6, 34—36.) Dieses alles bedarf
wohl keiner Erklärung, um es dem Gewissen eines aufrichtigen Jüngers nahezubringen.
Und wir können noch auf einen mächtigeren Beweggrund zur
christlichen Freigebigkeit hinweisen, nämlich auf den, welchen
Paulus den Gläubigen in Korinth vor Augen stellt, und zwar
bei Anlaß einer Kollekte für die Heiligen in Jerusalem, für
die nach Vermögen und über Vermögen beigesteuert worden
war. Er sagt: „Denn ihr kennet die Gnadeunseres Herrn Jesu
Christi, daß er^ da er reich waj^jjm euretwillen arm wurde,
auf daß ihr durch seine Armut reich würdet." (2. Kor 8, 9.)
Der Herr gebe uns allen ein zartes Gewissen und einen geraden Sinn! —
Messager evangelique.
215
Welches sind die Kinder der Weisheit?
Es gibt einen Zug, woran man die Kinder der Weisheit er
kennt, nämlich, daß sie die Weisheit rechtfertigen. So sagt
uns der Herr Jesus im siebten Kapitel des Lukas: „Und die
Weisheit ist gerechtfertigt worden von allen ihren Kindern."
(V 35.) In demselben Kapitel wird uns gesagt: „Und das
ganze Volk, das zuhörte, und die Zöllner rechtfertigten Gott,
indem sie mit der Taufe des Johannes getauft worden waren.
Die Pharisäer aber und die Gesetzgelehrten machten in bezug
auf sich selbst den Ratschluß Gottes wirkungslos, indem sie
nicht von ihm getauft worden waren." (V 29. 30.)
Hieraus lernen wir eine sehr einfache und kostbare Wahrheit,
nämlich, daß alle Kinder der Weisheit Gott rechtfertigen und
sich selbst verdammen. Dies ist der wahre Boden für jeden
Sünder. Auf diesem Boden stand Abel, als er Gott ein „besseres Opfer" darbrachte. Noah hatte ihn betreten, als er „eine
Arche bereitete zur Rettung seines Hauses." Hiob stand dort,
als er ausrief: „Siehe, bin ich zu gering." „Nun hat mein
Auge dich gesehen, darum verabscheue ich mich und bereue
in Staub und Asche." — Auf diesem Boden befand sich Jesaias, als er sagte: „Wehe mir! denn ich bin verloren; denn
ich bin ein Mann von unreinen Lippen." Es war die Stellung
Petri, als er ausrief: „Herr, gehe von mir hinaus, denn ich bin
ein sündiger Mensch!"
„Und was sage ich noch? Die Zeit würde mir fehlen", wenn
ich aufzählen wollte alle die Kinder der Weisheit, alle die
Glieder jener höchst gesegneten Generation, die freiwillig und
völlig den Ratschluß Gottes wider sich angenommen und sich
selbst als arme, schuldige, verdammungswürdige Sünder bezeichnet haben, die geleitet worden sind, um mit David zu
sagen: „Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt, und
ich habe getan, was böse ist in deinen Augen, damit du gerechtfertigt werdest, wenn du redest, rein erfunden, wenn du
richtest/' (Ps 51, 4; Röm 3, 4.)
Dieses ist die unveränderliche Sprache der Kinder der Weisheit. Sie verdammen sich selbst und rechtfertigen Gott. Sie
216
treten nicht mit Entschuldigungen auf; sie suchen sich weder
zu zieren, noch zu verbergen. „Nein, ich will bekennen", ist
der erste große Ausruf jedes wahren Kindes der Weisheit.
Und bevor diese Sprache aus dem Herzen dringt, kann da
nichts in Ordnung sein; bevor die Seele wirklich auf diesem
Boden steht, erhebt sich zwischen ihr und Gott eine unübersteigliche Schranke. Dieses erkannte David in seinen Tagen;
denn er sagt uns: „Da ich schwieg, verzehrten sich meine Gebeine durch mein Gestöhn den ganzen Tag. Denn Tag und
Nacht lastete auf mir deine Hand; verwandelt ward mein
Saft in Sommerdürre." (Ps 32, 3. 4.)
Und so wird es immer sein. Es wird kein Trost, keine Ruhe,
keine Segnung, kein Bewußtsein von Vergebung, kein Friede
und keine heilige Gemeinschaft mit Gott vorhanden sein können, wenn nicht vorher das Herz geöffnet ist und der Geist
wahrer Buße einen freien Lauf gefunden hat.
Was aber dann? Wie handelt Gott mit denen, die Ihn rechtfertigen und sich selbst verdammen? Sein Name sei gepriesen!
Er rechtfertigt sie und verdammt ihre Sünden. Wunderbare
Gnade! In dem Augenblick, da ich meinen Platz als ein mich
selbst anklagender Sünder einnehme, leitet Gott mich auf den
Platz eines gerechtfertigten Heiligen. Das Selbstgericht ist der
sichere Vorbote der göttlichen Rechtfertigung. Ich habe mich
nur als ein verdammungswürdiger Sünder anzuklagen; dann
kann ich alles übrige Gott überlassen. Die Kinder der Weisheit rechtfertigen Gott, und Gott rechtfertigt sie; sie verdammen sich selbst und Er vergibt ihnen.
Wie aber kann dieses stattfinden? Das Kreuz gibt die Antwort darauf. Dort verdammte Gott die Sünde. Dort wurde
Sein gerechter Zorn über die Sünde ausgeschüttet auf Den,
der zur Sünde gemacht war, damit Seine Gerechtigkeit dem
Sünder zugerechnet werde, der einfach an Jesum glaubt. Hier
ist es, wo die Kinder der Weisheit ihren Standpunkt einnehmen. Hier ist ihr gesegneter Ruheplatz — der unerschütterliche
und ewige Grund ihres Friedens.
Mein teurer Leser! Sage mir: Bist auch Du ein Kind der
Weisheit? Bist Du durch die Gnade geführt worden, Deine
Schuld zu sehen und sie vor Gott anzuerkennen? Hast Du
217
den Ratschluß Gottes wider Dich angenommen? Ist .dies der
Fall, dann kannst Du in demselben Augenblick Frieden finden in dem vollendeten Werk Christi und in der darauf gegründeten Gerechtigkeit Gottes. Das ist das gesegnete Teil
aller Kinder der Weisheit. —
Frieden durch Glauben
Ein Briefwechsel mit einer nach Frieden ringenden Seele
1. Der friede durch das Blut Jesu.
Meine teure Freundin!
Unsere gestrige Unterhaltung hat mir so recht die Schwierigkeit aufgedeckt, unter der Du Dich abmühst, Frieden zu erlangen. Du sagst: „Ohne Gott kann ich keinen Frieden haben; und Er muß wider mich sein, weil Er meiner Seele den
Frieden nicht zusagt." — Willst Du Deine Aufmerksamkeit
auf einige Bemerkungen richten, die ich Dir bezüglich dieses
Gegenstandes zu machen gedenke? Es ist völlig wahr, daß Gott
allein dem Gewissen Frieden zusagen kann; und ebenso wahr
ist es, daß die Abneigung unserer Herzen, dem Zeugnis Gottes zu glauben, so groß ist, daß nur Seine Macht und Gnade
dahin leitet oder fähig macht zu glauben. Aber schließe nicht
daraus, daß Gott mit einer hörbaren Stimme zu Dir reden,
oder Seinem Wort noch irgendeine neue Offenbarung beifügen werde, um durch solche unmittelbaren Eindrücke auf
Deine Gefühle Dich zum Glauben zu bringen. Nein, das ist
nicht der Weg Gottes. Er hat bereits zuvor, und zwar aufs
vollkommenste in Seinem Worte geredet; und „der Glaube
ist aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes
Wort". (Kön 10, 17.) Horche daher auf das, was Gott in
Seinem Wort sagt und vertraue Ihm dabei völlig, daß Er Dich
auch fähig machen wird, dieses Wort zu verstehen und anzunehmen.
218
In Apostgesch. 10, 36 liesest Du, daß Gott durch Jesum Christum Frieden verkündigt. Heißt das nicht „Frieden zusagen"
durch Sein gesegnetes Wort? Wenn Er Selbst den Frieden
verkündigt, kann da noch ein Zweifel obwalten, daß Er den
Frieden zusagt? Aber was heißt Frieden haben? Ich bin nicht
gewiß, ob wir uns hierin verstehen. Wenn Du darüber klagst,
daß Dir der Frieden fehlt so meinst Du das Gefühl des
inneren Friedens oder die Versicherung Deiner Vergebung und
Deiner Versöhnung mit Gott. So wünschenswert und wichtig
aber dieses Gefühl auch sein mag, so ist es doch nur eine
Wirkung des Friedens mit Gott durch unseren Herr Jesum
Christum, aber keineswegs der Friede selbst. Zunächst ist nun
für Dich nur das zu wissen nötig, was Gott in betreff dieses
Friedens selbst erklärt hat. Der Herr befähige mich, dieses
Deiner Seele so klar vorzustellen, daß die so sehnlich gewünschte Wirkung, das innere Gefühl des Friedens und der
Versöhnung mit Gott, dadurch hervorgerufen werde.
Du und ich, meine Freundin, wir beide haben gegen Gott
gesündigt. Von Natur sind wir Sünder; und hinter uns liegt
ein Leben der Sünde und der Empörung wider Gott. Jetzt
räumst Du dies ein, ja, Du fühlst und weißt es, daß es wirklich so ist, während Du es früher nicht erkanntest. Und hat
Gott nicht Ursache gehabt, über uns wegen unserer Sünde
zu zürnen? In der Tat, Er zürnt über die Sünde und haßt
sie mit vollkommenem Hasse. Aber wiewohl Er mit Recht
über unsere Sünde zürnt, so hat dennoch Seine Liebe uns
gesucht und Sein unendliches Erbarmen hat uns angesehen.
Er wollte nicht, daß wir die gerechten Folgen unserer Sünde
tragen sollten. Aber wie war dies möglich? Wie konnte der
gerechte Gott uns annehmen, solange wir noch in unseren
Sünden waren? Was konnten wir tun, um von der Sünde
loszuwerden oder Gottes gerechten Unwillen über sie abzuwenden? Nichts. All unser Tun war mit Sünde befleckt und
würde die Sache nur noch ärger gemacht haben. Als Du begannst, den Herrn ernstlich zu suchen, wirst Du dies selbst
erfahren haben. Irrten Deine Gedanken beim Lesen Seines
Wortes nicht unstet umher? Und hast Du nicht noch gestern
darüber geklagt, daß Du in Deinen Gebeten kaum Deinen
Geist fest auf das zu richten vermöchtest, was Gott in Seinem
219
Wort sagt? Kurz, wir vermögen nichts zu tun, was vor Gott
gebracht werden könnte; und wäre dies sogar von jetzt an
möglich, so würden dadurch unsere vergangenen Sünden nicht
beseitigt werden. Soweit also die Sache von uns abhängt, ist
sie hoffnungslos. Doch Gott liebte und suchte uns, um uns
Seines Heiles teilhaftig zu machen. Und da unsere Sünden
weder ungestraft bleiben konnten, noch wir uns von ihnen
zu befreien vermochten, so sandte Gott Seinen eingeborenen
Sohn als eine Sühnung für unsere Sünden, legte auf dem
Kreuz unsere ganze Schuld auf Ihn, und nachdem dieses
Werk vollbracht war, konnten die Ströme Seiner Gnade und
Liebe sich frei und ungehindert nach allen Seiten hin ergießen.
Gott mußte einen gerechten und heiligen Grund haben, auf
dem Er uns vergeben, uns erretten und uns ungeachtet unserer
Sünden in den Himmel aufnehmen konnte; und diesen Grund
fand Er in dem Tode Jesu, im Vergießen Seines Blutes für
die Sünde. Auf diese Weise hat Jesus „Frieden gemacht"
durch das Blut Seines Kreuzes. Das aber ist nicht etwas, was
noch geschehen soll; es ist eine vollendete Tatsache. So wahr
wie Gott wahrhaftig ist, so wahr hat der Herr Jesus Christus
„Frieden gemacht durch das Blut Seines Kreuzes"; (Kol 1, 26.)
und auf diese Weise verkündigt Gott „Frieden durch Jesum
Christum". —
Erzogen von gottesfürchtigen Eltern, hast Du frühe die Bibel
gelesen und das Evangelium gehört; und Du standest daher
äußerlich weit näher, als viele offenbar gottlose Menschen.
Aber wie nahe Du äußerlich gewesen sein magst, so bist Du
doch jetzt völlig überzeugt, daß Du wirklich innerlich von Gott
getrennt warst. Dir nun verkündigt Christus Frieden, den
Frieden mit Gott durch das Vergießen Seines kostbaren Blutes. Gott erklärt, durch dieses Blut befriedigt und völlig gerechtfertigt zu sein, wenn Er Dich und mich in Gnaden annimmt.
Ist das nicht genug? Was Gott rechtfertigt, um uns zu rechtfertigen, reicht sicherlich hin, unsere Herzen zu befriedigen
und unsere Gewissen vor Gott zu stillen. Allerdings braucht
die Seele einen festen Grund zu ihrem Ruhepunkt; aber was
könnte fester sein, als das Wort Gottes? So wahr wie Gott
wahrhaftig ist, so wahr ist es, daß wir Sünder sind, und daß
Er die Sünde haßt und sie bestrafen muß; aber ebenso wahr
220
ist es auch, daß Er uns liebte, da wir nodi Sünder und Feinde
waren. Er liebte uns; und um uns zu Seinen Kindern zu haben, die ewig bei Ihm wohnen sollten, gab Er Christum hin,
daß Er an unserer Statt für unsere Sünden sterbe. Gott ist
durch das völlig zufriedengestellt, was Christus um Deinetund meinetwillen am Kreuz erduldet hat. Und dieses bestätigt
Er in Seinem Wort und ladet Dich ein, Dich in Seine erbarmenden Arme zu werfen, um ewiglich zu leben. Darum eile
zu Ihm! Sage Ihm, daß Du nicht länger an Seinem Worte
zweifeln und Seine Liebe in Frage stellen wollest! Erinnere
Ihn daran, daß, obwohl Du nichts als die Hölle verdient habest, Er durch das Werk Jesu befriedigt zu sein versichere,
und daß auch Du zufrieden sein wollest mit demselben seligen Platz der Begegnung zwischen Gott und Dir. Anstatt noch
länger zu zweifeln, zu fürchten oder zu fragen, siehe, wie Gott
befriedigt ist durch das, was Christus um Deinetwillen am
Kreuze erduldet hat. Bedenke doch, wie schrecklich es ist, zu
zweifeln, daß dieses völlig genüge, und rufe Ihm zu: „Herr,
es ist genug! Ich bin eine Sünderin; aber Christus ist für
Sünder gestorben!" —
Und darin verharre, meine teure Freundin. Fühlst Du auch
nicht sofort eine Veränderung, so halte dennoch fest an dem
Grunde. Gott Selbst sagt in Seinem Worte, daß das Blut Christi allgenügend ist und Frieden mit Ihm für den Sünder gemacht hat. Nur auf diesem Grunde findet die Seele Ruhe. Oder
sollte Er es als ein Unrecht bezeichnen, wenn Du Seinem eigenen Worte und dem Blute Christi Vertrauen schenkst? „Und
in diesem wird jeder Glaubende von allem gerechtfertigt."
(Apg 13, 39.) Also in Jesu ruhen, Ihm vertrauen, befriedigt
sein durch Sein Blut, das heißt glauben.
Dein aufrichtiger Freund.
2. Laß den Zweig fahren!
Meine teure Freundin!
Dein Brief war mir sehr willkommen und ich danke Gott von
Herzen für jeden Strahl des Trostes, den Er Deinem gedrückten und beunruhigten Geist zuteil werden läßt. Ich glaube
Dich zu verstehen, wenn Du über die „Hartherzigkeit" und
221
über jenes Gefühl klagst, wovon Du sagst: „Mir ist es oft,
als wollte mir das Herz brechen; und sicher nur die, die es
durchgemacht haben, können begreifen, wie elend es ist zu
fühlen, daß es eine offene Quelle gibt, aus der man nach
Belieben schöpfen könnte, daß aber noch etwas im Wege ist,
das die Seele zurückhält." — Aber ich rate Dir zu bedenken,
daß diese unglücklichen Gefühle nichts wert sind, daß der
Unglaube ihre Quelle ist, und daß sie daher nicht allein bitter
und schmerzlich, sondern ihrer Natur nach wirklich sündhaft
sind. Gott will, daß wir Seinem Wort glauben, worin Er
erklärt, daß Seine Liebe zu uns so groß war, daß Er Seines
eingeborenen Sohnes nicht geschont hat, sondern Ihn dahingab, damit wir durch den Glauben an das kostbare Blut Jesu
der Vergebung zum ewigen Leben und der Kindschaft teilhaftig würden. Er sagt Dir in Seinem Wort, daß, sobald der
verlorene Sohn sein Angesicht und seine Schritte zum Vaterhause wandte und noch ferne war, sein Vater ihn sah und
innerlich bewegt wurde, und daß er ihm entgegenlief, ihm
um den Hals fiel und ihn sehr küßte. Und war der Vater
in diesem Gleichnis etwa freundlicher und gütiger, als es der
Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi ist? Erzählt denn
nicht der Herr Jesus Selbst dieses Gleichnis in der Absicht,
uns zu zeigen, welch einen Vater Er hat, und mit welcher
Freude der Vater jeden Sünder aufnimmt, der zu Ihm kommt?
Zweifle daher nicht einen Augenblick länger, sondern glaube
doch dem Zeugnis Gottes über Seinen Sohn.
Ich wünschte, ich könnte Dir einen Bericht von einer Dame in
Schottland treu wiedergeben, um Dir zu zeigen, auf welche
Weise ihre Unruhe und ihr Zweifel von ihr genommen wurden. Es war zur Zeit einer Erweckung, als mehrere Bekannte
dieser Dame zu Christo bekehrt wurden. Unter anderen war
auch eine ihrer besten Freundinnen bekehrt worden. Da sie
sich selbst um ihr Seelenheil bekümmert fühlte, ging sie zu
einem Diener Christi, der gerade dort wirkte, und teilte ihm
mit, daß sie sehr unglücklich sei. Er erwiderte, daß er sich sehr
freue, dies zu hören. Erstaunt darüber und einigermaßen beleidigt, teilte sie ihm mit, welche Versuche sie gemacht habe,
um die Seligkeit zu erlangen, wie sie gelesen und gebetet habe;
und dennoch fühle sie sich vom Frieden mehr entfernt als je.
222
Er sagte ihr, daß sie nicht durch irgendein Werk von ihrer
Seite errettet werden könnte, sondern nur durch das Werk,
das Christus schon lange am Kreuz vollbracht habe. Doch alles
erschien ihr dunkel und unverständlich; und traurig ging sie
zu ihrer Freundin, die erst vor kurzem bekehrt worden war.
„Was hast Du getan, um Frieden zu erlangen?" fragte sie.
„Getan? Ich habe nichts getan", war die Antwort, „sondern
ich habe Frieden gefunden in dem, was Christus getan hat." —
Die Dame erwiderte, daß der Prediger ihr gerade dasselbe
gesagt habe, daß sie es aber nicht verstehen könne. Noch
trauriger als vorher kehrte sie nach Hause zurück, schloß sich
in ihr Zimmer ein, fiel auf die Kniee und nahm sich vor, nicht
eher wieder aufzustehen, als bis ihre Seele Ruhe und Frieden
gefunden habe. Wie lange ihre Angst gewährt hat, weiß ich
nicht; aber die Natur war erschöpft, und sie sank in Schlummer. Während sie so schlief, träumte sie, daß sie in einen
schrecklichen Abgrund gefallen sei, jedoch sich noch an einem
einzigen Zweig festhalte, der gerade über dem Abgrunde
hing. Darin hing sie nun, schrie laut um Hilfe, als eine Stimme
von unten, in der sie die Stimme Jesu zu erkennen glaubte,
sie laut aufforderte, den Zweig fahren zu lassen, wenn Er sie
retten solle. „Herr, rette mich!" schrie sie; aber die Stimme
wiederholte: „Laß den Zweig fahren!" Das aber schien ihr
unmöglich und lauter schrie sie um Hilfe. Und wieder hörte
sie von unten in zärtlichem Tone sagen: „Ich kann Dich nicht
erretten, wenn Du nicht zuvor den Zweig fahren läßt." An sich
selbst verzweifelnd ließ sie jetzt den Zweig los, fiel in Jesu
Arme; und in ihrer Freude darüber erwachte sie. Die Lehre,
die ihr durch ihren Traum gegeben war, ging nicht an ihr
verloren. Sie erkannte, daß Jesus ihr ganzes Vertrauen wert
sei; und daß sie nicht nur keinen Zweig von Selbstvertrauen
mehr brauchte, sondern daß, um zu Jesu zu kommen, es gerade
ein Hindernis sei, wenn sie den Zweig des Selbstvertrauens
noch festhielte. Sie ließ alles fahren und fand Jesum allgenügend.
Indem ich von Dir bald zu erfahren hoffe, daß auch Du jede
andere Hoffnung verlassen hast und in Seine Arme gefallen
bist, die für Dich am Kreuze ausgestreckt gewesen sind, verbleibe ich Dein ... .
223
3. Errette Deine Seele!
Meine teure Freundin!
Ich sehe aus Deinem gestrigen Brief, daß der Herr noch immer
Deine Aufmerksamkeit auf den überaus wichtigen Gegenstand
der Seligkeit Deiner Seele wach erhält. Leider ist Dir der
Friede des Evangeliums noch fremd; aber es ist eine gewisse
Gnade, vor einem falschen Frieden, wodurch Satan so gern die
Seelen betrügt und ins Verderben zieht, bewahrt zu bleiben.
Doch darfst Du in diesem Zustande nicht bleiben. „Gedenke
an Lots Weib!" Sie verließ Sodom mit ihrem Mann, um dem
schrecklichen Gericht zu entgehen, das Gott über diese gottlose
Stadt hereinbrechen ließ. Doch ihr Herz war noch dort, sie
hing mit großer Neigung an Sodom und den Schätzen darin
und wurde, zurückschauend, in eine Salzsäule verwandelt. Sie
ist ein bleibendes Denkmal der schrecklichen Folgen eines
Rückfalls aus einem erweckten in einen sorglosen Zustand.
O, möchte Gott die Warnung, die Er Lot und seiner Familie
gab, Deinem Herzen tief einprägen: „Rette dich um deines
Lebens willen; sieh nicht hinter dich, und bleibe nicht stehen
in der ganzen Ebene; rette dich auf das Gebirge, damit du
nicht weggerafft werdest." (1. Mo 19, 17.)
Du sagst in Deinem Brief: „Ich glaube nicht, daß ich ohne den
Herrn sterben werde." — Ich hoffe es mit Dir von ganzem
Herzen. Aber es ist gefährlich, solchen Hoffnungen zu vertrauen. In dem Augenblick, wo Du diesen Brief liest, bist
Du entweder ein Kind Gottes, oder ein Kind des Zorns. Einen
Mittelstand gibt es nicht. „Wer den Sohn hat, hat das Leben;
wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht." (1. Joh
5, 12.) Nun hast Du entweder den Sohn Gottes, oder Du hast
Ihn nicht. Wie steht es, meine Freundin? Wenn Du durch
Glauben den Sohn Gottes hast, so hast Du das Leben. In
diesem Fall hat die Frage, ob Du hoffst oder vertraust, daß Du
nicht ohne den Herrn sterben werdest, keine Bedeutung; denn
wenn Du den Sohn hast, so hast Du schon das Leben. Aber
wenn Du den Sohn nicht hast, wenn Jesus nicht Deine einzige Hoffnung und Zuflucht ist, so hast Du das Leben nicht.
Und in diesem Zustande fortlebend, gibt es nirgends eine
Verheißung, daß Du, bevor Du stirbst, das Leben erhalten
224
wirst. Alle Verheißungen vereinigen sich in Christo und beziehen sich auf den gegenwärtigen Augenblick. „Jetzt ist die
angenehme Zeit, siehe! jetzt ist der Tag des Heils." —
Wie ungewiß ist das menschliche Leben! Als ich vor etlichen
Wochen verreiste, mußte eine Freundin von mir wegen Unwohlseins das Zimmer hüten. Bei meiner Rückkehr wurde mir
mitgeteilt, daß die Kranke beinahe wiederhergestellt sei, das
war ungefähr 4 Uhr nachmittags. Um 8 Uhr desselben Abends
saß sie an ihrem Tische und ließ sich durch ihre Schwester ein
Kapitel aus dem Neuen Testament vorlesen. Um 9 Uhr war
sie eine Leiche. Welch plötzliche Veränderung! Wir haben
allen Grund zu glauben, daß die Dahingeschiedene schon seit
Jahren bekehrt war und darum jetzt bei dem Herrn ist. Aber
wäre dies nicht der Fall gewesen, welche Möglichkeit wäre
vorhanden gewesen, zu Ihm zu fliehen, als sie so plötzlich vom
Tode übereilt wurde? Ruhe daher nicht eine Stunde, teure
Freundin, ohne Christum gefunden zu haben. Gott Selbst
bietet Ihn Dir an, und das ganze Verdienst Seines kostbaren
Versöhnungsblutes. Du bist Ihm jetzt schon willkommen.
„Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen." Aber
es heißt: „Wer zu mir kommt." Darum komme zu Jesu;
komme noch heute; zögere keine Stunde länger! Nur in Ihm
wirst Du die Gewißheit der Liebe Gottes und Dein ewiges
Heil finden.
Es ist mir immer eine Freude gewesen, von Dir zu hören! Aber
setze Dein Vertrauen auf keinen Menschen, oder darauf, was
ein Freund Dir raten oder für Dich tun könnte. Sieh nur auf
den Herrn Jesum und auf das Blut, das Er auf Golgatha vergossen hat. Das allein ist es, was uns von aller Sünde reinigt.
Alles, was irgend jemand tun kann, ist, Dich auf Jesum und
Sein Blut hinzuweisen. Möge der Herr Dich erleuchten und
mir die Freude gewähren, bald von Dir zu hören, daß Jesus
Dir in der Tat teuer und wert ist. Der Deinige.
4. Kann ich aus mir selber glauben?
Meine teure Freundin!
Wie schenll vergeht die Zeit! Daran erinnert mich Deine Mitteilung, daß Dein Geburtstag nahe sei. Ich bin fast zweimal
225
so alt wie Du; und Du kannst Dir vorstellen, wie viel schneller
die letzte Hälfte der Jahre vergangen ist, als die erste. Mit
einem Leben in Christo, das nie endet, und dem Kommen des
Herrn vor uns, wo die Sterblichkeit vom Leben verschlungen
werden wird, hört die Flüchtigkeit der Zeit auf, ein Gegenstand des Bedauerns zu sein. O, möchte Dich daher Dein Geburtstag im Genuß dieses neuen Lebens finden; gewiß, dann
würde er der glücklichste sein, den Du je erlebt hast. Schon
ungefähr einen Monat ist es her, als Du erweckt wurdest; und
ich kann Dir meine Unruhe darüber nicht verhehlen, daß Dein
gegenwärtiger Gemütszustand schon so lange ununterbrochen
fortdauert. Solange man nicht Christum wirklich erkannt hat,
kann man nie gewiß sein, welchen Ausgang Angst und Not
nehmen wird. Ich habe die herzzerreißendsten Beispiele von
Angst und Unruhe gesehen, welche mit einem Rückfall in
einen gleichgültigen und sündigen Lebenslauf endeten. O,
möchte doch bei Dir nicht ein solcher Fall eintreten! Wie in
meinem vorigen Brief, so rufe ich Dir auch jetzt die Worte des
Engels zu: „Rette dich um deines Lebens willen; sieh nicht
hinter dich, und bleibe nicht stehen in der ganzen Ebene;
rette dich auf das Gebirge, damit du nicht weggerafft werdest."
(1. Mo 19, 17.)
Du schreibst, Du habest versucht, Dich in Jesu Arme zu werfen; aber Du wagest nicht, Ihm zu vertrauen, daß Er Dich
aufnehme. Du fragst ferner: „Kann ich etwas aus mir selber
glauben und es mir aneignen, daß ich Frieden mit Gott habe,
und daß meine Sünden vergeben seien?" Du führst aus einem
der Traktate die Stelle an, daß „durch göttliche Kraft des
Menschen Herz geöffnet werde, um das Evangelium anzunehmen, und daß die Wahrheit durch den Geist Gottes empfangen werden müsse." Ohne Zweifel; denn ohne dieses würde
die Aufnahme der Wahrheit uns nichts nützen. Die Wahrheit
ohne den Geist würde uns kein neues Leben geben. Wir
könnten nicht „wiedergeboren" sein ohne den Geist. Und
welchen Wert hätte irgendeine Veränderung, wenn sie nicht
„Wiedergeburt" wäre? Du sagst: „Ist es nicht unnütz, daß ich
versuche, aus mir selber zu glauben?" — Allerdings, wenn Du
aus eigener Kraft zu glauben versuchst, so wird es sicher vergeblich sein. Aber setze den Fall, ein Freund sagte Dir etwas,
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würdest Du dann bloß versuchen, Ihm zu glauben? Nein, Du
würdest ihm glauben; und wenn Du zu Gott dasselbe Vertrauen hättest wie zu ihm, so würdest Du Gott ebenso einfach
wie jenem glauben. Aber ach! Gott kann Dir zu wiederholten
Malen dasselbe sagen, und doch antwortest Du: „Ist es nicht
ganz unnütz, wenn ich zu glauben versuche?" In welchem
traurigen Zustande befindet sich der Mensch, wenn er erst
versuchen muß, dem Gott der Wahrheit zu glauben, der doch
nicht lügen kann!
Du sagst: „Sollte ich nicht lieber Gott bitten, daß Er mein
Herz öffne, um Seinem Worte verhauen zu können, und daß
Er das Wort mit Kraft und Leben meiner Seele nahebringen
möge?" — Ich werde Dich nicht entmutigen, etwas von Gott
zu erbitten, was Du nötig hast, auch weiß ich, daß Gottes
Wege der Barmherzigkeit so mannigfaltig sind, daß eine Seele
so geführt werden kann, wie Du es beschreibst, bis das Licht
sie völlig erleuchtet und Christus ihr so lieblich und Sein Blut
ihr so köstlich erscheint, daß das Herz nicht länger zweifeln
kann. Ich selbst lag auf den Knien in meinem Zimmer, als
meine Seele die Wahrheit annahm und frei wurde. Aber ich
könnte keinem raten, den Weg einzuschlagen, den Du vorschreibst, und zwar aus folgenden Gründen.
Erstens, ich finde einen solchen Rat nirgends in der Heiligen
Schrift.
Zweitens, jemand könnte bitten, wie Du es für gut findest,
ohne das Heil zu empfangen; und ich würde zittern, wenn
jemand zu mir sagen könnte: „Ich tat, was du mir geraten hast,
und bin doch nicht gerettet."
Drittens, die Anleitung der Schrift ist: „Glaube an den Herrn
Jesum, und du wirst errettet werden", — und niemand kann
sagen: „Ich bin dieser Anleitung gefolgt und bin doch nicht
gerettet." Auch Du kannst nicht sagen, daß Du an den Herrn
Jesum geglaubt hast, ohne die Seligkeit gefunden zu haben.
Du hast nur versucht zu glauben; und das ist nicht die Meinung der Heiligen Schrift. Sie fordert uns auf zu sehen, zu
kommen, Zuflucht zu nehmen, Christi Fleisch zu essen und
Sein Blut zu trinken. Aber auf Jesum sehen heißt, an Ihn
glauben; zu Jesu kommen heißt, an Ihn glauben; seine Zu227
flucht zu Christo nehmen heißt, an Ihn glauben; und wenn der
Herr Jesus vom Essen Seines Fleisches und vom Trinken
Seines Blutes spricht, dann fügt Er hinzu: „Wer zu mir kommt,
wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr dürsten." (Joh '6, 35.) Aber dann ist es Christus, der
selig macht — nicht das Kommen, das Sehen oder Glauben,
wenn es in irgendeinem Sinne von Ihm getrennt betrachtet
wird. Das Brot nährt einen hungrigen Menschen, jedoch muß
er es essen, wenn es ihn nähren soll. Würde er aber auch noch
so lange seine Zähne bewegen und tun, als ob er esse, so
würde er dennoch keine Nahrung erhalten, wenn kein Brot in
seinem Munde wäre. Das Brot stillt den Hunger, wie unumgänglich nötig es auch ist, daß er es ißt. Aber ein hungriger
Mensch wird nicht sitzen und noch erst darüber streiten, ob er
essen kann oder nicht. Wenn ihm Brot mit einem herzlichen
Willkommen vorgesetzt wird und er wirklich hungrig ist, wie
bereit und wie gern wird er essen! Tue Du nun auch so, meine
Freundin: Nimm Christum, das Brot des Lebens, in Deiner
Seele auf. Gott heißt Dich willkommen. Glaube Seinem Worte,
iß und lebe ewig!
Ich überhöre keineswegs Deine Frage: „Kann ich aus mir selber glauben?" — oder die aus einem Traktat angeführte Stelle,
daß man „nur durch den Geist die Wahrheit" aufnehmen
könne. Aber bedenke, daß wir, Du und ich, es sind, die glauben, obwohl der Geist dieses bewirkt. Der Geist glaubt nicht
für uns oder an unserer Statt. Er leitet uns zu glauben, indem
Er uns Christum vorstellt in der Herrlichkeit Seiner Person,
in der Zärtlichkeit Seine Liebe, im Wert Seines Blutes, in der
Kraft Seiner Auferstehung. Aber für uns kam Christum vom
Himmel, für uns lebte und starb Er, für uns ist Er auferstanden, und wir sind es, die Ihm zu vertrauen, Ihn aufzunehmen
haben, wiewohl es wahr ist, daß niemand Ihn annimmt und
Ihm vertraut, als nur durch den Geist Gottes. Betrachten wir
indes diesen Gegenstand etwas genauer:
1. Die Bibel ist voll der feierlichsten Zusicherungen, daß Gott
niemandem die Seligkeit vorenthält, sondern daß Er sie jedem
anbietet. „So wahr als ich lebe, spricht der Herr Jehova, ich
habe kein Gefallen an dem Tode des Gesetzlosen, sondern daß
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der Gesetzlose von seinem Wege umkehre und lebe." (Hes
33, 11.) „Wendet euch zu mir und werdet gerettet, alle ihr
Enden der Erde, denn ich bin Gott und keiner sonst." (Jes
45, 22.) „He! ihr Durstigen alle, kommet zu den Wassern, und
die ihr kein Geld habt, kommet kaufet und esset; ja kommet kaufet ohne Geld und ohne Kaufpreis Wein und
Milch." (Jes 55, 1.) Johannes „kam zum Zeugnis, daß er
zeugte von dem Lichte, damit alle durch ihn glaubten". (Joh
1, 7.) „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, auf daß
er die Welt richte, sondern auf daß die Welt durch ihn errettet
werde." (Joh 3, 17.) „Dies sage ich, auf daß ihr errettet werdet." (Joh 5, 34.) „Diese aber sind geschrieben, auf daß ihr
glaubet, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und auf
daß ihr glaubend Leben habet in seinem Namen." (Joh 20, 31.)
„Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches
ich geben werde für das Leben der Welt." (Joh 6, 51.) „Gehet
hin in die ganze Welt und prediget das Evangelium der ganzen
Schöpfung." (Mk 16, 15.) „Gott war in Christo, die Welt mit
sich selbst versöhnend/' (2. Kor 5, 19.) „Gott, unser Heiland,
welcher will, daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen." (1. Tim 2, 3. 4.) „Der Herr
ist langmütig gegen euch, da er nicht will, daß irgendwelche
verloren werden, sondern daß alle zur Buße kommen."
(2. Petr 3, 9.) „Der Geist und die Braut sagen: Komm! . . . und
wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst."
(Offb 22, 17.) — Kann jemand diese und viele andere Stellen
lesen und noch zweifeln, daß Gott wahrhaftig will, daß allen
Menschen geholfen werde? Das Hindernis Deines Kommens
zu Christo, meine Freundin, ist nicht auf Gottes Seite. Er ist
bereit, dich aufzunehmen; ja, Er bittet Dich, zu kommen und
Dich versöhnen zu lassen.
2. Und dennoch sagst Du: „Ich wage nicht, ihm zu vertrauen,
daß er mich annehmen werde. Kann ich aus mir selber glauben?" Nein, Du kannst es nicht. Christus sagt: „Niemand
kann zu mir kommen, es sei denn, daß der Vater, der mich
gesandt hat, ihn ziehe." (Joh 6, 44.) Von Natur sind wir nicht
nur gottlos, sonder auch „schwach". (R öm 5, 6.) Doch wenn
Du von Deinem Vater sagen würdest: „Ich wage nicht, ihm
229
zu vertrauen", würde eine solche Sprache nicht anzeigen, daß
Du eine sehr schlechte Meinung von seinem Charakter hast?
Du würdest zittern, ein solches Urteil über Deinen Vater zu
fällen. Und dennoch wagst Du es Gott gegenüber. Das ist das
eigentümliche Wesen der Sünde. Gott hindert uns sicher nicht,
an Christum zu glauben; Menschen könnten uns nicht hindern, wenn wir wirklich geneigt wären, an Ihn zu glauben;
auch Satan könnte es nicht. „Ihr wollt nicht zu mir kommen,
auf daß ihr Leben habet." Wir könnten es, wenn wir wollten;
aber wir wollen es nicht. Seit einem Monat hat nun das Gefühl der Schuld, des Elends und der Verdammung Deine
Seele belastet; und dennoch sagst Du: „Ich habe es versucht,
mich in Jesu Arme zu werfen, aber ich wage nicht, Ihm zu
vertrauen, daß er mich annehme."
3. Sicher kann nur Gott dieses Widerstreben bezwingen. Er
ist aber keineswegs dazu verpflichtet. Er ist bereit, Dich durch
Christum anzunehmen, wenn Du an Christum glaubst. Aber
Du ziehst Dich von Ihm zurück, und würdest es stets tun,
wenn nicht Seine allmächtige Gnade Dir in den Weg träte.
Und Du hast kein Anrecht an diese Gnade, sonst wäre es nicht
Gnade. Du bist ganz in Gottes Händen; er kann mit Dir
machen, was Ihm gut dünkt. Überließe Er Dich Dir selbst, so
würdest Du bald alle Eindrücke verlieren und nicht zu Jesu
kommen. Meine ganze Hoffnung ruht nur darauf, daß Gott
Dir in den Weg trete und Dich leiten möge, Ihm zu vertrauen
und an Christum zu glauben. Doch erwarte nicht, daß, wenn
Er Dich zu Christo führen sollte, dieses durch eine neue Offenbarung geschehe oder durch irgendeinen gewaltigen Eindruck.
Sobald Du an Christum glaubst, wirst Du sehen, daß Er der
Christus ist, von dem Du soviel gehört und gelesen hast, der
Christus, der auch jetzt mit offenen Armen wartet, um Dich
zu empfangen. Gottlos und kraftlos sind wir; aber Christus
ist, da wir noch kraftlos waren, zur bestimmten Zeit für Gottlose gestorben. (Röm 5, 6.) Wagst Du es nicht, dies zu glauben? Kannst Du noch schlechter als gottlos sein? Christus ist
für Gottlose und Kraftlose gestorben. O, daß Du sagen könntest: „Ja, für mich, der ich gottlos und kraftlos war, vergoß er
sein Blut." — Nicht für die Gerechten, oder für die, welche
230
fühlen, wie sie fühlen wollen, oder für solche, die aus eigener
Kraft glauben, ist Christus gestorben. Nein, sondern für die
Verlorenen, für Sünder, für solche, die, wenn sie sich selbst
überlassen blieben, Christum verwerfen und in der Sünde beharren würden. Für solche kam und starb Er. O, möchtest Du
es doch glauben! Gott selbst sagt es. Schaue weg von Deinem
undankbaren, sündigen, ungläubigen Ich, schaue hin auf Jesum,
der vom Himmel auf die Erde kam, der seufzte und weinte
und litt und blutete für elende Sünder. Gott selbst fordert
Dich auf, Dich an Jesum zu wenden. Jesus selbst ladet Dich
ein, Dich an Ihn zu wenden. Der Geist treibt Dich, Dich an
Jesum zu wenden. Darum eile unverweilt zu Ihm! O, wie sehr
wünsche ich, daß Du diese Zeilen nicht durchlesen möchtest,
ohne durch Gottes Segen dahin geleitet worden zu sein, zu den
Füßen Jesu zu eilen. Gott selbst erklärt sich mit dem Opfer
Jesu zufrieden; sollten wir nicht zufrieden sein mit dem, was
Ihn befriedigt? „Welchen Gott hat dargestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an sein Blut,. . . daß er gerecht
sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesum ist."
(Röm 3, 25.) „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den
glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur
Gerechtigkeit gerechnet." Der Deinige.
5. Woher kommt das Verlangen, an Jesum zu glauben?
Meine teure Freundin!
Bei wiederholtem Durchlesen Deiner letzten Zeilen sind mir
einige Stellen besonders aufgefallen. Du schreibst, Du wünschest, mir bald sagen zu können, daß Du Frieden durch das
Blut Christi gefunden habest, und bist zugleich sehr bekümmert darüber, daß Dein Gewissen bereits seit einem Monat
erwacht sei, ohne Frieden gefunden zu haben. Nun, woher
kommt diese Besorgnis? Woher das Verlangen, Frieden durch
das Blut Christi zu erlangen? Woher das Bewußtsein, daß nur
in dem Blute Jesu der Frieden zu finden ist? Sollten nicht alle
diese Dinge Zeichen der Arbeit des Heiligen Geistes sein?
Und solltest Du nicht dankbar sein für das, was der Geist
Dich schon gelehrt hat? Solltest Du nicht trachten nach einem
größeren Maße von Licht? Und sollte Gott nicht ein Verlangen befriedigen wollen, das Er selbst gewirkt hat?
231
„O, wenn ich Ihm doch vertrauen könnte!" rufst Du aus. Aber
warum vertraust Du Ihm nicht ganz und von ganzem Herzen?
Er ist derselbe liebende, zartfühlende Jesus, der allmächtige
Heiland, der einst jenes arme Weib heilte, das 18 Jahre lang
eine Krankheit hatte. Er ist dem Auge zwar verborgen; doch
es war der Glaube, nicht das Schauen, das eine heilsame Kraft
aus Ihm zog; der Glaube kann, ohne zu sehen, Ihm dennoch
vertrauen.
Aber vertraust Du Ihm nicht schon? Hast Du denn gar kein
Vertrauen zu Seiner Liebe? Vertraust Du denn nicht schon in
irgendeinem Grade Seinem Blute? Woher kommt denn das
Verlangen, durch das Blut Jesu Frieden zu finden? Du mußt
doch überzeugt sein, daß irgendein Wert, eine Frieden bringende Kraft in dem Blute Christi ist; denn sonst würdest Du
darin keinen Frieden suchen. Aber ist diese Oberzeugung nicht
schon ein Grad von Vertrauen? Es mag schwach sein, aber es
ist doch Vertrauen, und die Schrift knüpft das Heil nicht an
einen besonderen Grad von Vertrauen oder Glauben, sondern
selbst an das geringste Maß davon, das durch den Geist Gottes
hervorgebracht worden ist. Was sagte jenes arme Weib im
Evangelium: „Wenn ich nur sein Kleid anrühre, so werde ich
geheilt werden."
Du sagt zu wiederholten Malen, daß Du kürzlich beim Lesen
des Evangeliums oft gedacht hast: „O, jetzt sehe ich ganz klar;
ich muß auf Jesum vertrauen; dann aber erscheint mir wieder
alles dunkel und verworren." — Nun, meine Freundin, woher
kommt es, daß Du Dir in jenen Zeiten bewußt bist, daß Du
auf Jesum vertraust. Daß Dir hernach alles wieder dunkel erscheint, ist erklärlich; denn Du wagst nicht, geleitet durch das
erwachte Vertrauen, Dich niederzusetzen, um aus der Schrift
zu lernen, was Dir zum Segen gereicht, sondern Du wendest
Dich wieder zurück, um Dein eigenes Herz zu untersuchen und
dort die Beweise Deines Vertrauens zu suchen. Ach, wende
Dich doch zu Jesu! Du bist Ihm willkommen. Sein Blut ist
vergossen für die größten Sünder und reinigt von aller Sünde.
Zur Bestätigung dieser Wahrheit will ich Dir einen Bericht aus
einem Briefe mitteilen, den ich soeben von meinem geliebten
Bruder in Christo erhalten habe. Er schreibt:
232
„Wir hatten hier vor einigen Tagen ein sehr liebliches Beispiel
von der Gnade Gottes. Eine dem Trunk ergebene Frau lag auf
dem Sterbebett. Sie wollte es nicht dulden, daß jemand sie besuchte. Doch endlich fand ich Eingang bei ihr und entdeckte,
daß das Wort die Kraft hatte, ihr ihr sündhaftes Leben vor die
Seele zu stellen. Jetzt kam ich öfters und fand sie erweicht und
zuletzt ganz begierig, von der Gnade in Jesu zu hören. Das gab
mir Hoffnung. Aber erst nach mehren Wochen brach das Licht
herein, und sogleich wurde der Schatten des Todes in Morgenlicht umgewandelt. Ihre Leiden stiegen aufs höchste; und
zwischen den Schmerzensanfällen lehrte ich sie den 14. und
15. Vers aus Offenbarung 7, nachdem ich ihr vorher den letzten Teil des Kapitels vorgelesen hatte, damit sie während der
schweren Nacht daran denken möchte. Sie lernte die Worte
wie ein Kind, und ich überließ es dem Herrn, ihr zu zeigen,
warum jene Schar, mit weißen Kleidern angetan, vor dem
Throne war. Bei meinem nächsten Besuche fand ich zu meiner
großen Freude, daß auch sie in dem Blute des Lammes rein
geworden war. „O, ist es nicht schön", rief sie; „so weiß wie
Schnee durch das Blut des Lammes!" — Ich suchte sie dann auf
die Liebe hinzuweisen, die uns eine solche Quelle verschafft
hat, und las ihr 1. Joh 4. vor. Ach, wie begierig lauschte die
arme Frau. Als ich sie das nächstemal wiedersah, war ich nicht
wenig erstaunt über ihr völlig verändertes Wesen, Ein himmlisches Verständnis belebte ihre Züge, und eine Sanftmut, die
von einem Verkehr mit Christo zeugte, bezeichnete ihre
Worte und ihr ganzes Benehmen. Ich war eine Stunde vor
ihrem Tode bei ihr, und das Lächeln auf ihrem Antlitz war
wirklich himmlisch. Eine Verwandte von ihr, die ebenfalls anwesend war, fragte sie, ob sie glücklich sei. „Sehr, sehr glücklich!" — war ihre Antwort. Der Freudenstrahl, der ihr Gesicht
erglänzte, bestätigte ihre Worte. Eine halbe Stunde später
starb sie in großem Frieden."
Nun, meine teure Freundin, möchtest doch auch Du zu dem
gnadenreichen Herrn völliges Vertrauen fassen; gewiß auch
Du würdest die Kraft Seines kostbaren Blutes erfahren.
Der Deinige.
233
6. Setze Dein Vertrauen nur auf Jesum
Meine teure Freundin!
Du bist also, wie Du mir schreibst, noch immer nicht im Frieden
mit Gott und fühlst Dich dabei in einem höchst verwirrten
Gemütszustande. Das ist kein ungewöhnlicher Fall. Bevor die
Liebe klar verstanden und das Herz in der Gnade befestigt
ist, ist die Verworrenheit im Gemüt eine ganz natürliche Erscheinung. Selbst nach der Bekehrung, wenn der Blick von
Jesu abgewandt ist, wird das Herz beunruhigt und verwirrt
sein. Du sagst: „Ich zweifle nicht an der reinigenden Kraft
des Blutes Christi; aber — ist auch meine Seele mit diesem
Blute besprengt?" — Keine Antwort von meiner Seite auf
diese Frage wird imstande sein, Dein Gewissen zu überzeugen;
könntest Du aber selbst die Antwort im Worte Gottes sehen,
so würde sie Dir vollkommene Ruhe geben. Aber findest Du
denn in Apg 13, 38. 39. nicht eine solche Antwort? Du wagst
nicht, an der reinigenden Kraft des Blutes Christi zu zweifeln.
Was ist dies anders, als an Jesum glauben? „Von allem wird
in diesem (Jesum) jeder Glaubende gerechtfertigt." Du wünschest Ruhe und Frieden in Christo, und Du weißt, daß Du
sonst nirgends Frieden finden kannst. Was sagt Gottes Wort?
„So sei es euch denn kund, daß durch diesen euch Vergebung
der Sünden verkündigt wird." Nur in Jesu ist der Frieden zu
finden; und wer besitzt Frieden, Ruhe und Vergebung? „In
ihm wird jeder Glaubende gerechtfertigt."
Aber Du sagst: „Ich fühle nicht, daß ich teil an diesem kostbaren Blute habe." — Soll denn Dein Fühlen diese ernste
Frage entscheiden? Wenn Du an der Kraft des Blutes Christi
nicht zweifelst, so glaubst Du ja daran; und Gott sagt, daß,
wie auch Deine Gefühle sein mögen, jeder Glaubende gerechtfertigt sei. Woher weißt Du denn, daß eine Kraft in diesem
Blute ist? Aus welchem Grunde glaubst Du dies? Ist es nicht
deshalb, weil es Gott in Seinem Worte kundtut? Gewiß. Du
glaubst es nicht, weil Du es fühlst, denn Du bekennst es selbst,
daß Du es nicht fühlst. Mithin glaubst Du es ohne jedes Gefühl, weil Gott es in Seinem Wort gesagt hat. Ist nun aber
Sein Wort, welches erklärt, daß jeder Glaubende gerechtfertigt ist, nicht ebenso wert, daran zu glauben, als wenn
234
dasselbe Wort Christum verkündigt, an den Du nach Deiner
Versicherung glaubst? Du sagst: „Ich glaube; aber ich möchte
fühlen, daß ich teil daran habe." Gott sagt: „Jeder Glaubende
hat teil daran." In dieser Weise löst Er die Frage. Mir scheint
es, als ob Du, wie viele andere, aus Deinem Glauben einen
Heiland machen möchtest. Du wendest Dich hinweg von Jesu,
dem hochgelobten Gegenstand unseres Glaubens, um Dich
mit Deinem Glauben zu beschäftigen. Ich habe einen Freund,
der den gleichen schweren Seelenkampf durchmachte, jetzt
aber gnädiglich befreit ist. In den Tagen seiner Unruhe und
Angst teilte ich ihm mit, daß auch Du in ähnlicher Weise
littest. Der Erfolg davon ist ein kleiner Brief, den er mir
soeben schrieb, worin ich folgende Worte finde:
„Sage Deiner Freundin, sie solle alles Jesu überlassen. Bei Ihm
wird man sicher sein. Werden wir Ihn anschauen, müssen wir
Ihm vertrauen. In Jesu liegt alle Kraft; und Er ist es, der uns
auffordert, Ihm alles zu überlassen. Wie sehr wünsche ich,
Deine Freundin zu sehen und ihr zu sagen, was Gott in Seiner
unendlichen Gnade mir gezeigt hat, daß ich nichts anderes tun
kann, als alles Ihm zu überlassen. Meine Seele ist wohl aufgehoben in Jesu Händen; und ich vertraue mich Ihm wirklich
ganz an, wiewohl mit großem Zagen. Das einzige, was ich zu
tun wage, ist, daß ich Ihm vertraue und mich an Ihn klammere.
Jeder von Ihm abgewandte Blick bringt all meinen Kummer
zurück; und wenn Er es nicht wäre, Er selbst, ich wäre gleich
wieder auf offenem, stürmischem Meer."
So schreibt mein Freund. Er führt die Sprache des Vertrauens
und der Liebe zu Jesu, wiewohl der Schreiber es nicht erkennt.
Und ebenso fühlst auch Du nicht, daß Du Jesum liebst. Würdest Du aber darüber beunruhigt sein, wenn Er keinen Raum
in Deinem Herzen hätte? Doch ich wünsche, daß Du weder
Deiner Liebe, noch Deinem Glauben vertraust, sondern Jesu
selbst, der unseres Vertrauens und unserer Liebe völlig würdig
ist. Möchte der Herr Dich in Gnaden ermutigen, alle Deine
Zweifel und Fragen aufzugeben und Dein Auge, Dein Ohr
und Dein Herz auf Jesum, auf Ihn selbst zu richten, auf Seine
Liebe, auf Sein versöhnendes Blut, das Blut, das von aller
Sünde reinigt.
235
Es interessiert mich ungemein, was Du mir von Deiner
Schwester und jener Sonntags-Abendunterhaltung schreibst,
wodurch sie so sehr erquickt worden ist. Grüße sie und die
ganze Familie! — Nochmals empfehle ich Dich dem hochgepriesenen Jesus, dem allgütigen und alleinigen Heiland, dessen
Liebe jeden aufnimmt, der zu Ihm kommt. Der Deinige.
y. Beantwortung etlicher Fragen
Teure Freundin!
Zwei Deiner Briefe sind noch unbeantwortet; der erste, der
mir das Glück Deiner Schwester mitteilte; und der zweite, der
den Brief, in dem sie die erfreuliche Botschaft selbst bestätigt,
begleitete. Das freimütige Bekenntnis Deiner Schwester hat
mir große Freude gemacht und ist ein treffliches Zeugnis von
der erbarmenden Liebe Gottes.
Was Deine eigenen zwei Briefe betrifft, so möchte ich gern,
wenn der Herr mir dazu Seinen Beistand verleiht, den zweiten
beantworten. Ich wünsche, daß meine Antworten soviel wie
möglich aus den Worten bestehen möchten, die Er uns gegeben
hat.
1. Frage: „Liebt Gott uns erst dann, wenn wir glauben?" —
Antwort: „Hierin ist die Liebe: nicht, daß wir Gott geliebt
haben, sondern daß er uns geliebt und seinen Sohn gesandt
hat als eine Sühnung für unsere Sünden." (1. Joh 4, 10.) „Gott
aber erweist seine Liebe gegen uns darin, daß Christus, da
wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist." (Röm 5, 8.)
„Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner
vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, als auch wir in den
Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig
gemacht, durch Gnade seid ihr errettet." (Eph 2, 4. 5.)
2. Frage: „Kann ich schon Glauben haben an das Blut Jesu,
ehe ich versichert bin, von allen meinen Sünden darin abgewaschen zu sein?" Antwort: Hatte nicht der sterbende Räuber
Glauben an Jesum und Sein Blut, als er sagte: „Herr gedenke
meiner, wenn du in deinem Reiche kommst"? Konnte er wohl
zu derselben Zeit sagen, daß er gewaschen sei in dem Blute
Jesu? Haben wir nicht schon Vertrauen zu einem Arzt, wo236
durch wir angetrieben werden, seine Hilfe zu suchen, bevor
wir durch seine Arzneien von unserer Krankheit geheilt sind?
In Wahrheit sagen zu können: „Das Blut Christi hat mich
gewaschen von meiner Sünde", ist Zuversicht. Diesem Blute
zu vertrauen, als Gottes gnädigem und wirksamem Mittel zur
Tilgung der Sünde, ist „Glaube". Wenn ich das eine habe,
bin ich zu dem anderen berechtigt. Wenn ich mich wirklich an
Jesu, meine einzige Hoffnung und Zuflucht, klammere und
Seinem Blute vertraue, daß es die hinreichende Kraft hat,
meine Sünden zu tilgen, so sagt Gott, daß das Blut meine
Sünden getilgt hat; und es ist sicher mein gesegnetes Vorrecht,
dasselbe zu sagen.
3. Frage: „Also rettet uns nicht das ,Glauben', sondern Jesus;
und unsere Sache ist — Ihn anzunehmen. Nicht wahr?" Antwort: Ganz gewiß. Das Glauben an und für sich ist ohne
Wirkung. Wenn das, was man glaubt, nicht wahr wäre, was
nützte dann der Glaube daran. Nur in Ihm, an den wir glauben, in Jesu, wohnt die erlösende Kraft. Glauben heißt, Ihn
annehmen; und ist es nicht seltsam, daß wir so schwer zu
bewegen sind, Ihn anzunehmen? „Das Wort ist gewiß und
aller Annahme wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten." (1. Tim 1, 15.)
4. Frage: „Ist nicht Jesus immer vor dem Throne Gottes?" —
Antwort: Er hat, „nachdem er durch sich selbst die Reinigung
unserer Sünden gemacht hat, sich gesetzt zur Rechten der
Majestät in der Höhe". (Hebr 1, 3.)
5. Frage: „Ist nicht Sein Blut dort als ein Opfer für die
Sünde?" — Antwort: „Auch nicht mit Blut von Böcken und
Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blute ist er ein für alle
Mal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung
erfunden hatte." (Hebr 9, 12.) „Welchen Gott dargestellt hat
zu einem Gnadenstuhl, durch den Glauben an sein Blut."
(Röm 3, 25.)
6. Frage: „Wenn ich als eine arme Sünderin durch dieses Opfer
zu Ihm komme, wird Gott mich nicht annehmen?" Antwort:
„Darum vermag er auch völlig zu erretten, die durch ihn Gott
nahen, indem er immerdar lebt, um sich für sie zu verwen237
den." (Hebr. 7, 25.) „Wird Gott mich nicht annehmen?" fragst
Du. Gott hat Dich gebeten und bittet Dich noch, an Seine
Liebe zu glauben und Jesum als Deinen Heiland anzunehmen,
um vollkommen in Ruhe und Frieden zu sein. „So sind wir
nun Gesandte für Christum, als ob Gott durch uns ermahnte:
Wir bitten an Chrsti Statt: Laßt euch versöhnen mit Gott!"
(2. Kor 5, 20.) Kann da noch ein Zweifel an Seinem Wollen
sein, wenn Er eine solche Friedensbotschaft sendet und die
Versöhnung anbietet?
Du sagst ferner: „Ich kann auch nicht ein einziges Verdienst
anführen; denn je mehr ich mich selbst betrachte, um so
schlechter komme ich mir vor." — Gewiß; aber wenn Du nicht
ein einziges Verdienst hast, dann hast Du alle Ursache, Dich
des unendlichen Verdienstes Jesu und Seines versöhnendes
Blutes zu erfreuen. Er bietet Dir aus freier Gnade alles an,
ja Sich Selbst, als die beste und reinste Gabe und als den
höchsten Beweis Seiner Liebe. Gib Dich völlig auf. Laß das
gute Ich und das böse Ich aus dem Auge, indem Du verweilst
bei der Vortrefflichkeit Jesu, an dem Gott ein solches Wohlgefallen hat, daß Er selbst den Strafwürdigsten, der sich auf
Seinen Namen, auf Sein Blut und auf Sein Verdienst stützt,
freundlich ansieht.
Doch ich muß schließen. Glaube nicht, daß die Menge der
Fragen über einen so heiligen Gegenstand mich ermüden oder
langweilen würde. Möchte Gott nur die Antworten für den
Frieden Deiner Seile segnen, so würde ich es für keine Mühe
achten, wenn mir die Beantwortung noch so viel Zeit raubte!
Grüße mir Deine Schwester, mit der ich micht aufrichtig freue.
Der Herr erhalte sie in Gnaden einfältig ruhend in Jesu und,
von Seiner Liebe gedrungen, ernstlich und fleißig, Ihm zu
folgen. O, möchtest Du auch bald ihre Freude teilen.
Der Deinige.
8. Jesu anhangen
Teurer Freund!
Ich weiß, daß Sie sich mit mir freuen werden, wenn ich Ihnen
mitteile, daß ich, die ich so lange tot in Sünden und Ver238
gehungen war, endlich vom Tode zum Leben in Jesu gelangt
bin. Gott hat mir geholfen, meine Seele Jesu zu übergeben und
Ihn als meinen Heiland zu ergreifen, obwohl mit großer Furcht
und großem Zagen. O, welche Freude, welche Glückseligkeit,
Ihn als meinen Erlöser, und Gott als meinen Vater zu kennen!
Ich kann Ihnen kaum sagen, wie das Licht zuerst in meine
Seele drang. Ich las Ihren Brief mit einem christlichen Freunde,
und dieser sagte: „Nun, das ist doch sehr klar! Und Sie
zweifeln noch? Sie sind nicht damit befriedigt, daß Christus
allein erlösen kann? Sie glauben an die Kraft seines Blutes,
und Sie zweifeln an Ihrer Erlösung?"
Ich fühlte und erkannte die Widersprüche, in denen ich mich
befand; ich übergab mich Jesu. Doch selbst dann war ich nicht
ganz glücklich. Doch Gott segnete Ihren Brief, sowie auch den
Ihres Freundes, meine Zweifel aufzuhellen und meine Augen
zu öffnen, um Seine reiche, volle und freie Erlösung zu
schauen.
Jetzt glaubte ich, daß alle meine Zweifel und Befürchtungen
ein Ende hätten, weil ich ja schon in einem gewissen Grade
vertrauen konnte. Aber, mein teurer Freund, während der
ganzen vorigen Woche wurde ich von Zweifeln, Befürchtungen, Ungewißheiten und Sünde umhergeworfen, bis ich zu
denken begann, daß ich mich in betreff meiner Annahme getäuscht habe. Jedoch finde ich, daß Ihr Freund, der mir so
freundlich schrieb, und dessen Brief mir so dienlich war, in
einer ähnlichen Weise beunruhigt gewesen ist. Mit diesem
Freunde kann ich jetzt sagen: „Meine Ruhe besteht darin, daß
ich trotz aller meiner Zweifel auf Jesum blicke." Selbst jetzt
noch fühle ich mich kaum geborgen; aber wenn ich auf Jesum
sehe, kann ich nicht zweifeln. Beten Sie für mich, daß ich
darin ruhen möge, was Gott sagt, weil Er es sagt, und nicht,
weil ich es fühle. Mein Glaube ist sehr schwach, und mein
Unglaube sehr groß. Oft lese ich Ihre Briefe durch; und jedesmal wundere ich mich, daß ich damals die Dinge nicht so
ansah wie jetzt. — Meine Schwester ist immer noch ganz glücklich: sie läßt grüßen und dankt Ihnen für Ihren Brief. Sie
scheint durch keine Zweifel beunruhigt zu sein.
Die Ihrige.
239
g. Halte fest!
Meine teure Freundin!
Der Herr sei gepriesen, daß Er dich fähig macht, wenn auch
zagend, dennoch Jesu anzuhangen und Seinem Blute zu vertrauen. Ich begreife Deine Unruhe, als Du zuerst Deine Sache
Jesu übergabst. Niemand aber, der Ihm vertraute, wurde je
getäuscht. Das Rettungsboot ist wegen der Zweifel und Bedenken der darin aufgenommenen Schiffbrüchigen nicht weniger seetüchtig. Der Felsen unter Deinen Füßen ist darum nicht
weniger fest, weil mitunter Dein Kopf schwindelt und es Dir
ist, als ob der Boden sänke. Gottes vollkommene Schätzung
des vollkommenen Werkes Christi ist die vollkommene Sicherheit für alle, die sich, ob auch schüchtern und zagend, dem
Werk Christi anvertrauen. „Sehe ich das Blut, so werde ich
an euch vorübergehen." (2. Mo 12,13.)
Der Herr sei gepriesen für den fortdauernden und ununterbrochenen Frieden und die Freude Deiner Schwester. Sie hat
guten Grund in Jesu, der unsere Sünden hinweggetan hat, und
in dem wir angenommen sind als eins mit Ihm. Dulde nicht,
daß der Feind Dich dadurch beunruhigt, daß er Dir die ununterbrochene Freudigkeit Deiner Schwester vorhält. Statt
dessen vertraue lieber selber Christo ganz. In Ihm ist auch
für Dich Ursache genug. Dich allewege zu freuen. Der Herr
verleihe, daß noch viele aus dem Kreise Deiner Familie herzugebracht werden mögen! Laßt uns vereint darum bitten! Er
liebt es, so von uns um die Offenbarung Seiner erlösenden
Macht angegangen zu werden. In Ihm der Deinige.
IO. Am Morgen Jubel
(Ps 30, 8.)
Teurer Freund!
Ich weiß nicht, wie ich Ihnen genug danken soll für Ihren
Brief, der mir durch Gottes Hilfe zu so großem Trost geworden ist. Niemals erkannte ich früher das Einssein mit Christo
und den Gläubigen so klar. Wie lange habe ich in mir etwas
gesucht; aber wie ganz anders ist es jetzt? Jesus und nur Jesus
hat mich froh gemacht. Jetzt kann ich es kaum begreifen,
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wie ich so lange mein Vertrauen von solch einem Heiland zurückhalten konnte, der nicht wartete, bis wir selbst etwas getan hatten, sondern der, als wir ganz verloren, zugrunde
gerichtet, hilflos und ohne Hoffnung waren, zu unserer Rettung ins Mittel trat. Ist es nicht zum Erstaunen? Und welch
einen Vater haben wir, der uns als eins mit Christo ansieht
und uns mit derselben Liebe liebt! Wie sehr kann ich mich
jetzt hierin freuen! Zuweilen, wenn ich nichts mehr als „Vater"
sagen kann, erfüllt es mich schon mit Freude. Wahrlich, ich
vergesse meine Zweifel und Befürchtungen im Aufsehen auf
Jesum.
Beten Sie für mich, daß nichts die Stelle Jesu in meinem Herzen einnehmen und ich stets mit Ihm erfüllt sein möge.
Die Ihr