Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 1869 | Seite |
Geheiligt dem Herrn | 1 |
Betrachtung über Psalm 23 | 5 |
Die beiden Bande | 10 |
Ein Ohr und ein Herz für Jesum und Sein Wort | 16 |
Die drei verschiedenen Stellungen Davids | 21 |
Das Fragen nach dem bekannten Wege | 29 |
"Du bist bei mir" | 38 |
Ein Wort zur Beherzigung | 40 |
D1e Schule Gottes | 41 |
Das christliche Amt . | 54 |
Es ist das Licht, das alles offenbar macht | 60 |
Mephiboseth, oder dde Barmherzigkeit Gottes | 61 |
Der heilige Jesus als der mitleidiger Hohepriester | 81 |
Der ungebahnte Weg | 95 |
Eine weise und lobenswerte Sache | 99 |
Jonathan | 99 |
Die Liebe Christi zu Seiner Kirche oder Versammlung | 101 |
Mit Christo gestorben | 113 |
"Glückselig ist, wer sich nicht an mir ärgern wird" | 116 |
Die grünen Auen und die Wasser der Ruhe | 119 |
Das Wort Gottes und das Priestertum Christi | 121 |
Die Anbetung im Geist und in der Wahrheit | 131 |
Die Letzten Worte Davids | 134 |
Kurze Gedanken | 137 |
D1e Fürbitte Christi | 141 |
Die Wolke und das Lager | 152 |
Das Jubeljahr | 159 |
Ist Christus Dir kostbar? | 160 |
Das Ausharren bis ans Ende | 161 |
Die silberne Trompete | 174 |
Ausheimisch vom Leibe | 181 |
Die Liebe untereinander | 188 |
"Das Leben ist für mich Christus u. das Sterben Gewinn" | 193 |
"Das Fleisch gelüstet wider den Geist, | 194 |
Kurze Bemerkungen über Phil. 4 . | 195 |
Die Stellung des Gläubigen in Christo | 198 |
Geheiligt dem Herrn
Wenn ich dem Herrn folge, so befinde ich mich da, wo Er
ist, und in dieser Stellung lerne ich Seine Gedanken über die
gegenwärtige Zeit kennen. Ich bin dann im Lichte, „wie er
im Lichte ist" (1. Joh 1, 7). „Unsere Gemeinschaft ist mit
dem Vater und mit seinem Sohne Jesus Christus" (1. Joh 1,
3). Das Verständnis der Gedanken der Heiligen Schrift an
und für sich ist noch nicht Gemeinschaft. Die Gemeinschaft
besteht darin, zur bestimmten Zeit einen und denselben
Gedanken mit dem Herrn zu haben; und zu diesem Zweck
müssen wir uns im Lichte befinden, wie Er Selbst im Lichte
ist. Nun aber ist die Gemeinschaft mit dem Herrn, die mit
dem ewigen Leben verbunden ist, selbstverständlich einzig
und allein unser wahrer Zustand; wir haben Christi Sinn. Es
ist unmöglich, daran zu zweifeln, daß es des Herrn Wille
sei, uns in dieser Seiner Nähe zu haben, denn nur dort
können wir wissen, wie wir uns in einer Welt zu betragen
haben, in der alles finster und im Widerstand zu Gott ist,
und wo selbst unter denen, die bekennen, Ihm anzugehören,
die verschiedensten Ansichten und Handlungsweisen zu
finden sind. Der Dienst des Herrn hat gerade den Zweck,
uns in diese Nähe zu führen. Er wäscht mir die Füße, damit
ich durch Sein Wort von den Einflüssen, die mich umringen
und mich von ihm entfernen, getrennt bin und wie Maria
zu Seinen Füßen sitzen kann, um von Ihm zu lernen. Müssen
wir denn gedrängt werden, um diesen Platz einzunehmen? Kann es für das Herz dessen, der die Liebe Christi
geschmeckt hat, etwas Köstlicheres geben, als zu wissen, daß
Jesus uns Seine Gedanken mitteilen will, und zwar nicht nur
in allgemeiner Weise, sondern gerade in bezug auf die
Gegenwart? Nun, das ist Gemeinschaft. Nicht als ob es nicht
der Zweck der Heiligen Schriften sei, uns die Gedanken des
Herrn über bestimmte Zeiten und die darin herrschenden allgemeinen Grundsätze kundzutun, aber, wie schon bemerkt,
die Erkenntnis der Gedanken Christi, wie die Heilige Schrift
sie uns gibt, genügt allein nicht. Um die Heilige Schrift anwenden zu können, muß ich in der Gemeinschaft des Herrn
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Selbst sein, denn nur da bin ich im Lichte, wie Er im Lichte
ist. Ich vermag z. B. aus verschiedenen Stellen des Wortes zu
ersehen, daß Salomo ein Vorbild auf Christus in Seinem
messianischen Reich ist, aber wenn ich dieses Vorbild auf die
Kirche anwenden will, so ist es klar, daß ich in dieser Hinsicht
die Gedanken des Herrn nicht erkannt habe, weil dieses Vorbild sich nicht auf Seine Verbindung mit Seinem himmlischen
sondern mit seinem irdischen Volke bezieht.
Es gibt nichts Gesegneteres für die Seele, als die Gedanken
des Herrn bezüglich der gegenwärtigen Zeit zu kennen, und
dennoch legen die Christen in dieser Beziehung oft leider
eine so große Gleichgültigkeit an den Tag. Das kommt ohne
Zweifel größtenteils daher, daß diese Gedanken so wenig
erkannt und darum auch so wenig nach ihrem wahren Wert
geschätzt werden. Das wirkliche Hindernis besteht jedoch
darin, daß man hier nur im Glauben eintreten kann. Nichts
in den uns umgebenden Umständen befähigt uns, die Gedanken Christi zu verstehen; im Gegenteil, wenn wir unsere
Blicke auf die äußeren Dinge richten und uns dadurch leiten
oder helfen lassen wollen, so können wir gewiß sein, daß wir
in Irrtümer fallen, denn diese Dinge sind Finsternis, und
nicht Licht. Die Umstände und der Zustand der Dinge hienieden können uns zum Herrn treiben, und in Seiner Gegenwart sehen wir dann, wie sehr das, was die Menschen gutheißen, den Grundsätzen Christi zuwider ist.
Es liegt — ich wiederhole es —• klar am Tage, daß die Grundsätze, die uns durch die Heilige Schrift geoffenbart werden,
nur dann ihre Bedeutung und Kraft erlangen, wenn wir uns
in der Gegenwart Gottes befinden. Dort allein werden wir
durch den Glauben erleuchtet, um sowohl den Charakter und
die Macht dieser Grundsätze als auch ihren Gegensatz zu den
Wegen und Gedanken der Menschen zu erkennen. Nehmen
wir als Beispiel einen Jünger Christi, der durch die Gnade
dahin gebracht ist, Ihm zu folgen. Seine Füße sind gewaschen,
zum ersten Mal genieß t (was die wahre Heiligkeit ausmacht) seine Seele das Glück, im Geiste durch die Kraft des
Wortes für Christus im Lichte abgesondert zu sein. Wird er
nicht als Folge dessen, was er bei dem Herrn genossen hat,
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in seinem Wandel allen Verkehr mit Personen und Dingen
meiden, die durchaus keine Übereinstimmung und Gemeinschaft mit den Gedanken Christi haben? Seine Gemeinschaft
mit Ihm mag sehr schwach gewesen sein, aber wenn er einen
guten Gebrauch von der ihm verliehenen Gnade macht, wird
er mehr empfangen. Er beginnt aufs allerbeste, denn sein
Anfang ist von oben. In Gemeinschaft mit Christus und
entsprechend dem Maße des empfangenen Lichtes und seiner
Kraft wendet er sich von allem ab, was dieser Gemeinschaft
nicht entspricht. Das Licht, in dem allein diese Gemeinschaft
bestehen kann, fordert dies von ihm. Wenn er sagt, daß er
Gemeinschaft mit Ihm habe und in der Finsternis wandelt,
so lügt er und tut nicht die Wahrheit. Darum ist auch die
Gemeinschaft der Prüfstein jeder Tätigkeit, denn sie kann
nur bestehen, wenn wir im Lichte wandeln, wie Christus im
Lichte ist. Wenn wir aufhören, im Lichte — in der Heiligkeit
Gottes — zu wandeln, so verlieren wir im gleichen Augenblick den Genuß und das Vorrecht der Gemeinschaft, und
wir sind nicht fähig zu beurteilen, wie wir uns in einer Welt,
die im Argen liegt, zu betragen haben.
Gewöhnlich handeln die Heiligen jedoch eher derart, daß sie
berechnen, was sie ohne ihr Gewissen zu besudeln, beibehalten können, als daß sie wie der eben erwähnte Jünger versuchen, die Gedanken des Herrn zu verstehen und sich in
dem Maße, wie sie es verstehen und wie das Wort sie dazu
ermächtigt, von allem, was nicht Gott gemäß ist, abzuwenden. Wenn ich in Gemeinschaft mit dem Herrn bin, so weiß
ich, was Ihm wohlgefällig ist. Da hält mich Sein Wort durch
den Glauben aufrecht, und inmitten der mich umgebenden
Unordnung suche ich Ihm zu dienen und Ihn zu ehren. Wie
verschieden sind aber die Ergebnisse, die diese beiden Zustände bewirken! In dem einen — in der Gemeinschaft mit
den Gedanken des Herrn — nehme ich nur das an, was heilig
ist und der Gegenwart Gottes entspricht; in dem anderen
Zustand — in dem sich so viele Gläubige befinden — habe
ich kein klares Verständnis von dem, was Gott will, sondern
ich wünsche, von Ihm in den Umständen, in denen ich mich
gerade befinde, unterstützt zu werden. In dieser letzteren
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Stellung gleiche ich Abraham, der zwar in guter Absicht,
aber nicht auf dem Boden des Glaubens, die Worte sagte:
„Möchte doch Ismael vor dir leben" (1. Mo 17, 18)!, während ich in der anderen Stellung Mose gleiche, der die Ausrottung und die Zerstörung alles dessen verlangte, was mit
der göttlichen Gegenwart unvereinbar war (2. Mo 32, 20-27).
Im Zustande eines wahren Jüngers bemühe ich mich um die
Fortdauer des Guten, das rein ist, das ich selbst in der
Gegenwart Gottes gekostet und genossen habe und von dem
ich durch Sein Wort weiß, daß er mich darin erhalten wird,
während ich in einem schlechten Zustand wünsche, daß der
Herr die Dinge wie sie sind, gutheißen möchte. Ich habe
dann kein wahres Verständnis einer so erhabenen Stellung,
die alle diese Dinge beiseitelassen und gewiß nichts schonen
würde, was der Heiligkeit Gottes zuwider ist. Ich suche in
diesem Fall nicht das Göttliche, sondern die göttliche Anerkennung dessen, was mir hienieden begegnet und als das
Beste erscheint. Ich kann mich bemühen, die bestehenden
Dinge zu verbessern oder zu verändern, aber sie sind und
bleiben doch stets menschliche Dinge, selbst wenn sie verbessert sind, während das, was göttlich ist, keiner Vervollkommnung bedarf, und die menschlichen Dinge völlig ersetzt.
Das „Geheiligtsein für den Herrn" — die Absonderung von
jeder Art Befleckung — ist die erste und vornehmste Sache,
auf die ein Mensch, der Christus nachfolgt und mithin in
Gemeinschaft mit Ihm ist, sich stützen wird. Was für ein
anderes Ziel oder Bedürfnis könnte auch derjenige haben, der
sich im Lichte befindet, wie Gott im Lichte ist? Wir sind
die Behausung Gottes im Geiste (Eph 2, 22), und je mehr
ich im Lichte bin, desto mehr wird dieses Wort eine Bedeutung für mich haben, desto mehr werde ich es auch im
Glauben festhalten, denn in Seiner Gemeinschaft ist meine
Seele versichert, daß dies Wort vo n Ih m ist. Von Anfang
an hat der wahre Gläubige seine Absonderung festgehalten
und sie als das Hauptkennzeichen seiner Berufung angesehen,
und je mehr Gott geoffenbart worden ist, desto mehr ist
dieser Grundsatz mit Nachdruck und Macht in den Vorder -
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grund gestellt worden. Als Gott (wie jetzt auf Grund der
Erlösung) unter Seinem Volke auf der Erde wohnte, wurde
nach dem Auszug der Kinder Israel aus Ägypten ihnen als
wichtigstes Gebot vor Augen gestellt: „Ihr sollt heilig sein,
denn ich . . . bin heilig" (3. Mo 19, 2), und gewiß hat es nie
ein aus einem aufrichtigen Herzen kommendes Zeugnis der
Hingabe an Gott gegeben, das nicht diesen Charakter getragen hätte. Sei es ein Daniel in Babylon, ein Esra oder
Nehemia unter den nach Jerusalem zurückgekehrten Gefangenen — immer lautet der sie beherrschende Grundsatz: „Geheiligt für den Herrn!" Sei es bei einem Pinehas oder bei
einem Gideon — nirgends zeigt sich Kraft, wenn nicht von
Anfang an derselbe Grundsatz aufrechterhalten wird, sich
vom Bösen abzuwenden und sich in der deutlichsten Weise
davon zu trennen. Und in der Tat, nichts ist folgerichtiger.
Gott ist Licht: je mehr ich mich in Seiner Nähe befinde, und
je mehr ich es verwirkliche, daß ich durch den Geist Seine
Behausung bin, desto mehr muß ich in aller Einfalt und
Klarheit mich als solcher erweisen. Nur Er und nichts anderes
darf meine Wege ordnen, und mit Eifer habe ich das Wort
in Ps 93 aufrechtzuerhalten: „Deinem Hause geziemt Heiligkeit, Jehova, auf immerdar".
Dies ist es, was den Jünger leitet, der sich in der Nähe seines
Herrn aufhält und in Seiner Gemeinschaft ist. Er hat sich in
jeder Hinsicht auf die Heiligkeit Gottes zu stützen; er kann
nichts dulden, was er als unrein erkennt; er kann und darf
sich demselben nicht nähern. Er hat eine Stätte betreten, wohin
keine Unreinigkeit zu dringen vermag; dort sind seine Neigungen und Gewohnheiten gebildet worden, und die Trennung von jedem erkannten Bösen ist eine natürliche Folge
davon. Er heißt nichts derartiges gut, unter welchem Vorwande es auch sein könnte, und der einzige Beweggrund
seiner Handlungen ist stets das „Geheiligtsein für den Herrn".
Darum sagt Gott, als der Zustand in der Kirche einen ungewöhnlichen Grad des Bösen erreicht hatte, durch Sein Wort
zu Timotheus: „Wenn nun jemand sich von diesen (den
Gefäßen zu Unehre) reinigt, so wird er ein Gefäß zur Ehre
sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn" (2. Tim 2, 21).
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So sehen wir also, daß kein Ausspruch des Wortes so bestimmt und so klar ist, wie der, daß die erste Grundlage der
Behausung Gottes die Heiligkeit ist. Gott ist heilig, und die
Seele, die in Seiner Heiligkeit lebt, findet darin ihr Glück
und kann sich bei dem, was hier für Ihn getan wird, durchaus unter nichts beugen, was sich in irgendeiner Verbindung
mit dem Bösen befindet. In der Gemeinschaft mit Gott
lerne ich die wahre Macht und den Wert seines Wortes kennen, und wenn ich mich daran halte und im Glauben wandle,
so werde ich durch den Herrn in der Richtung und in dem
Wege, die Ihm allein gefallen, gestärkt und unterstützt werden. In Seiner Gegenwart liebt mein Herz keinen anderen
Weg, und so geleitet, bin ich wirklich ein Zeuge für Gott.
Betrachtung über Psalm 23
„Jehov a is t mei n Hirte" . Wenn auch das in Joh 10
dargestellte Bild eines Schafes eigentlich nicht auf die gesegnete Person des Herrn Jesus anzuwenden ist, so sehen wir
Ihn doch freiwillig und in Gnaden auf dem Wege der Niedrigkeit und der Abhängigkeit wandeln, und wie sehr wäre
es zu wünschen, daß unsere Seelen gleich Ihm mit Vertrauen
sagen möchten: „mi r wir d nicht s mangeln . Er
lager t mic h au f grüne n Auen , e r führ t
mic h z u stille n Wassern. " Er gibt uns Seinen
Frieden und will, daß Seine Freude völlig in uns sei, und
wenn ich mich auf Seinem Wege befinde, Seine Stimme höre
und ihr folge, so wird es sich gewiß als eine natürliche Folge
der Pflege des guten Hirten erweisen, daß ich grüne Auen
und stille Wasser an einem Ort finde, wo nach menschlichen
Begriffen nur Sand und Dürre zu erwarten ist.
„ E r ruf t Sein e eigene n Schaf e mi t Name n
u n d führ t si e heraus " (Joh 10, 3). Trotz allem,
was der Mensch aufgeboten hat, um Ihm den Eintritt zu
verwehren, hat Ihm dennoch der Türhüter aufgetan, damit
Er Seine eigenen Schafe herausführen kann. Und wohin? In
die Wüste, in ein ödes, dürres, wasserloses Land, wo selbst
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Er, Der vom Himmel kam, weder grüne Auen noch stille
Wasser fand. Aber hier geht Er, der gute Hirte, vor ihnen
her; Er ist der Fels in der Wüste, und Er erquickt die durstenden Schafe, die in Abhängigkeit des Herzens Seine
Stimme hören und Ihm folgen. Wollen sie in der Wüste
etwas finden, so müssen sie beim Felsen bleiben.
In der Tat, wenn der Glaube nicht tätig ist, um die Pflege
des guten Hirten würdigen zu können, dann finden wir statt
der grünen Auen nur eine dürre, öde Sandfläche, die weder
Nahrung noch erquickende Ruhe bietet. In einem solchen
Fall können wir versichert sein, daß wir an Plätzen suchen,
wohin Jesus uns nicht geführt hat. Nur der Glaube versteht,
daß unser Glück weder von Menschen noch von Umständen
abhängig ist, sondern von Jesus allein. Der Jude stand nicht
unter dem Schutze des guten Hirten, sondern hinter der
„Zwischenwand der Umzäunung", es war das „Gesetz der
Gebote in Satzungen" (Eph 2, 14. 15); es waren hohe Mauern, die die Wölfe nicht zu erklimmen vermochten. Nicht in
dieser Weise beschirmt Jesus Seine Schafe. Er führt sie heraus,
und nichts kann sie vor den Angriffen des Feindes bewahren,
als die Obhut des guten Hirten Selbst. In Joh 10 finden wir
als den vornehmsten Gedanken, daß Jesus der Schutz und
das Teil seiner Schafe ist; „sie hören seine Stimme und folgen
ihm". Warum hörte man auf, ein Jude zu sein? Weil man
die Stimme Jesu hörte. Das Schaf kennt vielleicht nicht die
Richtung des neuen Weges, aber es hört Seine Stimme, und
das ist hinre'chend. Gott sprach zu Abraham: „Gehe aus
deinem Lande". Und wohin? „in ein Land, das ich dir zeigen
werde". — Christus geht voran, und das wird wohl genügen.
Wenn Christus vor mir hergeht, habe ich alles, was ich
bedarf; und wenn Er mich in einer Wüste weiden will, so
hat er dazu Seine guten Gründe.
Seine Schafe „folgen ihm". Etwa darum, weil der Weg gut
ist? Keineswegs; aber es ist Seine Stimme, und wer sie hört,
hat selbst wenn Wölfe sich zeigen, keinen Grund, besorgt
oder ängstlich zu sein. In der Gefahr ergreift das Kind die
Hand der Mutter, und dadurch wird alle Furcht verscheucht,
weil diese Hand für seine Verteidigung sorgt. „Einem Frem13
den aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm
fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen"
(Joh 10, 5). Ein Kind verbirgt sich vor einem Fremden, nicht
weil es weiß, wer er ist, sondern weil es hört, daß es weder
des Vaters noch der Mutter Stimme ist; und eben weil es
sich klein und schwach fühlt, will es beschützt sein. So
schwach auch eine Seele sein mag, so erkennt sie doch die
Stimme des guten Hirten, und wenn ein Fremder sie an sich
zu locken sucht, so sagt sie: „Nein, das ist nicht die Stimme
meines Hirten".
„Ic h bi n di e Tür ; wen n jeman d durc h
mic h eingeht , s o wir d e r errette t werde n
u n d wir d ein - un d ausgehe n un d Weid e
finden " (Joh 10, 9). Habe ich den Herrn als die Tür
gefunden, so ist Errettung und völlige Freiheit mein Teil. Er
ist die Tür zum Ein- und Ausgehen. Habe ich erkannt, daß
das Wort Jesu meine Nahrung ist, so ist die Tür offen, um
einzutreten; ich befinde mich dann auf den grünen Auen.
Habe ich erkannt, daß die unerschöpfliche, unversiegbare
Quelle unseres Glückes, unserer Freude und unserer Ruhe nur
in Ihm ist, so gehe ich zu Ihm hinaus und folge seinen
Schritten, wohin Er auch gehen mag. Aber draußen ist die
Wüste, und Gott will nicht, daß wir hienieden in den Umständen, in den Menschen oder in uns selbst die stillen
Wasser suchen. Er führt uns in die Wüste, um uns zu, zeigen,
daß es undenkbar ist, das Glück, die Freude und die Ruhe
außer Jesu zu erlangen. Der Herr Jesu stellt Seine Schafe
dem Vater gegenüber in dieselbe Stellung, in der Er Ihm
gegenüber steht. Und wie bei Ihm es nicht die Umstände
waren, die Seine Freude ausmachten und Ihm Erquickung und
Ruhe gaben, so auch bei Seinem Schaf nicht, und es ist in der
Tat eine große Barmherzigkeit, daß wir ohne Jesus nichts finden. In dieser Stellung erfahren wir, daß der Genuß wahrer
Segnungen nur von einer treuen Nachfolge und einem steten
Hinschauen auf den voranschreitenden Hirten abhängt. Wir
wissen dies, geliebte Brüder, und dennoch sind unsere Herzen so sehr geneigt, sich mit anderen Gegenständen zu
beschäftigen, und sind unaufhörlich bemüht, grüne Kräuter
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ohne Jesus, und Erfrischungen fern von der wahren Quelle
zu suchen. Ohne den guten Hirten aber gibt es weder „grüne
Auen" noch „stille Wasser", ohne Ihn findet die Seele nichts
als eine öde, dürre, wasserleere Wüste. Möchten wir dies
doch immer beachten, da wir nur im steten, unbeirrten Hinschauen auf den guten Hirten sagen können: „mir wird nichts
mangeln!"
„ E r erquick t mein e Seele , e r leite t mic h
i n Pfade n de r Gerechtigkei t u m seine s
Namen s willen . Auc h wen n ic h wandert e
im Tal e de s Todesschattens , fürcht e ic h
nicht s Übles , den n d u bis t be i mir ; dei n
Stecke n un d dei n Stab , si e tröste n mich. "
— Der Herr Jesus befand sich in Not und Gefahr, aber bei
Ihm gab es nie eine Unterbrechung der Gedanken an Seinen
Vater durch die Leiden die Er erduldete. Unsere Herzen seufzen oft über die Schwierigkeiten und Mühen unseres Weges.
Der Herr Jesus tat es nie; Er schaute nach oben, und trotz
aller Widersprüche um Ihn her konnte Er stets mit erquickter
Seele sagen: „Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit". Der
vollkommene Wille Gottes war vor Ihm und in völligem Gehorsam beugte er sich unter ihn. Und wo hat Er dies gelernt?
In den Schwierigkeiten Seines Weges, auf dem rauhen, steilen
Pfade dieser Wüste. Angesichts der Macht des Widersachers
konnte Er sagen: „Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts
meiner Feinde".—Gott war da und bereitete den Tisch zu. Und
so ist es auch heute noch. Wenn der Feind und sein Heer die
äußersten Anstrengungen machen, um uns in den Weg zu
treten und uns nichts als Entbehrungen aller Art finden zu
lassen, so werden wir doch stets die Erfahrung machen, daß
Christus in vollkommener Gnade da ist, um uns einen „Tisch
zu bereiten". Welch eine dankenswerte Fürsorge!
Es ist sehr belehrend zu sehen, daß das Manna beim Einzug
der Kinder Israel in das Land Kanaan aufhörte, und zwar
nach der Passahfeier zu Gilgal. Aber Gott bereitete den Tisch,
und das Volk aß angesichts seiner Feinde. Ebenso vermag die
Gegenwart unserer Feinde uns nicht des Genusses unserer
Segnungen zu berauben. Es mögen viele Schwierigkeiten, Verls
suchungen und selbst Kämpfe wider die Fürstentümer und
geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen örtern
vorhanden sein, — was schadet es uns, wenn Gott mit uns
ist und uns den „Tisch bereitet"? Nicht weil das Meer bewegt
war, hatte Petrus Mühe, sich darauf zu halten, sondern weil
sein Blick nicht auf Jesus gerichtet war; und sicher wäre der
kleingläubige Jünger gesunken, wenn auch das Meer noch so
ruhig gewesen wäre. Ebenso werden selbst unsere gesegnetsten Erfahrungen nutzlos und ohne Einfluß auf den Zustand
unserer Herzen sein, wenn wir nicht in jeder Lage auf Jesus
schauen. Oft bewirken neun Zehntel unserer Gedanken nur
Unnützes, aber welch gesegnete Resultate würden sich zeigen, wenn nur Jesus ihr einziger Gegenstand wäre?
Dies alles soll uns zeigen, daß wir ohne Jesus nichts vermögen, und daß wir Ihn auf unserem Wege nicht einen
einzigen Augenblick entbehren können. Wir befinden uns in
einer Stellung, wo das Fleisch nichts auszurichten vermag,
und wo wir ohne Jesus keinen Schritt tun können. Die Folge
davon ist nicht, daß wir uns in einer angenehmen Lage
befinden, sondern daß wir das Bewußtsein haben, mit Jesu
verbunden zu sein, und Ihn als unser, und uns als Sein
Eigentum betrachten zu dürfen. Er sieht uns an wie Sich
Selbst, und also mit den Seinigen vereinigt, ruft Er ihrem
Verfolger die Worte zu: „Warum verfolgst du. mich?" Was
vermag Satan gegen einen solchen mächtigen, mitleidigen
und guten Hirten, aus Dessen Händen uns niemand rauben
kann? Alle Anstrengungen des Feindes können nur die Wirkung haben, uns näher zu Jesus zu treiben, Seine Gemeinschaft zu genießen und frohlockend auszurufen: Mei n Be -
che r fließ t über! " Im Genuß Seiner Liebe werden
alle unsere Bedürfnisse gestillt und die Neigungen des Fleisches getötet und zum Schweigen gebracht. Welch ein Segen,
bei Jesus zu sein, Ihn zu schauen und zu genießen, und in
Ihm alles zu finden, was unsere Freude völlig macht. „Für -
wahr , Güt e un d Hul d werde n mi r folge n
all e Tag e meines Lebens!" Gott hat für alle Tage meines
Lebens alles entschieden und in Ordnung gebracht. Ich trage
Sein Siegel. Er schirmt und schützt mich, und meine Vereini16
gung mit Ihm hat die gesegnete Folge, daß Er mich an stillen
Wassern erquickt und mich unaussprechliche, unveränderliche
Segnungen genießen läßt. Wenn Er uns hinausgeführt hat
und wir das Bewußtsein haben, unter Seinem Schutze zu
stehen, so ist es ganz klar, daß wir mit Ihm draußen sind,
denn wir hören Seine Stimme und sind in völliger Ruhe.
Was haben die tobenden Stürme und die donnernden Meereswogen zu sagen? „Herr, wenn Du es bist, so kann ich wandeln!"
Um aber zu. wissen, ob wir in Seiner Gemeinschaft sind, ist
es durchaus nötig, daß wir uns praktisch darin befinden; und
gerade wenn der Glaube geprüft wird, sind wir am glücklichsten und können in der Wüste unerschrocken unsere
Pfade verfolgen, weil Jesus unser Schutz und Schirm ist. Und
sollte unsere Pilgerfahrt wie bei den Kindern Israel auch
einen Zeitraum von 40 Jahren umfassen, so werden wir doch
gleich ihnen am Ende der Laufbahn die Überzeugung gewinnen, daß „das Kleid nicht zerfallen und der Fuß nicht geschwollen ist".
Möchten wir doch alle die köstliche Erfahrung machen, daß
in Seiner Gegenwart kein Leid, kein Kampf zu mühsam und
zu schwer ist, und möchten wir stets Ihn und mit Ihm alles
genießen!
Die beiden Bande
Es gibt zwei sehr wichtige Bande im christlichen Leben, die
wir zu verstehen suchen sollten, nämlich 1. das Band des
ewigen Lebens und 2. das Band der persönlichen Gemeinschaft. Diese Bande dürfen wegen ihrer völligen Verschiedenheit nie miteinander vermengt, und wegen ihrer innigen
Verbundenheit nie voneinander getrennt werden. Jenes ist
der Grund unserer Sicherheit, dieses die geheime Quelle
unserer Freude und unserer Kraft. Jenes Band kann nie zerrissen werden, dieses jedoch aus dem kleinsten Anlaß. Da wir
von dem unschätzbaren Wert dieser Bande überzeugt sind,
wollen wir sie ehrfurchtsvoll und mit Gebet im Lichte des
Wortes Gottes einer näheren Prüfung unterziehen.
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Im Blick auf das erste kostbare Band, das des ewigen Lebens,
können wir nichts besseres tun als einige kleine Schriftstellen
anführen, die uns zeigen, woher dieses Band kommt, was es
ist, und wann und wie es gebildet wurde.
Dazu ist vor allem nötig, daß man „aus Wasser und Geist
geboren" ist, denn der natürliche Mensch versteht nichts von
diesem Bande. „Was aus dem Fleische geboren ist, ist
Fleisch". Es mag bei einem Menschen vieles vorhanden sein,
was liebenswürdig ist: ein wertvoller Charakter, große Freigebigkeit, strenge Rechtschaffenheit, aber das ist kein ewiges
Leben. Mag man die Natur auch erziehen und veredeln, so
kann man doch nie das große Band des ewigen Lebens hervorbringen. Man mag sie sittlich weise und religiös machen,
aber solange es sich um die bloße Natur handelt, fehlt das
ewige Leben. Man mag die besten moralischen Tugenden
auswählen und sie in einer Person vereinigen, aber darum
hat diese Person noch keinen einzigen Pulsschlag des ewigen
Lebens in sich verspürt. Nicht daß diese Tugenden und Eigenschaften an und für sich nicht gut und wünschenswert sind;
im Gegenteil ist alles, was in der Natur sittlich und gut ist,
nach seinem eigenen Werte zu schätzen. Wer wollte auch nur
e
:
nen Augenblick lang einen nüchternen, tätigen, liebenswürdigen und sittlich ernsten Mann mit einem trunkenen,
trägen und störrischen Verschwender auf die gleiche Stufe
stellen? Vom menschlichen und sittlichen Gesichtspunkt gibt
es hier einen auffälligen, sehr wesentlichen Unterschied, aber
dennoch können wir weder durch die besten Tugenden noch
durch die edelsten Eigenschaften der alten Schöpfung einen
Platz in der neuen erwerben. Wir können d;
e Vortrefflichkeiten des ersten Adam, auch wenn diese allesamt in einer
Person vereint wären, keineswegs mit dem letzten Adam
vereinbaren. Der alte und der neue Mensch, der erste und
der letzte Adam, sind völlig verschieden voneinander. „Was
aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem
Geiste geboren ist, ist Geist". — „Daher, wenn jemand in
Christo ist, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden".
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Nichts ist deutlicher, nichts ist aber auch entscheidender als
die zuletzt angeführte Stelle aus 2. Kor 5. „Das Alte" —
was es auch sein mag — „ist vergangen". Es wird als etwas
betrachtet, das in der neuen Schöpfung, in der „alles von
Gott" ist, keinen Platz findet. Das alte Fundament ist weggerückt, und in der Erlösung sind neue Fundamente gelegt
worden. „Alles ist neu geworden." — „Alles aber von . . .
Gott". Die „Gefäße" der alten Schöpfung sind beiseite geworfen und die Gefäße der Begnadigung an ihren Platz gestellt
worden. Das „Gewand" der alten Schöpfung ist weggeworfen und durch das neue, fleckenlose Kleid der Erlösung
ersetzt worden. An diesem feinen Kleid kann die Hand des
Menschen weder einen Faden weben, noch eine Masche
stricken. Wie wissen wir das? Wie können wir das mit
solcher Zuversicht und Festigkeit behaupten? Weil die mit
göttlicher Autorität versehene und darum entscheidende
Stimme der Heiligen Schrift erklärt, daß in der neuen
Schöpfung „alles . . . von . . . Gott" ist. Der Herr sei dafür
gepriesen! D:
es ist es, was alles so sicher macht und alles
ganz außerhalb des Bereiches der Macht des Feindes steht.
Er kann niemanden und nichts in der neuen Schöpfung antasten. Der Tod ist die Schranke für die Herrschaft Satans;
das Grab bildet die Grenze seines Reiches. Aber auf der
anderen Seite des Todes beginnt die neue Schöpfung. Sie
zeigt unseren entzückten Blicken die Himmelsseite jener
Gruft, in der der Fürst des Lebens begraben lag; sie läßt um
uns herum die glänzenden Strahlen ihrer Herrlichkeiten auf
einem Schauplatz hervorströmen, zu dem der Tod keinen
Zutritt hat, wo Sünde und Trauer unbekannt sind, und wo
weder das Zischen der Schlange gehört noch ihre hassenswürd;
ge Spur gesehen wird. „Alles aber von . . . Gott".
Ein klares Verständnis der neuen Schöpfung würde gewiß
eine Menge Schwierigkeiten und Verlegenheiten beseitigen
und d e Dinge erstaunlich vereinfachen. Aber was entdecken
wir, wenn wir betrachten, wozu die religiöse Welt oder die
bekennende Kirche sich berufen glaubt? Eine gewaltige Anstrengung, um den Menschen in seiner Adams-Natur, oder
im Zustande der alten Schöpfung zu vervollkommnen.
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Menschenliebe, Wissenschaft, Philosophie, Religion — alles
dies wird aufgeboten, um den Menschen auf das höchstmöglichste moralische Niveau zu erheben. Was meinen die
Menschen, wenn sie, wie dies oft geschieht, von „Massenveredlung" reden? Was können sie mit ihren Versuchen
erreichen? Bis zu welchem Punkt können sie die Massen
„veredeln"? Können sie sie zur Höhe der neuen Schöpfung
erheben? Keineswegs, denn in dieser Schöpfung ist „alles . . .
von . . . Gott."
Aber wer oder was sind diese Menschen, die sie zu veredeln
trachten? Sind sie aus dem Fleische geboren, oder aus dem
Geiste? Doch unleugbar aus dem Fleische. Aber: „Was aus
dem Fleische geboren ist, ist Fleisch." Man mag das Fleisch
so hoch wie möglich erheben und den stärksten Hebel ansetzen, um das zu erreichen. Man mag erziehen, veredeln,
verfeinern, soviel man will. Wissenschaft, Philosophie, Religion und Menschenliebe mögen alle ihre Macht aufbieten, —
und was geschieht? Das Fleisch läßt sich nicht in Geist umwandeln, man kann es nicht in die neue Schöpfung bringen,
man kann nicht das erste, große Band des ewigen Lebens
hervorbringen. Man hat also nichts erreicht zum Besten des
Menschen, für sein ewiges, geistliches Wohl. Man hat ihn in
seinem adamitischen Zustand, auf dem Boden der alten
Schöpfung gelassen, und damit in seinen Neigungen, Verantwortungen, Sünden und Missetaten. Nach wie vor ist er
dem gerechten Zorn eines die Sünde hassenden Gottes ausgesetzt. Man mag ihn, was seine Vergehungen betrifft, veredelt haben, aber dennoch ist er so sündig und schuldig wie
vorher. Die Veredelung kann die Schuld nicht wegrücken, die
Erziehung nicht die Sünde auslöschen, und die Sittenverbesserung kann nicht die dunklen und schweren Wolken
von Tod und Gericht aus dem Blickfeld des Menschen beseitigen.
Man möge uns nicht mißverstehen. Wir legen gewiß keinen
zu geringen Wert auf Erziehung und Zivilisation, wahre
Menschenliebe und Wahrheitsliebe. Im Gegenteil, wir achten sie nach ihrem wahren Wert als das, was sie sind. Wir
sind bereit, alle diese Dinge an ihrem Ort anzuerkennen,
20
aber nachdem wir dieses getan haben, kehren wir mit verdoppeltem Nachdruck zu unserer Behauptung zurück, daß
durch die „Massenveredelung" etwas veredelt wird, was
keine Existenz vor Gott, keinen Platz in der neuen Schöpfung
hat. Wir wiederholen mit allem Nachdruck, daß, solange die
Seele nicht in die neue Schöpfung geführt ist, im Hinblick auf
die Ewigkeit, den Himmel und Gott nichts für die Seele getan
ist. Wohl kann man dem Menschen den Weg durch diese
Welt ebnen, alles Bittere von diesem Weg entfernen, das
Fleisch trügerisch in Üppigkeit und Wohlleben wiegen, man
kann ihm Ehren aller Art zukommen lassen, seinen Namen
mit vergänglichen Titeln schmücken, aber trotz allem bleibt
er in seinen Sünden und unter der Drohung des Todes und
der ewigen Verdammnis. Wenn das erste große Band, das des
ewigen Lebens, nicht hergestellt ist, ähnelt die Seele einem
Schiff ohne Anker, das ohne Steuer und Kompaß auf dem
Ozean umhergeworfen wird.
Wir wünschen von ganzem Herzen, der Leser möge seine
volle Aufmerksamkeit auf diesen Punkt richten, denn er hat
große praktische Bedeutung. Wir glauben, daß es kaum
irgend eine Wahrheit gibt, der der Teufel mächtiger und
beständiger widersteht, als die Wahrheit von der neuen
Schöpfung. Er erkennt sehr wohl ihren mächtigen sittlichen
Einfluß, ihre Macht, die Seele von den gegenwärtigen Dingen
zu erheben und ein Abgestorbensein gegenüber der Welt
und eine praktische Erhebung über die zeitlichen und sinnlichen Dinge zu bewirken. Daher seine Anstrengungen, die
Menschen stets an die fruchtlosen Versuche zu ketten, die
Natur zu veredeln und die Welt zu vervollkommnen. Er
erhebt keinen Widerspruch gegen die Sittlichkeit oder gegen
die Religion in allen ihren Formen. Er bedient sich ja gerade
des Christentums als eines Mittels zur Veredelung der alten
Natur. Es ist ihm wirklich als sein Meisterstück anzurechnen,
die christliche Religion als einen „neuen Flicken" auf das
„alte Kleid" der gefallenen Natur zu heften. Man kann tun,
was einem beliebt, wenn man nur den Menschen in seiner
alten Schöpfung beläßt, denn Satan weiß sehr wohl, daß der
Mensch in seinen Krallen bleibt, solange man ihn dort läßt.
21
Alles in der alten Schöpfung ist in der Gewalt Satans und
damit im Bereich seiner Pfeile. Alles in der neuen Schöpfung
steht außerhalb seines Machtbereichs. „Der aus Gott Geborene bewahrt sich, und der Böse tastet ihn nicht an". Es
wird nicht gesagt, daß der Gläubige sich bewahrt und nicht
vom Bösen angetastet wird. Der Gläubige ist ein zusammengesetztes Wesen, das aus zwei Naturen besteht, der alten
und der neuen, dem Fleisch und dem Geist. Wenn er nun
nicht wachsam ist, so wird ihn der „Böse" bald antasten,
ihn umwerfen und zu seinen Zwecken gebrauchen. Aber die
göttliche Natur, die neue Schöpfung, kann nicht angetastet
werden, und solange wir in der Kraft der göttlichen Natur
wandeln und die Atmosphäre der neuen Schöpfung einatmen,
sind wir völlig sicher vor allen Angriffen Satans.
Wir wollen jetzt weiter untersuchen, wie wir in diese neue
Schöpfung hineingelangen, wie wir in den Besitz der göttlichen Natur kommen, und wie dieses Band des ewigen
Lebens hervorgebracht wird. Einige Stellen aus dem Worte
Gottes werden uns hierüber genügend belehren. „Also hat
Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab,
auf daß jeder, de r a n ih n glaubt , nicht verloren
gehe, sondern ewige s Lebe n habe" (Joh 3, 16). Möge
sich der Leser diese Worte merken und namentlich die Verbindung: „an ihn glauben" und „ewiges Leben haben". Der
einfache Glaube ist also das Band. Durch den Glauben gehen
wir aus der alten Schöpfung und allem, was dazu gehört, in
die neue Schöpfung mit allen ihren Segnungen. Das kostbare
Geheimnis der Wiedergeburt ist also der Glaube, der in der
Seele bewirkt wird durch die Gnade Gottes, des Heiligen
Geistes — der Glaube, der Gott bei Seinem Wort nimmt und
der besiegelt, daß Gott wahrhaftig ist, ja, der Glaube, der die
Seele mit dem auferstandenen Christus, dem Haupt und dem
Anfang der neuen Schöpfung verbindet.
In einer anderen Schriftstelle lesen wir: „Wahrlich, wahrlich,
ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der
mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins
Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben übergegangen" (Joh 5, 24). Wieder finden wir dieselbe Verbin22
düng von Glauben und ewigem Leben. Nichts kann einfacher
sein. Durch die natürliche Geburt treten wir in die alte
Schöpfung ein und werden Erben alles dessen, was zum
ersten Adam gehört. Durch die Wiedergeburt treten wir in
das Reich der neuen Schöpfung ein, und werden die Erben
alles dessen, was dem letzten Adam angehört. Wenn man
fragt, welches das Geheimnis oder das große Rätsel dieser
geistlichen Geburt sei, dann lautet die Antwort: der Glaube.
Wenn der Leser also an Jesus glaubt, wie es die oben angeführten Schriftstellen ausdrücken, dann gehört er zur neuen
Schöpfung. Er ist dann durch ein unauflösliches Band mit
Christus verbunden. Ein solcher kann nicht verloren gehen.
Keine Macht der Erde oder der Hölle, keine Macht der Menschen oder Teufel kann je dieses Band des ewigen Lebens
zerreißen, das alle Glieder Christi mit ihrem auferstandenen
und verherrlichten Haupt untereinander vereinigt.
Möge es sich der Leser ganz besonders merken, daß wir in
bezug auf das Band des ewigen Lebens und auf seine Bildung stets die Gedanken Gottes an die Stelle unserer
eigenen Gedanken setzen müssen und stets unter der ausschließlichen Herrschaft des Wortes Gottes und nicht unter
der Herrschaft unserer eitlen Vernunftschlüsse, unserer
törichten Einbildungen und unserer stets wechselnden Gefühle se;
n müssen. Außerdem müssen wir eine Verwechslung
der beiden zu Anfang genannten Bande, die, obschon sie innig verbunden, dennoch völlig verschieden sind, mit Sorgfalt
vermeiden. Wir dürfen um keinen Preis ihre Plätze verrükken, sondern müssen sie in ihrer göttlichen Ordnung stehen
lassen. Das erste Band (das des ewigen Lebens) hängt nicht
von dem zweiten (dem der persönlichen Gemeinschaft) ab,
aber das zweite entspringt aus dem ersten. Dennoch ist das
zweite ebenso ein Band wie das erste, aber eben das zweite,
nicht das erste. Das erste Band kann selbst Satan mit all
seiner Macht und seiner Bosheit nicht zerstören; das Gewicht
einer Feder kann das zweite zerreißen. Das erste Band bleibt
für immer bestehen, das zweite kann in einem Augenblick
zunichtegemacht werden. Das erste Band verdankt seine
Beständigkeit dem am Kreuze vollbrachten Werke Christi
23
f ü r uns , das zweite hängt von der Wirksamkeit des
Heiligen Geistes i n un s ab, einer Wirksamkeit, die wir im
Laufe eines einzigen Tages durch tausend Dinge verhindern
können, und es leider auch oft tun. Das erste Band ist gegründet auf den Sieg Christi fü r uns , das zweite auf
den Sieg des Heiligen Geistes i n uns .
Wir sind fest davon überzeugt, daß unzählige Christen dadurch ins Wanken gebracht werden, weil sie auf Grund der
häufigen Unterbrechungen des Bandes und der persönlichen
Gemeinschaft an der Wirklichkeit und Beständigkeit des
Bandes des ewigen Lebens zweifeln. Es geschieht etwas, wodurch das zweite Band zerrissen wird und plötzlich beginnen
sie, die Existenz des ersten in Frage zu stellen. Das ist sicher
ein Irrtum, aber er dient nur dazu, uns die hohe Wichtigkeit
einer heiligen Wachsamkeit in unserem täglichen Leben vor
Augen zu stellen, so daß das Band der persönlichen Gemeinschaft durchaus nicht durch Sünde in Gedanken, Worten und
Werken zerrissen wird. Wenn es aber zerrissen sein sollte,
muß es augenblicklich durch ein auf den Tod und die Fürsprache Christi gegründetes Selbstgericht und Bekenntnis
wiederhergestellt werden. Es ist eine unleugbare, durch die
traurigen Erfahrungen tausender wahrer Gläubiger bestätigte
Tatsache, daß das erste Band unmöglich verwirklicht werden
kann, wenn das zweite zerrissen ist. Aber obwohl dies von
großer Wichtigkeit für uns ist, ist es in Wirklichkeit eine
untergeordnete Sache, denn die Unterbrechung unserer Gemeinschaft ist nur gering im Vergleich zu der Verunehrung
des Namens Jesu und der Betrübnis des Heiligen Geistes, zu
denen diese Unterbrechung die Ursache war.
Möchte der Geist Gottes mächtig in uns wirken und uns zu
Wachsamkeit, Gebetstreue, Ernst und Aufrichtigkeit anspornen, damit unsere Gemeinschaft durch nichts unterbrochen
werde, und wir die beiden Bande in ihrem Verhältnis zueinander mit der Gewißheit der Beständigkeit unseres Friedens
in Ihm und reinem, unbefleckten Wandel vor Ihm zu Gottes
Verherrlichung erkennen und genießen.
24
Ein Ohr und ein Herz für Jesus und Sein Wort
Nichts ist für den Gläubigen von größerer Wichtigkeit, als
ein Ohr und ein Herz für Jesum und Sein Wort zu haben.
Das würde uns manche Traurigkeit und manche Täuschung
ersparen und uns viel Erquickung und Freude bereiten. Auf
das „Aufmerken" und „Gehorchen" legt der Herr ein ganz
besonderes Gewicht, und beides werden wir in dem Maße
üben, wie unser Ohr und Herz für den Herrn und Sein
Wort geöffnet sind.
Zum Beweise dieser Behauptung will ich einige Beispiele
anführen, und zwar aus dem Leben der Jünger während
ihres Umgangs mit dem Herrn Jesus auf Erden. Das erste
Beispiel lesen wir in Mk 8,17: „Und als Jesus es erkannte,
spricht er zu ihnen: Was überlegt ihr, weil ihr keine Brote
habt? Begreifet ihr noch nicht und verstehet auch nicht? Habt
ihr euer Herz noch verhärtet? Augen habt ihr und sehet
nicht? Und Ohren habt ihr und höret nicht?" — Der Herr
wurde zu diesen Fragen an die Jünger veranlaßt, weil sie
meinten, daß die Warnung vor dem Sauerteig der Pharisäer
und Schriftgelehrten aus dem Grunde geschehen sei, weil
sie vergessen hatten, Brote mitzunehmen. Soeben hatte die
wunderbare Speisung der 4000 Männer mit wenigen Broten
und Fischen stattgefunden, und im Hinblick darauf stellt der
Herr diese Fragen. Hätten die Jünger Augen gehabt, um zu
sehen, und ein Herz, um zu verstehen, dann wären sie sicher
nicht auf den Gedanken gekommen, daß der Herr sie ermahnte, weil sie einige Brote vergessen hatten. Sie hatten
jedoch aus allem, was geschehen war, noch nicht erkannt, wer
Jesus war, und darum sagte Er: „Habt ihr euer Herz noch
verhärtet?" Und weiter fragte der Herr: „Als ich die fünf
Brote unter die fünftausend brach, wie viele Handkörbe voll
Brocken höbet ihr auf? Sie sagen zu ihm: Zwölf. Als aber
die sieben unter die viertausend, wie viele Körbe, mit Brocken
gefüllt, höbet ihr auf? Sie aber sagten: Sieben." — Wie beschämend waren ihre eigenen Antworten für sie! Wie beschämend, beim Anschauen einer solchen Fülle noch bekümmert zu sein wegen einiger Brote! Wie beschämend, in der
25
Gegenwart Dessen zu sein, Der bewiesen hatte, daß es für
Ihn dasselbe war, ob der Vorrat aus sieben oder aus fünf
Broten bestand, und dann noch zu fragen: „Sollte es auch
sein, weil wir vergessen haben, Brote mitzunehmen?" War
Er nicht da, Der nur auszuteilen befahl, und Der sicher nicht
eher ruhte, bis alle gesättigt waren? So lange noch ein Bedürfnis war, wurde die Vorratsscheuer nicht geschlossen. Ein
sehnendes Auge hätte bemerkt, daß das meiste gerade dann
übrigblieb, als das wenigste vorhanden war. Wie wenig
hatten daher ihre Herzen noch verstanden, was Jesus war
und was Er tat! Doch sehen wir in ihnen nicht unser eigenes
Bild? Fehlt auch uns nicht oft ein hörendes Ohr und ein
verständiges Herz? Wie oft haben wir die Macht des Herrn
gesehen, wie oft erfahren, daß Er geholfen hat, wo es uns
unmöglich schien! Und dennoch, wie oft ist es geschehen, daß
wir kurz nach solchen Erfahrungen beschwert und bedrängt
um uns schauten, wenn sich die kleinste Widerwärtigkeit
zeigte! Wurde da nicht offenbar, daß wir noch stets dasselbe
Herz hatten, das immer dieselbe Frage erhebt: „Wie soll ich
durchkommen?" Möchten wir doch erkennen, was Jesus ist,
damit unser Auge sich für Seine Fülle öffne! Dann werden
wir erfahren, daß die Gegenwart eines solchen Herrn völlig
genügend ist.
Das zweite Beispiel finden wir in Joh 14, wo der Herr Seine
Jünger über Seinen Hingang zum Vater belehrt. In Vers 5
lesen wir: „Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst, und wie
können wir den Weg wissen"? und in Vers 9: „So lange Zeit
bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?
Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen, und wie sagst
du: Zeige uns den Vater"? — Hier sehen wir, daß die
Jünger nichts von dem Hingang Jesu zum Vater verstanden,
und weder den Weg zum Vater, noch den Vater Selbst erkannten. Aber hatte der Herr Jesus nicht manches mal mit
ihnen über den Vater gesprochen? Strahlt es aus Seinen
Taten und Werken nicht deutlich hervor, daß der Vater in
Ihm, und Er in dem Vater war? Hatte Er ihnen nicht zu verstehen gegeben, daß Er dorthin gehen würde, wo Er zuvor
war? O ja, aber sie verstanden es nicht. Es waren himmlische
26
Dinge, über die Er mit ihnen sprach, und um himmlische
Dinge zu verstehen, muß man ein himmlisch gesinntes Herz
haben. Die Jünger lebten jedoch nur in der Erwartung, daß
der Herr Seine Herrlichkeit auf der Erde offenbaren werde.
Sie hatten nicht verstanden, daß Er sie in Verbindung mit
dem Himmel und dem Vater gebracht hatte, und darum auch
ihre Schritte dorthin lenkte. Sein Reich war nicht „von dieser
Welt". Es war deshalb nicht verwunderlich, daß sie als völlig
Unkundige vor Ihm standen, als Er mit ihnen über diese
Dinge sprach.
Ebenso ist es oft mit uns. Dieselben beschämenden Fragen
muß der Herr auch oft an uns richten, wenn Er unsere Unwissenheit und unseren Unverstand bezüglich der himmlischen Dinge bemerkt. Auch wenn wir seit Jahren bekehrt
sind, zeigt es sich nur zu oft, daß wir wegen unserer irdischen
Gesinnung die himmlischen Unterweisungen des Herrn nicht
verstehen können. Auch uns fehlt leider nicht selten ein
himmlisch gesinntes Herz, das fähig ist, die ganze Herrlichkeit und Kostbarkeit der Verheißungen des Herrn zu fassen.
Zwar reicht unsere Erkenntnis viel weiter als die der Jünger,
und diese Erkenntnis mag uns drängen, dieselben Fragen zu
stellen; aber wo ist das Herz, das sich jener herrlichen Stätte
erfreut, die Jesus im Hause des Vaters bereitet? Wo ist das
Herz, das die innige Vereinigung Jesu mit den Seinen offenbart? Wo ist das Herz, das die Freude des Herrn versteht,
wenn Er zu den Seinigen sagt, daß Er sie zu Sich nehmen
wolle, damit sie seien, wo Er ist? Wie sehr verrät unser tägliches Leben unsere geringe Erkenntnis des Vaters und Seiner
Liebe zu uns! Der Grund dafür sind unsere irdischen Pläne
und Erwartungen, die nicht gerade sündig zu sein brauchen,
uns aber unfähig machen, himmlische Dinge zu verstehen,
weil sie irdisch und weltlich sind. Wir brauchen deshalb nicht
zu fragen, wohin ein Herz geleitet wird, das von allerlei
weltlichen Überlegungen erfüllt ist. Ach, ein solches Herz
kann nichts von Jesus und Seiner Liebe verstehen.
Und wie verhielten sich die Jünger nach der Auferstehung
des Herrn? Wir sehen sie traurig und in ihren Hoffnungen
getäuscht. Maria klagt voll Trauer: „Sie haben meinen
17
Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben". Die enttäuschten Jünger sagen auf dem Wege
nach Emmaus: „Wir aber hofften, daß er der sei, der Israel
erlösen solle". Und bei Thomas zeigt sich ein Unglaube, der
nur durch das Anschauen Dessen zu beseitigen war, von
Dem die anderen bezeugten, daß Er auferstanden war. Ach,
allen fehlte ein Ohr für das Wort des Herrn! Hatte der Herr
nicht oft über sein Leiden und Sterben gesprochen? Hatte
Er ihnen nicht oft gesagt, daß Er nach drei Tagen wieder auferstehen würde? Mußte Er die nach Emmaus wandernden
Jünger nicht wegen der Trägheit ihres Glaubens zurechtweisen? Hätten sie ein Ohr für Sein Wort gehabt, dann wäre
ihnen dies alles erspart geblieben und sie wären in diesem
Augenblick, da der Fürst des Lebens bei ihnen war, mit
Freude und Anbetung erfüllt gewesen.
Aber so geht es oft. Wir hören nicht gern von Dingen, die zu
unserer Natur und unserem Willen im Widerspruch stehen.
So war es auch bei den Jüngern. Es war ganz gegen ihre
Gedanken und gegen ihren Willen, daß der Herr leiden und
sterben sollte. Auch wir würden uns viele Trübsale und
Täuschungen ersparen, wenn wir beim Hören des Wortes des
Herrn weniger mit unserer Natur und unserem Willen zu
Rate gingen. Bezeugen es leider nicht unsere eigenen Erfahrungen, daß wir durch manche Prüfungen heimgesucht werden, denen wir sicher entgangen wären, wenn wir auf das
Wort des Herrn gelauscht hätten? Ach, wie viele traurige
Wege gibt es unter den Kindern Gottes, weil ihr Ohr für das
Wort des Herrn verschlossen gewesen ist! Das Wort Gottes
ist in Wahrheit unseres Fußes Leuchte, und wenn wir mehr
auf ihren Schein achteten, würden wir nicht so viel im
Finsteren umhertappen, sondern in manchen vorübergehenden
Trübsalen eine Quelle von Freude finden.
Doch wenn auch bei dem Umgang der Jünger mit dem Herrn
ihre Unwissenheit und Schwachheit an den Tag tritt, so
bemerken wir doch zugleich ihre Anhänglichkeit und Liebe
zu Jesus. Zeugen auch ihre Tränen, ihre Traurigkeit und
Verlegenheit von ihrer Unwissenheit, so zeugen sie nicht
weniger von ihrer Anhänglichkeit an Jesus. Offenbaren sie
28
sich als Lehrlinge, die oft bei den Unterweisungen ihres
Meisters große Unaufmerksamkeit zeigten, so stehen sie
zugleich doch auch vor uns als solche, die ein Herz für Jesus
haben, — ein Herz, das bereit war, alles zu verlassen und
Ihm zu folgen, Der ihnen für dieses Leben keine Annehmlichkeiten bieten konnte. Wer unter uns fühlte nicht, daß wir
uns in dieser Hinsicht nur wenig mit ihnen vergleichen
können? Ach, hätten doch auch wir ein solches Herz für
Christus, das bei allem, was geschieht, in Ihm den einzigen
Gegenstand von wahrem Wert erkennt!
Der Herr Jesus wußte, daß Er soviel bei ihnen galt, darum
begegnete Er ihnen als der treue Hirte in ihrer Schwachheit,
um ihre Tränen zu trocknen. Nicht einen einzigen Augenblick
vergaß Er die Seinigen, und ihre Schwachheiten vermochten
Seine Liebe nicht zu. schwächen. Er legte ihnen die Schriften
aus, ohne daß ein Tadel über Seine Lippen kam. Welch ein
Glück für uns, einen solchen Herrn zu haben! Keine Mängel
und Gebrechen können unsere Gemeinschaft stören. Nur die
Sünde kann es. Jede Unreinigkeit, welcher Art sie auch sein
mag, verhindert den Herrn, uns zu begegnen. Trotz unserer
Mängel und Schwachheiten kann Er mit uns reden, wie Er
es mit den Jüngern auf dem Wege nach Emmaus tat, aber
unsere Sünden müssen wir vor Ihm verurteilen und wegtun.
Um unsere Gemeinschaft mit dem Herrn aufrechtzuerhalten,
ist Reinheit die erste Bedingung. Verwechseln wir daher
unsere Sünden nicht mit unseren Schwachheiten. Werfen wir
aber auch unsere Zuversicht nicht weg, wenn wir unsere
vielen Gebrechen und Schwachheiten sehen, sondern nehmen
wir stets unsere Zuflucht zum Herrn, Der die Seinen nie abwies, sondern sie immer mit Langmut behandelte und ihnen
in Liebe begegnete.
Die drei verschiedenen Stellungen Davids
Wir finden David im Laufe seiner ereignisreichen und sehr
lehrreichen Geschichte in drei bemerkenswerten Stellungen.
Wir sehen ihn am Boden liege n als Büßer, wir sehen ihn
29
sitze n als Anbeter, und wir sehen ihn stehe n als Diener. Aber wir sehen ihn n'cht nur, sondern wir hören ihn
auch, was er in den verschiedenen Stellungen sagt, und beides
ist höchst lehrreich für unsere Seelen. Möge der Heilige
Geist uns befähigen, daraus Nutzen zu ziehen! Möge Er unsere Gedanken leiten, wenn wir Auge und Ohr richten auf
den König David al s Büßer , Anbete r und Die -
ner .
David als Büßer
Als erstes sehen wir ihn als Büßer am Boden liegen: „Und
Dav'd fastete und ging hinein und lag über Nacht auf der
Erde" (2. Sam 12,16). Hier sehen wir ihn also am Boden
liegen in der Stellung eines wahren Büßers. Der Pfeil der
Überführung ist in sein Gewissen gedrungen. Das scharfe,
durchdringende Wort Nathans: „Du bist der Mann!" ist mit
göttlicher Macht in sein Herz gefallen, und mit gebrochenem
Herzen und beschwertem Gewissen nimmt er im Staube seinen Platz vor Gott ein.
Das ist seine Stellung und nun wollen wir seine Worte hören, die wir im 51. Psalm finden. Ach, welche Worte hören
wir hier! Wie völlig stimmen sie mit seiner Stellung überein!
„Sei mir gnädig, o Gott, nach deiner Güte; nach der Größe
deiner Erbarmungen tilge meine Übertretungen!" — Das ist
kein bloßer Schein. Der Büßer stellt seine Sünden neben die
Güte und Erbarmungen Gottes. Er kann auch wirklich nichts
Besseres tun. Der beste Platz für ein überführtes Gewissen
ist die Gegenwart göttlicher Barmherzigkeit. Wo ein überführter Sünder und die Liebe Gottes sich begegnen, ist die
Sündenfrage bald zum Abschluß gebracht. Es ist d*e Freude
Gottes, Sünden zu vergeben. Er hat Freude an Erbarmen.
Das Richten ist nicht Sein gewöhnliches Werk. Er bewirkt,
daß wir die Sündhaftigkeit der Sünde fühlen, daß wir s:
e
richten, und daß wir sie hassen. Nie wird Er s:
e mit Schminke
bedecken und „Frieden" rufen, wo kein Frieden ist. Er wird
den Pfe'l, der überführen soll, mit allem Nachdruck senden.
Aber, gepnesen sei Sein Name! dem Pfeil Seines Köchers
folgt stets die Liebe Seines Herzens, und die Wunde, die der
30
Pfeil hervorgebracht hat, wird geheilt werden durch den
kostbaren Balsam, den Seine Liebe anwendet. Wir sehen die
Reihenfolge in den folgenden Worten: „Du bist der Mann!"
— „Ich habe gegen Jehova gesündigt." — „So hat auch Jehova deine Sünde hinweggetan."
Ja, mein teurer Leser, die Sünde muß im Gewissen gerichtet
sein, und je gründlicher dieses Gericht ist, desto besser, ist
die Wirkung des Gewissens oberflächlich, dann ist auch der
Friede ein falscher. Ist das Gewissen durch die Wirkung des
Wortes und des Geistes Gottes in seinen tiefsten Tiefen
gründlich untersucht, dann wird auch bald die Frage der
Sünde und der Gerechtigkeit erörtert und schließlich im
Herzen in Ordnung gebracht werden. Wir haben darauf zu
achten, daß Satan sich oft in einen Engel des Lichts verwandelt, und hinter dieser gefährlichen Maske ist es sein stetes
Bemühen, unsere Seelen zu einer Art von falschem Frieden
und falschem Glück zu führen und etwas bei uns hervorzurufen, das nicht auf das Kreuz, wo Gott für alle Bedürfnisse
des Sünders vorgesorgt hat, gegründet ist. Wir sollten uns
die wichtigen Worte aus dem Gleichnis vom Säemann tief
einprägen: „Der aber auf das Steinichte gesät ist, dieser ist
es, der das Wort hört und es alsbald mit Freuden aufnimmt;
er hat aber keine Wurzel in sich, sondern ist nur für eine
Zeit; und wenn Drangsal entsteht oder Verfolgung um des
Wortes willen, alsbald ärgert er sich" (Mt 13, 20. 21).
Merke dir die Worte: „Der .. . es alsbald mit Freuden aufnimmt." Dort finden wir kein gründliches Werk im Gewissen — kein moralisches Gericht über das Ich oder über die
Sünde, und daher auch keine Wurzel, ke:
ne Kraft zum Ausharren. Dies ist sehr beachtenswert. Wir können nicht sorgfältig genug die Verbindung zwischen den Worten: „alsbald
mit Freuden" — „keine Wurzel" — „es verdorrte" ins Auge
fassen. Solche Gefahren sind vorhanden, wenn das Werk der
Errettung bloß mit dem Verstand aufgefaßt wird und keine
geistliche Wirkung im Gewissen hervorgebracht w
!
rd. Auf
die freudigsten Bewegungen folgt dann bald eine völlige Erschlaffung. Die natürlichen Gefühle sind dann wachgerufen,
aber die Wahrheit ist nicht ins Herz gedrungen. Die Wirkung
31
des Wortes hat keine Furchen gezogen, und wenn die Zeit
der Trübsal kommt, ist daher keine Kraft zum Ausharren
vorhanden. Alles erweist sich als ein oberflächliches Werk,
das die sengenden Strahlen der Sonne nicht ertragen kann.
Daraus soll nun nicht geschlossen werden, daß wir bei der
Bekehrung ein übermäßiges Gewicht auf das Werk des
Gewissens legen. Wir sind völlig überzeugt, daß Christus
unsere Seelen rettet, und nicht die Weise, wie wir zu Ihm
kommen, und überdies ist der wahre Grund des Seelenfriedens nicht eine gewisse Verrichtung oder Übung des
Herzens oder des Gewissens oder des Verstandes. Es ist
das göttlich wirksame Opfer des Sohnes Gottes, das das
Gewissen reinigt und die überführte Seele mit Frieden erfüllt. Es ist die kraft der Autorität Gottes durch die Gnade
des Heiligen Geistes empfangene Versicherung, daß die wichtige Frage der Sünde ein für alle Mal am Kreuze in Ordnung
gebracht ist, und dadurch ist die Seele befreit und genießt
einen Frieden, der ihr nie geraubt werden kann.
Dies alles ist so klar, daß, wenn jemand zu uns sagen wollte:
„Ich habe Frieden, weil ich so außerordentliche Gewissensübungen durchgemacht habe", wir ihm ohne Zögern erwidern
müßten, daß er sich getäuscht habe. Keine Übung des Gewissens befriedigt jemals die Forderungen Gottes, und daher
kann sie auch nicht das Verlangen einer erweckten Seele
stillen. Christus ist alles; wenn wir Ihn haben, fehlt uns
nichts mehr. Wir halten es für durchaus töricht, wenn jemand
auf die Art und Weise seiner Bekehrung ein so großes Gewicht legt. Man gewährt dadurch dem Feinde einen Vorteil,
den er sicher einmal benutzen wird, um das Vertrauen zu
erschüttern. Der Grund des Friedens besteht nicht darin, daß
jemand auf diese oder jene Weise bekehrt ist, daß er so tief
gefühlt, so viel geweint, so stark gekämpft und so brünstig
gebetet hat. Gewiß haben alle diese Dinge ihren Platz und
ihren Wert. Wir glauben nicht, daß Paulus den Augenblick
zwischen Jerusalem und Damaskus je vergaß, aber wir sind
auch völlig überzeugt, daß er seinen Frieden niemals auf
diese bemerkenswerten Umstände gründete. Nie konnte Luther
die zwei Jahre vergessen, die er im Kloster verlebt hatte,
32
aber er baute niemals seinen Frieden auf die Erfahrungen
in diesen Jahren. Bunyan konnte nie den Kerker vergessen,
aber er gründete auch nie den Frieden seiner Seele auf die
Herzensangst, die er darin durchlebte.
Ich zweifle keineswegs daran, daß die Übungen, die diese
drei ausgezeichneten Männer durchmachten, auf ihren späteren
Lauf und Charakter als Christen und Diener einen höchst
wichtigen Einfluß ausübten, aber der Grund ihres Friedens
bestand nicht in dem, was sie gefühlt oder durchgemacht
hatten, sondern in dem, was Christus für sie am Kreuz getan
hatte. So wird und muß es immer sein, Christus ist alles und
in allem. Möge unsere Seele sich stets daran erinnern, und
möge der Leser verstehen, daß wir, wie hoch wir auch die
Wirkung des Gewissens schätzen, dennoch nie wünschen, daß
jemand darauf baue, sondern einzig und allein auf das Werk
am Kreuz. Nicht das Werk i n uns, sondern das Werk fü r
uns, rettet unsere Seelen. Freilich ist beides eng miteinander
verbunden, und darf daher nicht getrennt werden, aber das
eine ist von dem anderen unterschieden und darf daher nicht
verwechselt werden. Wir können nichts von dem für uns
gewirkten Werk erkennen als nur durch das Werk, das in
uns getan ist, und die Klarheit und Beständigkeit unserer
Ruhe in dem für uns vollbrachten Werk wird von der Tiefe
und Stärke des in uns gewirkten Werkes abhängig sein.
Indessen gibt es noch einen anderen Punkt, bezüglich dessen
wir Mißverständnisse sorgfältig vermeiden möchten. Es könnte vielleicht jemand der Meinung Raum geben, als ob wir
durch unsere Bemerkungen über David, den Büßer, beweisen
wollten, daß man an der Wirklichkeit seiner eigenen Wiedergeburt zweifeln müsse, wenn man nicht gerade dieselben
Erfahrungen durchgemacht habe. Das wäre sicher ein grober
Irrtum, denn zunächst war David ein Knecht Gottes, lange
vor jenem ersten Augenblick, den wir zum Gegenstand unserer Betrachtung gemacht haben (Anm.: Der Leser wolle beachten, daß wir bei unserer Betrachtung über die „drei Stellungen Davids" diese Ereignisse nicht in ihrer historischen
Ordnung darstellen, sondern sie nur als eine Erläuterung
dreier Hauptpunke in dem geistlichen Leben des Volkes Got33
tes ausgewählt haben.) Weiter glauben wir, daß David seine
Ruhe und die kostbaren Verheißungen und Zusicherungen,
die Gott seiner Seele gemacht hatte, nicht durch irgendeine
Übung von innen , sondern durch Mitteilungen von aus -
s e n gefunden hat. Er ruhte nicht auf der Tatsache, daß der
Pfeil in sein Herz gedrungen war. Er fand keine Ruhe in den
Worten: „Du bist der Mann!", und auch nicht in dem Schrei
seiner bußfertigen Seele: „Ich habe gegen Jehova gesündigt.",
sondern der Friede seines Herzens stützte sich auf die ihm
zugerufenen Worte: „So hat auch Jehova deine Sünde hinweggetan."
Wir wünschen um keinen Preis, daß eine Seele sich beunruhigt, weil die ersten Augenblicke ihrer geistlichen Geschichte
sich nicht durch starke Bußübungen, sondern vielmehr durch
freudige und glückliche Bewegungen kennzeichneten. Unmöglich kann die frohe Botschaft des Heils etwas anderes tun,
als die glaubende Seele mit Wonne und Entzücken erfüllen.
Es herrchte große Freude in Samaria, als Philippus dort den
Christus predigte, und der Kämmerer zog fröhlich seines Weges, als er vernahm, daß Jesus für seine Sünden gestorben
war. Wie hätte es anders sein können? Wie könnte jemand
an die Vergebung der Sünden glauben und nicht durch den
Glauben glücklich gemacht sein? Sicher, die frohe Botschaft
einer „großen Freude" mu ß das arme Herz glücklich machen.
Ja wirklich, so ist es, aber tut diese Tatsache dem Wert eines
tiefen und völligen Werkes des Geistes Gottes im Gewissen
in irgendeiner Weise Eintrag? Keineswegs. Ein hungriger
Mensch schätzt das Brot hoch, und obwohl er nicht von der
Qual des Hungers zu leben gedenkt, ist diese Qual dennoch
die Ursache seiner Wertschätzung des Brotes. Ebenso verhält
es sich mit der Seele. Sie wird nicht durch Bußübungen gerettet, aber je größer diese Übungen sind, desto fester klammert die Seele sich an Christus, und um so beständiger und
lebensvoller ist ihr praktisches Christentum.
Geliebter Leser, der einfache Sachverhalt ist folgender. Wir
finden in unseren Tagen eine Menge Christen, deren Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit uns mit großer Furcht erfüllt.
34
Wir begegnen vielen, die einen falschen Frieden und eine
trügerische Glückseligkeit erlangt haben, ohne daß das Gewissen wirklich tätig war, und ohne daß die Kraft des Kreuzes
in irgendeiner Weise auf die Natur und ihre Wirksamkeit
angewendet wurde. Das sind solche, die auf das Steinige
gesät sind. Sie haben keine Wurzel, keine Tiefe, keine Kraft,
keine Beständigkeit. Solche Seelen haben sich nicht nur selbst
betrogen, sondern der Ton und die Art ihres Bekenntnisses
bilden mit den anderen Einflüssen den Kanal, durch den die
Flut des Unglaubens bald ihre verpestenden und verwüstenden Wasser fortwälzen wird. Wir glauben, daß sowohl die
kalte, wirkungslose Orthodoxie und das oberflächliche, formelle und leichtfertige Bekenntnis als auch der finstere, entwürdigende Aberglaube den Weg für jenen Unglauben bahnen werden, der bald seinen Mantel über die ganze zivilisierte
Welt werfen wird.
Welch ein ernster Gedanke! Möge der Leser ihn beachten
und nicht leichtfertig darüber hinweggehen. Wir möchten
gern ein kräftigeres Zeugnis für Christus, eine treuere Nachfolge und eine völligere Hingabe sehen. Dafür seufzen und
beten wir, und wir erwarten sicher nicht, dies in den Kreisen
derer zu finden, die nie eine Tätigkeit des Gewissens kennengelernt oder die Kraft des Kreuzes Christi nie erfahren haben. Wir wollen jedoch nicht einigen Gedanken vorgreifen,
die uns im weiteren Verlauf unserer Betrachtungen noch beschäftigen werden. Wir werden, bevor wir damit schließen,
in David das edle Bild einer persönlichen Hingabe sehen.
David als Anbeter
Im Anfang von 2. Sam 7 sehen wir David, wie er in einem
„Hause von Zedern" sitzt und nachsinnt über die mannigfaltigen Gnadenerweisungen, mit denen Jehova ihn umgeben
hat. „Und es geschah, als der König in seinem Hause wohnte,
und Jehova ihm ringsumher Ruhe geschafft hatte vor allen
seinen Feinden, da sprach der König zu Nathan, dem Propheten: „Siehe doch, ich wohne in einem Hause von Zedern,
und die Lade Gottes wohnt unter Teppichen. Und Nathan
sprach zu dem König: Gehe hin, tue alles was du im Herzen
hast, denn Jehova ist mit dir" (2. Sam 7,1-3).
35
David hatte sich in seinem Herzen vorgesetzt, Jehova ein
Haus zu bauen. Er war jedoch nicht der dazu bestimmte
Mann, und auch die Zeit dazu war noch nicht gekommen.
Nathan wurde gesandt, diesen Irrtum zu berichtigen. Der
beabsichtigte Dienst ging aus einer guten Meinung hervor,
aber das genügte nicht. Es mußte auch die geeignete Zeit
gekommen sein. David hatte viel Blut vergossen, überdies
gab es noch Feinde und üble Ereignisse. Auch mußte David
noch tiefere Unterweisungen der Gnade erhalten. Gott hatte
viel für ihn getan, aber alles, was in der Vergangenheit geschehen war, stand in keinem Vergleich zu dem, was in der
Zukunft noch getan werden sollte. Wenn schon ein „Haus
von Zedern" etwas Großes war, wieviel größer war dann ein
ewiges Haus und Königreich. Aus dem Munde Nathans vernimmt David die Worte: „Jehova tut dir kund, daß Jehova
dir ein Haus machen wird" (V. 11). Das veränderte die
Sache ganz und gar. Die Taten der Vergangenheit waren voll
von Gnade, die Taten der Zukunft sollten voll von Herrlichkeit sein. Die Hand der erwählenden Gnade hatte David von
den Schafhürden genommen und ihn auf den Thron Israels
gesetzt. Darum hören wir David sagen: „Und dies ist noch
ein Geringes gewesen in deinen Augen, Herr, Jehova! und du
hast auch von dem Hause deines Knechtes geredet in die
Ferne hin" (V. 19). Sowohl die Vergangenheit als auch die
Zukunft, alles war für David lange vorher schon in Ordnung
gebracht, so daß er nichts Weiteres zu tun hatte, als sein
Haupt zu beugen und anzubeten.
„Da ging der König David hinein und setzte sich vor Jehova
nieder und sprach: Wer bin ich, Herr, Jehova, und was ist
mein Haus, daß du mich bis hierher gebracht hast" (V. 18)?
Hier haben wir also die zweite Stellung Davids. Anstatt auszugehen und Jehova ein Haus zu bauen, trat er ein und setzte
sich vor Jehova. Welch eine große sittliche Schönheit und
Kraft tritt hier vor unser Auge! Einem unerleuchteten Auge
könnte diese Stellung als ganz nutzlos erscheinen, aber wir
können versichert sein, daß niemand vor dem Herrn stehen
kann als Diener, der nicht vorher vor ihm gesessen hat als
Anbeter. Wir müssen mi t dem Herrn zu tun gehabt haben,
36
ehe wir fü r ihn wirken können. Zeige uns einen Menschen,
der wirklich den Platz eines Anbeters eingenommen hat, und
wir wollen dir einen zeigen, der, nachdem er aufgestanden
ist, sich als tatkräftiger Diener erweisen wird.
Möchten wir auch beachten, daß das Sitzen vo r de m
Herr n etwas ganz anderes ist als das Sitzen vor unsere m
Werk, unsere m Dienst, unsere r Predigt, unsere n
Umständen und unsere n Erfahrungen. Wie oft sind wir
geneigt, uns niederzusetzen, um unsere verschiedenen Taten
zu betrachten und darüber nachzusinnen. Das aber heißt eine
Schwachheit auf die andere häufen. Nichts ist verwerflicher
als eine solche Selbstbeschauung. Wir haben sicher Ursache
dankbar zu sein, wenn der Herr uns in irgendeinem Teil seines Werkes gebrauchen kann, aber hüten wir uns davor, in
irgendeiner Form, sei es direkt oder indirekt, unser Ich vor
unser Auge zu stellen. Laßt uns nicht die verschiedenen
Dinge, mit denen wir beschäftigt sind, die Interessen, die wir
in Gang gebracht haben, und die Wirkungskreise, in denen
wir stehen, mit Selbstgefälligkeit betrachten. Alles dient nur
dazu, die Natur aufzublähen, während die Seele dabei dürr
und leer bleibt.
Merken wir den Unterschied! „Da ging der König David
hinein und setzte sich vor Jehova nieder und sprach: „Wer bin
ich, Herr, Jehova?" Sicher wird das Ich in Dunkelheit und
Vergessenheit versinken, wenn wir vor dem Herrn sitzen.
Wir wissen kaum, was mehr zu bewundern ist, diese Stellung
oder diese Äußerung. Er „setzt e sich " und sagte:
„We r bi n ich? " Beides ist lieblich, beides zeugt von
einer vortrefflichen sittlichen Ordnung. Möchten wir doch
noch mehr die tiefe Bedeutung und die praktische Kraft dieser
beiden Dinge erkennen! Möchten wir reichlich erfahren, was
es heißt, in der Gegenwart Gottes zu sitzen und dort das Ich
mit allem was dazu gehört aus den Augen zu verlieren!
Es ist nicht unsere Absicht, über den 51. Psalm, der wie bemerkt, die Äußerungen des büßenden David enthält, oder
über 2. Sam 7, wo wir die Worte des Anbeters finden, eine
nähere Erklärung zu geben. Diese kostbaren Schriftstellen
führen wir nur an, um den Leser darauf aufmerksam zu ma37
chen, und gehen jetzt zum dritten und letzten Platz über, wo
wir David als Diene r stehen sehen.
David als Diener
„Und der König David erhob sich auf seine Füße" (1. Chron
28, 1). Hier wird das Gemälde dieses lieblichen Charakters
vollendet. Wir sahen David auf der Erde liegen, als sein
Gewissen überführt wurde und das Gericht Gottes ihn erwartete. Wir sahen ihn im Heiligtum sitzen, wie er die Gnadenerweisungen der Vergangenheit überschaute und die glänzenden Strahlen der Herrlichkeit in der Zukunft im voraus
genoß. Nun sehen wir ihn die Stellung eines wirklichen, aufrichtigen Dieners einnehmen, der sich selbst und alle seine
Mittel Gott zu Füßen legt. Alles zeugt hier von einer tiefen
Echtheit. Der Ausruf des Büßers, das Verlangen des Anbeters,
der Ausdruck der Ergebenheit und Hingabe des Dieners •—•
alles ist tief, aufrichtig und wahr. „Ich hatte in meinem Herzen, ein Haus der Ruhe zu bauen für die Lade des Bundes
Jehovas und für den Schemel der Füße unseres Gottes; und
ich schickte mich an zu bauen" (V. 2). Welch eine selbstvergessene Ergebenheit zeigte sich hier! David sollte nicht die
Ehre haben, das Haus Gottes zu bauen, aber was kümmerte
das ihn, der seinen Platz im Heiligtum gefunden und gelernt
hatte zu. sagen: „Wer bin ich?" David zeigte keinen Neid auf
den, der gewürdigt war, das Haus zu bauen. Es war das Haus
seines Gottes und das genügte. Die Kraft seiner Hände, die
Liebe seines Herzens, die Hilfsquellen seiner Reichtümer, alles
wurde bereitwillig einem solchen Zweck geopfert.
Gerne würden wir bei diesem Gegenstand noch länger verweilen, aber wir müssen schließen. Möchte der Heilige Geist
in göttlicher Macht diese Dinge auf unser Herz anwenden!
Geh'ebter christlicher Leser, verlangst du nicht nach einer
völligeren Hingabe an den Herrn, sowohl was dich selbst
betrifft als auch was deinen Besitz angeht? Nun, dann gehe
doch jetzt in Seine Gegenwart. Du hast dich aus der Stellung
eines Büßers erhoben, gehe jetzt und setze dich zu Seinen
Füßen nieder, schaue und bet e an , dann wirst du, wenn
die Gelegenheit sich bietet, bereit sein, die Stellung eines
treuen, nützlichen Diener s einzunehmen.
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Das Fragen nach dem bekannten Weg
(4. Mose 22)
Die Geschichte Bileams enthält für unser tägliches Leben so
wichtige Unterweisungen, daß es wohl der Mühe wert ist,
einige Augenblicke dabei zu verweilen. Uns werden darin die
Ursachen und die Folgen eines Wandeins und Nichtbefolgens
der Gebote des Herrn deutlich vor Augen gestellt. „Alle
Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur
Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der
Gerechtigkeit" (2. Tim 2, 16). Wir wollen im Blick auf diese
Wahrheit die Geschichte Bileams lesen und betrachten, und
das wird uns gewiß von reichem Segen sein.
Die Kinder Israels waren bis zu den Grenzen des verheißenen
Landes gekommen und hatten in den Ebenen Moabs ihr
Lager aufgeschlagen. Nun wurde Balak, der Moabiter, beim
Anblick der Israeliten nicht wenig besorgt und sandte daher
Boten zu Bileam mit folgendem Auftrag: „Siehe, ein Volk ist
aus Ägyten gezogen; siehe, es bedeckt die Fläche des Landes,
und es liegt mir gegenüber. Und nun, komm doch, verfluche
mir dieses Volk, denn es ist stärker als ich, vielleicht gelingt
es mir, daß wir es schlagen, und ich es aus dem Lande vertreibe; denn ich weiß, wen du segnest, der ist gesegnet, und
wen du verfluchst, der ist verflucht" (4. Mo 22, 5. 6). Das
kann mit Recht eine Botschaft des Teufels genannt werden.
Der Feind des Volkes Gottes brauchte Balak und wollte Bileam gebrauchen, um das Volk zu verfluchen und zu vertilgen. Wie aus der ganzen Geschichte hervorgeht, war Bileam
mit dem Gott Israels bekannt. Er wußte sehr gut, mit welch
großer Macht Jehova dieses Volk aus Ägypten befreit und
durch das Schilfmeer geführt hatte. Wäre also wahre Gottesfurcht in seinem Herzen gewesen, so hätte er wohl erkannt,
daß Jehova es unmöglich zulassen könnte, daß dieses von
Ihm so wunderbar geleitete Volk verflucht und vertilgt
würde. Doch wahre Gottesfurcht war bei Bileam nicht zu
finden — dafür werden wir noch sichere Beweise finden —
und darum sagt er: „Übernachtet hier diese Nacht, und ich
werde euch Antwort bringen, so wie Jehova zu mir reden
wird" (V. 8).
39
Wie mancher ähnelt Bileam! Wie mancher kennt die List des
Feindes nicht, weil er nicht in Gemeinschaft mit Gott ist!
Wenn wir mit dem Herrn wandeln, dann wandeln wir im
Licht, und das Licht macht die Finsternis offenbar. Im Lichte
Gottes erkennen wir die Absichten Satans. Doch oft sind wir
in Verlegenheit und fragen, was vom Teufel und was von
Gott kommt. Diese Frage ist unnötig, wenn wir in Gemeinschaft mit Gott wandeln. Ist unser Auge einfältig, so wird
unser ganzer Leib Licht sein.
Gott kam bei Nacht zu Bileam und sagte zu ihm: „Du sollst
nicht mit ihnen gehen; du. sollst das Volk nicht verfluchen,
denn es ist gesegnet" (V. 12). Das war eine deutliche Sprache,
die keine Zweifel erlaubte. Sie enthielt ein bestimmtes und
eindeutiges Verbot, und das hätte für Bileam genügen sollen.
Und wirklich, er gehorcht und geht nicht mit den Boten Balaks. Er unterwirft sich dem Willen Jehovas. Ob es wohl aus
einem guten Beweggrund hervorging? War es die Furcht Gottes, die ihn dazu brachte? Die Geschichte zeigt uns deutlich,
daß es nicht so war. Schon die Worte, die er an die Boten
richtet, verraten uns den Zustand seines Herzens. „Ziehet in
euer Land; denn Jehova hat sich geweigert, mir zu gestatten,
mit euch zu gehen" (V. 13). Man hört aus diesen Worten,
wie verdrossen er ist, daß er nicht mit ihnen gehen darf.
„Jehova hat sich geweigert. " Er wäre gern mitgegangen, aber er durfte nicht. Er fürchtete die Folgen, den Zorn Jehovas. Ein Herz, das in Übereinstimmung mit dem Herrn
ist, führt keine solche Sprache, sondern sagt mit Joseph:
„Wie sollte ich dieses große Übel tun und wider Gott sündigen?" Das wußte Satan nur zu. gut. Er wußte, daß Bileams
Herz den Lohn der Ungerechtigkeit liebte, und darum kommt
er zum zweiten Mal mit derselben Botschaft zurück. Er hatte
deutlich erkannt, daß in Bileams Worten: „Jehova hat sich
geweigert" zu lesen war, daß er lieber mitgegangen wäre.
Darum läßt Balak ihm sagen: „Laß dich doch nicht abhalten,
zu mir zu kommen" (V. 16). Wie listig ist doch der Teufel!
Und wie schlau versteht er auf den Zustand zu wirken, in
dem sich das Herz gerade befindet! Welch eine ernste Warnung ist dieses für uns! Wir können versichert sein, daß der
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Teufel von uns abläßt, wenn er merkt, daß wir nicht auf
seine Stimme lauschen. Sind wir bereit, den Weg Gottes zu
gehen und Seinen Willen zu tun, dann sind Seine Versuchungen wirkungslos und er stellt sie ein. Doch wenn er
sieht, daß, wenn auch unser Mund diese Versuchung abweist,
unser Herz nach der uns vorgestellten Sache verlangt, dann
kehrt er beständig wieder zurück und wiederholt seine Angriffe so lange, bis wir in seinen Stricken gefangen sind. Es
kommt daher immer darauf an, ob wir mit einem wahr -
haftige n Herzen für den Herrn leben. Dann werden wir
auch mit Freuden und keineswegs gezwungen die Versuchungen Satans abweisen können.
Als nun die Boten Balaks zum zweiten Mal zu Bileam kamen,
sagte er: „Wenn Balak mir sein Haus voll Silber und Gold
gäbe, so vermöchte ich nicht den Befehl Jehovas, meines Gottes, zu übertreten, um Kleines oder Großes zu tun" (V. 18).
Das war eine feste Sprache, wird vielleicht mancher ausrufen.
O ja, aber der Schein trügt. Der Mund kann oft sehr schöne
und fromme Worte aussprechen, während das Herz mit ganz
anderen Dingen erfüllt ist. Wäre das Herz Bileams mit seinen Worten in Übereinstimmung gewesen, so hätte er die
Boten Balaks augenblicklich zurückgeschickt. Doch was tut
er? Auf seine stolze Weigerung läßt er sofort die Worte folgen: „Und nun bleibet doch hier, auch ihr, diese Nacht, und
ich werde erfahren, was Jehova ferner mit mir reden wird"
(V. 19). Aber was hat Jehova noch weiter zu sagen? Hat Er
nicht ausdrücklich gesagt: „Du sollst nicht mit ihnen gehen;
du sollst das Volk nicht verfluchen, denn es ist gesegnet."
Kannte denn Bileam den wohlgefälligen Willen Gottes nicht?
Gewiß. Aber warum sendet er denn die Boten nicht sofort
zurück? Warum bleibt er'nicht einfach bei den Worten, die er
zu Anfang gesprochen hat? Warum läßt er sie noch eine Nacht
bleiben? Ach, sein Herz zieht ihn nach Moab, es verlangt
nach den Geschenken Balaks. Die Welt und ihre Schätze hatten einen so großen Wert für sein Herz, daß er nicht widerstehen konnte. Mit einem Wort, er liebte den Lohn der Ungerechtigkeit, wie der Apostel Petrus uns mitteilt. Sein Mund
sprach zwar fromme Worte, aber sein Herz war fern von
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Gott. Er verlangte nach Silber und Gold, obwohl er, nach
seinen Worten zu urteilen, keinen Wert darauf legte. Die
Boten mußten noch über Nacht bei ihm bleiben, weil er
hoffte, daß Jehova ihm gestatten würde, mit nach Moab zu
ziehen. Wiewohl er den Willen Gottes genau kannte, wollte
er dennoch noch einmal nach Gottes Willen fragen. Das ist
aber ein Fragen nach dem bekannten Wege, und es offenbart
stets die Abneigung des Herzens, den Weg zu gehen, den wir
nach dem Willen des Herrn gehen sollen.
Wie oft geschieht aber Ähnliches bei den Christen! Wie oft
fragt man nach dem bekannten Wege! Man kennt den Willen
des Herrn oft sehr gut, man hat jedoch keine Lust, diesen
Willen zu tun, weil das Herz durch die Welt und ihre Lust
angezogen wird. Was tut man dann? Natürlich wäre es zu
grob, wenn man sagen wollte, daß man keine Lust habe, den
Willen Gottes zu tun. Darum sucht das arglistige Herz nach
einem Ausweg. „Für kein Geld in der Welt möchte ich gegen
den Willen des Herrn handeln", ruft man aus, „wenn ich nur
wüßte, was der Herr wollte, dann schlüge ich sicher diesen
Weg ein." Solche Worte klingen allerdings sehr gottesfürchtig, aber sie verbergen leider nur zu oft die Abneigung des
Herzens. Man sucht sich selbst zu überreden, daß man bereit
sei, den Willen des Herrn zu tun, und doch beweist das
ständige Fragen um Rat nur zu deutlich, daß man in Wirklichkeit keine Lust hat, den Weg zu gehen, den uns der Wille
Gottes vorzeichnet. Nehmen wir ein Beispiel. Ein Christ hat
eine starke Zuneigung für eine unbekehrte Person in sich
aufkommen lassen. Er weiß sehr gut, daß es gegen den Willen des Herrn ist, mit einer Unbekehrten in den Ehebund zu
treten. „Seid nicht in einem ungleichen Joche mit Ungläubigen" hat der Herr gesagt. Das ist ein bestimmtes Gebot, das
keine Zweifel zuläßt. Wenn nun die Furcht Gottes in seinem
Herzen wohnte und es seine Lust wäre, den Willen des Herrn
zu tun, so würde er eine solche Neigung sofort als unerlaubt
verurteilen. Aber das tut er nicht, sondern versucht auf allerlei Weise diesen Schritt zu rechtfertigen. Er fragt beständig
um Rat, und wenn ihm dieser nach der Heiligen Schrift erteilt
wird, ist er unzufrieden. Vielleicht bittet er den Herrn, Er
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möge der Eheschließung ein Hindernis in den Weg legen,
falls sie nicht nach Seinem wohlgefälligen Willen sei. Doch
wie fromm solche Worte auch sein mögen, so geschieht doch
alles nur, um das Gewissen zum Schweigen zu bringen und
dann der Lust des Herzens zu folgen.
Nehmen wir noch ein anderes Beispiel. Ein Christ will sein
bisheriges Geschäft aufgeben und Handel treiben. Sein Gewissen sagt ihm, daß die Beweggründe, die ihn dazu leiten,
verkehrt sind. Hochmut, Habsucht und Weltsinn sind die
Quellen; er hat an seinem täglichen Brot nicht genug und
will mehr verdienen. Er weiß wohl, daß das Wort Gottes
solche Grundsätze verurteilt, doch sein Herz ist von seinem
Vorhaben so sehr erfüllt, daß es ihm unmöglich ist, damit zu
brechen. Was tut er nun? Er geht zu. den Brüdern und fragt
um Rat. Er sagt, daß ihm die Sache nicht ganz klar sei, daß
er nicht recht wisse, was er tun solle, und daß er darum den
Rat anderer einhole. Wenn nun die Brüder ihm von seinem
Vorhaben abraten, ist er dann zufriedengestellt? Keineswegs.
In seinem Herzen verlangt er danach, sein Vorhaben zur
Ausführung zu bringen, nur wagt er es nicht, solange nicht
auch andere seinen Schritt billigen. Er geht darum gerade zu
denen, von denen er hofft, daß sie ihm Ratschläge nach seinem Willen erteilen. Erreicht er auf diesem Wege seinen
Zweck, so ist er aufs höchste erfreut und sucht sich selbst zu
überreden, daß jetzt alles in Ordnung sei. Unglücklicher Zustand! Man kennt den Willen des Herrn, und dennoch fragt
man um Rat. Ist das nicht ein Fragen nach einem bekannten
Wege? Und verrät solches Fragen nicht die Abneigung unseres Herzens, das zu tun, was dem Herrn wohlgefällig ist? Ja,
in einem solchen Fall gebraucht man wohl schöne und fromme Worte, aber dahinter verbirgt man nur den eigenen Willen und die Härte des Herzens. Wie bedauernswert sind solche Zustände! Möchten wir doch alle lernen, solche Wege vor
Gott zu verurteilen, damit wir noch beizeiten bewahrt bleiben
vor unausbleiblichen, traurigen Folgen!
Die Folgen eines solchen Zustandes sind höchst traurig. Das
sehen wir bei Bileam. Sein Herz sehnte sich nach Moab, darum ging er nochmals zu Gott und fragte nach dem bekannten
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Wege. Und was tut Jehova? „Da kam Gott des Nachts zu
Bileam und sprach zu ihm: Wenn die Männer gekommen
sind, um dich zu rufen, so mache dich auf, gehe mit ihnen;
aber nur dasjenige, was ich dir sagen werde, sollst du tun"
(V. 20). Oberflächlich betrachtet ist dies eine sehr seltsame
Handlungsweise. Zuerst sagt Jehova: „Du sollst nicht mit
ihnen gehen", und nun sagt Er: „Mache dich auf, gehe mit
ihnen." Wenn wir jedoch bedenken, was in der Zwischenzeit
geoffenbart worden war, dann wird uns die Handlungsweise
Jehovas durchaus nicht befremden. Die Worte und Werke
Bileams hatten unzweideutig bewiesen, daß er nur gezwungenermaßen zu Hause geblieben war. Sein Herz verlangt nach
den Geschenken Balaks. Obwohl Gott gesagt hatte, daß er
nicht gehen sollte, ließ er die Boten zum zweiten Male in
seinem Hause übernachten, um nochmals Jehova zu fragen.
Darauf sagt ihm Jehova: „Gehe mit ihnen." War ein anderer
Weg möglich? Nein, denn Gott will keinen gezwungenen
Dienst; Er will ein vollkommenes und ungeteiltes Herz. Der
Herr sagt mit anderen Worten: „Wenn du durchaus willst,
so mache dich auf; du wirst früh genug die Folgen davon
tragen." Ebenso ist es mit uns. Haben wir keine Lust, den
Willen des Herrn zu tun, bleiben wir nur aus Furcht vor der
Strafe äußerlich auf dem guten Wege, und kehren wir immer
wieder zurück, um nach dem Willen des Herrn zu fragen,
dann sagt der Herr endlich: „Tu was du willst, gehe deinen
eigenen Weg"! — Du willst eine unbekehrte Person heiraten.
Du weißt, daß das gegen den Willen Gottes ist, doch du hast
allerlei Entschuldigungen, du redest dir ein, daß es doch vielleicht noch gut sein könnte, und daß du wohl gar noch das
Mittel zur Bekehrung dieser Person sein könntest. Dann läßt
Gott es dir vielleicht endlich zu, damit du durch die traurigen
Folgen deiner Torheit zu einer wirklichen Demütigung kommen möchtest. — Oder willst du irgendein Geschäft beginnen. Man hat dich aus guten Gründen davor gewarnt. Dein
eigenes Gewissen sagt dir, daß es nicht gut ist. Doch dein
Herz ist ganz und gar davon erfüllt, und du willst nicht davon
zurücktreten. Dann läßt der Herr vielleicht die Umstände so
zusammentreffen, daß du darin Seine Anerkennung deines
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Vorhabens zu erkennen meinst. Er läßt dir gleichsam sagen:
„Beginne, gehe deinen Weg!" Und du beginnst, doch ach,
nur um bald einzusehen, wie sehr du dich getäuscht hast. Der
Herr kann unmöglich anders handeln. Durch das wiederholte
Fragen nach dem bekannten Weg bekundet man nur seine
Abneigung, den Willen Gottes zu tun, daher ist kein anderer
Weg zur Heilung möglich. Der Herr gibt darum schließlich
deinem Verlangen nach, damit du durch die Umstände deine
Torheit einsehen lernst. Wenn der Herr sieht, daß unsere
Füße zwar auf dem rechten Weg wandeln, aber unser Herz
weit davon entfernt ist, dann läßt Er es zu, daß unsere Füße
dahin schreiten, wo unser Herz sich befindet. Sind unsere
Füße bei den Kindern Gottes, während unser Herz mit der
Welt liebäugelt, dann läßt der Herr es zu, daß auch unsere
Füße in die Welt kommen. Was nützt es auch, ob du äußerlich mit dem Herrn wandelst, aber innerlich in der Welt bist?
Dann ist es besser, daß du auch äußerlich in der Welt lebst,
denn dann kannst du dich und andere nicht mehr täuschen,
und dann ist noch Aussicht vorhanden, daß du zur Erkenntnis deines schlechten Zustandes kommst.
Beachten wir jedoch, daß ein solches Nachgeben von Seiten
Gottes ein über uns verhängtes Gericht ist. Du hast auf
Seine Stimme nicht hören wollen, du hast deinen eigenen
Willen durchgesetzt, — nun, wer nicht hören will, muß fühlen. Es gibt kein anderes Mittel, um dich zur Einsicht zu
bringen, als dich die traurigen Folgen deiner Verkehrtheit
fühlen zu lassen. — In seiner Freude darüber, daß sein
Wunsch erfüllt wurde, hatte Bileam seine Eselin gesattelt
und sich auf den Weg gemacht. Doch kaum ist er ausgezogen,
da entbrennt der Zorn Jehovas, weil er ausgezogen ist: der
Engel Jehovas tritt ihm in den Weg. Dasselbe wirst auch du
erfahren. Kaum hast du die Ehe geschlossen oder dein Geschäft begonnen, so tritt der Herr dir mit Seiner züchtigenden
Hand entgegen. Allerlei Widerwärtigkeiten dringen auf dich
ein. Deine Ehe ist nicht glücklich, in deinem Geschäft geht es
nicht vorwärts. Und wie bei Bileam werden die Umstände je
länger desto schwieriger. Erst trat ihm der Engel auf offenem
Wege entgegen, dann zwischen zwei Mauern, wo sein Fuß
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gegen die Mauer geklemmt wurde, und endlich an einem
engen Ort, wo er weder zur Rechten noch zur Linken ausweichen konnte. Aber wozu dies alles, fragst du vielleicht? Antwort: Der Herr will dir die Augen öffnen. Er will dich erkennen lassen, wie töricht und verkehrt du gehandelt hast, wie
du unter dem Schein der Frömmigkeit deinem eigenen Willen
gefolgt bist und nach deinen eigenen Gedanken gehandelt
hast. Aber ach, welche Mühe kostet ihn das oft! Wie blind
sind wir oft in bezug auf uns selbst. Haben wir endlich unser
Ziel ereicht, dann überwältigt uns die Freude darüber oft so
sehr, daß wir die Schwierigkeiten, die uns auf dem Wege
begegnen, keineswegs als von der Hand des Herrn kommend
betrachten, sondern sie den verschiedensten Umständen zuschreiben. Bileam dachte nicht daran, daß der Zorn Jehovas
über ihn entbrannt sein könnte; er war über seinen Gang nach
Moab so sehr erfreut, daß jedes Hindernis auf dem Wege seinen höchsten Unwillen wachrief. Ach, wie oft handeln wir
in ähnlicher Weise! Wir werfen die Schuld auf andere Menschen — der Mann auf seine Frau, die Frau auf ihren Mann,
der Kaufmann auf die Zeitverhältnisse oder auf die Betrügerei
der Menschen —, und die Hand des Herrn wird nicht gesehen. Sowie Bileam seine Eselin schlug, so eifern wir über die
Umstände, wie er das arme Tier erwürgen wollte, so sind
wir beschäftigt, die Umstände und Menschen, wenn möglich,
aus dem Weg zu räumen. Ach, wie blind ist unser Auge, wie
verkehrt unser Herz!
Doch zu unserem Glück hört der Herr nicht auf. Nein, Er hat
Sein Ziel, und dieses Ziel muß erreicht werden. Wenn wir der
ersten Ermahnung kein Gehör schenken wollen, dann folgen
mehrere. Bringen uns kleinere Schwierigkeiten nicht zum
Nachdenken, dann folgen größere. Gott läßt nicht von uns
ab. Welche Gnade! Er hat uns lieb, und mögen wir noch so
verkehrt und halsstarrig sein, so bringt Er uns dennoch dahin, wo Er uns haben will. Zwar ist es traurig, daß dies auf
so schwierigem Wege geschehen muß. Wenn wir in Einfalt
mit Ihm wandeln und uns Seiner Leitung übergeben würden,
dann wären solche Wege nicht nötig. Hüten wir uns vor dem
Gedanken, als ob unsere Heiligung nur auf so schwierigen
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Wegen zu bewirken sei. O nein, es ist eine große Betrübnis
für Gott, wenn Er solche Wege mit uns gehen muß. Wenn
sich bei uns Unterwürfigkeit und wahre Abhängigkeit von
Ihm zeigt, dann würde Er uns mit ganz anderen Dingen bekannt machen. Er würde mit uns, wie einst mit Abraham,
reden können, wie ein Freund mit seinem Freunde redet, Er
würde uns Seine Gedanken mitteilen können. Alles dieses
verhindern wir durch unsere Verkehrtheit, und die in einem
solchen Zustand verlebte Zeit ist verlorene Zeit, von der wir
in der Ewigkeit keine Früchte ernten werden. Wie beklagenswert die Zustände, die Gott zu solchen Wegen zwingen, jedoch auch sein mögen, Er liefert dadurch, daß Er uns dennoch nicht uns selbst überläßt, immer neue Beweise Seiner
unendlichen Liebe. Er wird uns dahin bringen, wohin Er
auch Bileam gebracht hat, der schließlich ausrufen mußte:
„Ich habe gesündigt" (V. 34)! Ja der Herr läßt es soweit
kommen, daß wir endlich keinen Ausweg mehr sehen, daß
die Mühsale so groß und so zahlreich werden, daß wir weder
zur Rechten noch zur Linken ausweichen können. Dann beginnen die Umstände zu uns zu reden, bis wir so weit sind,
daß wir nicht mehr die Hand des Menschen, sondern die
Hand des Herrn in allem sehen. Dann wird uns klar, daß
Gott seine Zuchtrute über uns erhoben hat, und daß darum
alles verkehrt gegangen ist. Dann beugen wir unser Haupt
und unsere Lippen öffnen sich zu, dem Ausruf: „Ich habe
gesündigt!" Dahin muß es kommen. Gott will, daß wir unsere Sünden erkennen und vor Ihm bekennen und uns selber
richten. O möchte es doch mit allen dahin kommen! Geliebte
Leser, diese ernste Geschichte Bileams ist uns zur Warnung
und Belehrung durch den Heiligen Geist mitgeteilt worden.
Möchte sie doch in Wahrheit für unsere Seelen von Segen
sein! Bist du auf einem verkehrten Wege, bist du deinem
eigenen Willen gefolgt, hast du einen eigenen Weg eingeschlagen und bist dadurch in allerlei Schwierigkeiten geraten,
dann bitte ich dich, suche die Schuld bei dir und nicht bei
anderen Menschen oder in den Umständen. Bedenke, daß
der Herr dir widersteht und du darum solche Erfahrungen
machen mußt. Wirf dich vor ihm nieder und rufe: „Ich habe
gesündigt!"
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„Und dann?" wirst du vielleicht fragen. Dann wird der Herr
dir zeigen, welchen Weg du einschlagen sollst. Vielleicht ist
es Sein Wille, daß du den bisher verfolgten Weg verlassen
sollst, vielleicht auch, daß es nicht geschehen soll. Beides ist
möglich. Elia floh aus Unglauben vor Isabel und ging vierzig
Tage und vierzig Nächte duxch die Wüste, bis er an den Berg
Horeb kam. Und als Gott ihn dort zur Erkenntnis seines
Irrtums gebracht hatte, mußte er vierzig Tage und vierzig
Nächte durch die Wüste zurück bis nach Samaria gehen. —
Bileam hingegen wurde nicht zurückgesandt, sondern Jehova
sagt zu ihm: „Gehe mit den Männern; aber nur dasjenige,
was ich dir sagen werde, sollst du reden" (V. 35). Jehova
wollte Bileam gebrauchen, um dem heidnischen König Seine
Gedanken über Israel mitzuteilen und die herrliche Weissagung in bezug auf den Messias zu offenbaren. So wurde also
Bileam zur Verherrlichung Gottes nach Moab gesandt. Ebenso geht es mit uns. Oft sendet der Herr uns zurück, wenn
wir einen verkehrten Weg eingeschlagen haben. In diesem
Fall gebietet Er uns, unseren Handel wieder aufzugeben und
unsere Geschäfte abzubrechen. Oft geschieht es jedoch auch,
daß wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen sollen, um inmitten der Schwierigkeiten den Herrn zu verherrlichen. Wie
nötig ist es daher, in völliger Abhängigkeit den Herrn zu
fragen: „Herr, was willst Du, daß ich tun soll"? — Wir sind
oft der Meinung, daß wir den eingeschlagenen verkehrten
Weg sogleich verlassen müßten, wenn uns die Schwierigkeiten zum Nachdenken gebracht haben. Das ist auch oft weit
bequemer, als darin auszuharren. Doch unsere Gedanken sind
nicht die Gedanken des Herrn. Er allein weiß, was gut und
nötig für uns ist. Und sind wir wirklich abhängig von Ihm,
dann wird Er uns schon den rechten Weg zeigen. Wir müssen
uns daher nicht nur demütigen und, wenn wir verkehrte
Wege gegangen sind, unsere Sünden bekennen, sondern wir
müssen uns auch ganz dem Herrn übergeben, damit Er uns
auf Seine n Weg leiten kann. Der Herr schenke uns dazu
Seine Gnade! Aber vor allen Dingen möge Er uns bewahren
vor Eigenwillen und vor dem Fragen nach dem bekannten
Wege, damit Er nicht gezwunge n ist, uns durch schwierige Wege dahin bringen zu müssen, wo Er uns haben will.
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O möchte diese Geschichte uns zur Warnung dienen und uns
anspornen, mit ungeteiltem Herzen für den Herrn zu leben
und in Seiner Gemeinschaft zu wandeln! Dann wird der Herr
auch uns, wie einst Abraham, zu Seinen Vertrauten machen,
und wir werden all die geistlichen Segnungen, die Gott in
Christo für uns bereitet hat, reichlich genießen.
„Du bist bei mir"
(Psalm 23, 4)
Diese Erde ist der Schauplatz der Traurigkeit und des Elends.
Überall begegnet unser Auge der Mühsal, dem Kummer, dem
Kampf und der Sünde. Der Glanz der Welt kann mit den
Blicken des Gläubigen selbst das verborgenste Elend nicht verdecken. Ja, je mehr er in der Gemeinschaft mit seinem Gott
lebt, desto mehr fühlt er die Eitelkeit und Sünde seiner ganzen Umgebung, und er ruft mit Mose aus: „Ihr (der Jahre)
Stolz ist Mühsal und Nichtigkeit" (Ps 90). Und wie viele
Gefahren umringen ihn! Wie viele Versuchungen stürmen
auf ihn ein! Wie viele vergiftete Pfeile werden auf ihn abgeschossen! In jedem Augenblick befindet er sich in Gefahr.
Jeden Augenblick kann er vom Feind überwunden werden.
Tausend und aber tausend Widerwärtigkeiten begegnen ihm.
Das alles ist wahrlich geeignet, ihm den Mut zu rauben. —
Aber nein, der Mut des Gläubigen sinkt nicht, denn sein
Glaubensauge schaut durch die finsteren Nebel, die die Welt
bedecken, und er erblickt über den Wolken Ihn, in Dessen
Namen seine Kraft und seine Stärke liegen, und mit heiliger
Freude ruft er aus: „Auch wenn ich wanderte im Tale des
Todesschattens, fürchte ich nichts Übles, denn du bist bei
mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich".
Ach, warum wird diese Glaubenssprache so wenig gesprochen? Warum lebt sie so wenig in unseren Herzen? Weil wir
so wenig aus Erfahrung sagen können: „Jehova ist mein
Hirte, mir wird nichts mangeln." Und doch kann nichts uns
in den Kämpfen und Mühsalen mehr trösten, als das Bewußtsein, der Herr ist bei mir. Ich brauche also mein Leiden nicht
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allein zu tragen, meine Kämpfe nicht allein zu kämpfen, und
die Schwierigkeiten nicht allein zu bestehen. Ich habe einen
Freund, Der mit mir leidet und kämpft, einen Begleiter, Der
mir zum Stecken und zum Stabe dient. Dieser Freund, dieser
Begleiter, ist der Herr Selbst, der gute Hirte. Er besitzt alle
Macht im Himmel und auf Erden. Nur ein einziges Wort von
Seinen Lippen, und der Kampf schwindet, das Leiden endigt,
und der Feind flieht. Ist es gut für mich, dann verwandelt
sich das Tal des Todesschattens in einen Ort der Freude und
des Jubels. Selbst wenn die Versuchung andauert, „fürchte ich
nichts Übles, denn du bist bei mir." Wo der Unglaube nichts
als Jammer und Elend erblickt, da sieht der Glaube den
guten Hirten, Der Sein Leben ließ für Seine Schafe. Überall
wo wir sind, da ist auch Er. Er wandelt uns zur Seite, Er ist
Tag und Nacht bei uns, im Sonnenschein und Regen, im
Sturm und in der Stille. Er ist da, um zu leiten, zu helfen,
zu trösten und zu beschirmen.
Vor wem sollten wir uns fürchten? Ist Jesus nicht der Allmächtige? Ist Seine Liebe nicht unendlich? Sollte Er uns auf
dem Wege umkommen lassen? Unmöglich. Er gab Sein Leben
für uns, und Sein kostbares Blut hat uns freigemacht von der
Sünde, der Welt und dem Teufel. Sollte Er uns nicht bewahren auf dem Wege? Und kämen auch die Wasser der Trübsal
bis an die Lippen, und heulten die Stürme auch noch so heftig, so wird dennoch unser Schifflein nicht untergehen, sondern durch Seine Hand in den sicheren Hafen geführt werden.
Was ruft der gute Hirte uns zu? „Meine Schafe hören meine
Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe
ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren ewiglich,
und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. Mein Vater,
der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand
kann sie aus der Hand meines Vaters rauben. Ich und der
Vater sind eins" (Joh 10, 27-30). Welche mächtigen Worte!
Das Einssein Jesu mit dem Vater, dieses Einssein in bezug auf
den Willen und die Kraft dient uns zur Bürgschaft, daß wir
sicher das Ziel unserer Pilgerschaft erreichen werden. „Niemand wird sie aus meiner Hand rauben," -— „Niemand kann
sie aus der Hand meines Vaters rauben!"
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Welch eine Sicherheit! Welch ein unaussprechlich seliges
Bewußtsein! Geliebter Leser! Kennst auch du diesen guten
Hirten, Der Sein Leben für Seine Schafe gelassen hat? Hast
auch du Ihn zu deinem Freunde, zu deinem Begleiter, zu
deinem Stecken und Stab gewählt? Folgst du mit willigem
Herzen Seinen Schritten? Hörst du gern auf Seine lockende
Hirtenstimme? Nun, wenn das der Fall ist, dann wirst du
trotz der jähen und steilen Pfade, die Er dich führen mag,
mit fröhlichem Herzen weiterpilgern und den stürmischen
Wogen und Wellen, ja selbst dem Tode mit ruhigem Vertrauen ins Auge schauen, während deine Lippen zuversichtlich
ausrufen: „Du bist bei mir!" Ja wahrlich, dann wirst du
selbst da, wo der Mensch nur Elend erblickt und nichts als
Seufzer und Klagen vernimmt, „grüne Auen" und „stille
Wasser" finden.
O möchte dies unser aller Teil sein! Möchte unsere Seele sich
stets in dem Herrn, unserem Gott, erfreuen, Dessen Nähe
allein uns zu trösten und zu befestigen vermag! Nur der fühlt
sich sicher, der in jeder Lage in vollem Vertrauen zu sagen
versteht: „Du bist bei mir!"
Ein Wort zur Beherzigung
Unser geistliches Bedürfnis kennzeichnet unseren geistlichen
Zustand. Ist jenes schwach, so ist es auch unser Zustand, denn
beides geht Hand in Hand. Wie zeigt sich aber das wahre
geistliche Bedürfnis? In dem Verlangen, das Wor t z u er -
forschen , in der Freude am Gebet , in dem Eifer zum
Zusammenkomme n und in der treuen Benutzung
der vorhandene n Gaben .
Der Apostel Petrus sagt: „Wie neugeborene Kindlein seid
begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, auf daß
ihr durch dieselbe wachset zur Errettung" (1. Petr 2, 2). Der
Psalmist ruft aus: „Dein Wort ist Leuchte meinem Fuße und
Licht für meinen Pfad", und: „Deine Zeugnisse sind auch
meine Wonne, meine Ratgeber" (Ps 119). Ist dies auch die
Sprache deines Herzens?
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In bezug auf das Gebet ermahnt der Apostel: „Betet unablässig" (1. Thess 5, 17). Ebenso in Phil 4, 6. 7: „Seid um nichts
besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet und Flehen mit
Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden." Von Daniel lesen wir: „Dreimal des Tages kniete er auf seine Kniee
und betete und lobpries vor seinem Gott" (Dan 6, 11), und
Petrus ermahnt: „Seid nun besonnen und seid nüchtern zum
Gebet". Wie köstlich ist es, alle unsere Anliegen vor den
Herrn zu bringen und Ihn für Seine Güte zu preisen! Geniessest auch du reichlich dieses große und gesegnete Vorrecht?
Weiter ermahnt der Apostel: „unser Zusammenkommen nicht
(zu) versäumen, wie es bei etlichen Sitte ist" (Hebr 10). Wie
mancher ist im Besuch der Versammlung nachlässig geworden
und ist bald darauf in die Welt zurückgekehrt. Wenn die
Versammlung nicht mehr ein lieblicher, anziehender Ort für
uns ist, wenn uns alles willkommen ist, was uns an ihrem
Besuch hindert, dann ist unser geistlicher Zustand gewiß
beklagenswert. Prüfe dich doch, geliebter Leser, wie es um
dich in dieser Sache steht!
Wie benutzest du auch die verschiedenen Gaben, die der Herr
in Seiner großen Güte zum allgemeinen Nutzen darreicht, und
die teils mündlich, teils schriftlich dir dienen wollen? Gereicht
diese liebende Fürsorge Gottes auch wirklich zu deiner Auferbauung? Erwäge dies alles mit Aufrichtigkeit und Ernst!
Die Schule Gottes
(1. Samuel 17)
Es gibt einen Zug, der allen gemein ist, die Gott zu Seinem
Dienst erwählt hat: sie haben im Verborgenen mit Ihm zu
tun gehabt, bevor sie öffentlich auftraten? Das bildet einen
Gegensatz zu der Ruhelosigkeit des Fleisches, das die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken trachtet, bevor die Seele die
Zucht der Schule Gottes durchgemacht hat. Viele gehen aus,
ohne gesandt zu sein und bekommen erst durch ihre bitteren
Erfahrungen schmerzliche Lektionen erteilt. Paulus, das Gefäß, das der Herr erwählt hatte, um Seinen Namen zu tragen,
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empfing seine Erziehung in der Schule der Trübsale. „Ich
werde ihm zeigen, wie vieles er für meinen Namen leiden
muß" (Apg 9, 16). So hat Gott Seine verborgenen Wege, um
für Seinen Dienst zu erziehen. Ebenso war es mit Seinem
vollkommenen Diener, Seinem vielgeliebten Sohn. „Und er
ist wie ein Reis vor ihm aufgeschossen, und wie ein Wurzel -
sproß aus dürrem Erdreich" (Jes 53, 1).
Ebenso verhielt es sich mit David. In 1. Sam 17 finden wir
ihn in völliger Verborgenheit. Wedpr sein Vater noch seine
Brüder schienen sich um ihn besonders zu kümmern; er war
von seiner Familie getrennt und hütete die Schafe. Niemand
hielt es für wichtig, ihn zum Opfermahl herbeizurufen. Aber
dennoch war er der Erwählte Jehovas. Er war nicht allei n
in der Wüste; er stand unter der Zucht Gottes. Er wurde für
den öffentlichen Dienst zubereitet, und zwar in der geheimen
Schule Dessen, Der nicht nach dem äußeren Schein urteilt,
wie es die Menschen tun. So müssen auch wir ein Leben vor
dem Herrn führen. Wenn unsere Seelen nicht vor Ihm geübt
sind, so wird Er uns nicht als Werkzeuge in Seinem Dienst
gebrauchen. Mögen wir es uns auch einbilden, es ist doch nur
Täuschung. Gott will mit jeder Seele, die Er in Seinem Dienst
öffentlich gebrauchen will, vorher zu tun haben. Diese Weisheit unseres Gottes finden wir in der Geschichte Seiner hervorragendsten Diener. Nachdem sie für ihren besonderen
Dienst zubereitet sind, treten sie in der Stunde der Not in
Erscheinung. Dann sind sie ruhig, weise und voll Ausharren,
während alle anderen verlegen und furchtsam sind. Alles was
sie sagen und tun, verrät, daß sie für ihren Dienst zubereitet
sind. Menschen, die im Verborgenen vor dem lebendigen Gott
gelebt haben, sind fähig, voranzuschreiten, unbekümmert über
die Verwirrung und Kämpfe der Menschen. Sie haben gelernt,
sich vor dem ängstlichen Israel in die Bresche zu stellen und
selbst einem Goliath die Stirn zu bieten. Sie haben ihre
Zubereitung in dem verborgenen Leben vor Ihm empfangen,
Der größer ist als alles, vor dem lebendigen Gott.
David hatte in der Wüste die Hilfsquellen kennengelernt, die
der Glaube in Gott besitzt, und jetzt rüstet er sich, um als
Streiter Gottes dem Kämpfer der Unbeschnittenen gegenüber
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zu treten. Den Löwen und den Bären hat er bereits zu Boden
gestreckt, jetzt tritt er auf den Schauplatz, um vor den Heeren
Israels und der Philister Goliath zu besiegen.
Welch einen furchtbaren Feind hatte Israel in Goliath vor
sich! Vom Morgen bis zum Abend forderte er sie trotzig
heraus, aber seine Herausforderung wurde nicht angenommen, denn die Kinder Israel waren entmutigt und heftig
erschrocken. Saul mochte sein Heer in Schlachtordnung, aufstellen, das Heer mochte auf den Kampfplatz rücken und sein
Kampfgeschrei erheben (V. 19 - 21), aber „siehe, da kam der
Zwischenkämpfer herauf, Goliath, der Philister und sprach
nach jenen Worten; . . . Und alle Männer von Israel, als sie
den Mann sahen, flohen vor ihm und fürchteten sich sehr"
(V. 23, 24). Unter diesen Umständen betrat David das
Schlachtfeld. Er vernahm die trotzige Herausforderung des
Riesen und sah die Entmutigung und Schmach Israels. Ihr
lautes Kriegsgeschrei war bald verhallt, und das ganze Volk
war in äußerster Bestürzung. Der kleine Mann, den seine
Brüder in der Leichtfertigkeit ihrer Herzen wegen seines
Kommens tadelten, er, den der Philister verachtete und verfluchte, ist der einzige, der sich nicht fürchtet. Gleichwohl gab
es in David nichts, das ein Grund gewesen wäre, sich weniger
zu fürchten, nichts, das den äußeren Schein der Mach t an
sich trug, sondern eher das Gegenteil. Das Fleisch sucht die
Macht in den Armeen, den zahlreichen Bewaffneten, oder
dem mächtigen Goliath, nie aber in dem Knaben , der
soeben von seinen Schafen in der Wüste gekommen war.
Beachten wir, David war dem lebendigen Gott im Verborgenen begegnet, und jetzt sah er, daß der Name des lebendigen
Gottes angetastet wurde. Israel blickte auf seine eigenen
Hilfsmittel, und was waren diese im Vergleich mit denen der
Philister! Aber es gab hier einen, der die Gedanken Gottes
besaß, der auf die Hilfsmittel des lebendigen Gottes blickte.
David besaß sicher nicht mehr natürlichen Mut als Saul, aber
er hatte Glauben. In der Wüste war David zwar im Verborgenen gewesen, aber dort hatte er die Gemeinschaft mit Gott
kennengelernt. Nun trat er mutig und frisch aus der Gegenwart des lebendigen Gottes hervor und betrachtete alles um
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sich her nach den Gedanken Gottes; und er verwertete in
dieser neuen Lage, was er von Gott im Verborgenen gelernt
hatte. Das war das Geheimnis seiner Kraft und seines Sieges.
Wohl wurden die Umstände erwogen, ihre Schwere und Gefahr abgemessen, aber sein Glaube brachte Gott hinein und
er handelte nun nach der Weisheit und Macht des lebendigen
Gottes. Von diesem Gesichtspunkt aus muß David betrachtet
werden. Er sieht das Heer Israels als das Heer Jehovas der
Heerscharen, er sieht es im Lichte Dessen, aus Dessen Gegenwart er soeben gekommen ist (V. 26).
Fragen wir uns, ob unsere Fehler nicht meistens daher kommen, daß wir nicht im Verborgenen bei Gott gewesen sind.
Es ist von höchster Wichtigkeit. Schätzen wir die Gemeinschaft mit Gott als unser höchstes Vorrecht? Schätzen wir den
Wandel mit Gott höher als den Wandel vor und mit den
Gläubigen? Ich glaube, daß wir das Leben vor und mit den
Gläubigen oft für wichtiger halten als das Leben vor und mit
Gott. Umringt von Gläubigen mögen wir gestärkt werden,
aber Kraft können wir nur empfangen durch unseren Wandel
und unsere Gemeinschaft mit Gott; denn nur im Blick auf
den Unsichtbaren können wir ausharren. Das Fleisch mag
unter den Gläubigen Anerkennung suchen und auch finden,
aber in der Gegenwart Gottes verwelkt das Fleisch wie Gras.
Sicher und glücklich sind wir daher nur, wenn wir im Glauben „im Verborgenen des Höchsten" wohnen, und mit der
dort gesammelten Kraft in den Dienst treten. Dann werden
wir jeden Feind so anblicken können, wie David Goliath.
„Denn wer ist dieser Philister, dieser Unbeschnittene, daß er
die Schlachtreihen des lebendigen Gottes verhöhnt" (V. 26)?
Aber die Sprache des Glaubens bringt augenblicklich das
Fleisch in Aufregung. So war es bei Joseph, als er seinen
Brüdern seine Träume mitteilte, und so finden wir es hier bei
David und seinen Brüdern. Eliab ruft ihm zu: „Ich kenne
deine Vermessenheit wohl und die Bosheit deines Herzens"
(V. 28). Wenn das Fleisch etwas sieht, das mächtiger ist als
es selbst, dann besteht alles, was es tun kann, darin, das
andere als Vermessenheit zu bezeichnen. Eliab war der älteste
Bruder, er stand daher auf der Höhe, die das Fleisch liebt und
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sucht. Für das natürliche Auge besaß er einen hervorragenden Platz, aber obwohl seine Person die Aufmerksamkeit
auf sich lenken konnte, hatte Gott ihn dennoch „verworfen"
(Kap. 16, 6. 7). Er war nicht der Gesalbte des Herrn. Eliab
steht hier, wie Ismael und Esau, als der Repräsentant der
natürlichen Ansprüche des Fleisches. Gestützt auf diese Tatsache tadelt er David. Aber die Weisheit, die die Sprache
Davids verrät, ist durch eine Macht hervorgerufen, von der
Eliab nichts versteht. Es war die Sprache des Glaubens. Der
lebendige Gott, Jehova der Heerscharen Israels, steht vor seinen Blicken, und an ihm mißt er die Philister und ihren
Vorkämpfer. Eliab sprach und fühlte es als Mensch , darum war für ihn die Sprache des Glaubens nichts als „Vermessenheit und Bosheit des Herzens".
Das Fleisch verkennt immer den Glauben. Stets ruft es uns
zornig die Worte zu: „Es ist Vermessenheit!", so oft wir von
Vertrauen auf den lebendigen Gott reden. Gerade dieses
Vertrauen, das völlige Erniedrigung, völligen Verzicht auf
eigene Kraft voraussetzt, wird von seiten des Fleisches als
Vermessenheit bezeichnet. David verliert sich selbst bei dieser ganzen Handlung aus den Augen, weil er auf Gott und
Dessen Heere schaut. Es ist die Macht und das Vorrecht des
Glaubens, das Ic h völlig auszuschalten und allein auf Gott
zu blicken. „Damit sich vor Gott kein Fleisch rühme." —
„Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn." Was David gelernt hatte und offenbaren wollte, das nannte Eliab Vermessenheit. Das Fleisch ist stolz und trotzig. Ich setze voraus,
daß wir dies wissen, und auch dieses, daß der Glaube das
Ich beiseitesetzt, weil der Glaube alles von Gott empfängt
und Gott Selbst sein Teil ist.
„Was habe ich nun getan?" fragte David. „Ist es nicht der
Mühe wert" (V. 29)? Hatte David sich selber gerühmt?"
Keineswegs. Und gab es für David nicht eine Veranlassung,
seine Stimme zu erheben? Wenn der Name Gottes in Frage
gestellt wird, dann ist immer Ursache vorhanden, ein Wort
zu reden. Der einzige Zweck, weshalb wir in dieser Welt
zurückgelassen worden sind, besteht darin, daß wir vor den
Menschen den Namen Jesu bekennen und unseren eigenen
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Namen beiseite setzen sollen. Möchten doch alle Kinder
Gottes in dieser einen Sache vereinigt sein — im Bekennen
des Namens Jesu!
Aber folgen wir David, der, ohne sich durch die Verweise
Eliabs zurückhalten zu lassen, in die Gegenwart Sauls tritt.
Welch eine Würde, welch eine Festigkeit und Gewißheit
zeigt sich in jeder seiner Bewegungen. „Und David sprach zu
Saul: Es entfalle keinem Menschen das Herz seinetwegen!
Dein Knecht will gehen und mit diesem Philister kämpfen"
(V. 32). Während das ganze Heer Israels zittert, steht ein
kleiner Mann vor dem König und sagt: „Es entfalle keinem
Menschen das Herz." Ja, der Glaube verleiht ein solches
Selbstbewußtsein, das uns nicht nur befähigt, inmitten der
bedrohlichsten Umstände Trost und Vertrauen zu schöpfen,
sondern auch den Verzagten neuen Mut zu geben. Von den
Umständen unbehindert schöpft der Glaube aus den nie versiegenden Quellen des Himmels, und so können wir, anstatt
dem Druck der Trübsale zu erliegen, wie der Apostel sagt, „die
trösten. . ., die in allerlei Drangsal sind, durch den Trost, mit
welchem wir selbst von Gott getröstet werden" (2. Kor 1, 4).
David hatte die Schule der Trübsale durchlaufen und hatte
bereits den Gott erprobt, auf Den er vertraute. Er wußte, an
Wen er glaubte. Er war vorher in Gefahren gewesen und
hatte siegreich bestanden, darum ist sein Herz jetzt voller
Vertrauen. In der Wüste waren zwischen seiner Seele und
Gott Dinge geschehen, die, wie es scheint, bis zu diesem
Augenblick nicht ans Tageslicht gekommen waren (V. 34 - 37).
Wo ist der Ort, Geliebte, an dem die Gläubigen lernen können, Siege zu feiern? Ich glaube dort, wo uns außer Gott
kein menschliches Auge sieht. Entschiedene Selbstverleugnung, das Aufnehmen des Kreuzes im Verborgenen, die in
der Einsamkeit unseres Kämmerleins erlangte Erkenntnis der
Notwendigkeit, unsere Einbildungen und alles, was sich gegen
die Erkenntnis Gottes erhebt, niederzuhalten, — das sind
die mächtigsten Mittel, um den Schwierigkeiten des täglichen
Lebens widerstehen zu können. Das Betkämmerlein ist das
große Schlachtfeld des Glaubens. Haben wir dort den Feind
getroffen und besiegt, dann werden wir auch in der Stunde
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wirklicher Gefahr feststehen und andere aufrichten und trösten können. Nur derjenige, der bereits in der Wüste den
Löwen und den Bären niedergestreckt hat, kann im Terebinthental einem Goliath unerschrocken entgegentreten.
Wie deutlich offenbart uns dies das wirkliche Geheimnis der
Kraft Davids! Es ist die Kraft des Glaubens. Jetzt verstehen
wir, was der Apostel meint, wenn er sagt: „Ich bin ein Tor
geworden." Er war gezwungen worden, von sich selbst zu
sprechen und da s war seine Torheit. Was war das große
Geheimnis seiner Kraft für den Dienst und seiner Fähigkeit,
den Widerstand so vieler Gläubiger ertragen zu können? War
alles dies nicht eine Frucht jener Übungen, die im Verborgenen zwischen seiner Seele und Gott stattgefunden hatten
und nur ihm und seinem Gott vertraut waren? Aus demselben Grund konnte jetzt David zu Saul sagen: „Es entfalle
keinem Menschen das Herz."
„Aber Saul sprach zu David: Du vermagst nicht wider diesen
Philister zu gehen, um mit ihm zu kämpfen" (V. 33). Saul
blickte auf David und dann auf Goliath, und nach menschlichem Ermessen war sein Urteil richtig. Aber Saul kannte
nicht das Geheimnis Gottes, das David kennengelernt hatte.
Saul wußte noch nicht, was David sagen wollte. Wenn Eliab
sich solcher Heldentaten hätte rühmen können, so hätte er
sie s'cher nicht einen einzigen Tag geheim gehalten, aber
David war in einer Schule gewesen, in der er gelernt hatte,
nicht viel aus seiner eigenen Person zu. machen, sondern dem
lebendigen Gott die Ehre zu geben. Daher hatte er, soweit
uns die Schrift darüber belehrt, seine Taten nie erwähnt, geschweige sich ihrer gerühmt. Aber als die Gelegenheit es erforderte, konnte er kühn auftreten und verkündigen, wie die
Güte und Macht Jehovas ihm geholfen hatten. Ebenso verhielt es sich mit dem Apostel Paulus, als er sagte: „Ich kenne
einen Menschen in Christo vor vierzehn Jahren usw." (2. Kor
12, 2). Obwohl vierzehn Jahre verflossen waren, scheint es
doch, daß niemand etwas von seiner Entrückung bis in den
dritten Himmel gewußt hat. Aber als die Gelegenheit kam,
dieses Ereignis nicht zu seinem, sondern zu seines Herrn Ruhm
ins Licht zu stellen, teilte er es ohne Zögern mit. Sicher hat
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weit mehr zwischen dem Herrn und seinem treuen Apostel
stattgefunden, ohne daß es je ans Tageslicht gekommen ist.
Ebenso war es bei David. Wer wußte, was dieser „Knabe" bereits ausgeführt hatte? Wer kannte die wunderbaren Triumphe, die er bereits gefeiert hatte? Wer wußte, daß er schon ein
Lamm seiner Herde aus dem Rachen des Löwen befreit, und
sowohl den Löwen als auch den Bären mit seiner Hand
niedergestreckt hatte? Weder Eliab noch Saul wußte es. Nur
von dem scharfen Unterscheidungsvermögen des persönlichen
Glaubens hätte es möglicherweise erkannt werden können
(Kap. 16, 18); sonst aber waren seine Heldentaten unbekannt.
In der Tat, wenn wir stark sein wollen, müssen wir einen
verborgenen Umgang mit Gott unterhalten. Wir sind oft
schnell bereit, irgendeinen Dienst vor den Augen der Menschen zu verrichten, während wir vielleicht eine ungesehene
Gemeinschaft und Übung vor Gott vernachlässigen. Und dennoch hängt hiervon alles ab, denn wenn wir nicht im Verborgenen den Löwen und den Bären erlegt haben, werden
wir nicht in der Öffentlichkeit einen Goliath töten können.
Dieses sollte uns dahin führen, das Wort zu verstehen: „Der
. . . nehme sein Kreuz auf täglich." Viele mögen meinen, man
könne und müsse bei gewissen außergewöhnlichen Gelegenheiten das Kreuz auf sich nehmen, aber ein tägliches Aufnehmen des Kreuzes, eine tägliche Selbstverleugnung, ein
tägliches Hassen und Verlieren des eigenen Lebens in dieser
Welt ist eine ganz andere Sache. Gottes Auge ruht immer
auf uns. Es ist unser Vorrecht, immer vor Gott zu wandeln,
und darum hat man stündlich Gelegenheit, das Kreuz vo r
I h m auf sich zu nehmen, sich selbst zu verleugnen, und
Jesu nachzufolgen.
„Und David sprach: Jehova, der mich aus den Klauen des
Löwen und aus den Klauen des Bären errettet hat, er wird
mich auch aus der Hand dieses Philisters retten" (V. 37).
David wußte, daß das eine so leicht war wie das andere.
Wenn wir in Gemeinschaft mit Gott sind, wissen wir, daß
es für Ihn keine Schwierigkeit gibt. Der Glaube mißt jede
Schwierigkeit an der Macht Gottes; dann werden Berge zu
Ebenen. Ach, wie oft denken wir, daß wir in kleinen Dingen
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diese Allmacht nicht benötigen, und das ist die Ursache unseres Versagens. Haben wir nicht oft sonst eifrige und
ergebene Gläubige in geringen Versuchungen fallen sehen?
Die Ursache war, daß sie versäumt hatten, Gott durch Glauben in all e ihre Wege einzuführen. Abraham konnte seine
Familie und seines Vaters Haus verlassen und auf Befehl
Gottes ausgehen, ohne zu wissen, wohin, aber in dem Augenblick, wo er einer Schwierigkeit begegnet und in seiner eigenen Weisheit hinabzieht nach Ägypten, wie ist dort sein Verhalten? Beständig fällt er in verhältnismäßig kleinen Dingen.
Sind wir einmal in einer verkehrten Stellung, die wir uns
selbs t gewähl t haben , wie schwach erweisen wir
uns dann! Der Glaube kennt keine geringen Dinge, er setzt
unsere Schwachheit so völlig voraus, daß er für jeden Sieg
nichts Geringeres als die Macht Gottes nötig hält. Er unterschätzt keine Gefahr, weil er weiß, was wir sind, er verzagt
aber auch in keiner Gefahr, weil er weiß, was Gott ist. Diese
wahre Einschätzung der Gefahr und unserer eigenen Schwachheit kennzeichnet die Glaubenszuversicht. Wenn wir uns an
unseren Feinden messen, was sehen wir dann? „Unser Kampf
ist nicht wider Fleisch und Blut, sondern wider die Fürstentümer, wider die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser
Finsternis, wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den
himmlischen örtern" (Eph 6, 12). Und was sind wir im Vergleich zu solche n Feinden ? Was ist unsere Macht
im Vergleich zu der ihrigen? „Wir waren in unseren Augen
wie Heuschrecken, und also waren wir auch in ihren Augen"
(4. Mo 13, 33). „Ziehet an die ganze Waffenrüstung Gottes"
(Eph 6, 11)! Der Glaube entdeckt überall unsere Schwachheit,
aber er ruht sicher in der Macht des Herrn. Der Glaube weiß,
was das Fleisch ist, obwohl das Fleisch es selbst nicht weiß,
und daher wird jemand, der durch den Glauben stark ist, sich
nie des Fleisches rühmen. „Wenn ich schwach bin, dann bin
ich stark".
So ist es hier bei David. Er wußte, daß er sich nicht mit
Goliath messen konnte. Er hatte auch keine Veranlassung
dazu, denn er handelte nicht aus Stolz. Er war weit davon
entfernt, an seine eigene Kraft zu denken, als er den schreck60
liehen Riesen von Gath erblickte. Er wußte, daß er selbst geringer war als Eliab oder Saul, wie hätte er sich da mit einem
Goliath vergleichen können? Trotzdem konnte er in völliger
Zuversicht sein Ziel verfolgen. Er wußte, daß er gerettet
werden würde. Er vertraute auf Jehova, und Er war stark
und mächtig.
„Und Saul sprach zu David: Gehe hin, und Jehova sei mit
dir! Saul zog David seinen Rock an und setzte seinen ehernen
Helm auf sein Haupt und zog ihm einen Panzer an" (V. 37b,
38). Saul konnte sagen : „Jehova sei mit dir!" Aber Saul
besaß nicht das Vertrauen auf Jehova, das David kennzeichnete. Er versuchte den kleinen David auszurüsten wie er selbst
ausgerüstet war, und er brachte darum seine eigenen fleischlichen Waffen zum Vorschein. Aber diese sind ungeeignet für
einen Glaubenskämpfer. Sobald David die Waffenrüstung
Sauls angelegt hatte, war er zu jeder Bewegung unfähig. Er
fühlte sich gefesselt und gehemmt. Wer nicht alles im Glauben tut, ist ungeschickt und unfähig, festen Schrittes zu gehen. Wenn aber der einfältige Glaube an den lebendigen Gott
in Tätigkeit ist, dann schreiten die Gläubigen ruhig, leicht,
unbeschwert und siegreich vorwärts. Es liegt eine glückselige
Freiheit in dem Dienst, den der Glaube für den Herrn tut,
Der keine Fähigkeit oder Anstrengung des Fleisches anerkennen kann. Deshalb müssen wir jede zur „Unterstützung" des
Glaubens angewandte Tätigkeit des Fleisches entschieden zurückweisen. Bei den verschiedensten Dingen kann man entdecken, daß Anstrengungen gemacht werden, die den Glauben
anderer nachahmen sollen, und man versucht irgendein Opfer
zu bringen, nur weil andere es auch getan haben. Aber das
alles ist verabscheuungswürdig. Wer wirkliche Kraft von dem
Herrn besitzt, bewegt sich frei und ruhig, und schlägt jedes
andere Hilfsmittel aus. Er stützt sich auf Gott, das ist das
wahre Geheimnis seiner Kraft. Wir werden dies bei David
sehen.
/ „Da sprach David zu Saul: Ich kann nicht darin gehen, denn
ich habe es nie versucht" (V. 39). David hatte keine Furcht,
dem Philister entgegenzutreten, weil er wußte, daß Jehov a
m i t ih m war , aber unmöglich konnte er i n diese r
61
Weis e sein Vorhaben ausführen. Der Glaube vertraut nicht
teilweise auf den Herrn und teilweise auf den Menschen.
David hatte keinen ehernen Helm und keinen Panzer, als er
den Löwen und den Bären schlug. Jehova war seine einzige
Kraftquelle, und Er errettete ihn, wie er sagte. Ebenso hören
wir Paulus sagen: „Der Herr aber stand mir bei . . . und ich
bin gerettet worden aus dem Rachen des Löwen" (2. Tim 4,
17). In derselben Weise hatte auch David den mächtigen Arm
seines Gottes erprobt, aber er war nicht „gewohnt", die Waffenrüstung Sauls zu tragen.
Aber wie oft haben wir uns selbst so eine falsche Rüstung
angezogen oder uns von anderen in so beengende und hinderliche Waffenröcke einschnüren lassen, ohne wie David
deren Untauglichkeit zu entdecken und sie so schnell wie
möglich wieder abzulegen! Haben wir sie nicht oft sogar mit
Wohlbehagen getragen, und sind wir nicht oft so gerüstet
in den Kampf gezogen? Haben wir nicht oft versucht, das
Werk Gottes in irgendeiner Form mit menschlicher Macht zu
unterstützen und das im Fleische zu vollenden, was im Geiste
begonnen war? Aus diesem Grunde haben wir dann zu unserem Schaden und Nachteil unsere Torheit und unseren Unglauben erkennen müssen. Wie ganz anders handelte David!
Er entdeckte sofort, daß die glänzende Waffenrüstung Sauls
für einen Glaubensstreiter untauglich war. Die Worte Sauls
waren gut, aber sie wurden durch diese Waffenrüstung Lügen
gestraft. Ich glaube, daß diejenigen, mit denen Gott Sich viel
im Verborgenen beschäftigt, David gleichen werden; sie werden ruhig und klar die Hilfsmittel des Fleisches erkennen
und zurückweisen. Sie prüfen, was „das Vorzüglichere sei"
(Phil 1, 10), mit dem geistlichen Unterscheidungsvermögen,
das man nur in der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott
erlangen kann. Selbst wenn dies durch die Kunstgriffe des
Feindes für einen kurzen Augenblick getrübt und durch
einen trügerischen Gegenstand beeinflußt wird, wird der
Betrug, wenn auch nicht gesehen , so doch bald ge -
fühl t werden. So ist es bei David. Für einen Augenblick
ließ er sich die ganze Waffenrüstung Sauls anlegen, aber
gerade als Saul ihn vorschriftsmäßig ausgerüstet zu haben
62
glaubt, fühlt David sich gefesselt und behindert. Das geeignetste Hilfsmittel der Welt ist das größte Hindernis für den
Glauben.
„Und David legte sie (die Rüstung) von sich ab." So begibt
sich der Glaube aller fleischlichen Waffen und hält sich nur
an die Macht Gottes. Dies zu lernen, fällt uns oft sehr schwer.
Wir lernen langsam, vergessen aber umso schneller. Aber
wenn wir mehr den verborgenen Umgang mit Gott genössen,
würden wir viel eher auf alle fleischlichen Waffen verzichten.
Die Seele, die wie David im Verborgenen vor Gott geübt worden ist, weiß, daß alles außer der Kraft Gottes gänzlich wertlos
ist. Wenn sie diese gesegnete Lektion erlernt hat, wirft sie eiligst alle die Dinge von sich, die das Fleisch als gute Hilfsmittel
so sehr schätzt, und fühlt sich erst glücklich und frei, wenn
sie alles das beiseitegeworfen hat. Wie gesegnet ist es, das
Fleisch zu erkennen und zu verleugnen! Aber eben weil wir
jenen verborgenen Umgang mit Gott vernachlässigen, bleibt
oft nichts anderes übrig, als auf dem Wege schmerzlicher
Züchtigungen Erfahrungen dieser Art zu sammeln. Ein solcher
Weg ist schwierig. Sicher aber gibt es nichts Verwerflicheres,
als wenn man wie Saul den Namen des Herrn mit menschlicher Autorität oder menschlicher Weisheit verbindet. Wie sehr
freut sich der Apostel, alle die von Menschen so hoch geschätzten Dinge um Christi willen verloren zu haben! Wie
kam es, daß ihm dies so leicht wurde? Wodurch erlangte er
die Kraft, alle diese Dinge zu verleugnen und für nichts zu
achten? Er hatte gelernt, sich in Christo Jesu zu erfreuen und
stark zu sein „in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke".
Möchten wir uns daher stets daran erinnern, daß jeder, m i t
d e m Got t Sic h im Verborgenen beschäftigt hat, sich
nicht dieser fleischliche n Waffe n bediene n
kann! Das zeigt uns, wie notwendig es ist, daß wir nicht eher
unseren Dienst beginnen, als bis wir vorher in der Gegenwart des lebendigen Gottes gewesen sind. Nur dann werden
wir fähig sein, die Ansprüche und Hilfsmittel des Fleisches
verleugnen und ausschlagen zu können. Es ist wirklich betrübend, einen Gläubigen zu sehen, der jene heilige Gemeinschaft noch nicht gepflegt hat, wie er in der Waffenrüstung
63
der Welt kämpfen muß. Auf diese Weise ist auch die Welt in
die Kirche eingedrungen. Ihre Grundsätze und Kräfte werden
an einem Ort anerkannt, der eigentlich durch die Worte Gottes gekennzeichnet werden sollte: „Liebet nicht die Welt!"
„Alles was in der Welt ist . . . ist nicht von dem Vater", und
„die Freundschaft der Welt (ist) Feindschaft wider Gott."
Wie oft kämpft das Fleisch gegen das Fleisch. Anstatt einfach
das Wort Gottes zu gebrauchen, sucht man auf einem fleischlichen Wege einen Sieg zu erringen; statt der Schleuder in
der Hand des Glaubens wird der eherne Helm und der Panzer Sauls der Rüstung Goliaths gegenübergestellt. Wie oft
rechtfertigt Gott Sein eigenes im Glauben angewandtes Wort,
indem Er es mit göttlicher Macht begleitet! Wie oft demütigt
er uns aber auch dadurch, daß Er uns zeigt, wie unser Fleisch
nichts anderes vermag als zu fallen!
David geht jedoch nicht unbewaffnet in den Streit, obwohl er
die Waffenrüstung Sauls von sich wirft. „Und er nahm seinen
Stab in seine Hand und wählte sich fünf glatte Steine aus
dem Bache . . . und seine Schleuder hatte er in seiner Hand;
und er trat an den Philister heran" (V. 40). Er legte die einen
Waffen ab, um sich mit Waffen anderer Art ausrüsten zu
können. Aber wie einfach sind diese Waffen! Wenn David
mit solchen Waffen den Riesen Goliath erlegte, mußte dies
sicher ein Sieg Jehovas sein. Diese Waffen waren nicht durch
die Kunst und nach dem Plan des Menschen gearbeitet, denn
der dahinfließende Bach hatte diesen Steinen ihre Glätte gegeben. Der Glaube ist stets so bewaffnet. Aber in den Augen
der Menschen ist diese Waffenrüstung des Glaubens immer
schwach und töricht. Die größten Siege Gottes sind durch
Werkzeuge gewonnen worden, die der Mensch am meisten
verschmäht hat. Der Mensch behandelt die törichte Predigt
am Kreuze Christi mit Verachtung, und doch ist sie die
„Macht und Weisheit Gottes." Eine solche Predigt war stets
so töricht wir die Schleuder Davids. Aber eben diese Einfachheit haben wir nötig, wenn wir daran denken, daß die Wahrheit Gottes in die Gewissen der Menschen dringen soll. Unsere Waffen haben eine göttliche Kraft, und wenn wir in
einfältigem Glauben nur auf Gott unser Vertrauen setzen
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und die Waffen menschlicher Energie, Weisheit und Autorität von uns werfen, dann wird uns der Sieg gewiß sein.
„Und der Philister ging und kam David immer näher" (V. 41).
Verächtlich auf David und seine Waffen sehend, sagt Goliath: „Bin ich ein Hund, daß du mit Stöcken zu mir kommst"
(V. 43)? Das Fleisch in seinem Stolz sieht sich immer schimpflich behandelt, wenn unsere Waffen den ihrigen nicht ähnlich
sind. Es fordert Schwert gegen Schwert und Helm gegen
Helm, denn das Fleisch liebt sich selbst. Aber David antwortet: „Du kommst zu mir mit Schwert und mit Speer und mit
Wurfspieß; ich aber komme zu dir im Namen Jehovas der
Heerscharen, des Gottes der Schlachtreihen Israels, den du
verhöhnt hast" (V. 45). So stellt David die Frage auf den
rechten Boden. Es handelt sich jetzt einfach um eine Frage
zwischen Jehova der Heerscharen und dem Philister. David
setzt seine eigene Person ganz beiseite und bringt Gott als
den Gegner Goliaths auf den Schauplatz. So sollte es auch bei
uns immer sein. Wer sind wir? Was liegt daran, was wir
sind, und was die Macht des Feindes ist? Mögen wir auch
schwach und er stark sein, ist es nicht Gott, Der Seinen eigenen Namen verteidigen will? David kam im Namen Jehovas
der Heerscharen, und wird Gott nicht über Seinen eigenen
Namen wachen? Wird Er dem Philister erlauben, darüber zu
triumphieren? Niemals. Hierin besteht die Kraft des Glaubens. Der Glaube bringt die Allmacht Gottes in die Umstände. Der Glaube sagt immer: „Wenn Gott für uns ist, wer
wider uns?"
David hätte sicher nicht die Probe bestanden, wenn er nicht
Gott als seinen Gott in der Einsamkeit kennengelernt hätte.
Aber jetzt konnte er sagen: „Es entfalle keinem Menschen
das Herz", und jetzt konnte er dem Philister mutig entgegentreten. Der Name des Herrn muß unsere Kraft gegen das
Böse sein, mag es von außen oder von innen kommen. Setzen
wir die schlimmste Art des Bösen voraus, und das ist sicher,
wenn wir irgendeine Sünde bei einem Gläubigen sehen, wohin sollten wir dann unsere Zuflucht nehmen? „Herr, um
Deines Namens willen, verzeihe mir mein Unrecht, denn es
ist groß!" — Wir haben in jedem Falle nur nötig, Gott an
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Seinen Namen zu erinnern, und Er wird für diesen Namen
einstehen. So kann also der Glaube sich immer dieses Namens
als seiner Kraft gegen den Feind bedienen. Anstatt sich durch
den Stolz seines Herzens leiten zu lassen, trat David selbst
ganz in den Hintergrund und legte alles in die Hand Gottes.
Sein volles Vertrauen zeigt seine völlige Demut. Für uns ist
es der Name Jesu, den wir jedem Ding gegenüberstellen müssen. Ist dieser Name nicht in jeder Trübsal, in jeder Verlegenheit und jedem Feinde gegenüber genügend? Diese Unterweisung will Gott jetzt vielen Seelen im Verborgenen erteilen. Er weckt in ihnen das Gefühl eines Elends, das sie
früher nicht kannten, und eine Traurigkeit, die sie früher nie
gefühlt hatten, damit sie den Wert des Werkes, das am Kreuz
für sie geschehen ist, schätzen lernen. Während sie so auf
dem Wege der Erfahrung die Kostbarkeit der Erlösung erkennen, erkennen sie zugleich die Notwendigkeit, diesen allmächtigen Gott als ihren Freund zu besitzen. Gott ist jetzt
im Verborgenen unaufhörlich bemüht, viele Seelen mit dem
Werte des Kreuzes bekannt zu machen, damit sie im Kampf
stark werden.
Ja, wenn wir vor Gott im Verborgenen gelebt haben, werden
wir, wenn ich so sagen darf, den ersten Schritt beim Angriff
tun können, wie David es tat. Er sagt: „An diesem Tage wird
dich Jehova in meine Hand überliefern, und ich werde dich
erschlagen und dein Haupt von dir wegnehmen; .. . da eilte
David und lief der Schlachtreihe zu, dem Philister entgegen"
(V. 46. 48). David zögerte nicht, sondern bediente sich augenblicklich seiner einfachen Waffen und schleuderte einen Stein
gegen die Stirn des Riesen, so daß dieser tot zur Erde fiel
(V. 49). „So war David, mit der Schleuder und mit dem Steine, stärker als der Philister, und er schlug, den Philister und
tötete ihn" (V. 50).
David wartete also nicht den Angriff ab, sondern eilte dem
Philister sofort entgegen. Wenn wir im Verborgenen den
Wert des Namens des Herrn kennengelernt haben, gibt uns
das Bekenntnis dieses Namens alle Kraft, daß wir, statt angegriffen zu werden, selbst den Angriff auf den Feind eröffnen können. Aber wir haben gesehen, wieviel Gnade nötig
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ist, um wirklich gegen das Böse Zeugnis ablegen zu können.
Ach, wie schwach ist oft unser Zeugnis, weil wir nicht wirklich mit Gott Umgang haben! Möchten wir es uns merken,
wie ruhig und sicher David ohne zu zögern seine Schleuder
zur Hand nahm. Er trifft keine großartigen Vorbereitungen,
er handelt, als ob er in der Wüste sei, wo außer Gott kein
Auge ihn sah. Wie Jehova ihn befähigt hatte, den Löwen
und den Bären zu erschlagen, so lenkte er auch die Richtung
des geschleuderten Steines. So trug David den Sieg davon,
und so wird der Glaube stets siegen.
Auch in unseren Tagen gibt es viele Gelegenheiten für einen
solchen Dienst des Glaubens. Vergessen wir nur nicht, daß
die Kraft dazu im Verborgenen bei Gott gewonnen werden
muß. Nur in der Kraft Gottes können wir dienen. Wenn ein
Gläubiger in der Öffentlichkeit vom Herrn gesegnet wird,
so können wir sicher sein, daß der Herr Sich im Verborgenen
mit ihm beschäftigt hat, und zwar auf eine Weise, die wir
nicht vermutet haben. Aber wie oft sehen wir auch einen
Christen, der sich eine Zeitlang im Dienst auszeichnete,
plötzlich bei einem geringen Widerstand fallen. Woher kommt
das? Aus Mangel an fortgesetztem, verborgenem Umgang
mit Gott. „Bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist,
und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten" (Matth 6, 6).
Das christliche Amt
Inwiefern muß es anerkannt oder verworfen werden?
Man beschuldigt uns der Verwerfung des christlichen Amtes
und wir haben darauf nur die einfache Antwort, daß wir nur
ein unchristliche s Amt verwerfen.
Wir glauben nicht, daß jemand auf dem Wege der Einsetzung
durch eine weltliche Behörde oder durch die Wahl des Volkes
in den Besitz eines solchen Amtes gelangen kann, und hierin
liegt der Kern dieser Frage. Aufgrund des Wortes Gottes
können wir weder einer Behörde noch dem Volk das Recht
der Berufung oder der Wahl in dieser Sache einräumen. Nur
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Gott hat dieses Recht. Dennoch glauben wir, daß für die
gegenwärtige Zeit das christliche Amt so nötig ist wie die
Wiederkunft Christi, und wir sind weit davon entfernt, das
christliche Amt beiseitezusetzen, da wir überzeugt sind, daß
der bloße Wille einer Staatsbehörde oder des Volkes — obschon beides an seinem Platz zu ehren ist —• sich nicht mit
einer so heiligen Sache befassen kann, die die Herr allein nach
Seinem Willen ordnet.
Wir lesen, daß der gen Himmel gefahrene Herr „die einen
gegeben (hat) als Apostel und andere als Propheten und
andere als Evangelisten und andere als Hirten und Lehrer".
Dieses, nicht aber die Berufung durch irgendeine Staatsbehörde oder die Wahl des Volkes ist der einzige Ursprung des
Amtes. Man behauptet zwar von der einen Seite, daß eine
Behörde das Recht zur Berufung, und auf der anderen Seite,
daß das Volk das Recht zur Wahl habe, aber wir verneinen
beides. Christus verleiht das Amt, wann und wie Er es für
gut befindet, und wehe dem, der ein solches Amt nicht anerkennt! Wenn aber, wie in einem Schriftchen behauptet
worden ist, ein Mensch ebenso das Recht hat, sich seinen
eigenen Pastor zu wählen, wie er bei Gericht sich seinen
Rechtsanwalt oder in Krankheitsfällen seinen Arzt wählen
darf, so ist Gott offensichtlich ganz ausgeschlossen, und
dagegen richten wir unseren Einwurf. Wenn Christus eine
Gabe verliehen hat, so ist der Gläubige verpflichtet, ihre
Ausübung und durch sie das Wort Christi anzuerkennen.
Die durch die Wirksamkeit eines Evangelisten bekehrten
Seelen sind der Beweis für seine Gabe, und die Kirche ist
genötigt, eine solche anzuerkennen. Wenn die Glieder der
Kirche geistlich gesinnt sind, so werden sie sicher ihre Anerkennung nicht versagen, wenn die Gabe und der Beweis,
daß Gott sie gegeben hat, vorhanden sind. Tun sie es aber
doch, dann sündigen sie gegen Christus, Der diesen Evangelisten gesandt hat. Die menschliche Einsetzung und Wahl der
hat zur Folge, daß man das Auge auf jemand richtet, der —
mag er nun tauglich oder untauglich sein — der Behörde, dem
Patron oder dem Volk gefällt, und der, wenn die Kirche
die ihr eingeräumten Rechte nicht einbüßen will, als die ein68
zige Person, anerkannt werden muß, in der alle Gaben vereinigt sind. Daher dreht sidi gewöhnlich der ganze Dienst
um einen Prediger.
Wir machen daher keine Einwendungen gegen das Amt,
wohl aber gegen dessen Übernahme seitens einer Person,
deren göttliche Sendung nicht erwiesen ist, denn wenn auch
jemand die eine oder andere Gabe besitzen mag, so doch
nicht alle Gaben. Wenn ein solcher offenbar zum Evangelisten
geeignet ist, kann man ihm deshalb das Amt des Pastors oder
Hirten übertragen, zu, dem er nicht die geringsten Eigenschaften besitzt? Vielleicht hat er die Gabe zu lehren, während ihm die Gabe zu regieren ganz und gar fehlt; kann er
nun zum Hüter der Herde angestellt werden? Aufrichtig beklagen wir die Einsetzung eines — ob guten oder schlechten — Pfarrers für das ganze Werk des Dienstes. Denn was
ist die Folge? Man verrückt gleichsam den Rahmen, der den
Leib Christi umschließt. Ist die sogenannte Innere oder Heimatmission etwas anderes, als eine Anstrengung, die zutagegetretenen Schäden an dem Bauwerk jener Körperschaften,
die sich Kirchen nennen, auszubessern?
Der Grund, weshalb wir das Amt in der gegenwärtigen Zeit
für sehr notwendig halten, findet seine Erklärung in den
Worten: „Gott war in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend, und hat
in uns das Wort der Versöhnung niedergelegt" (2. Kor 5).
Die Versöhnung der Welt, die Nichtzurechnuxig der Sünden
und die Gründung des Amtes, das waren die drei Dinge, die
Gott in Christo wirkte. Bei den Juden war das nicht so; sie
waren ein durch Geburt gebildetes Volk, dem als solchem
bestimmte Gesetze gegeben worden waren. Aber als Gott in
Christo als versöhnender Gott erschien, war ein Amt als Mittel notwendig, um gerade diese Absicht Gottes auszuführen.
So ist also das Amt das wesentliche Kennzeichen der gegenwärtigen Zeit. Die Gnade mag die Gaben wie bei den Aposteln in wunderbarer Weise in einer Person vereinigt haben,
aber gewöhnlich sind sie auf verschiedene Diener verteilt.
Sie dienen zum Nutzen der Kirche und diese muß sie anerkennen, sonst leugnet sie das Recht des Herrn Jesu, diese
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Gaben zum Besten der Kirche auszuteilen. Dieses Recht aber
hat Er allein, ebenso wie Er allein die Macht hat, als Versöhner zu vergeben und die Sünde nicht zuzurechnen. Jeder,
der versöhnt ist, ist zubereitet und, insofern er fähig ist,
verpflichtet, den Unbekehrten die Herrlichkeit Christi als des
Versöhners zu verkündigen. Es gibt solche, die die besondere
Gabe haben, das Evangelium zu predigen, und natürlich ist
nicht die Kirche oder Versammlung der Ort für die Ausübung dieser Gabe, sondern die Welt, in der sie den Sündern
das Evangelium verkündigen. Niemand hat das geringste
Recht, in der Kirche zu reden, wenn Gott ihm nicht die Gabe
gegeben hat, si e erbaue n zu können. Für die Natur
gibt es hier keinen Platz, sie hat in Christo ihren Tod gefunden. Außer Christo ist sie tot in Sünden und Vergehungen,
ihr Teil ist ewiges Verderben. Wir können dem rebellischen
Sünder kein anderes Recht einräumen als daß er verloren
ist. Christus hat alle Rechte und alle Gewalt. Nie räumt die
Gnade das Recht ein, in der Kirche zu reden, wenn es nicht
zur Erbauung der Brüder dient. Diese werden bald herausfinden, ob sie durch jemanden erbaut werden oder nicht, und
im letzteren Fall ist die Unfähigkeit eines Redners, und besäße er auch die Weisheit eines Fürsten von Tyrus (Hes 28),
völlig erwiesen, denn der Heilige Geist spricht stets zum
Nutzen derer, die zuhören.
Freilich mögen die Zustände so schlecht sein, daß die Menschen die gesunde Lehre nicht mehr ertragen wollen. In
diesem Fall gibt es kein anderes Hilfsmittel als die Dazwischenkunft der Barmherzigkeit, die irgendeine dazu begabte
Person sendet, um die Irrenden zurückzubringen. Die Kirche
hat das Recht, aus jedem Dienst Nutzen zu ziehen, zu dem
Gott irgendeinen der Brüder zur Auferbauung begabt hat.
Der, dem diese Gabe fehlt, muß natürlich schweigen, denn
nur Gott kann segnen, und Er wird dieses Recht darin erweisen, daß Er Seine Gaben gibt, wem Er will. Wenn jemand
in besonderer Weise von Gott mit Erkenntnis und Weisheit
ausgerüstet ist, die Seelen in Liebe zu pflegen, sowie mit der
Fähigkeit, die Unordentlichen in der Kraft des Heiligen Geistes zurechtzuweisen und die Listen Satans aufzudecken, dann
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wird seine Gabe, die Herde Christi zu weiden, bald erkannt
werden, und der geistlich gesinnte Teil der Kirche wird bald
bereit sein, sich eher zu viel als zu wenig an jemand zu
klammern, der zur Führung, zum Trost und zur Stütze
gegeben ist.
Wer eine Gabe hat, ist verpflichtet, sie nach dem Maße, in
dem sie ihm gegeben worden ist, auszuüben, sei es im engeren oder weiteren Kreise. Wenn jemand von Gott eine große
Gabe empfangen hat, das Wort der Wahrheit recht auszuteilen, so kann er, mag er auch die oben erwähnten Gaben eines Hirten nicht besitzen, seine Gabe als Lehrer mit ebenso
viel Nutzen ausüben, wie ein anderer, der einen anderen Dienst
unter den Brüdern verrichtet. Ob der eine ein Wort der Weisheit, ein anderer ein Wort der Erkenntnis besitzt — zu allem
ist die Kirche berechtigt. Alles, was Gott gegeben hat, ist zum
Nutzen der Kirche gegeben. Wie können wir aber diese Gaben genießen, wenn sie nicht in Tätigkeit gesetzt werden?
Christus wird gewiß Rechenschaft über die verliehenen Talente fordern. Es geht dabei aber um viel mehr als die bloße
Ausübung der verliehenen Gaben, denn wohl wird da, wo
der Heilige Geist anerkannt wird, die Kraft der Gemeinschaft
vorhanden sein, aber nur da, wo der Heilige Geist geehrt
wird, werden die Seelen in der Kraft der Gnade und der
Gemeinschaft reichlich gesegnet werden.
Wir erkennen also das christliche Amt ganz und gar an, aber
wir bestreiten aufgrund der Schrift, daß es in der Macht
derer steht, die sich dazu berechtigt glauben, es einem einzelnen Menschen, ohne Rücksicht auf das Maß seiner Fähigheiten nach Belieben anzuvertrauen. Wenn Personen vorhanden sind, die eine fortdauernde Gabe bestimmter Art
besitzen, dann ist es ihre Pflicht, sie auszuüben, indem sie
von Zeit zu Zeit ein Wort zum Nutzen an die Seelen
richten. Wenn es solche gibt, die durch Gottes Gnade Erfahrungen zur Leitung und Regierung der Kirche gesammelt
haben, so werden die Gläubigen durch den Geist Gottes
geleitet werden, sich ihnen zu ihrem eigenen Nutzen unterzuordnen, ja, alle werden einander untergeordnet sein. Wo
der Geist der Gnade und der Liebe vorhanden ist, da wird
71
alles gut gehen, wo nicht, wird sich bald das Böse zeigen,
wenn nicht der Herr in Seinem Erbarmen dazwischentritt und
jemand sendet, der die Unordentlichen zurechtweist und die
Widersacher überführt. Der Herr wird sicher der Kirche alles
darreichen, dessen sie bedarf, obwohl Er uns zu, unserem
Besten zuweilen darauf warten läßt, um uns zu belehren, daß
wir von Ihm abhängig sind. Würden wir unsere Blicke auf
Ihn richten, dann würden wir sicher nicht so vielen Schwierigkeiten begegnen, denn Er würde dann mehr, ich möchte
sagen, in einer sichtbareren Weise für uns tätig sein.
Wenn aber auch jedes Amt oder jede Gabe ein Segen für die
Kirche ist und anerkannt werden muß, ist es dennoch das
klare Vorrecht zweier oder dreier Christen, wenn es nicht
irn Geiste der Spaltung geschieht, sich im Namen Jesu zu
versammeln, um das Brot zu brechen, mag unter ihnen auch
kein Amt oder keine Gabe vorhanden sein. Als Christe n
besitzen sie dieses Vorrecht. Selbstverständlich sind alle Gaben zum Nutzen der Gläubigen und müssen freudig begrüßt
und zum Dienst verwendet werden, aber sie dürfen keineswegs mit dem wirklich bleibenden Vorrecht der Gemeinschaft
und den Pflichten untereinander, als dem beständigen Teil
der ganzen Sache, verwechselt werden. Die Notwendigkeit,
zu der es leider gekommen ist, einen Pfarrer zum Dienst in
der Kirche oder der Versammlung haben zu müssen, ist nur
ein Teil des Abfalls in der Kirche, obwohl auch da, wo viele
Gläubige versammelt sind, diejenigen, die in der Versammlung dienen, das Brot brechen werden. Das Amt bedarf sicher
nicht der Bestätigung angesichts der Welt und durch die
Welt, und dennoch macht man sie in unseren Tagen für einen
Geistlichen zur Bedingung. In diesem Fall treten die Zeichen
des Abfalls — die Vereinigung der Kirche mit der Welt —
deutlich zutage. Die Stellung eines Geistlichen in diesem
Sinne verschmähen und verwerfen wir im höchsten Grade.
Nur die Natur oder das Fleisch — davon sind wir überzeugt — liebt eine solche Stellung. Die Autorität, in der
Kirche dienen zu dürfen, hängt nur von der Befugnis ab, die
Christus erteilt. Ihre Anerkennung von seiten der Kirche ist
daher eine Verantwortung, deren Ernst aller Beachtung wert
72
ist. Ist der Geist Gottes gegenwärtig, so wird Er alles, was
zum Dienst nötig ist, anordnen und den Irrtum aufdecken
und beseitigen. Wenn wir von einer großen Autorität zum
Dienste in der Kirche reden, so ist es sicher eine große "Verantwortlichkeit, diese dem Worte Gottes gemäß auszuüben;
und ohne Zweifel wird Christus Rechenschaft fordern und
unsere Nachlässigkeit richten. Jede Anerkennung von Seiten
der Kirche mag an und für sich und wegen der Ordnung ganz
am Platze sein, aber auf diesem Wege kann keine Befugnis
zum Dienen erteilt werden. Wehe der Kirche, wenn sie das
nicht anerkennt, was Christus gegeben hat! Wenn es dem
Herrn gefällt, kann Er eine Aussonderung zu irgendeinem
Dienst bewirken. Wenn Er es tut, dann wird Er Selbst den
Weg dazu bereiten, und dieser wird sich als gut erweisen
und von den Kindern der Weisheit gerechtfertigt werden.
Daß eine solche Aussonderung für den beständigen Segen
der Kirche nicht durchaus erforderlich ist, zeigt uns die Geschichte der Kirche zu Antiochien.
Trotz unserer Schwachheit und Torheit wirkt Gott durch
Seine Macht viel tiefer und mächtiger, als es die Anordnung
menschlicher Einrichtungen zu tun vermag. Möchte Er uns
bereit machen, auf Seine Zeit und Seine Wege für jede Gabe
und jede Leitung des Heiligen Geistes zu warten! Sein Geist
ist und bleibt unumschränkter Herrscher, wenn auch die
Menschen Kanäle erbauen, um die frischen Ströme hindurch
zu leiten. Wenn die Wasser diese Kanäle überschwemmen
und ihre Ufer zerstören, kann kostbare Nahrung zurückbleiben und sich ablagern, während der Kanal selbst, dem
man die größte Sorgfalt widmet, nur Sand und Steine mitschwemmt, die den Strom trübe machen und Nutzen und
Wert nur darin haben, daß sie die Dämme durchbrechen, die
der Mensch in seiner vermeintlichen Weisheit aufgerichtet
hat. Wir sind fest davon überzeugt, daß der Herr, wenn wir
geduldig und unterwürfig sind, weit mehr Segen darreichen
wird, als wir bis jetzt gesehen haben. Wir sehen daher im
Blick auf diejenigen, die der Herr befähigt hat, der Kirche zu
nützen, und die, wie es nur im Geiste geschehen kann, geübt
und der Autorität Gottes unterworfen sind, in jeder im
72,
Dienste Gottes tätigen Gabe, die Christus zum Nutzen und
zur Auferbauung der Kirche gegeben hat, ein Amt. Wenn
Gott jemand beruft und ihm irgendeine Gabe gibt, so ist er
selbstverständlich ein Diener und daher verpflichtet, mit
dieser Gabe zu dienen. Wir überschätzen unsere Weisheit in
diesen Dingen nicht, aber die Heilige Schrift redet von ihnen,
und wir glauben, daß Gott geehrt wird, wenn wir uns stets
Seinen Gedanken und Wegen unterwerferi.
J. N. D.
„Es ist das Licht, das alles offenbar macht."
(Epheser 5, 13)
Alles, was böse, alles, was unrein in uns ist, muß ans Licht
kommen und verurteilt werden, denn nichts Beflecktes und
Unreines kann in das Reich Gottes eingehen. Wenn wir im
Licht bleiben, werden wir das Böse sehen und verurteilen.
Wenn wir es nicht tun, dann deckt Gott es auf und richtet
es. Gott bedient Sich der verschiedensten Mittel, um uns zur
Selbsterkenntnis zu bringen. Er bringt uns in allerlei Prüfungen und Schwierigkeiten, in Angst und Traurigkeit, trennt
uns von denen, an denen wir hängen, sendet uns Schmerzen
und Leiden und prüft uns auf allerlei Weise, um die verborgenen Dinge, die mit Seiner Heiligkeit nicht in Übereinstimmung sind, ans Licht zu bringen (Siehe 1. Kor 11, 31).
Wir müssen von aller Unreinigkeit gereinigt werden, und dies
bewirkt Gott in Seiner Treue. Er reinigt uns durch die Waschung mit Wasser durch das Wort (Eph 5, 26. Joh 13, 6).
Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns und ist sozusagen in unseren Bereich gebracht. Jesus sagt: „Wer mir
nachfolgt, . . . wird das Licht des Lebens haben". Christus
war im Licht, im Schöße des Vaters, und dasselbe Licht hat
Er in die Welt gebracht (Joh 12). Das ist das Licht, das uns
erleuchtet, das alles offenbar macht und durch das wir gereinigt werden. Der Heilige Geist tritt in alle Umstände des
täglichen Lebens ein, Er spricht über alle Beziehungen, in
denen wir zueinander stehen: über das Verhältnis zwischen
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Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Herren und Dienstboten. In bezug auf die gewöhnlichen Dinge
des Lebens werden wir aufgefordert, im Licht zu wandeln,
und die „Frucht des Lichts besteht in aller Gütigkeit und
Gerechtigkeit und Wahrheit". Wir alle straucheln oft und
müssen einsehen lernen, daß in uns nichts Gutes wohnt. Das
ist schmerzlich und demütigend, aber es ist die Wahrheit,
und die Wahrheit allein kann uns demütig erhalten. Sie allein
kann uns dahin bringen, daß wir die Gnade schätzen lernen,
die uns zubereitet hat, die uns aufrechterhält, und die an uns
arbeitet, um uns zu reinigen und zu heiligen bis auf den Tag
Christi, wenn nichts Unreines gefunden werden wird.
Mephiboseth oder die Barmherzigkeit Gottes
(2. Samuel 9)
Vor vielen Jahren las ich eines Morgens im neunten Kapitel
des zweiten Buches Samuel die Geschichte Mephiboseths, des
lahmen Sohnes Jonathans. Anfangs fand ich nichts Besonderes, das meine Aufmerksamkeit gefesselt hätte, jedoch bei
nochmaligem Lesen ruhte mein Auge auf den Worten Davids: „Ich will gewißlich Güte an dir erweisen um deines
Vaters Jonathan willen" (V. 7). Plötzlich tauchte der Gedanke
in meinem Herzen auf: Ach! das ist ein schönes Bild von
der Güte Gottes durch Jesus Christus. Es war mir, als eröffne
sich meinen Blicken eine liebliche Landschaft beim Anbruch
eines schönen Morgens. Viele Jahre sind seitdem verflossen,
aber was ich damals fühlte und genoß, das hat sich tief in
mein Gemüt eingeprägt. Oft bin ich dahin geführt worden,
diese liebliche Geschichte zum Gegenstand meiner Predigt
zu machen, und viele Seelen sind dadurch zu Christus geführt
worden. Dies ermutigt mich, auch dem Leser dieser Schrift
eine kurze Betrachtung über den oben erwähnten lehrreichen
Teil des Wortes Gottes vorzulegen, und zwar in dem Vertrauen, daß der Herr sie zum Nutzen vieler Seelen segnen
werde.
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In dieser Darstellung der Barmherzigkei t Gotte s
entdecken wir zwei Charaktere. Wir sehen hier den Mephiboseth, das Kin d de r Gnade , und den Ziba, den
selbstgerechte n Mann . Das Verhalten Mephiboseths stellt uns den Zustand eines zu Gott gebrachten Sünders in der deutlichsten Weise vor Augen. In 2. Sam. 4, 4
lesen wir: „Und Jonathan, der Sohn Sauls, hatte einen Sohn,
der an den Füßen lahm war. Er war fünf Jahre alt, als die
Nachricht vom Tode Sauls und Jonathans aus Israel kam; da
nahm in seine Amme auf und floh. Und es geschah, als sie
ängstlich floh, daß er fiel und lahm wurde; und sein Name
war Mephiboseth." Von dieser Zeit an wohnte der lahme
Knabe in Lodebar, und dieses hebräische Wort bedeutet
„einen Platz ohne Pflege". Da er aus dem Hause Sauls, des
Feindes Davids war, erblickte er auch in David seinen Feind
und mied deshalb dessen Nähe.
Wie deutlich stellt uns dies den Zustand des gefallenen
Menschen vor Augen! Sobald die Sünde das Herz Adams
verunreinigt hatte, „versteckte der Mensch und sein Weib
sich vor dem Angesicht Jehovas Gottes mitten unter die
Bäume des Gartens" (1. Mo 3, 8). Ist dies nicht auch der
Zustand des Sünders in unseren Tagen? Warum haschen
heutzutage so viele Menschen nach den Vergnügungen und
Zerstreuungen dieses Lebens? Sie kennen Gott nicht. Weil
sie Feinde Gottes sind, erblicken sie auch in Ihm ihren Feind
und meiden daher geflissentlich Seine Gegenwart. Der Gedanke, eine Stunde in der Gegenwart Gottes wandeln zu
müssen, würde ihnen schrecklich sein. Beunruhigt auch dich
ein solcher Gedanke, mein Leser? Ach, dann kennst auch du
Gott nicht. Vielleicht wirst du sagen: „Ich habe gesündigt,
und darum fürchte ich mich vor Gott." Es ist wahr, ich habe
gesündigt, du hast gesündigt, und alle haben gesündigt. Aber
wenn du wüßtest, daß Gott Seinen eigenen Sohn nicht
geschont hat, um Sünder zu retten, dann würdest auch du
erkennen, daß Gott der einzige ist, an Den du dich als Sünder wenden kannst und zwar in der völligen Gewißheit, daß
„das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, reinigt . . . von aller
Sünde".
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Doch wenden wir unsere Blicke wieder auf das vor uns liegende Kapitel. „Und der König sprach: Ist niemand mehr
da vom Hause Sauls, daß ich Güte Gottes an ihm erweise"
(V. 3)? — Ist das nicht in der Gegenwart die Sprache und
das Werk des Geistes Gottes? Ist nicht irgend jemand von
den gefallenen Söhnen und Töchtern Adams in unserer
Nähe, den wir hinführen könnten zu der Barmherzigkeit
Gottes? Es wird nicht gefragt, ob und wie tief du gefallen
bist, ob du durchaus lahm, lahm an beiden Füßen bist und
dich in einem Haus ohne Weide befindest. Du bist ein armer
verlorener Sünder, und wenn du dich auch vor Gott zu verbergen suchst, so wirst du doch in dieser Welt der Sünde und
des Elends nichts finden, was dich glücklich machen kann.
Bist du den Einflüsterungen Satans gefolgt, oder hast du dein
Vertrauen auf die Reize und Schätze dieser Welt gesetzt, bis
dein armes Herz unter den bittersten Täuschungen zusammengebrochen und nur eine traurige Leere zurückgeblieben
ist? Nun, dann lausche, und ich werde dir von jemand erzählen. Der alle deine Bedürfnisse befriedigen kann und
will.
Ziba, der selbstgerechte Mann, belehrte den König, daß Jonathan nur noch einen Sohn habe, der lahm sei und in
Lodebar im Hause Makirs, des Sohnes Ammiels, wohne. „Da
sandte der König David hin und ließ ihn . . . holen" (V. 5).
Welch eine herrliche Sache ist dieses Holenlasse n !
Ebenso handelt Gott in völliger Gnade. Die Menschen erzeigen nur denen Güte und Barmherzigkeit, die es nach ihrer
Meinung verdienen. Oder sie erwarten, daß ihre Güte in
irgendeiner Weise erwidert wird. So handelt Gott nicht. Mephiboseth hatte nichts getan, wodurch er die Barmherzigkeit
des Königs verdient hätte. Er brauchte auch nicht einmal den
ersten Schritt zu tun. Nein, die Gnade ließ ihn von Lodebar,
dem Orte, wo er sich befand, abholen. Und ist nicht auch
der Herr Jesus zu den armen Sündern, d. h. dahin gekommen, wo sie sich befanden? Er kam um sie abzuholen und
Er fand sie tot in Vergehungen und Sünden. Er nahm ihren
Platz ein und starb auf dem Kreuz für sie, der Gerechte für
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die Ungerechten, auf daß Er sie zu Gott führe. Nur in der
Gesinnung eines Pharisäers kann jemand sagen: „Der Mensch
muß den ersten Schritt tun."
Mephiboseth war zu lahm, als daß er den ersten Schritt hätte
tun können. Er mußte schon geholt werden. Er, Der die
gänzliche Ohnmacht und die frei suchende Gnade kannte, hat
gesagt: „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, daß
der Vater, der mich gesandt hat, ihn ziehe; und ich werde
ihn auf erwecken am letzten Tage" (Joh 6, 44). Und wiederum: „Alles was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen,
und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen"
(Joh 6, 37). Ach, wären wir nicht der frei wirkenden Gnade
begegnet, dann wären wir in unserem armseligen Streben,
uns vor Gott zu verbergen, alle umgekommen. „Und Mephiboseth, der Sohn Jonathans, des Sohnes Sauls, kam zu David und fiel auf sein Angesicht und beugte sich nieder"
(V. 6). Welch ein Bild des Schreckens und der Furcht! Was
hatte der Sohn Sauls, des Mannes, der stets nach dem Leben
Davids getrachtet hatte, zu erwarten? Konnte nicht im
nächsten Augenblick die Stimme der unerbittlichen Gerechtigkeit sein Leben fordern? Dort am Boden liegt er und
liefert uns in dieser Stellung das treue Bild eines mit Sünde
und Schuld beladenen und in die Gegenwart Gottes gebrachten Sünders, der Gott nicht kennt und darum nicht weiß,
was seiner harrt.
Bevor wir jedoch die Worte Davids hören, wollen wir uns
des Bundes erinnern, den die Liebe zwischen David und Jonathan errichtet hatte. In 1. Sam 20, 14-17 lesen wir, nachdem
Jonathan sich bereiterklärt hatte, die Absichten seines Vaters
Saul gegen David auszukundschaften, die Worte: „Und nicht
nur während ich noch lebe, und nicht nur an mir sollst du
Güte Jehovas erweisen, daß ich nicht sterbe; auch meinem
Hause sollst du deine Güte nicht entziehen ewiglich, auch
nicht wenn Jehova die Feinde Davids ausrotten wird, einen
jeden vom Erdboden hinweg! Und Jonathan machte einen
Bund mit dem Hause Davids . . . Und Jonathan ließ David
nochmals bei seiner Liebe zu ihm schwören; denn er liebte
ihn, wie er seine Seele liebte."
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Bist du in deinem Leben nicht einmal dem Kinde eines dir
teuren aber verstorbenen Freundes begegnet? Nun, dann
wirst du dir vielleicht eine schwache Vorstellung von dem
machen können, was im Herzen Davids vorging, als er Mephiboseth, den Sohn Jonathans, zu seinen Füßen liegen sah.
Gewiß drang es wie ein lieblicher Klang aus seinem Herzen,
als er rief: „Mephiboseth!" worauf die zitternde Antwort
folgte: „Siehe, dein Knecht" (V. 6)! Wie wenig wird der
arme Lahme an die unbedingte Gnade, womit er überschüttet
werden sollte, gedacht haben! „Siehe, dein Knecht!" Das ist
der höchste Gedanke eines gefallenen Menschen. Er wagt es,
sich als Knecht anzubieten und hofft auf diesem Wege Rettung zu finden. Das ist die Religion jedes menschlichen Herzens.
Aber jetzt wollen wir auf die Worte Davids horchen. Wie
der Vater in dem Gleichnis des verlorenen Sohnes, so unterbricht auch hier David den Unglücklichen mit den Worten:
„Fürchte dich nicht; denn ich will gewißlich Güte an dir erweisen um deines Vaters Jonathan willen, und will dir alle
Felder deines Vaters Saul zurückgeben; du aber sollst beständig an meinem Tische essen" (V. 7). David handelt hier, wie
Gott gegen einen Sünder handelt. Keine Bedingungen werden
gestellt. Es heißt nicht: „Wenn du dieses tust," oder: „Wenn
du dieses nicht tust/' O nein, es ist alles freie, unumschränkte
Gnade, es ist die Barmherzigkeit Gottes. „Ich will Güte an
dir erweisen," — und zwar ganz und gar um eines anderen
willen. „Und du, sollst beständig an meinem Tische essen."
Finden wir nicht dasselbe in dem oben erwähnten Gleichnis,
wo der Herr Jesus die unbekannte, unbegrenzte Liebe und
Gnade des Vaterherzens zu offenbaren suchte? Gab es dort
irgend einen Tadel? Gab es dort irgendeine Bedingung? Nein,
er „fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn sehr" (Lk 15).
Ist das nicht die Barmherzigkeit Gottes? Hat nicht der Herr
Jesus in dieser Weise den wahren Charakter Gottes gezeichnet? Nimmt Er nicht so den armen verlorenen Sünder auf?
Sind es nicht Seine Worte, die Er dem armseligen, zitternden,
verdammungswürdigen Sünder zuruft? Gott sei gepriesen,
daß wir alle diese Fragen mit einem kräftigen „Ja" beantwor79
ten können. Ja, Gott kann auf das Kreuz Christi hinweisen
und sagen: „Fürchte dich nicht, denn ich will Barmherzigkeit
an dir tun, um Jesu willen." Und dies alles ohne eine Bedingung. Alles aus Gnaden, hervorströmend aus der unendlichen
Liebe Gottes.
Geliebter Leser, hast du Gott so kennengelernt? „Gott aber,
der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe,
womit er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen
tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht, —
durch Gnade seid ihr errettet — und hat uns mitauferweckt und
mitsitzen lassen in den himmlischen örtern in Christo Jesu,
auf daß er in den kommenden Zeitaltern den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen uns erwiese in
Christo Jesu" (Eph 2, 4-7). Kannst du sagen, daß dieses dein
Teil ist? — Der Mensch hätte dem lahmen Jüngling sicher
allerlei Verhaltungsmaßregeln und Ratschläge erteilt, wie er
seine Füße zu heilen und wer weiß was alles zu seinem
Glück zu tun habe. Aber wir finden hier nichts derartiges.
Er kommt, wie er ist, und weiter wird nichts verlangt. Von
welcher Seite sollten auch Anforderungen an ihn gestellt
werden, da das Herz des Königs bereits mit Liebe gegen ihn
erfüllt war? Satan ist immer bemüht, die Barmherzigkeit
Gottes vor dem Auge des Sünders zu. verbergen. Man mache
den Sünder mit Gott bekannt, und er erkennt alsbald, daß
er keines Priesters auf Erden und keines Heiligen im Himmel bedarf, um das Herz Gottes zu seinen Gunsten zu erweichen. — In der Tat, dieses Herz ist mit einer unaussprechlichen Liebe erfüllt. Hast du, lieber Leser, die Sündenlast gefühlt? Haben dich die Menschen mit ihren Ratschlägen
versehen, wie du Buße tun und das Herz Gottes erweichen
mußt, um Ihn für deine Rettung bereitzumachen? Vielleicht
hat dir der eine im Gegensatz zu den Worten, die wir in
Kol 2, 20 lesen, mit großem Ernst den Rat erteilt, dich der
Sakramente und anderer kirchlicher Vorschriften zu bedienen
und dann zu hoffen, gerettet zu sein, während ein anderer
dir vorschreibt, daß du über deine Sünden eine tiefe Trauer
fühlen und alles aufgeben und Gott von ganzem Herzen
lieben mußt, um auf diesem Wege zu Christo zu kommen.
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Ach, wie töricht! Der Grund ist, daß man dich gern überreden möchte, dich nicht als einen gänzlich gefallenen Menschen zu betrachten, daß du nur an einem Fuß lahm seiest
und nur nötig habest, aus Christo eine Krücke zu machen,
um in den Himmel zu kommen. Bei all diesem tritt die
menschliche Eigengerechtigkeit in den Vordergrund.
Wenn du durch solche Einflüsterungen von Menschen in Verwirrung und Verlegenheit gebracht bist, so verschließe dein
Ohr vor ihnen. Vielleicht sagst du in der Unruhe deines Herzens, daß du Furcht habest, auf diese Weise deine Buße vernachlässigen. O nein, wende dich zu Gott, in Seinem Licht
wirst du deinen trostlosen Zustand, sowie die Notwendigkeit
einer freien und unumschränkten Gnade erkennen. Kaum
hatte der Strom der bedingungslosen Gnade das zitternde
Herz Mephiboseths erreicht, so öffnen sich seine Lippen zu
den Worten: „Was ist dein Knecht, daß du dich zu einem
toten Hunde gewandt hast, wie ich einer bin" (V. 8)? Ja,
wahrlich, die Güte Gottes leitet zur Buße. Der Sünder ist
gebracht in die Gegenwart der unendlichen Gnade, aber auch
in die Gegenwart der unendlichen Heiligkeit. Der wahre
Charakter Gottes ist ihm in Christo Jesu geoffenbart worden. Er vernimmt die süßen Worte der göttlichen Liebe:
„Fürchte dich nicht, denn ich will Güte an dir erweisen," und
die Wirkung ist, daß er sich in dem Gefühl dieser überwältigenden Gnade in den Staub beugt. Das ist jene Herzensänderung, die man Buße nennt. Darf ich dir, lieber Leser,
nun sagen, daß du Buße tun müssest, bevor du zu Jesu
kommst? O nein, denn es würde dasselbe sein, als ob ich
dir, wenn du in Gefahr wärest zu erfrieren, sagen wollte, du
müssest dich erwärmen, bevor du dich dem Feuer genähert
habest.
Im Grunde ist das, was man im allgemeinen als Buße bezeichnet, nichts als eine Selbstbesserung, wodurch man Gott,
als ob Er ein erzürntes Wesen sei, zu erweichen gedenkt, als
ob von unserer Seite gute Werke nötig wären, um den Gedanken Gottes in bezug auf uns eine andere Richtung zu
geben. Waren solche Mittel nötig, um das Herz Davids zu
verändern? Nein, sein Herz war mit Liebe erfüllt. Wie könnte
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nun irgend etwas nötig sein, um das Herz Gottes zu verändern? Was ist das Kreuz anders, als der höchste Ausdruck
der Liebe Gottes für verlorene Sünder? Wenn du nun, lieber
Leser, die Barmherzigkeit Gottes gegen dich erkanntest, wenn
du wüßtest, daß dich nichts zu scheiden vermöchte von der
Liebe, die in Christo Jesu ist, würde das nicht augenblicklich
eine gänzliche Veränderung in deinem Herzen hervorrufen?
Gewiß, und je mehr du in die Fülle dieser unendlichen Liebe
eingingest, desto mehr würdest du dich in den Staub beugen.
Das was du vergeblich in dir hervorzurufen versucht hast,
weil du meintest, es müsse der Rettung vorhergehen, wird in
dir in dem Augenblick bewirkt, wo du an die wunderbare
Liebe Gottes glaubst.
Wir wollen jetzt einen Blick richten auf den Gegensatz zwischen Ziba, dem Knechte, und Mephiboseth, dem Sohn. David
ruft Ziba zu sich und erteilt ihm seine Befehle. Ziba sagt:
„Nach allem was mein Herr, der König, seinem Knechte gebietet, also wird dein Knecht tun" (V. 11). Es ist die gleiche
Sprache, die Israel am Fuße des Berges Sinai törichterweise
führte und ach, Tausende in unseren Tagen fassen solche
guten Vorsätze, weil sie sich selbst nicht kennen, und ich
fürchte, daß selbst der eine oder andere Leser dieser Zeilen
die Religion des Knechtes, statt der Religion des Sohnes zu
der seinigen gemacht haben könnte.
Wie verschieden sind die an den Sohn gerichteten Worte
Davids! Sie sind der Ausdruck einer vollkommen freien
Gnade. „Alles . . . habe ich . . . gegeben, . . , Mephiboseth
. . . soll beständig an meinem Tische essen . . . Mephiboseth
. . . wird an meinem Tische essen, wie einer von den Königssöhnen7
' (V. 9. 10. 11). „Und Mephiboseth wohnte in Jerusalem, denn er aß beständig am Tische des Königs. Er war
aber lahm an beiden Füßen" (V. 13). Nicht ein Wort der
Gnade wird an den Knecht gerichtet, und nicht ein einziger
Befehl trifft das Ohr des Sohnes. Das eine ist der Dienst der
gesetzlichen Knechtschaft, das andere der Dienst der tiefsten
Zuneigung des Herzens.
Wie herrlich ist das Teil der Kinder der Gnade! Gott hat
ihnen das ewige Leben gegeben. Du bist nicht ein Knecht,
82
sondern ein Königssohn an der Tafel deines Herrn. Du hast
kein Sakrament nötig, um gerettet zu werden, sondern du
sitzest stets am Tisch des Herrn und issest jenes Brot und
trinkest jenes Blut, das dich an den gebrochenen Leib und an
das vergossene Blut erinnert, denen du deine Rettung verdankst (Joh 6, 51-59). Ja, Gott hat dir das Brot des Lebens
gegeben, von dem du dich stets ernähren sollst. Und warum
findest du die beständige Nahrung in Jesu? Weil Gott es so
gewollt hat. Er hat es gesagt, und Er wird es tun. Wenn du
ein Gläubiger bist, kann deine Stellung unmöglich die eines
Knechtes sein. „So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er
das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen
Namen glauben" (Joh 1, 12). „Wenn aber Kinder, so auch
Erben — Erben Gottes und Miterben Christi" (Rö 8, 17).
Wie unendlich wichtig ist es, diese Verwandtschaft zu verstehen. Es ist nötig, den Unterschied zwischen dem Verhältnis
eines Knechtes und dem eines Sohnes zu erkennen. Der Sohn
gehört immer ins Haus; nicht so der Knecht. So führte die
Gnade den armen Mephiboseth aus dem Versteck der Furcht
und der Feindschaft und gab ihm alle Vorrechte der Sohnschaft und zwar ohne jede Bedingung. Wir haben die Wirkung davon gesehen. Es war ein völliges Niederbeugen in
den Staub und eine gänzliche Sinnesänderung. Ja, wir werden
sehen, daß dieses Herz für immer für David gewonnen ist.
„Aber", könnte vielleicht jemand einwenden, „wenn es auch
wahr ist, daß Mephiboseth ein armer, lahmer Krüppel war,
bevor er zu David gebracht und zu einem Königssohn gemacht wurde, so konnte er sich doch unmöglich des Vorrechts, ein Gast an der königlichen Tafel zu sein, erfreuen,
solange er noch ein Krüppel war." — Und wirklich gibt es
nicht wenige, die zwar zugeben, daß nur die Gnade einen
armen verlorenen Sünder zu Christus führen kann, die sich
aber trotzdem einbilden, daß das Ausharren auf diesem Wege,
sowie die endliche Errettung abhängig sei von seinem eigenen Wandel und Gehorsam. Aber welch ein Irrtum! Wenn
das wahr wäre, ach, wer würde dann das Ziel erreichen?
Jeder Gläubige, der sein Herz kennt, wird dann sagen müssen: „Ich werde es nicht erreichen." Denn wenn meine end83
liehe Errettung oder mein Eingang in den Himmel auch nur
eine Stunde von mir abhängig wäre, dann dürfte idi mir
keine Hoffnung machen. Oder willst du es wagen, lieber Leser? Was aber entdecken wir hier in dem von Gott gezeichneten Bild der Barmherzigkeit Gottes? Wir lesen: „Er aß
beständig am Tische des Königs. Er war aber lahm an beiden
Füßen." Kostbare Gnade!
Wie kommt's, daß ich hier sicher walle?
Weil Deine Gnad', o Gott, mich schützt.
Wie kommt's, daß ich im Kampf nicht falle?
Weil Deine Lieb' mich schirmt und stützt.
Der Gläubige ist oft nicht wenig verlegen, wenn er sieht, daß
in Stunden der Versuchung, wenn es sich um seine eigene
Kraft handelt, er jetzt ebenso schwach ist wie vorher. Und
sollte er für einen Augenblick seine Stellung in Gnade als
Sohn aus den Augen verlieren und als Knecht zu wandeln
versuchen, so wird er sich bald durch seinen lahmen Fuß
gehindert sehen, so daß ihm, als dem Knecht unter Gesetz,
der Gott nicht gefallen kann, nichts als Trauer und Verzweiflung übrigbleibt. Hast du diese Erfahrung schon auf
deinem Wege gemacht, mein lieber Leser? Und hast du nicht
schon, hinschauend auf deinen gelähmten Gang, sagen müssen: „Ach, ob ich auch wirklich wohl ein Kind Gottes bin?"
Aber beim Anschauen deines lahmen Fußes wirst du niemals
Frieden finden. Nein, stecke deine Füße unter den Tisch und
blicke auf das, was Gott in Seiner unendlichen Gnade auf
diesem Tische für dich ausgebreitet hat. Er stellt Christum
vor uns, damit wir uns mit Ihm beschäftigen sollen. Alles,
was wir in unserem armseligen, kläglichen, lahmen und
armen Ich besitzen, hat am Kreuz sein Gericht und seinen
Tod gefunden. Selbst Gott betrachtet unser Ich als gestorben
und begraben, Er sieht uns als auferstanden mit Christo und
als in Ihm in die himmlischen Orter versetzt.
Ja, in sich selbst ist der Gläubige nach seiner Bekehrung
ebenso lahm wie vorher. Freilich besitzt er ein neues Leben,
eine neue Natur, die er früher nicht besaß, auch wohnt der
Heilige Geist in ihm. Aber seine alte Natur, das Fleisch, ist
unverändert geblieben. Was ist also zu tun? Er soll in keinem
54
Fall sein Vertrauen auf das Fleisch setzen, sondern sich festklammern an der Gnade, die ihn zu Christo geführt hat, und
die ihn auf ewig bewahren wird. Setzen wir daher unsere
Füße unter die reichgedeckte Tafel des Herrn, und erquicken
wir uns an den Reichtümern der vor uns ausgebreiteten
Gnade. Wenn wir nichts mehr von uns selbst abhängig machen, wenn wir den gänzlichen Ruin des alten Menschen
anerkennen und alle Gelübde und guten Vorsätze beiseitesetzen, dann folgt jene ruhige Abhängigkeit von Christo, in
der wir die Kraft Seiner Auferstehung in einem heiligen
Leben zu verwirklichen beginnen. Doch das selbstgerechte
Fleisch wird sich zum Kampf rüsten, bevor es sich in den
Tod begibt (Rö 7).
Im folgenden Kapitel sehen wir ebenfalls die Barmherzigkeit
Gottes angeboten, aber verworfen, sowie das Gericht über
die, die sie verworfen haben. Wie belehrend ist diese Tatsache! Die Barmherzigkeit Gottes ist einer schuldigen Welt
angeboten worden. „Denn also hat Gott die Welt geliebt,
daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder, der an
ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe"
(Joh 3). Welch eine wunderbare Gnade! Aber man horche
auf die ernsten, feierlichen Worte: „Wer aber nicht glaubt,
wird verdammt werden." Sollte einer meiner Leser zu denen
gehören, die die Barmherzigkeit Gottes in Seinem Sohn verwerfen, — o möge er an die ewige Verdammnis denken!
Ich möchte nun noch kurz die Geschichte jener beiden Männer verfolgen, die uns hinsichtlich derer, die Gnade und
Errettung in Gott gefunden haben, und hinsichtlich derer,
die durch das Halten Seiner Gebote gerettet zu werden
suchen, gleichsam als Vorbilder gedient haben.
In 2. Sam 15 wird uns die Empörung Absaloms mitgeteilt.
David, der wahre König, ist verworfen, und es ist bemerkenswert, daß er, nachdem er Jerusalem verlassen hat, denselben Bach überschreitet, den auch der verworfene Herr
Jesus später überschritt. „Und das ganze Land weinte mit
lauter Stimme, und alles Volk ging hinüber. Und der König
ging über den Bach Kidron" (V. 23). Als der Herr Jesus
diesen Bach in der Nacht Seiner Verwerfung überschritt, wa85
ren nur jene wenigen Begleiter bei Ihm, die nicht einmal
eine Stunde mit Ihm wachen konnten. „David aber ging die
Anhöhe der Olivenbäume hinauf und weinte" (V. 30). Zu
diesem Berge führte Jesus Seine Jünger, als Er, von dieser
Welt getötet und durch Gott von den Toten auferweckt, gen
Himmel fuhr — verworfen von der Welt, aber aufgenommen
in Herrlichkeit.
Jetzt, nachdem David verworfen und zum ölberg hinaufgestiegen ist, tritt der Charakter Zibas, des Knechtes, wieder
in den Vordergrund (Lies 2. Sam 16, 1-4). Das erste, was
unser Auge hier sieht, ist Dienst für den König: ein Paar
Esel, mit Brot, Früchten und Wein beladen. „Was willst du
damit?" und „Und wo ist der Sohn deines Herrn?" fragte
David Ziba. Ziba antwortet, daß Mephiboseth in Jerusalem
geblieben sei, in der Absicht, das Königreich an sich zu reißen. Wirklich, Ziba, der selbstgerechte Mann, scheint die
beste Religion von der Welt zu haben. Aber der Schein trügt.
Gott kennt die verborgenen Ratschläge aller Herzen. Nach
außen hin verriet Ziba großen Eifer und große Ergebenheit,
und auch die Form seiner Anbetung war tadellos. Aber dennoch war alles Heuchelei. Der Tag der Rückkehr des verworfenen Königs kam, und Mephiboseth eilte ihm entgegen,
und die Untreue Zibas wurde offenbar (Kap. 19, 21-30).
Ebenso wird der Tag der Rückkehr des verworfenen Jesus
bald anbrechen, und jedes Kind der Gnade, mag es im Grabe
ruhen, oder noch am Leben sein, wird bei Seiner Ankunft
Ihm entgegengehen in der Luft (1. Thess 4, 15-18).
So ist also der wahre Charakter der beiden Männer zutagegetreten. Mephiboseth hatte „seine Füße nicht gereinigt und
seinen Bart nicht gemacht und seine Kleider nicht gewaschen
von dem Tage an, da der König weggegangen war, bis zu
dem Tage, da er in Frieden einzog" (Kap. 19, 24). Die Barmherzigkeit Davids hatte sein Herz gewonnen. Dieses Herz
war mit Liebe und Zuneigung für den verworfenen König
erfüllt, und seine Zuneigung war so tief und stark, daß sie
ihm keinen anderen Platz einzunehmen erlaubte, als den
eines Leidtragenden, der die Rückkehr dessen erwartete, dem
er mit so großer Liebe anhing.
86
Setzte nicht auch der Herr Jesus in der Nacht Seiner Verwerfung eine solche Zuneigung bei Seinen Jüngern voraus?
„Über ein Kleines, und ihr schauet mich nicht, und wiederum
über ein Kleines, und ihr werdet mich sehen. Wahrlidi, wahrlich, ich sage euch, daß ihr weinen und wehklagen werdet,
aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, aber
eure Traurigkeit wird zur Freude werden" (Joh 16, 19b, 20).
Ach, wie wenig haben wir dem Herzen unseres verworfenen
Herrn entsprochen! Ich kann es nur als eine Geringschätzung
Christi betrachten, wenn wir einen anderen Platz einnehmen
als den, welchen Mephiboseth einnahm, den Platz eines betrübten Leidtragenden, der auf die Wiederkehr dessen wartet,
den er liebt.
Von wem stammten die Früchte, die Brote und der Wein?
„Warum bist du nicht zu mir gezogen, Mephiboseth?" so
fragt der zurückkehrende König. Die Antwort des lahmen
Jünglings stellt die ganze Wahrheit ins Licht. Er und nicht
Ziba hatte die Esel mit diesen Gaben beladen, aber Ziba war
dem armen Lahmen zuvorgekommen, hatte sich in den Sattel
geworfen und ihn bei David verleumdet. Wie tief aber ist
die Wirkung der Gnade? Mephiboseth sagt: „Tue was gut
ist in deinen Augen. Denn das ganze Haus meines Vaters
war nichts anderes als Männer des Todes vor meinem Herrn,
dem König; und doch hast du deinen Knecht unter die gesetzt,
welche an deinem Tische essen" (Kap. 19, 27. 28). Wie lieblich ist das Vertrauen, das die Gnade verleiht! Lieber Leser,
hast du die völlige Gewißheit, daß Gott dir aus reiner Gnade
einen Platz an Seinem Tisch angewiesen hat? Darfst du dann
nicht mit ungetrübter Freude der Ankunft Jesu entgegensehen?
„Und der König sprach zu ihm: Warum redest du noch von
deinen Sachen? Ich sage: Du und Ziba, ihr sollt die Felder
teilen. Da sprach Mephiboseth zu seinem König: Er mag auch
das Ganze nehmen, nachdem mein Herr, der König, in Frieden
in sein Haus gekommen ist" (V. 29. 30). Er verlangte nicht
nach den Feldern, nein, sein höchster Wunsch war erfüllt. Er
befand sich in der Gegenwart dessen, der ihm so große
Barmherzigkeit erwiesen hatte, und das war ihm gut genug.
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Ist es nicht ebenso, wenn Christus durch die Gnade ein Herz
wirklich gewonnen hat? Ein solches Herz wird nicht durch
die Dinge der Erde angezogen. „Ja, wahrlich", sagt der Apostel, „ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn" (Phil 3,
8). O möchten wir doch mehr dem lahmen Mephiboseth, den
Thessalonichern gleichen, die den Sohn Gottes aus den Himmeln erwarteten. Mephiboseth hatte die Barmherzigkeit Davids
in vollem Vertrauen angenommen. Trotz seiner eigenen Gebrechlichkeit hatte er nie an der Liebe Davids gezweifelt,
sondern auf die Rückkehr des Königs gewartet und bis zu
dieser Zeit jede Schmach ertragen. Auch die Thessalonicher
hatten die frohe Botschaft der Gnade Gottes in Kraft und in
dem Heiligen Geist und in großer Gewißheit empfangen
(1. Thess 1, 5), und deshalb ertrugen sie in Geduld und
Freude die Mißhandlungen ihrer Feinde. Was war die geheime Kraft ihres Verhaltens? Sie erwarteten Jesus aus den
Himmeln. Die wahren Kinder Gottes sind immer verhaßt und
verunglimpft, ja, oft sogar an Schandpfählen verbrannt worden, und zwar von denen, die sich rühmen, zu ihrer Errettung
das Gesetz zu halten.
Aber welch ein Tag wird bald anbrechen! Wer weiß, wie bald
Er, Den wir erwarten, erscheinen wird? Seine letzten Worte
sind: „Siehe, ich komme bald." Möchte unsere Antwort stets
lauten: „Amen, komm, Herr Jesu"!
David kehrte zurück; sollte Er nicht zurückkehren, Den David
seinen Herrn nennt? Ja, bald werden wir Ihn sehen. Herrliche, gesegnete Hoffnung! Wir erwarten nicht ein tausendjähriges Reich, nicht die Erfüllung der Prophezeiung, wie
gesegnet dies auch an seinem Platz sein mag. Es ist Jesus
Selbst, Den die in Seinem Blut gewaschenen Gläubigen zu
sehen begehren.
Der Gegenstand unserer Betrachtung geht noch bis zum
21. Kapitel des 2. Buches Samuel, wo wir den Tag des Gerichts über das Haus Sauls hereinbrechen sehen. „Aber der
König verschonte Mephiboseth, den Sohn Jonathans, des
Sohnes Sauls, um des Schwures Jehovas willen, der zwischen
ihnen war, zwischen David und Jonathan, dem Sohne Sauls"
(V. 7). Hiermit endet die Geschichte dieses Kindes der Gnade.
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Wenn der Herr Jesus zurückgekehrt sein und Sein Königreich
aufgerichtet haben wird, wenn die Kirche sich lange der
himmlischen Herrlichkeit Christi und Israel sich der Herrlichkeit des Königreiches auf Erden hat erfreuen dürfen, ja
selbst wenn der große weiße Thron aufgerichtet sein wird,
und alle gefallenen Söhne Adams davor erscheinen werden,
dann wird keiner von denen, die in den Ratschlüssen der
Ewigkeit zur Familie der Gnade gezählt sind, verloren sein.
Aber wo werden die sorglosen Sünder sein, und jene, die
ihre Rettung in guten Werken suchten? Zeige mir einen
Mann, der ein Beobachter des Gesetzes zu sein bekennt, der
nicht zugleich Übertreter des Gesetzes ist. Kannst du, mein
lieber Leser, oder kann ich aufgrund von Werken, vor diesem
Throne stehen? Unmöglich. Jeder Mensch, der besser zu sein
glaubt als sein Nachbar, muß ein Heuchler sein, denn Gott
sagt, daß es keinen Unterschied gibt. Alle haben gesündigt.
Nein, durch Werke kann ein Sünder nicht errettet werden.
Wenn du jemand findest, der kein Sünder ist, der mag es
versuchen. Aber ein Sünder bedarf der Vergebung. „Und
ohne Blutvergießen ist keine Vergebung" (Hebr 9, 22). Der
Herr Jesus aber hat den Zorn, den Fluch, das Gericht erduldet und die Sündenschuld bezahlt; ungehemmte Barmherzigkeit und ewiger Friede sind jetzt das Teil jeder Seele,
die in Ihm ruht. Blicke auf das Kreuz und horche. Gott ruft
dir zu: „Ich will Barmherzigkeit an dir erweisen."
Aber werden denn keine Werke als Gegenleistung erwartet?
O ja, aber wahre, aus dem Herzen hervorströmende Werke
des Dienstes — die Früchte des rettenden Glaubens. Wie
vieles, das vor den Menschen den Schein guter Werke an sich
trägt, hat keinen Wert vor Gott. Die Menschen beladen sich
selbst mit schweren Bürden eigengerechter Werke, und diese
sind doch nichts anderes als eine deutliche Verwerfung der
unverdienten Barmherzigkeit Gottes!
Je tiefer die Gewißheit der unwandelbaren Barmherzigkeit
ist, die Gott dir, dem wertlosen Sünder, erwiesen hat, desto
stärker wird auch dein Haß gegen die Sünde, umso vollkommener dein Dienst für den Herrn und desto ernster dein
Warten auf die Wiederkunft Christi sein.
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Der Heilige Jesu
als der mitleidige Hohepriester
Das Mitleiden Jesu ist unzertrennlich mit Seinem Priestertum
verbunden. Er hat kein Mitleid mit der Sünde oder dem
Sünder als solchem, aber Er hat Mitleid mit den leidenden
Kindern Gottes. Zu gleicher Zeit schaut der Heilige Geist zurück auf Christi eigene Erfahrungen hier auf der Erde. Er
wurde versucht, aber die Versuchung drang von außen auf
Ihn ein und kam nicht aus Seinem Inneren hervor. In Ihm
gab es keine Neigung zum Bösen, die der Versuchung Satans
einen Anknüpfungspunkt geboten hätte; im Gegenteil, der
Feind begegnete einer völligen Abhängigkeit von Gott und
einem einfachen, unwandelbaren Glauben an Sein Wort, aber
keiner fleischlichen Tätigkeit, wie wir sie oft in unserem
Herzen entdecken.
Da der Herr Jesus keinen eigenen Willen kannte und in jeder
Beziehung das Böse haßte und von sich stieß, gab es für
Ihn nichts als Leiden. Für den gefallenen Menschen sind die
Versuchungen keine Leiden, sondern ein Genuß, wenn wir
die Befriedigung unserer bösen Natur einen Genuß nennen
können. Christus kannte hiervon nichts, weder in Seiner Person, noch in Seiner Erfahrung. Er hatte keine Regungen des
Fleisches oder innere Versuchungen zur Sünde. Er kannte
keine Sünde (2. Kor 5,21). Es ist unbedingt nötig, daß wir
die Wahrheit hinsichtlich der Person Christi, so wie Gott sie
uns geoffenbart hat, mit göttlicher Entschiedenheit festhalten, damit wir vor jeglichem Irrtum in bezug auf einen so
heiligen und zarten Gegenstand bewahrt bleiben.
Der Heilige Geist stellt uns diesen Gegenstand im Hebräerbrief mit großer Klarheit vor Augen. Er beginnt mit der
Person Jesu und zeigt uns seine göttliche Herrlichkeit als die
notwendige Grundlage (Kap. 1). Aus Zeugnissen des Alten
Testaments wird bewiesen, daß der Messias, der Sohn (V. 1,
5), der Gegenstand der Anbetung der Engel (V. 6), und Jehova Selbst ist (V. 10-12). Wenn wir nicht von diesem Punkt
als der Grundlage, auf der die Herrlichkeit Christi ruht, ausgehen, werden wir bald eine falsche Richtung einschlagen.
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Nichts kann bei uns am rechten Platz sein, wenn wir bezüglich Dessen irren, Der der Weg, die Wahrheit und das Leben
ist.
Nachdem der Heilige Geist auf diese Weise die göttliche
Würde Jesu hervorgehoben hat, stellt Er uns Seine Menschheit vor Augen (Kap. 2). „Weil nun die Kinder Blutes und
Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise an denselben teilgenommen, auf daß er durch den Tod den zunichte
machte, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und
alle die befreite, welche durch Todesfurcht das ganze Leben
hindurch der Knechtschaft unterworfen waren" (V. 14.15).
Christus mußte Mensch werden, um durch Seinen Tod Gott
zu rechtfertigen, die Macht des Teufels zu vernichten und die
Erlösung zu vollbringen. Doch es wurde Ihm durchaus nicht
auferlegt, in Seiner Person hier auf der Erde die kleinste Befleckung des gefallenen Menschen anzunehmen, Es war im
Gegenteil notwendig, daß Er rein und unbefleckt sein mußte.
Ein Opfer für den Altar Gottes mußte vollkommen rein und
tadeltos sein. Das Lamm Gottes mußte fleckenlos sein. Christus war dies in jeder Beziehung. Er nahm Fleisch und Blut
an, ohne daß irgendein Bestandteil der gefallenen Natur damit verbunden war.
In den Evangelien liefert uns der Heilige Geist hierfür unumstößliche Beweise, besonders aber im Evangelium des Lukas,
wo der Herr besonders als Mensch dargestellt ist. „Der Engel
antwortete und sprach zu ihr (Maria): Der Heilige Geist wird
über dich kommen, und Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren werden
wird, Sohn Gottes genannt werden" (Lk 1,35). Es ist also
augenscheinlich, daß, obwohl Jesus wirklich von einem Weibe geboren ist und eine menschliche Natur angenommen
hat, es dennoch eine göttliche Wirkung war, daß Er Sich von
Seiner Geburt an in auffallender Weise von allen anderen
Menschen unterschied. Was Rom fälschlicherweise von Maria
behauptet hat, das ist vollkommen wahr von Jesus. E r und
nicht sie war unbefleckt in Seiner menschlichen Natur, und
zwar durch die Kraft des Heiligen Geistes, die Frucht der
überschattenden Kraft des Allerhöchsten. Darum konnte Er
auch von Anfang an das „Heilige" genannt werden. Christus
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allein ist „heilig" geboren/
und nicht nur unschuldig und rechtschaffen wie Adam, und noch viel weniger in Sünde empfangen und in Ungerechtigkeit geboren, wie die Söhne Adams.
Er ist als das „Heilige" angekündigt worden, und zwar nicht
in bezug auf das, was rein göttlich, sondern auf das, was
menschlich war. „Das Heilige, das geboren werden wird,
(wird) Sohn Gottes genannt werden".
Im Evangelium nach Matthäus lesen wir: „Siehe, da erschien
ihm (Joseph) ein Engel des Herrn im Traum und sprach:
Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Weib,
zu dir zu nehmen; denn das in ihr Gezeugte ist von dem
Heiligen Geiste. Und sie wird einen Sohn gebären, und du
sollst seinen Namen Jesus heißen; denn er wird sein Volk
erretten von ihren Sünden. Dies alles geschah aber, auf daß
erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten, welcher spricht: „Siehe, die Jungfrau wird schwanger
sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen
Emmanuel heißen", was verdolmetscht ist: Gott mit uns".
(Mt 1,20-23). Der Messias, Jehova, Der, weil Er Sein Volk
von ihren Sünden erretten sollte, hernach Jesus genannt
wurde, war also der Sohn der Jungfrau Maria, der von dem
Propheten angekündigte Emmanuel. Aber es ist ebenso gewiß, daß das, was von Maria geboren wurde, eine Frucht
der Überschattung des Heiligen Geistes war.
So ist also der Herr Jesus nicht nur infolge Seiner göttlichen
Natur der Sohn Gottes von Ewigkeit her, sondern Er wurde
auch wegen der göttlichen Kraft so genannt, die Er als
Mensch offenbarte. Das Kind von Bethlehem, der Sohn der
Jungfrau wurde nicht aus dem Willen des Fleisches, noch aus
dem Willen des Mannes, sondern im vollsten Sinne des Wortes aus Gott geboren. Nie kann von Ihm gesagt werden, daß
Er wie wir wiedergeboren sei, denn das wäre eine Leugnung
der Heiligkeit Seiner Menschheit. „Das Wort ward Fleisch",
Gott hat Sich im Fleisch geoffenbart. Doch selbst die Art und
Weise Seines Kommens in diese Welt war eine Frucht der
Kraft Gottes; sie war ein Wunder außergewöhnlicher Art und
in jeder Beziehung von der Geburt Isaaks verschieden, wie
wunderbar diese auch gewesen sein mag, auch von der Geburt
92
Johannes des Täufers, obwohl dieser Vorläufer des Herrn
auch von Mutterleibe an mit dem Heiligen Geiste erfüllt war.
Es gibt noch etwas, was nicht übersehen werden darf. Der
gefallene Mensch braucht nicht eine Verbesserung, sondern
eine Versöhnung. Wäre nun die Meinung einiger Irrlehrer,
daß Jesus Sich mit der gefallenen Menschheit vereinigt habe,
richtig, dann hätte Er auch dafür sterben müssen, um Sich
Selbst zu erlösen, und dadurch würde nicht nur Sein Erlösungswerk für andere, sondern auch Seine eigene Person verworfen. Von jedem Gesichtspunkt aus ist daher diese Anschauung ebenso unwahr wie verwerflich und ist nichts als
eine Anmaßung des Verstandes gegenüber dem Geheimnis
der Gottseligkeit.
In Jesu war also nicht eine Spur von dem traurigen Erbe der
inneren Verdorbenheit, das Adam seinen Nachkommen hinterlassen hat. Er hat die menschliche Natur ebenso gewiß
angenommen, wie Er auch Gott ist, jedoch war Er durch Gottes Willen und in Kraft fleckenlos und heilig. Er war in einem
ganz besonderen Sinn der Same des Weibes und nicht des
Mannes, und es hat dem Heiligen Geist Wohlgefallen, aus
der menschlichen Natur Jesu, jeden Flecken der Sünde, die
dem gefallenen Menschen — und mithin auch Seiner Mutter — angeboren ist, fernzuhalten. Daher war Er völlig geschickt für das Werk, um dessentwillen Er auf die Erde kam.
Von der Seite Gottes konnte Er nicht anders als vollkommen
fähig dazu sein, denn Er war der wahrhaftige Gott und das
ewige Leben, und auf der menschlichen Seite hielt Gott die
Verdorbenheit des Fleisches auf wunderbare Weise gänzlich
fern. Die Kraft des Höchsten überschattete Maria von Anfang an, und so wurde zur bestimmten Zeit das „Heilige"
aus ihr geboren.
Die Vorbilder des Alten Testaments stehen mit dieser Behauptung in vollem Einklang. Im ersten Kapitel des 3. Buches
Mose wird Christus als das Brandopfer vorgestellt, in dem
zweiten als das Speisopfer. Im Brandopfer zeigte sich die
Hingabe des Lebens, aber beim Speisopfer war nicht die Rede
von Schlachtopfern oder von etwas, was Blutvergießung forderte. Es wurde aus „Feinmehl" bereitet und stellte also ge93
rade das vor, was der Zustand des Herrn in bezug auf die
Erde war. Natürlich wurde im Speisopfer kein Sauerteig —
ein Zeichen des Verderbens — zugelassen, ja nicht einmal
Honig, — das Sinnbild natürlicher Zuneigungen, die, wie
lieblich sie auch sein mochten, für ein Gott geweihtes Opfer
unpassend waren — während Weihrauch, das Salz des Bundes
Gottes, und öl, als Gegensatz von Sauerteig, zulässig und
vorgeschrieben waren. Dies steht mit Lukas 1 in Verbindung,
ö l ist das wohlbekannte Sinnbild des Heiligen Geistes, das
alles ausschließt, was anders nach der Natur aus der Jungfrau
hätte hervorkommen müssen. So war ihr Kind durch Seine
Kraft ganz frei von Sünde. Daher wird das Speisopfer genannt das „Hochheilige von den Feueropfern Jehovas" (3. Mo
2,3). Es bestand aus dem Gewächs der Erde und stellt die
menschliche Natur des Herrn vor.
Ich gebrauche den Ausdruck „menschliche Natur", um dadurch
im allgemeinen die Menschheit zu bezeichnen, abgesehen von
dem Zustand, wie sie ursprünglich geschaffen oder worin sie
bald nachher gefallen ist. Ebenso bezeichnet in der Schrift oft
das Wort „Fleisch" die menschliche Natur, wie z. B. „das
Wort ward Fleisch" und „Gott geoffenbaret im Fleische" und
„Christus, getötet nach dem Fleische" usw. Die eigentliche
schriftgemäße Bedeutung dieses Wortes, das vornehmlich in
den Briefen des Paulus den sittlichen Zustand der Menschheit
darstellt, bezieht sich auf den Grundsatz des Eigenwillens im
Herzen. Doch wer unter den Gläubigen sollte nicht im Blick
auf den Herrn erschrecken, wenn jemand eine solche Bezeichnung des Fleisches auf Seine Person anwenden würde. Durch
den Zusammenhang lernen wir stets den wahren Sinn verste
hen. Ebenso wird gewöhnlich durch den Ausdruck „menschliche Natur" ihr gegenwärtiger Zustand bezeichnet. Dennoch
müssen wir hier einen großen Unterschied machen. Adam vor
dem Fall besaß die menschliche Natur, und sie war auch in
Christus. Auch wir besitzen sie selbstverständlich. Aber wie
sie in allen wirklich sein mag, so war doch Adam vor dem
Fall in einem ganz anderen Zustand als nach dem Fall —
in dem auch wir uns befinden —, und in Christus allein bezeichnet die Schrift sie als heilig . Wir unterscheiden also
94
drei verschiedene Zustände der menschlichen Natur hienieden:
unschuldig, gefallen und heilig. Die Menschheit Christi war
weder diejenige Adams vor dem Fall noch nach dem Fall.
Es ist also deutlich, daß das Bestehen der menschlichen Natur
ganz unabhängig von ihrem Zustand ist. Der Fall veränderte
den Zustand der Menschheit Adams, aber die Menschheit
selbst bestand ebenso wirklich vo r wie nac h dem Fall.
Ebenso konnte der Sohn Gottes, das Wort, Fleisch oder
Mensch werden. Er konnte die menschliche Natur in Verbindung mit der göttlichen annehmen, um so ein e Person zu
bilden, aber der Zustand Seiner Menschheit muß aus den
bereits angeführten Stellen erklärt werden. So sahen wir in
Lukas 1, daß von Seiner Empfängnis an die Menschheit
Christi „heilig" war, wie dies im gleichen Sinn nie von irgend einem Menschen gesagt ist. Er ist heilig, nicht nur, weil
der Heilige Geist auf Ihn ausgegossen ist, sondern weil Er
das „Heilige" war, das von Maria geboren und Sohn Gottes
genannt wurde.
Aber was war der Zweck der Ausgießung des Heiligen Geistes auf Christus, als Er ungefähr dreißig Jahre alt zu werden
begann? Sicher geschah es nicht, um einer inneren Neigung
zu Sünde Widerstand bieten zu können, denn in Ihm war
keine Sünde. Der Heilige Geist wurde vielmehr ausgegossen
zu einem Zeugnis und als eine an den Menschen gerichtete
Offenbarung der Macht Gottes~über Satan und seine Werke.
Er hatte den Heiligen Geist nicht zur Wiedergeburt oder zur
Reinigung nötig, denn in der menschlichen Natur Jesu war
gar nichts, das eine solche Wirksamkeit erforderte. Nein, der
Heilige Geist kam in Kraft. Sowohl als Er ausging, um vom
Teufel versucht zu werden, als auch als Er öffentlich im
Dienst Gottes auftrat, gefiel es dem Herrn Jesus, in der
Macht des Heiligen Geistes zu handeln. Sein Widerstand bei
der Versuchung, Seine Wundertaten, Seine Predigt, alles geschah in göttlicher Kraft. W i r können durch das Fleisch in
Versuchung gebracht werden, aber Jesus widerstand dem
Bösen, das von außen an Ihn herantrat, im Heiligen Geiste.
Darum war die Salbung mit dem Heiligen Geist nur eine
Frage der göttlichen Kraft, wie in Apg 10,38 gesagt wird:
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„Wie Gott ihn mit Heiligem Geiste und mit Kraft gesalbt
hat, der umherging, wohltuend und heilend alle, die von dem
Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm". — Daß
Adam den Einflüssen der Sünde zugänglich war, hat die Geschichte gelehrt. Wer dies aber von Christus behauptet, lästert sowohl Seine Person als auch Seine sittliche Größe, ja
er leugnet die Wahrheit dessen, was Er in bezug auf Seine
Gottheit und Seine heilige Menschheit war und ist.
Wie lehrreich in dieser Beziehung ist das Vorbild in 3. Mo 8.
Zuerst wurde Aaron allein ohne Blut gesalbt (V. 12). Wenn
aber danach seine Söhne auf den Schauplatz treten, so ist er
bei ihnen, und das Blut der Weihe wird auf ihn und auf
seine Söhne gesprengt zum Beweis, daß sie mit Aaron gesalbt sind (V. 30). Ebenso wird der Herr Jesus allein gesalbt
und zwar als Mensch ohne Blutvergießung. Der Heilige Gottes
bedurfte keines Opfers, um den Heiligen Geist zu empfangen.
Wenn wir jedoch die Gemeinschaft dieser Salbung aus der
Höhe genießen sollen, dann muß zuvor Blut vergossen werden. Der so vor Seinem Tode gesalbte Christus tritt für uns
durch die Kraft Seines Blutes in das Allerheiligste, und nachdem Er Seinen Platz zur Rechten Gottes eingenommen und
die Verheißung des Heiligen Geistes gegeben hat, hat Er
ausgegossen, was auf dem Pfingstfeste und danach gesehen
und gehört worden ist. Welch ein Zeugnis für Seine heilige
Menschheit und für den Wert des für uns vergossenen Blutes!
Daß Gott Seinen Sohn „in Gleichheit des Fleisches der Sünde"
gesandt hat, sagt uns die Schrift, aber gerade dieses deutet
an, daß die gefallene Natur, die sündige Menschheit nich t
in Ihm war, obwohl Er als wirklicher Mensch nichts hatte,
was Ihn für das menschliche Auge von anderen unterschied, —
ein Mensch, den man verspeien, schlagen, kreuzigen und
töten konnte. Daß Er „in Gleichheit des Fleisches der Sünde"
erschienen ist, beweist deutlich, daß Er nicht das Wesen ,
sondern nur die „Gleichheit " oder „ G 1 e i c h g e -
s t a 11" des sündigen Fleisches besaß. Sonst hätte Er kein
Opfer für die Sünde sein können, Er hätte nicht zur Sünde
gemacht werden können, wie dies am Kreuz geschehen ist.
Dieselbe Wahrheit wird durch die Worte angedeutet: „Einen
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Leib hast du mir bereitet." Selbst in dieser Seiner Erniedrigung hat Gott Ihm und keinem anderen einen Leib bereitet,
der für das ganze Werk, das Er vollbringen mußte, geeignet
war (Hebr 10). Es ist daher sicher ein Irrtum zu glauben, daß
die Menschwerdung Christi den Zustand Adams, ob vor oder
nach dem Fall, in sich schließe. Eine Lehre dieser Art ist
Ketzerei. In der Schrift wird Christus Adam als ein neuer
Stamm, ein neues Haupt, ein neuer Mensch und als der letzte
Adam gegenübergestellt und durchaus nicht als jemand betrachtet, der aus dem ersten Adam vor oder nach seinem
Fall entsprossen ist. Er ist nicht nur, wie Adam, eine lebendige Seele, sondern ein lebendigmachender Geist (1. Kor
15,45). War Adam, bevor er sündigte, gerecht und heilig?
Die Schrift sagt es nicht, und sie kann nicht gebrochen werden. Was die Schrift sagt, ist sogar unvereinbar mit einer
solchen Meinung. Sündlos sein ist noch keine Heiligkeit. Der
Herr Jesus war von Geburt an innerlich über das Böse gänzlich erhaben. Wir sind in Sünden empfangen und in Ungerechtigkeit geboren; das Fleisch des Herrn aber wurde nicht
so empfangen und gebildet, sondern war heilig durch die
Kraft des Geistes.
Der gefallene Mensch ist nicht nur des Fleisches und Blutes
teilhaftig, sondern er hat auch, wie wir im Römerbrief lesen,
das „Fleisch" in sich. Viele erkennen den Unterschied zwischen dem „Fleisch und Blut" nicht. Christus hat nicht wie wir
das „Fleisch" in Sich, wenn es sich um die moralische Bedeutung dieser Worte handelt. Weil Er es nicht hatte, konnte Er
es an unserer Statt am Kreuz tragen, so daß Gott es verurte:
len konnte. Er hat nicht nur gelitten für unsere Sünden ,
sondern auch für die Sünde . Als unser Stellvertreter hat
Er nicht nur unsere Werke, Wege und Handlungen, sondern
auch die Wurzel des Bösen auf sich genommen, wie geschrieben steht: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur
Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in
ihm". Es ist also nicht die ganze Wahrheit, wenn man sagt,
daß Gott die Sünden auf Ihn gelegt habe, sondern Jesus
wurde auch zur Sünde gemacht, und Gott tat, was das Gesetz
nicht zu tun vermochte. Das Gesetz konnte nur bestimmte
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Übertretungen behandeln, aber die Wurzel des Bösen konnte
es nicht erreichen. Das Gesetz Gottes, obwohl „heilig, gerecht und gut", konnte nicht vollbringen, was Gott in der
Sendung Seines eingeborenen Sohnes vollbracht hat. In Seinem Leben hat Christus geoffenbart, daß das Fleisch nicht
in Ihm war, denn stets erfüllte Er den Willen Gottes und
deckte gerade dadurch den widerspenstigen und verlorenen
Zustand jedes anderen Menschen auf. In Seinem Tode aber
ertrug Er das über das Fleisc h gefällte Urteil, auf daß
wir, frei von allen Beschuldigungen, in Seinem Auferstehungsleben vor Gott stehen könnten. Gott, „seinen eigenen
Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und (als Opfer)
für die Sünde sendend, verurteilte die Sünde im Fleische" (Rö
8, 3). Das war dem Gesetz unmöglich. Das Gesetz konnte
den Sünder verdammen, es konnte Zorn bewirken, es konnte
ein Urteil über die Sünde aussprechen, aber es konnte ebenso wenig die Sünde auswischen und vergeben wie das Urteil
Gottes über die Wurzel der Sünde ausführen, damit der
Gläubige freigesprochen werden konnte. Das hat Gott in
Christo getan. Am Kreuz hat Gott alles gerichtet, sowohl
die Wurzel als auch die Zweige.
Neben der Tatsache, daß unser Herr das ewige Wort, der
Sohn des Vaters ist, finden wir in Seiner Person auch die
Erfüllung davon, daß das ungesäuerte Feinmehl mit ö l ge -
meng t und dann, daß das ö l darauf gegosse n wurde.
Ersteres ist die Wirkung des Heiligen Geistes, wie sie in
Lk 1 beschrieben ist, von Anfang Seiner Menschwerdung an,
auf daß das, was von Maria empfangen und geboren wurde,
„heilig" sei. Das zweite aber wird in Lk 3, 22 und Apg 10, 38
mitgeteilt. Diese beiden Wahrheiten dürfen, wie dies leider
oft geschehen ist und noch geschieht, nicht miteinander verwechselt werden, denn auf diese Weise wird der Heiland, der
Christus Gottes, hinsichtlich der menschlichen Seite Seiner
Person zu einem Kinde Adams herabgewürdigt. Man erkennt
nicht das Geheimnis Seiner gesegneten Person, das völlig von
der Salbung mit dem Heiligen Geist zu unterscheiden ist, die
erst dreißig Jahre später stattfand, als Er vor Beginn Seines
Dienstes im Jordan getauft wurde.
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Die Salbung steht in keiner Beziehung zu der Bildung der
vollkommenen reinen menschlichen Natur für die Person
Christi, sondern ist nur eine Handlung, durch die der reinen
Natur die Kraft des Heiligen Geistes verliehen und durch die
der niedrige und gehorsame Mensch im Blick auf das öffentliche Amt mit göttlicher Kraft gesalbt wurde. „Denn diesen
hat der Vater, Gott, versiegelt". Seine inneren Erfahrungen
waren nach der Salbung nicht heiliger oder Gott wohlgefälliger als vorher. Es galt hier, anderen die mächtige Gnade des
Geistes in dem Menschen offenbar zu machen. Danach kam
Satan, um den Herrn zu versuchen, wie wir in Lk 4,13 lesen,
jedoch soll hier durch das Wort „Versuchung" nur das Angreifen eines äußeren Feindes angedeutet werden, und hat
keineswegs wie in anderen Stellen des Wortes die Bedeutung,
als sollte dadurch die Wirkung der inneren Schwachheit oder
Verderbtheit ans Licht gestellt werden.
Die erste der drei großen Versuchungen in der Wüste war:
„Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich zu diesem Steine, daß
er Brot werde". Jesus war der Sohn Gottes, und Er war
hungrig. Das war sicher eine außergewöhnlich günstige Gelegenheit, um Seine göttliche Sendung zu beweisen und zu
gleicher Zeit die Bedürfnisse Seines Leibes zu befriedigen.
Konnte Er keine Steine in Brot verwandeln? Gewiß. Wir
können diese Versuchung eine natürlich e nennen. Die
zweite Versuchung (wenigstens wie Lukas die Reihenfolge
nach ihrer moralischen und nicht wie Matthäus nach ihrer
geschichtlichen Ordnung angibt) galt dem weltliche n
Element. Es war das Anerbieten aller Königreiche der Welt
unter der Bedingung, daß Christus den Teufel anbeten sollte.
Die dritte Versuchung war auf den geistlichen Grundsatz gerichtet; deshalb bedient sich der Teufel des Wortes Gottes.
Wie wir wissen, weigert Sich der Herr, aus Steinen Brot zu
machen. Er erkannte hier die Einflüsterung des Teufels; dies
war auch nicht das Wort Gottes, das die wahre Speise des
Gläubigen ist. Christus als Mensch, der Sohn Gottes auf Erden, lebt in unwandelbarer Vollkommenheit durch das Wort
Gottes. Als der Sohn des Menschen ehrt Er Jehova, Seinen
Gott, und dient Ihm allein; als der Messias vertraut Er auf
99
Ihn und versucht Ihn nicht, wie Ihn einst das Volk in der
Wüste versuchte. Bemerken wir den Unterschied zwischen
Christo und anderen, die sich in ähnlichen Umständen befanden. Mose und Elias fasteten vierzig Tage, aber Mose wurde
auf dem Berge während dieser Zeit durch die Gegenwart
Gottes unterstützt, und Elias wurde auf wunderbare Weise
durch einen Engel ernährt. Bei dem Herrn Jesus war es nicht
so, Er befand Sich nicht wie Mose in der Gegenwart Gottes,
sondern in der Gegenwart des Teufels, und Ihm fehlte jeder
Lebensunterhalt, während Elias mit Speise versehen wurde.
Es ist vollkommen wahr, daß der Herr Jesus nicht auf eine
fleckenlose und glückliche, sondern auf eine gefallene Erde
gekommen ist; doch daraus den Schluß zu ziehen, daß er den
gefallenen Zustand der Menschheit angenommen habe, ist ein
grober, unverzeihlicher Irrtum. Ohne Zweifel lit t Er und
konnte Er leiden durch Hunger, Durst und Müdigkeit, aber
dies ist kein Beweis, daß die Menschheit in Ihm eine gefallene war, sondern zeigt uns nur die Umstände, in die die
Menschheit, mag sie heilig oder unheilig sein, kommen
kann. In seiner Unschuld machte Adam solche Erfahrungen
nicht. Die heilige Person Jesus war solchen Mißhelligkeiten
unterworfen und verherrlichte Gott in ihnen, aber was hat
dies mit dem Zustand der Heiligkeit Seiner Menschheit gegenüber dem Zustand der Menschheit Adams vor oder nach
dem Fall zu tun? Wer wagt es zu behaupten, daß Adam in
Eden keinen Hunger gelitten hätte, wenn er nichts gegessen
hätte? Man versucht damit nur, den Herrn der Herrlichkeit
in den gefallenen Zustand des Menschengeschlechts herabzuziehen. Wenn man den Hunger, den Durst und die Ermüdung des Herrn hierfür als Beweis anführen will, dann
gelangt man zu Trugschlüssen, da man die Umstände, denen
die Menschheit unterworfen ist, mit der Menschheit selbst
verwechselt. Gott teilt uns diese Tatsachen mit, um unser
Verständnis von der Gnade des Heilands zu erhöhen und um
Seine moralische Größe vor unseren Augen zu verherrlichen,
während der Mensch, von Satan veranlaßt, diese Tatsachen
benutzt, um Seine Menschheit zu besudeln und Seine Person
zu erniedrigen. Der Herr ist versucht worden bis zum Äu100
ßersten; doch daraus zu schließen, daß Er wie wir eine gefallene menschliche Natur besessen habe, ist eine Schmach gegen
Christus und eine verwerfliche Lüge. Die Schrift zeigt uns
die Menschheit Christi, aber sie sorgt auch deutlich dafür,
daß Seine unbefleckte Herrlichkeit in den Vordergrund gestellt wird. Das ist kein Wunder, denn Gott wacht darüber,
daß die unaussprechliche Gnade unseres Heilands nicht in
irgendeiner Weise angetastet werden kann.
In Hebr 2 lesen wir: „Jetzt aber sehen wir ihm noch nicht
alles unterworfen. Wir sehen aber Jesum, der ein wenig unter
die Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigt war, mit
Herrlichkeit und Ehre gekrönt — so daß er durch Gottes
Gnade für alles den Tod schmeckte". Die Bedeutung dieser
Worte ist, daß Christus zur Belohnung für Sein Werk mit
Herrlichkeit und Ehre gekrönt ist (siehe Phil 2,9), und zwar
der Christus, Der ein wenig unter die Engel erniedrigt worden ist, um durch die Gnade Gottes für alles den Tod zu
schmecken. Die Menschwerdung allein, wie wichtig sie auch
war, konnte uns nicht erlösen. Sollte der Mensch nach der
Gerechtigkeit Gottes von der Sünde erlöst werden, so war
der Tod unbedingt nötig. „Ohne Blutvergießung ist keine
Vergebung". — „Denn es geziemte ihm, um deswillen alle
Dinge und durch den alle Dinge sind, indem er viele Söhne
zur Herrlichkeit brachte, den Urheber ihrer Errettung durch
Leiden vollkommen zu machen" (Hebr 2,10). Es geziemte sich
also, daß Christus für die vielen Söhne, die Gott zur Herrlichkeit führte, durch Leiden zum Himmel gehen sollte. Nicht
um Seiner Selbst willen, sondern als Urheber unserer Errettung mußte Er durch Leiden geheiligt werden. Unser Zustand
erforderte dies. Auf dem Kreuz wurde Er für uns zur Sünde
gemacht, und das ist das entsetzliche Leiden, wovon hier die
Rede ist, ohne Sünde aber (die hat Er am Kreuz getragen)
stand Er auf aus den Toten und ist mithin an unserer Stelle
durch Leiden geheiligt. „Denn sowohl der, welcher heiligt,
als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem;
Um welcher Ursache willen er sich nicht schämt, sie Brüder
zu nennen" (V. 11). Erst nach Seiner Auferstehung stellt der
Herr Seine Jünger in das Verhältnis von Brüdern. Die Worte
101
„alle von einem" bezeichnen nicht das Eintreten Jesu in ihren
Zustand, sondern ihre Einführung in Seinen Zustand. Der
Grund dazu wurde in Seinem Tode gelegt, und nach Seiner
Auferstehung aus den Toten vereinigt Er sie mit Sich. Sie
waren also „alle von einem". „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater
und eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott"
(Joh 20,17). In Hebr 2,14 wird die Menschwerdung des Sohnes als notwendiges Mittel bezeichnet, um durch den Tod
die Macht des Teufels zunichte zu machen, und die zu erlösen, die „durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der
Knechtschaft unterworfen waren". Er allein hat das mächtige
Werk vollbracht, kraft dessen Er nach Seiner Auferstehung
die, welche geheiligt werden, in Gemeinschaft mit Sich bringt.
Die Kraft Gottes war in Christo. Strahlte diese Kraft etwa
weniger hervor, weil ihr Glanz durch ein Leben völliger Abhängigkeit vom Vater und durch die Leiden einer grenzenlosen Erniedrigung hindurchdringen mußte? Dabei waren diese Leiden nur eine Folge Seines Erbarmens über die Menschen, Seiner Liebe für die Seinigen und Seiner Hingabe und
Seines Eintretens für die Herrlichkeit Gottes. Laßt uns auf
den Höhepunkt von allem, auf das Kreuz blicken, das Törichte und Schwache Gottes. „Ich habe Gewalt es (das Leben)
zu lassen, und habe Gewalt es wiederzunehmen". Aber Er
gebrauchte diese Gewalt nur in völligem Gehorsam, denn Er
fügt hinzu: „Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen" (Joh 10,18). Es ist daher ein verwerflicher Irrtum,
wenn einige behaupten, daß in Seiner Natur nicht nur die
Möglichkeit und Fähigkeit, sondern auch die Notwendigkeit
zu sterben gelegen habe. Die Geschichte Seines Lebens lehrt
uns das Gegenteil. Die kurze Zeit, in der es dem Herrn gefiel,
Seinen Geist aufzugeben, worüber selbst Pilatus sich verwunderte, und die laut e Stimme, die Er noch kurz zuvor
zum Erstaunen des Hauptmanns vernehmen ließ, dies alles
zeigt uns Seine Macht im Sterben wie im Leben und ist keineswegs ein Zeichen der völligen Erschöpfung Seiner körperlichen Kraft infolge der vorangegangenen Leiden, wie einige meinen. Wenn man behauptet, daß Jesus in Seiner
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Natur von Anfang an gezwungen gewesen sei zu sterben,
oder daß Er am Kreuze darum sterben mußte, weil Er Seiner
Kraft beraubt war, dann leugnet man die göttliche Herrlichkeit Seiner Person. Das aber stellt sofort die Lehre der Versöhnung in Frage, denn wie sehr wird die im Tode Jesu offenbarte Gnade untergraben, wenn der Herr Jesus am Kreuz
nur einen Tod starb, den Er in der einen oder anderen Form
doch einmal hätte sterben müssen. Für mich kommt eine
solche Vorstellung dem Hohn derer gleich, die das Kreuz
umringten, als sie riefen: „Andere hat er gerettet, sich selbst
kann er nicht retten" (Mt 27,42).
Nein, der Tod unseres Herrn ist im vollsten Sinne des Wortes
ein freiwilliger, obschon es ein im Gehorsam gegenüber dem
Vater vollbrachter Tod war. Niemand anders als der Heilige
Gottes und zugleich eine göttliche Person konnte sagen: „Ich
habe Gewalt es zu lassen usw". Er erlitt den Tod nicht auf
Grund des Urteils über die gefallene Natur, sondern durch
die Gnade Gottes. In Phil 2 lesen wir ganz klar, daß
der Tod Jesu durchaus keine Folge der allgemeinen Sterblichkeit des gefallenen Fleisches war. Denn nicht weil Er „in
seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden" wurde, mußte Er
notgedrungen sterben, sondern auf Grund des Vorsatzes der
Gnade hat Er „sich selbst erniedrigt, indem er gehorsam ward
bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze". Es geschah unserer
Sünden wegen, und darum nach einem ganz anderen Grundsatz. Er wurde „gehorsam bis zum Tode, ja, zum Tode am
Kreuze". Jesus wurde für uns zur Sünde gemacht, Er wurde
für uns zum Fluch. Er wurde in Schwachheit gekreuzigt, aber
nicht weil es Seine menschliche Natur erforderte, denn wenn
dies wahr wäre, so wären wir ohne Hoffnung. Es war der
Triumpf der Gnade in dem Sohn des Menschen, Der Sein
Leben zum Lösegeld für viele hingeben wollte. So wurde Gott
in Ihm verherrlicht, und „darum", sagt Jesus, „liebt mich der
Vater, weil ich mein Leben lasse, auf daß ich es wiedernehme". Ich weiß wirklich nicht, was von der Wahrheit, der
Liebe, dem Gehorsam, der Versöhnung oder der Verherrlichung Gottes im Tode Jesu noch übrigbleibt, wenn man an
dem traurigen Irrtum festhält, der Christus in Seiner eigenen
Person den Gesetzen der gefallenen Menschheit unterwirft.
103
„Denn er nimmt fürwahr sich nicht der Engel an, sondern
des Samens Abrahams nimmt er sich an", lesen wir in Hebr 2.
Daß hier keineswegs gesagt werden soll, daß Er nicht die
Natur der Engel, sondern die Natur Abrahams angenommen
habe, geht deutlich aus den Worten hervor: „Daher mußte
er in allem den Brüdern gleich werden, auf daß er in den
Sachen mit Gott ein barmherziger und treu.er Hoherpriester
werden möchte, um die Sünden des Volkes zu sühnen" (V. 17).
Er nimmt Sich nicht der Engel an, sondern des Samens Abrahams — das will sagen: Er kam nicht, um die Engel zu erlösen, sondern den Samen Abrahams, und darum mußte Er
in allem den Brüdern gleich werden. Er mußte Mensch werden, um die Menschen erlösen zu können.
„Denn worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde,
vermag er denen zu helfen, die versucht werden" (V. 18).
Es ist zu beachten, daß hier nicht steht, daß Jesus gelitten
habe, nachdem Er versucht war; denn dieses kann nur jemand
tun, der sich überwunden sieht und darüber trauert. Jesus
kannte weder Betrübnis des Gewissens noch die Wirkung des
Unglaubens, wie das bei uns der Fall ist. Er litt in Seiner
ganzen moralischen Stellung das Leiden in Heiligkeit und
Gnade. Er verabscheute und verwarf alles, was der Feind
Seiner heiligen Natur vorstellte. Darum ist Jesus, Der in der
menschlichen Natur Versuchung und Leiden kennenlernte,
mehr als irgendein Mensch imstande, die Gläubigen, die versucht werden, zu trösten. Das ist die wirkliche Bedeutung und
die richtige Anwendung des hier gebrauchten Wortes „Versuchung". Es bezeichnet durchaus keine innere Neigung oder
Empfänglichkeit für das Böse, wie in Jak 1,14, wo das Wort
mit der „Lust" in Verbindung steht. Wenn jemand dies auf
Jesus anwenden will, der sage es sofort frei heraus, damit
die Schafe Christi die Stimme des Fremden hören und fliehen.
Jakobus gebraucht jedoch in demselben Kapitel (V. 2-12) das
Wort „Versuchung" in seiner gewöhnlichen Bedeutung als
Prüfung. Die Verwirrung entsteht dadurch, daß man den
Unterschied nicht beachtet, der zwischen den inneren Wirkungen der gefallenen Natur, wie sie in Jak 1,14 vorkommen, und den Versuchungen besteht, die Satan von außen
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bei uns hervorruft. In Adam und Eva war keine Sünde, als
sie versucht wurden. Daher ist es nicht notwendig eine gefallene Natur zu haben, um versucht werden zu können. Doch
laßt uns nicht vergessen, daß noch kein Leiden bestand, als
unsere ersten Eltern versucht wurden; sie unterlagen dem
Verführer. Das steht im Gegensatz zum letzten Adam, Der
unendlich viel mehr versucht wurde, aber in nichts einwilligte. Er begegnete jedem Angriff mit dem Wort Gottes, anstatt dieses Wort fallenzulassen und zu übertreten, wie es
der erste Adam tat. Er kam um den Willen Gottes und nicht
Seinen eigenen zu tun. Er handelte in der Kraft des Heiligen
Geistes, Der für die Bedürfnisse des Augenblicks die richtige
Schriftstelle anführt. Freilich haben wir als Menschen das
sündige Fleisch, das Jesu nicht besaß, aber als Gläubige sind
wir doch aus Gott geboren, da Christus Selber unser Leben
ist, und daher haben wir durch den Heiligen Geist Kraft zum
Widerstand empfangen. Besonders aber dürfen wir nicht vergessen, daß der Teufel jetzt für uns um Christi willen ein
überwundener Feind ist. Doch die alte menschliche Natur in
uns ist noch stets unverbessert, so daß bei uns die Überwindung nicht von der Veredlung der Natur abhängt, sondern
eine Frucht des Glaubens ist. Christus hatte nie die Kämpfe
zu bestehen, die in uns durch den Widerstand des Fleisches
gegen den Heiligen Geist entstehen. Er ordnete jeden Gedanken und jedes Gefühl völlig dem Willen Gottes unter.
Eine scheinbare Ausnahme zeigte sich nur, als Er in Seiner
Angst ausrief: „Nimm diesen Kelch von mir weg!" Doch wie
konnte Er, Der Sich während Seines Erdenweges immer des
ununterbrochenen Wohlgefallens Gottes erfreut hatte, auch
begehren, von Gott verlassen zu werden? Es wäre Gleichgültigkeit und keine Liebe gewesen, ja, es hätte eine Geringschätzung der glückseligen Gemeinschaft zwischen Ihm und
dem Vater verraten. Darum war es ein Teil der Vollkommenheit Christi, wenn Er ausrief: „Nimm diesen Kelch von
mir weg, doch nicht, was ich will, sondern was du willst".
Seine Menschheit konnte, wenn ich so sagen darf, gerade weil
sie so vollkommen war, nicht nach der furchtbaren Offenbarung des Zornes Gottes verlangen; aber wie in allen Dingen,
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war Er auch hierin dem Willen Gottes Untertan. „Den Kelch,
den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?"
Betrachten wir jetzt Hebr 4, 15: „Denn wir haben nicht
einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit
unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde".
Heißt das vielleicht nur, daß Jesus in allem gleichwie wir
versucht worden sei,, ohne zu sündigen? Gewiß nicht. Vielmehr ist der Sinn dieser Stelle, daß Er, ausgenommen die
Sünde, jede Art der Versuchung durchgemacht hat. Obwohl
Er in allem versucht wurde, unterschied Er Sich doch besonders dadurch, daß Er durchaus keine Sünde in Seiner Natur
hatte. Von uns wird gesagt: „Wenn wir sagen, daß wir keine
Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit
ist nicht in uns". Wir haben also innere Versuchungen, die
mit der Sünde in uns in Verbindung stehen, wie Jakobus
schreibt. Jesus hatte dagegen solche Versuchungen nicht. Mit
der Sünde hatte Er in den Versuchungen nichts zu tun. Dazu
besaß Er in Seiner menschlichen Natur nicht die geringste
Neigung. Wenn Er auch Fleisches und Blutes teilhaftig war,
so besaß Er doch nichts von dem, was Paulus „das Fleisch"
nennt. In Ihm, Der vollkommen Gott und vollkommen Mensch
war, bestand für die Sünde kein Anknüpfungspunkt. Im
ersten Menschen, Adam, war ein solcher Anknüpfungspunkt
vorhanden, und daher fiel er. Der zweite Mensch, der letzte
Adam, kannte eine solche Schwäche nicht, sondern Er war
Mensch geworden, um zu leiden und am Kreuz, wann und
wie es Ihm gefiel, doch stets im Gehorsam gegen Gott, fü r
unser e Sünde n zu sterben (2. Kor 13,4). Innere, moralische Schwachheiten kannte Jesus nicht.
Wenn Adam in seiner Natur im vollsten Sinne des Wortes
„aus Gott geboren" gewesen wäre, so hätte er, ohne eine
göttliche Person zu sein, doch nicht sündigen können (Siehe
1. Joh 3, 9). Wenn der Christ sündigt, geschieht das, weil
er gegen den Willen der neuen Natur und des in ihm wohnenden Geistes, der nicht aus Gott geborenen alten Natur
nachgibt. Er ist dann nicht wachsam gewesen, wird vom Feind
angegriffen und fällt. In einer ausschließlich heiligen Natur
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ist kein Anknüpfungspunkt für die Sünde vorhanden. Wer
wollte einen solchen bei Christus, wenn Er in Herrlichkeit
wiederkommt, voraussetzen? Sowohl in Verbindung mit Seiner Wiederkunft (Hebr 9,28) als auch in bezug auf Seine
Versuchung auf Erden (Hebr 4,5) wird derselbe Ausdruck
„ohne Sünde" gebraucht. In den Tagen Seines Fleisches war
Jesus „ohne Sünde". Auf dem Kreuz hat Gott Ihn „für uns
zur Sünde gemacht". Wenn Jesus zum zweiten Mal für die
Seinen kommt, dann wird Er „ohne Sünde erscheinen". Einmal wurde Er geopfert, um die Sünden vieler zu tragen, bald
wird Er nicht zum Gericht, sondern zur Seligkeit derer erscheinen, die Ihn erwarten, aber dann wird Er völlig von der
Sünde getrennt gesehen werden, weil Er den Willen und
das Werk Gottes in bezug auf die Sünde durch das Opfer
Seines Leibes ein für allemal vollbracht hat. Ohne die geringste Spur von Sündhaftigkeit oder Neigung zur Sünde in
Seiner menschlichen Natur zu besitzen, wurde Jesus dennoch
bis zum Äußersten vom Teufel angegriffen. Danach hat Er
die Sünde ausgelöscht durch das Opfer Seiner Selbst. Zum
zweiten Mal wird Er ohne Sünde, d. h. getrennt von der
Sünde erscheinen, nachdem Er das Werk vollbracht und Gott
am Kreuz verherrlicht hat. Niemand wird es wagen, Christus
in der Herrlichkeit die geringste Empfänglichkeit für inneres
Böses zuzuschreiben; aber wer in diesem Sinn bezüglich Seiner Menschheit, während Er auf der Erde war, über Seine
Person zu sprechen oder zu denken wagt, der steht ebenso
im Widerspruch zur Heiligen Schrift. Der Heilige Geist sagt
in beiden Fällen, daß Er auf Erden „ohne Sünde" war, und
daß Er in Herrlichkeit ohne Sünde erscheinen wird.
Wenn auch nur das geringste Teilchen der gefallenen menschlichen Natur in Christus vorhanden gewesen wäre, wie hätte
Er dann je ein geeignetes Opfer für die Sünde sein können?
Selbst die als Vorbilder gebrauchten Opfertiere im Alten
Testament mußten vollkommen sein. Und es ist bemerkenswert, daß kein Opfer sich mehr durch Heiligkeit auszeichnete,
als das Speisopfer und die Sund- und Schuldopfer. Sie werden nachdrücklich „hochheilig" genannt, weil sie Christus in
Seinem Wirken als Mensch und zugleich Ihn als für uns zur
Sünde gemacht vorstellen. Das Passahlamm ohne Fehl, die
107
täglichen Opfer ohne Flecken, die rote Kuh oder der Farren
ohne Fehl und worau f kei n Joc h gekomme n
w a r (man merke sich dies gut), — alles dies zeigt uns
deutlich, daß in Christo, dem wahren Gegenbilde, für die
Verdorbenheit des gefallenen Menschen kein Platz war.
Wäre Christus als vom Weibe geboren irgendwie unter dem
Joch der gefallenen menschlichen Natur gewesen, dann hätte
Er, auch wenn nicht der kleinste Flecken in Seinem Wandel
gefunden wäre, doch nie ein geeignetes und passendes Opfer
für uns sein können, weil Er dann das wichtigste Gebrechen
der Menschheit besessen hätte. Jeder, der nicht so verblendet
ist, sich mit Gott auf die gleiche Stufe zu stellen, wird zugeben müssen, daß durch den Sündenfall unser ganzer Zustand
verdorben ist. Wie könnte Gott nun ein durch den Sündenfall besudeltes Schlachtopfer annehmen? Durch eine solche
Irrlehre untergräbt man die Person und das Werk Christi
und tastet dadurch die Herrlichkeit Gottes in schamloser
Weise an.
Wie aber kann Christus Mitgefühl mit uns haben, ohne ein
persönliches Bewußtsein von der gefallenen Menschheit zu
besitzen? Eine höchst unwürdige Frage! Das Mitgefühl Jesu
ist in der Schrift auf ganz andere Gründe gebaut. Ich gestehe,
daß Seine göttliche Herrlichkeit nicht genügend ist, aber diese
Herrlichkeit zeigt den Glanz und unendlichen Wert Seines
Leidens als Mensch, ausgenommen die Sünde. Jesus mußte
die Natur derer haben, deren Sache Er übernahm, obwohl Er
nicht in demselben gefallenen Zustand erschien. Er mußte die
Angst und Bitterkeit der Versuchung auf Erden selbst erfahren haben, und das war bei Ihm in unvergleichlich höherem
Maße der Fall als bei jedem anderen Menschen. So konnte
Er in Seiner heiligen Menschheit Mitgefühl haben mit unseren
Schwachheiten, da Er die List, die Macht und die Bosheit des
Feindes gefühlt hatte, und zwar deshalb in so viel stärkerem
Maße als wir, da Seine Würde, Heiligkeit und Liebe die unsrige in demselben Maße übertrifft. Da Er nie eine Sünde
(die das Herz verengt) gekannt, aber unbeschreiblich viel gelitten hat, ist Seine Liebe weit und frei, um uns, den Gläubigen, die nicht nur den gleichen äußeren Feind und Versu108
eher haben, sondern auch eine trügerische Natur in uns tragen, ungehindert zuströmen lassen zu können.
Die Wahrheit ist, daß der Gläubige, der durch den Glauben
an die Erlösung in einem für ihn vollbrachten Werke Ruhe
gefunden hat, das Mitleiden Christi mit der in ihm wohnenden Sünde oder mit den Sünden, die er getan hat, nicht mehr
nötig hat, da er die göttliche Versicherung besitzt, daß Christus für beides gestorben ist. Wenn Christus auferweckt ist,
ist auch der Gläubige mit Christo auferweckt. Ist das nicht
ein fester Trost aus dem Himmel gegenüber der sündhaften
Natur und ihren bösen Früchten? Christus hat unsere Sünden
an Seinem Leibe auf dem Holz getragen. Das Fleisch und
die Sünde sind in Ihm mitgekreuzigt und bereits verurteilt.
Soll ich dies alles nicht glauben und mit demütigem und
dankbarem Herzen den Frieden annehmen, den mir das Leiden des Überwinders, das so vollkommen die Gnade Gottes
gegen mich zeigt, gebracht hat? Andererseits handelt Gott
weise und heilig mit dem Gläubigen, der nicht wachsam war
und darum in die Sünde gefallen ist. Hier hilft dann weder
das Dogma (Lehrsatz), das die bleibende Beziehung der Kinder Gottes leugnet und uns auffordert, von neuem unsere
Zuflucht zu dem Blut der Versöhnung zu nehmen (als wenn
wir Juden und nicht Christen wären), noch die Lehre, die in
dem heiligen Wandel Christi ein Hilfsmittel für die Mängel
in unserem Betragen sucht. Den Grund für diese Verirrung
finden wir in den voreiligen Worten des Petrus in Joh 13, 8.
9; die Wahrheit, die beide Lehren widerlegt, finden wir in
der Antwort des Herrn, wenn Er sagt: „Wer gebadet ist, hat
nicht nötig, sich zu waschen, ausgenommen die Füße". Die
erstgenannte Lehre verkennt in ihrem Eifer den vollen Wert
der ein für allemal vollbrachten Reinigung der Person, während die zweite nicht die Notwendigkeit der fortdauernden
Fußwaschung versteht, nachdem die Person einmal ganz gereinigt ist. Der Gläubige aber hält beides aufrecht; er schwächt
nicht den ewigen, unerschütterlichen Glauben der Wiedergeburt ab, und er verkennt auch nicht die Notwendigkeit des
beständigen Bekennens der Sünden. Die Reinigung oder Waschung wird nie wiederholt, während wir die Fußwaschung
109
hier auf Erden immer nötig haben, wenn wir in Gemeinschaft
mit Christus bleiben wollen. Der Heilige Geist setzt auf der
Erde das Werk fort, als Folge der Fürbitte Christi im Himmel, und reinigt durch das Wort diejenigen, die bereits in
dem Blute Christi von ihren Sünden gewaschen und aus
Wasser und Geist geboren sind. Die verunreinigte Seele muß
durch den Heiligen Geist und durch das Wort Gottes fühlen,
was ihr Einwilligen in die Sünde den Sohn Gottes kostet, Der
Selbst das unwiderrufliche Urteil Gottes über die ganze
Schuld getragen hat, als Er für uns zur Sünde gemacht worden ist. Das ist die Lehre der Schrift, des Alten wie des
Neuen Testaments, und das ist der heilige Weg Gottes in den
täglichen Erfahrungen der Gläubigen.
Doch das Mitleiden Christi mit der Sünde, ja selbst mit dem
Sünder als solchem, wäre nur ein Ruhekissen für die Sünde,
und nicht nur verderblich für uns, sondern auch entehrend
für Christus. Nein, so ist es nicht. Sein Mitleiden gilt den
Schwachheiten der Wiedergeborenen, die die Sünde hassen,
die den Widerspruch der Sünder gegen sich zu erdulden haben und die durch Satan, der in der Welt und auf das Fleisch
wirkt, auf ihrem Wege angegriffen werden. Ihnen gilt das
Trostwort der Schrift: „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit unseren
Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in
gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde." Er weiß,
was es heißt, von der Welt gehaßt zu werden, jeden Tag die
Sünde sehen und fühlen zu müssen. Er kennt die List des
Teufels und die Macht des Unglaubens. Er hat das Elend, die
Mühsale und das Leiden dieser Erde angeschaut und erfahren. Er weiß, was es ist, von Freunden verlassen zu sein und
von Feinden verspottet zu werden. Ja, in allen Dingen, die
Sünden ausgenommen, ist Er versucht worden, und darum
kann Er in unseren Schwachheiten und Leiden Mitleid mit
uns haben.
Aus Hebr 5 wird es uns noch deutlicher werden, wie bereit
der Mensch ist, verkehrte Gedanken in bezug auf Christus
in sich aufzunehmen. „Denn jeder aus Menschen genommene
Hohepriester wird für Menschen bestellt in den Sachen mit
110
Gott, auf daß er sowohl Gaben als auch Schlachtopfer für
Sünden darbringe; der Nachsicht zu haben vermag mit den
Unwissenden und Irrenden, da auch er selbst mit Schwachheit umgeben ist" (V. 1. 2). Diese Worte werden oft als eine
Beschreibung von Christo betrachtet, während sie gerade das
Gegenteil sind. Sie zeigen uns den Unterschied zwischen
einem gewöhnlichen menschlichen Hohenpriester und Christus. Unwissende und irrende Menschen haben einen Priester
nötig, der wie sie selber mit Schwachheit umgeben ist. Ein
solcher ist Jesus, der Sohn Gottes nicht. Er braucht nicht „wie
für das Volk, so auch für sich selbst zu opfern für die Sünden". Zwar folgt dann eine Gleichstellung mit Aaron, aber
diese besteht darin, daß Christus nicht Sich Selbst verherrlicht hat, um Hoherpriester zu werden, sondern „von Gott
berufen (wurde), gleichwie auch Aaron". Sonst werden in
diesem Kapitel Aaron und seine Söhne Christus gegenübergestellt. Sie waren schwache Menschen und mußten nicht nur
für die Sünden des Volkes, sondern auch für ihre eigenen
Sünden opfern. Christus ist ein Hoherpriester „...heilig ,
unschuldig , unbefleckt , abgesonder t vo n
d e n Sünder n un d höhe r al s di e Himme l
geworden , der nicht Tag für Tag nötig hat, wie die Hohenpriester, zuerst für die eigenen Sünden Schlachtopfer darzubringen, sodann für die des Volkes; denn dieses hat er
ein für allemal getan, als er sich selbst geopfert hat. Denn
das Gesetz bestellt Menschen zu Hohenpriestern, die Schwachheit haben; das Wort des Eidschwurs aber, der nach dem
Gesetz gekommen ist, einen Sohn , vollende t i n
Ewigkeit " (Hebr 7, 26-28). Doch dies hinderte Ihn nicht,
Schmerzen mehr als irgendein Mensch kennenzulernen. Aber
vergessen wir nicht, daß es stets der Schmerz der Gerechtigkeit und Liebe war. „Der in den Tagen seines Fleisches, da
er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tode zu
erretten vermochte, mit starkem Geschrei und Tränen dargebracht hat (und um seiner Frömmigkeit willen erhört worden ist), obwohl er Sohn war, an dem, was er litt, den Gehorsam lernte; und, vollendet worden, ist er allen, die ihm
gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden" (Kap 5, 7-8).
Jesus mußte Gehorsam lernen, als etwas, das Ihm, Der nur
111
zu gebieten wußte, unbekannt war. Vor Seiner Menschwerdung war Er der Herrsche r über alles. Nachdem Er
aber Mensch geworden war, mußte Er — obwohl freiwillig —
in Abhängigkei t vom Vater leben. Das Leiden, ja
alles, was Ihm hier widerfuhr, war Ihm etwas ganz Neues,
und in diesem allen mußte Er Gehorsam lernen. Nachdem Er
gehorsam gewesen war bis zum Tode am Kreuz und das
Werk der Erlösung und Versöhnung für andere vollbracht
hatte, ist Er „vollendet" in der Auferstehung „allen, die ihm
gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden, von Gott
begrüßt als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks"
(V. 9. 10).
In Verbindung hiermit gibt es noch eine falsche Lehre, nämlich die, daß Christus uns durch Seine Menschwerdung in
Gemeinschaft mit Sich gebracht habe. Dies ist ein höchst gefährlicher Irrtum, denn dann gäbe es ja einen anderen Weg
zur Errettung als durch Christus. Das Wort Gottes lehrt uns
das Gegenteil. Wir Christen sind aus unserem natürlichen
Zustand herausgenommen und durch den Heiligen Geist zu
Gliedern Christi gemacht worden. Christus ist nicht ein
Fleisch mit uns geworden, hat also nicht an dem Zustand der
gefallenen Menschheit teilgenommen (dadurch würde die
Versöhnung gänzlich in Frage gestellt werden) sondern wir
sind zu einem Geiste mit Ihm gemacht worden (1. Kor 6, 17).
Dieser Irrtum stellt uns die Geburt und nicht den Tod Christi
als das Fundament unserer Gemeinschaft vor, und dadurch
wird natürlich das Urteil Gottes über die Sünde am Kreuz
in den Schatten gestellt.
Nach den Zeugnissen der Schrift gab es Glieder am Leibe
Christi, nachdem der Herr geboren, gekreuzigt, auferweckt
und gen Himmel gefahren war und den Heiligen Geist herniedergesandt hatte, um die Gläubigen zu einem Leibe zu
taufen. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und
stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel
Frucht" (Joh 12, 24). Das ist eine deutliche Sprache. Wäre
der Herr nicht gestorben, dann wäre Er allein geblieben; doch
nun da Er gestorben und auferstanden ist, sind die Gläubigen
mit Ihm vereinigt. Ebenso sagt der Herr in Joh 17, 21: „Auf
112
daß sie alle eins seien" — etwas, das, als der Herr noch nicht
gestorben und auferstanden war, noch geschehen mußte.
Unsere Vereinigung hat nicht in Seiner Geburt oder Seinem
Leben hier auf Erden, ja selbst nicht in Seinem Tode, sondern
in Seiner Auferstehung und Verherrlichung ihren Anfang
genommen. Wenn der Gläubige so mit Christus vereinigt ist,
spricht die Schrift von ihm als von einem mit Christo Gekreuzigten, auf Seinen Tod Getauften, mit Ihm Gestorbenen
und mit Ihm Auferweckten. Dies finden wir jedoch nie von
einem Gläubigen gesagt, bevor das Werk der Erlösung vollbracht und Jesus verherrlicht war. Erst von diesem Augenblick an konnte das, was von Ihm, ihrem großen Stellvertreter, wahr war, auch von den Seinigen gesagt werden. In
2. Kor 5, 14-18 wird uns die Wahrheit in völliger Klarheit
dargestellt. „Denn die Liebe des Christus drängt uns, indem
wir also geurteilt haben, daß einer für alle gestorben ist und
somit alle gestorben sind". Erst am Kreuz geschah die vollkommene Offenbarung der Liebe Gottes und der Feindschaft
des Menschen, des heiligen Urteils Gottes über die Sünde
und der hoffnungslosen Bosheit des Menschen. Die im Tode
Christi erwiesene traurige Tatsache ist, daß alle tot sind.
Aber zugleich wird dort die Gnade Gottes geoffenbart. „Einer
ist für alle gestorben" — dies allein kann ihrem Zustand ein
Ende machen — „auf daß die, welche leben, nicht mehr sich
selbst leben, sondern dem, der fü r si e gestorbe n
i s t un d is t auferweck t worden" . Und dann folgt
das Resultat: „Daher kennen wir von nun an niemand nach
dem Fleische; wenn wir aber auch Christum nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr
also. Daher, wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue
Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden."
Wie alle anderen Irrtümer hat auch der zuletzt erwähnte
keinen anderen Zweck, als die Person Christi zu erniedrigen
und die sündige Menschheit, also den Menschen wie er ist,
zu erheben. Ferner trachtet der Feind durch diese Lehre den
wahren Zeitpunkt der Erlösung durch den Glauben zu verrücken, den wahren Charakter und den Umfang der Vorrechte der Christen zu, verbergen und die Seelen in den
113
Zustand zurückzuführen, in dem sie waren, als das Erlösungswerk noch nicht vollbracht, die Sünde noch nicht gesühnt, der Heilige Geist noch nicht gegeben und Jesus noch
nicht verherrlicht war, ja, als im Gegenteil das Gesetz mit
seinen fleischlichen Satzungen, seiner irdischen Priesterschaft
und seinem weltlichen Heiligtum noch in voller Kraft bestand.
Laßt uns daher mit heiligem Ernst erfüllt sein, wenn wir den
zarten und ernsten Gegenstand der göttlich-menschlichen
Natur unseres Herrn Jesus Christus betrachten! Wir dürfen
Ihn nicht anders betrachten als die Schrift Ihn uns vor Augen
stellt, und daher bedarf es der Vorsicht bei der Behandlung
solcher Schriftstellen, die sich auf Ihn beziehen, den niemand
kennt als nur der Vater. Dann werden wir davor bewahrt
bleiben, Gott zu widersprechen. Wir traurig ist es zu sehen,
daß Männer, die behaupten, daß Jesus eine sündhafte Natur
gehabt habe, von gleichgültigen Christen aber auch von der
blinden Menge als Lehrer dieses Jesus betrachtet werden,
Der durch sie grenzenlos entehrt wird! Bedenken wir es
wohl, daß der wahre, auf das Wort gegründete Glaube an
Christus der einzige Grund alles Guten in der Seele ist. Etwas
anzunehmen, was die Herrlichkeit Christi verdunkelt und
beschmutzt, ist eine sehr gefährliche Sünde, deren Ende niemand voraussehen kann. Wenn man auch nur einen Schritt
in dieser Richtung geht, so legt man den Grund eines schrecklichen Frevels, denn wir treten dadurch in Widerspruch zu
der Absicht des auf der Erde wohnenden Heiligen Geistes,
Der ununterbrochen bemüht ist, die Herrlichkeit und die
Rechte unseres Herrn Jesus Christus aufrechtzuerhalten.
Der ungebahnte Weg
„Ihr seid des Weges früher nicht gezogen." Jos 3, 4.
„Wo ich hingehe, kannst du mir jetzt nicht folgen".
Joh 13, 36.
Als die Kinder Israel im Begriff standen, in das verheißene
Land zu gehen, flössen die Wasser des Jordan zwischen ihnen
und dem Gegenstand ihrer Hoffnung. Der Jordan ist ein
114
Vorbild des Todes, der zwischen der Wüste und Kanaan
liegt, während das Rote Meer jenen Tod vorbildlich darstellt,
der Ägypten von der Wüste trennt. Die Israeliten gingen
durch das Meer in die Wüste, und durch den Jordan in das
Land Kanaan. In Ägypten, in der Wüste und in dem Lande
Kanaan sehen wir die drei verschiedenen Stellungen des
Volkes Gottes. Tatsächlich befinden wir uns in Ägypten,
bezüglich unserer Erfahrungen sind wir in der Wüste, und
durch Glauben sind wir im Geist und dem Grundsatz nach
in Kanaan. Wir wandeln durch die Welt, die für die neue
Natur moralisch eine Wüste ist. Unsere Heimat ist droben,
wo Jesus unser Haupt und Vorläufer ist.
Nun mußte der Jordan durchschritten werden, bevor das
Volk sein verheißenes Erbe antreten konnte. Zu ihren Füßen
dehnte sich der drohende Grenzfluß aus, der wohl nie drohender den Weg versperrte, als in dem Augenblick, da der
lebendige Gott im Begriff stand, für Sein Volk zu handeln,
denn „der Jordan .. . ist voll über alle seine Ufer die ganze
Zeit der Ernte hindurch" (Jos 3, 15). Nie war der Tod drohender, schrecklicher und fürchterlicher als in dem Augenblick, als der Fürst des Lebens diese Macht für uns zerstörte
und den Tod in den Weg verwandelte, der uns zu unserer
himmlischen Heimat führt. Für Israel war das tiefe Bett des
Jordan ein ungebahnter Weg. Sie mußten daher warten, bis
die von den Priestern getragene Lade des lebendigen Gottes
vor ihnen herging, um ihren Weg zu bereiten. „Und es geschah am Ende von drei Tagen, da gingen die Vorsteher mitten durch das Lager, und sie geboten dem Volke und sprachen:
Sobald ihr die Lade des Bundes Jehovas, eures Gottes, sehet,
und die Priester, die Leviten, sie tragen, dann sollt ihr von
eurem Orte aufbrechen und ihr nachfolgen. Doch soll zwischen
euch und ihr eine Entfernung sein bei zweitausend Ellen an
Maß. Ihr sollt ihr nicht nahen, auf daß ihr den Weg wisset,
auf dem ihr gehen sollt; denn ihr seid des Weges früher nicht
gezogen . . . Und Josua sprach zu den Kindern Israel: Tretet
herzu und höret die Worte Jehovas, eures Gottes! Und Josua
sprach: Hieran sollt ihr wissen, daß der lebendige Gott in
eurer Mitte ist und daß er die Kanaaniter usw. . . . gewißlich
115
vor euch austreiben wird. Siehe, die Lade des Bundes des
Herrn der ganzen Erde zieht vor euch her in den Jordan"
(Jos 3, 2-4. 9-11).
Hier haben wir ein herrliches Vorbild davon, wie der Herr
Jesus Christus die Macht des Todes für Sein Volk überwunden hat. Er begegnete dem Tod in seiner erschreckendsten
Form. Der Jordan sah drohend aus, als die Bundeslade seine
mächtigen Fluten zurückdrängte und einen Weg für den
Übergang der Erlösten des Herrn bahnte. „Und die Priester,
welche die Lade des Bundes Jehovas trugen, standen festen
Fußes auf dem Trockenen in der Mitte des Jordan; und ganz
Israel zog auf dem Trockenen hinüber, bis die ganze Nation
vollends über den Jordan gegangen war" (V. 17). Es war ein
vollständiger Sieg des Lebens über den Tod. Die Macht des
lebendigen Gottes verwandelte den Tod in einen Weg des
Lebens. Die Füße der Erlösten Gottes durften die finsteren
Wasser des Todes nicht berühren. Diese Wasser sahen in der
Entfernung drohend aus. Für das natürliche Auge waren sie
auch wirklich erschreckend, aber in dem Augenblick als sich
das Volk näherte, war statt einer schrecklichen Flut ein trokkener Fußweg zu finden. Gott, der lebendige Gott war da in
Gnade und Wahrheit, was seinen Ausdruck in den Priestern
und der Bundeslade fand. Alles wird dadurch verändert. Der
Tod verliert seine Existenz, wenn Gott gegenwärtig ist. Die
Sünde brachte den Tod in die Welt. Die Sünde ist der wirkliche Stachel des Todes, aber die Gnade ist erschienen und
hat alles verändert, so daß der Gläubige sagen kann: „O
Herr! Durch dieses lebt man, und in jeder Hinsicht ist darin
das Leben meines Geistes." Das ist der sittliche Triumph
jener Gnade, die „herrschte durch Gerechtigkeit zu ewigem
Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn." In und durch
Christus hat die Gnade so gewirkt, daß der Tod in einen
Diener des Gläubigen umgewandelt ist. Statt ein furchtbarer Feind zu sein, ist er ein wirklicher Teil unseres Eigentums (siehe 1. Kor 3, 22); anstatt ein unübersteigbarer
Schlagbaum zu sein, ist er ein Fußweg geworden.
In Joh 13 haben wir ein Gegenbild von dem, was wir im
Buch Josua gesehen haben. Dort belehrt unser geliebter Herr
116
Seine Jünger, daß Er vor ihnen her durch den Jordan des
Todes gehen, daß eine „Entfernung" zwischen Ihm und ihnen
sein müsse, und daß sie Ihn nicht begleiten könnten, während
Er diesen furchtbaren Weg ging. „Kinder, noch eine kleine
Weile bin ich bei euch; ihr werdet mich suchen, und wie ich
den Juden sagte: Wo ich hingehe, könnt ihr nicht hinkommen, so sage ich jetzt auch euch" (V. 33). Diesen Weg zu
gehen war für die Jünger ebenso unmöglich wie für die Juden. Jesus mußte ihn ganz allein betreten. Wer hätte Ihn
begleiten können? Wer hätte dem schrecklichen Heere aller
Mächte der Finsternis, der List Satans, der Wut der Hölle und
vor allem dem Zorn begegnen können? Wer konnte diesen
Dingen widerstehen? Wer außer Ihm, dem Gott-Menschen?
Petrus verstand dies nicht. Er glaubte dem Tode begegnen zu
können. Er wollte es wagen, die göttlich bezeichnete „Entfernung" — die geheimnisvollen „zweitausend Ellen" •— zu
überspringen. Der arme Petrus! Wie wenig dachte er daran,
daß das ferne Rauschen der fürchterlichen Fluten des Jordan
ihn so sehr erschrecken würde, daß er mit Flüchen und
Schwüren seinen Herrn und Meister verleugnen würde.
„Herr", fragt er, „wo gehst du hin?" Jesus antwortete ihm:
„Wo ich hingehe, kannst du mir jetzt nicht folgen; du wirst
mir aber später folgen" (V. 36). Mit anderen Worten, der
gnadenreiche Herr sagt seinem armen Diener, daß Er ihm
vorausgehen müsse, um ihm durch die finsteren Wasser des
Todes einen trockenen Fußpfad zu öffnen, auf dem Petrus
in Gemeinschaft mit allen Erlösten unverletzt zur Herrlichkeit eingehen könne. Welche Gnade! Er ging allein in die
finstere, schreckenerregende Einsamkeit. Wehrlos trat Er dem
mit seiner ganzen Macht ausgerüsteten und mit allen Schrekken bewaffneten Tod entgegen. Da gab es kein Ufer, das
den wahren Jordan in sein Bett gezwungen hätte. Nur öde,
durch keinen Lichtstrahl erhellte Finsternis zeigte sich dem
Auge. Dort zeigte sich die Bosheit Satans, des Feindes der
Menschen, und die Feigheit Seiner nächsten Freunde: sie flohen. Nachdem endlich Menschen und Teufel ihr Äußerstes
versucht hatten, öffnete sich vor dem Fürsten des Lebens
eine so dunkle und schaurige Region, daß weder ein Mensch
117
noch ein Engel dort einzutreten vermochte. Dort mußte Er den
Kelch des gerechten Zornes Gottes über die Sünde trinken
und — was uns unmöglich gewesen wäre — Er mußte es
ertragen, daß das Antlitz Gottes sich von Ihm abwandte.
Das war die Antwort auf die Frage des Petrus: „Wohin gehst
du?" Wer hätte es verstehen können? Niemand; daher sagt
der Herr statt jeder weiteren Erklärung einfach: „Wo ich hingehe, kannst du mir jetzt nicht folgen; du wirst mir aber
später folgen." Wenn der Weg gebahnt war, sollte Petrus
folgen, denn dann konnte er es. Welch ein gnadenreicher
Herr und Meister! Er wollte den Schrecken des Todes begegnen, damit wir die Freude des ewigen Lebens genießen könnten.
Doch Petrus versteht die Andeutungen des Herrn immer
noch nicht. „Herr", sagt er, „warum kann ich dir jetzt nicht
folgen? Mein Leben will ich für dich lassen. Jesus antwortet:
Dein Leben willst du für mich lassen? Wahrlich, wahrlich,
ich sage dir, der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast" (V. 37. 38). Der arme Petrus kannte
weder sich selbst noch den Weg, den er im Selbstvertrauen
zu unternehmen bereit war. Aber Jesus — gepriesen sei Sein
Name! — kannte beides. Mit festen Schritten ging Er den
Pfad allein, und dann führte Er Seinen armen Diener auf
demselben Pfad zur Herrlichkeit. Mit welcher Güte sucht Er
bei Petrus und den anderen Jüngern jeden Gedanken zu entfernen, der sie mutlos und traurig machen könnte! Er sagt:
„Euer Herz werde nicht bestürzt. Ihr glaubet an Gott, glaubet
auch an mich. In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn es nicht so wäre, würde ich es euch gesagt
haben; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und
wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich
wieder und werde euch zu mir nehmen, auf, daß, wo ich bin,
auch ihr seiet" (Kap. 14, 1-3).
118
Eine weise und lobenswerte Sache
„In meinem Herzen habe ich dein Wort verwahrt, auf daß
ich nicht wider dich sündige" (Ps 119, 11).
Das ist wirklich eine weise und lobenswerte Sache. Mögen
wir sie wohl in unserem Herzen erwägen. Laßt uns daher
fragen:
1. Wa s muß ich verbergen?
2. W o muß ich es verbergen?
3. Waru m muß ich es verbergen?
1. Wa s mu ß ic h verbergen ? „Dei n Wort. "
— Es ist nicht das Wort der Menschen, sondern das Wort
des lebendigen und ewigen Gottes. Es ist ein Schatz, der
Wert genug hat, um ihn zu verbergen. Kein Dieb kann ihn
stehlen, keine Motte ihn verderben. Wir können das Wort
Gottes nicht hoch genug schätzen. So dachte auch der Psalmist, als er es verbarg . Dieser Ausdruck zeigt deutlich,
welch einen Wert das Wort für ihn hatte. Er brachte es außerhalb des Bereiches eines jeden, der es ihm hätte rauben können.
2. W o mu ß ic h e s verbergen ? „I n meine m
Herzen" . — Der Psalmist barg es nicht in seinem Kopfe
oder in seinem Verstand, sondern in seinem Herzen , dem
Sitz seiner Neigungen, dem Mittelpunkt seines Bestehens,
der Quelle von allem, was er tat. Das ist der wahre Platz,
um das Wort Gottes zu verbergen. Dort kann es seinen Einfluß auf alle meine Pläne und Gedanken und auf alle meine
Wege und Werke ausüben.
3. Waru m mu ß ic h e s verbergen ? Au f da ß
i c h nich t wide r dic h sündige. " — Ein höchst
wichtiger und bedeutungsvoller Beweggrund! Es war nicht,
damit der Psalmist reichen Stoff zu. neuen Gedanken habe,
auch nicht, damit er in den Besitz von Beweisen gelange, um
alle Widersprecher zum Schweigen zu bringen. O nein, damit
beschäftigte er sich nicht viel. Aber er hatte eine heilige Abscheu vor der Sünde, und er wußte, daß das Wort Gottes das
einzige Bewahrungsmittel gegen die Sünde war. Darum verbarg er es in seinem Herzen. Möchten wir alle dies erwägen
und zu Herzen nehmen!
119
Jonathan
(1. Samuel 18, 1-4)
„Und es geschah, als er aufgehört hatte, mit Saul zu reden,
da verband sich die Seele Jonathans mit der Seele Davids;
und Jonathan liebte ihn wie seine Seele . . . Und Jonathan
und David schlössen einen Bund, weil er ihn liebte wie seine
Seele. Und Jonathan zog das Oberkleid aus, das er anhatte,
und gab es David, und seinen Rock bis auf sein Schwert und
seinen Bogen und seinen Gürtel."
Welch ein herrliches Bild der hingebenden Liebe — einer
Liebe, die sich selbst entblößt, um den, der ihr Gegenstand
ist, zu bekleiden! In dieser Szene besteht ein großer Unterschied zwischen Saul und Jonathan. Saul wollte David um
sich und in seinem Haus haben, um sich selbst zu verherrlichen, aber Jonathan entblößte sich selbst, um David zu
bekleiden. Das ist Liebe in einer ihrer schönsten Tätigkeiten.
Jonathan hatte zusammen mit den Tausenden von Israel mit
atemlosem Interesse die Szene im Terebinthental beobachtet.
Er hatte David ohne Waffen hingehen sehen, um mit jenem
schrecklichen Feind zu kämpfen, dessen Größe, Betragen und
Worte Angst und Schrecken unter dem Volk verbreitet hatten. Er hatte gesehen, wie dieser große Riese durch die Hand
des Glaubens niedergestreckt wurde. In allem nahm er teil
an diesem herrlichen Sieg.
Hier aber sehen wir mehr. Nicht mehr der Sieg, sondern der
Sieger erfüllte das Herz Jonathans, — nicht so sehr das Werk,
wie derjenige, der es vollbracht hatte. Jonathan begnügte sich
nicht zu sagen: „Gott sei Dank, der Riese ist tot und wir
sind befreit und können zurückkehren in unsere Häuser und
uns freuen." Sein Herz wurde von der Person des Siegers
angezogen und verband sich mit ihm. Darum fühlte er den
Wert des Sieges nicht weniger, aber er schätzte den Sieger
höher und fand daher seine Freude daran, seine Kleider und
Waffen abzulegen, um sie der Person seiner Zuneigung zu
geben.
Christlicher Leser, dies ist eine schöne Belehrung für uns.
Wir sind so oft geneigt, mehr mit der Erlösung als mit dem
120
Erlöser beschäftigt zu sein, mehr mit dem Heil als mit dem
Heiland. Ohne Zweifel sollen wir uns unserer Errettung
freuen, aber sollten wir dabei stehenbleiben? Sollten wir
nicht wie Jonathan suchen uns selbst zu entblößen, um die
Person Dessen zu verherrlichen, Der für uns in den Staub
des Todes hinabstieg?
Jonathan vergaß sich selbst und dachte nur an David. Wieviel
mehr sollte es so mit uns sein! Die Liebe hat ihre Freude
daran, sich selbst für ihren Gegenstand zu entblößen. „Was
irgend mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für
Verlust geachtet; ja, wahrlich, ich achte auch alles für Verlust
wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines
Herrn, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe und es für
Dreck achte, auf daß ich Christum gewinne" (Phil 3, 7. 8).
O, besäßen wir doch mehr von diesem Geist!
Die Liebe Christi zu seiner Kirche
oder Versammlung
„Gleichwie auch der Christus die Versammlung geliebt
und sich selbst für sie hingegeben hat, auf daß er sie
heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser
durch das Wort, auf daß er die Versammlung sich
selbst verherrlicht darstellte, die nicht Flecken oder
Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern daß sie
heilig und tadellos sei" (Eph 5, 25-27).
Gott ist die Liebe! Seine unumschränkte Güte ist besonders
geoffenbaret worden in der Dahingabe Seines Sohnes zur
Rettung der Sünder. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er
seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder, der an ihn
glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe."
Das ist die Liebe, die die ganze Bedeutung der Sünde des
Menschen weit übersteigt. Je mehr wir die Art und Weise
verfolgen, in der diese Liebe sich entfaltet, desto mehr tritt
sie vor unser Auge. Sie offenbart sich darin, daß sie diejenigen, die gerettet sind und das ewige Leben haben, in ein
121
bestimmtes Verwandtschaftsverhältnis mit Gott Selbst bringt.
Gott ist uns daher nicht nur als Gott unseres Heils bekannt,
sondern Er hat Sich uns als unser Vater bekanntgemacht. Der
Herr Jesus sagt: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sprich
zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater,
und zu meinem Gott und eurem Gott" (Joh 20, 17). An einer
anderen Stelle lesen wir: „Ich werde euch aufnehmen; und
ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen
und Töchtern sein, spricht der Herr, der Allmächtige" (2. Kor
6, 18). Das ist weit mehr als erlöst zu sein von dem gerechten Gericht, das wir durch unsere Sünden verdient haben.
Gott hätte uns retten und uns einen Platz fern von Seinem
Angesicht anweisen können, aber das würde Seine Liebe nicht
befriedigen. Er wollte uns in Seiner Gegenwart haben und
zwar als Kinder , mit denen Er Gemeinschaft haben und
an denen Er Sich erfreuen konnte. Wenn ich von jemand
sagen kann: „Er ist mein Vater/' so ist das selbstverständlich
weit mehr als wenn ich nur von ihm sagen kann: „Er ist ein
guter Mann." Meine Worte deuten in diesem Fall das besondere Verhältnis zwischen uns an, und tausendfache Zuneigungen, die nur im Herzen eines Kindes Platz finden, ergießen
sich aus einer solchen Quelle. Ist es jetzt nicht etwas Bewundernswürdiges, in das Verhältnis von Kindern Gottes gebracht
zu sein? Aber um uns dieses Verhältnisses erfreuen zu können, müssen wir es auch kennen, und uns dessen bewußt
sein. Gewiß muß sich das Herz unglücklich fühlen, wenn wir
überzeugt sind, daß ein solch zärtliches Verhältnis existiert,
ohne daß wir die Gewißheit haben, daß wir uns darin befinden. Wie bitter wäre für ein kleines Kind, das in einer Familie
Aufnahme gefunden hat, der Gedanke, daß es dort nur ein
Fremdling und die Person, die ihm bisher soviel Güte erwies,
nicht seine Mutter ist! Wie ganz anders ist es, wenn dieses
Verwandtschaftsverhältnis völlig außer Zweifel steht und die
Gefühle der Dankbarkeit und des Wohlwollens sich gleichsam auflösen können in die weit tiefere Freude der elterlichen
und kindlichen Liebe!
Nun ist es vor allem nötig, daß jeder, der an Christus glaubt,
diese Erkenntnis besitzt. Er ist aus Gott geboren und hat
122
eine neue Natur empfangen, die ihr eigentümliche Wünsche
und Verlangen hat. Aber diese Triebe der göttlichen Natur
geben nicht aus sich selbst die Freude, von der wir sprechen.
Wenn wir uns unseres neuen Verhältnisses zu Gott als unserem Vater erfreuen wollen, ist es nötig, daß wir es kennen
Das ist keine Vermessenheit, wir decken nur die unumschränkte Barmherzigkeit Gottes auf, die in der zärtlichsten
Liebe zu den Menschen zutagetritt. „So viele Ihn (Jesus)
aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes
zu werden", und weil sie Kinder Gottes sind, werden auch
der Seele neue Gedanken, Gefühle und Interessen mitgeteilt
werden. Wir empfangen den Geist der Kindschaft, aber wir
brauchen die sichere Erkenntnis, daß Gott uns in diese Stellung gebracht hat. Wenn wir diese Gewißheit haben, dringen die Worte „geliebte Kinder" (Eph 5, 11) mit Freude
in unser Herz. Wir erfahren dann, daß wir geliebt sind
wie Jesus geliebt ist (Joh 17, 23). Dann ist das Herz in
Freiheit und wir sind glücklich mit Gott. Mag dann die
Seele auf die Probe gestellt werden, so findet sie doch ihre
Ruhe in Gott, und jemehr sie Seine unendliche Vollkommenheit und die Fülle Seiner Liebe zu den auserwählten
Kindern versteht, desto mehr wird das Vertrauen gestärkt.
Um völlig glücklich zu sein und einen heiligen Wandel führen
zu können, ist ein solches Vertrauen unbedingt nötig, denn
diese Zuneigungen haben eine heiligende Kraft, und wir
brauchen sie, um in Absonderung durch die Welt gehen zu
können.
Wir können uns diese Wahrheit durch ein Bild aus dem
Leben verdeutlichen. Betrachten wir ein glückliches Kind im
Kreise der Familie. Es wünscht nichts in der Welt, was nicht
mit dem Elternhaus in Verbindung ist. Die Heimat gilt ihm
mehr als alles, was draußen ist. Es ist glücklich und begnügt
sich mit den häuslichen Freuden. Das ist nur ein schwaches
Bild von dem, was in der Seele vorgeht, die im Genuß
der auserwählenden Liebe des Vaters lebt, und das bringt die
wahre Heiligkeit des Wandels hervor. Ein anderer gesegneter
und schöner Zug einer erneuerten Seele besteht darin, daß
sie, da sie Gott liebt, auch diejenigen liebt, die aus Ihm
123
geboren sind. In einer solchen Seele sind neue Gefühle erwacht. Neue Familienbande sind geschaffen und geknüpft,
neue Triebe, die ihre Freude finden in dem was auf die Brüderschaft des Glaubens, die Familie Gottes, Bezug hat, sind
geschaffen worden.
Christus kam, „zu suchen und zu retten, was verloren ist",
aber in den Versen, die wir betrachten wollen, wird uns ein
besonderes, bestimmtes und wahres Verhältnis zwischen Ihm
und denen, die gerettet sind, vor Augen gestellt. „E r ha t
d i e Versammlun g geliebt. " Die Versammlung
wird hier als der besondere Gegenstand Seiner Liebe dargestellt, und die Stärke Seiner Liebe zu ihr besteht darin, daß
Er sie mit Sich Selbst gesegnet wissen will, als vereinigt mit
Ihm, dem Segnenden. Hier ist nicht die Rede von dem Sühnopfer für die Sünde, sondern von dem Einssein mit Ihm, Der
die Versammlung — Seinen Leib, Seine Braut — geliebt hat
(Eph 5, 31-32). Dieses Einssein mit Ihm ist in verschiedenen
Schriftstellen sehr schön dargestellt und enthüllt. Wenn Er
uns daher Frieden schenkt, dann ist es Sei n Frieden.
„Meine n Friede n gebe ich euch." Er stellt uns, was
das Herz, die Seele und das Gewissen betrifft, in die Gegenwart Gottes, wo Er Selbst war. Er teilt uns nicht nur Freude
mit, sondern vereinigt uns mit Seine r Freude. „Auf daß
mein e Freud e völlig in ihnen sei/' Das ist unsere besondere Stellung. Es ist unser köstlichstes Vorrecht, nicht nur
durc h Ihn, sondern auch m i t Ihm gesegnet zu sein. Das
ist der Wunsch Seines und nicht nur unseres Herzens. Wenn
meine Zuneigung stark ist, so werde ich wünschen, den Gegenstand meiner Liebe stets bei mir zu haben. So ist es der
Wunsch des Herrn Jesus, daß wir nicht nur glücklich, sondern
bei Ihm glücklich sein sollen. Darum sagt Er beim Abschied
von Seinen trauernden Jüngern: „Ich komme wieder und
werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr
seiet." Und wiederum: „Vater, ich will, daß die, welche du
mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, auf daß sie
meine Herrlichkeit schauen." Wie sehr offenbaren diese
Stellen uns das Herz Jesu! Sie sagen uns, daß Seine Liebe
in persönlicher Zuneigung überströmt. Er begehrt nichts,
124
sondern Er begehrt un s selbst. Er konnte zu Seinen Jüngern sagen: „Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt, dieses
Passah mit euch zu essen." Er sagt nicht: „Ihr habt euch
gesehnt," sondern „Ich habe mich gesehnt." Warum ein
solches Verlangen Seines Herzens? Er wünschte sich mit ihnen dieses letzten Ausdrucks der Liebe erfreuen zu können.
Nun, geliebte Brüder, das ist der Christus, mit Dem wir es
zu tun haben. Es handelt sich hier nicht um unser e Liebe
zu Ihm, sondern um Sein e Liebe zu uns: „Christus hat
die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben."
Diese Worte offenbaren ein Herz, das im höchsten Grade an
einem Gegenstand hängt, der nur durch die Hingabe alles
anderen erlangt werden konnte. Er gab nicht nur Seinen Leib,
nicht nur Sein Blut, sondern Sich Selbst. Er gab alles, was
wahre Hingabe zu geben vermochte, alles, was Er Selbst einsetzen konnte. Jeder Gedanke, jede Bewegung in Seinem
Herzen, alles wurde für die Kirche in Tätigkeit gesetzt. Er hat
Sich Selbst für sie hingegeben. Welch eine Gabe!
Von dem Augenblick an, wo ich diese bewundernswürdige
Liebe Christi erkenne und glaube, kann mein Herz auf alles
rechnen, was in Ihm ist. Er „hat die Versammlung geliebt und
sich selbst für sie hingegeben." Alles was wir an dieses
Wort „Sich Selbst", an Seine Hingebung, an die Vortrefflichkeit, die in Ihm ist, knüpfen können, ist ein Teil der Liebe
Christi. Kannte Er nicht die Größe dessen, was Er zu geben
im Begriff stand? Kannte Er nicht die Folgen Seines Werkes?
Gewiß, und dennoch gab Er alles für die Versammlung hin.
Er opferte Sein Leben, Er unterwarf Sich dem Zorn Gottes.
Verschmäht und verworfen von den Menschen, wurde Er in
der Stunde Seines tiefsten Wehs von Gott verlassen, obwohl
Er niemals so sehr wie in diesem schrecklichen Augenblick
der Gegenstand der Liebe Gottes war. Niemals gab es einen
solchen Gehorsam, niemals eine völlige Unterwerfung und
Hingabe. Er verzichtete auf alles, Er erduldete alles für die
Versammlung. Und darum besitzt die Versammlung auch
einen Wert, der dem entspricht, was für ihre Erlösung geschehen ist. In den Augen Gottes hat sie den Wert Christi.
Der Gläubige weiß, daß er ein Teil dieses Wertes ist, aber er
125
kennt nicht dessen Unermeßlichkeit. Die Liebe Christi kann
nicht gemessen werden. Sie ist vollkommen, weil sie göttlich
ist. Wenn Er aus dem Nichts Welten machen kann, wenn Er
das Größte ausführen und das Geringste beachten kann,
sollte Seine Liebe nicht unendlich sein? Es gibt keine Trauer,
keine Trübsal, keine Herzensangst, die Er nicht mit uns
fühlt. Er liebt es, in den täglichen Schwierigkeiten unsere
Zufluchtsstätte zu sein. Er möchte so gern unser ganzes
Vertrauen besitzen und die Seufzer unserer Herzen aus uns
herauslocken. Weshalb sollten wir auch unser Herz verschließen? Gibt es denn eine Trübsal, in der wir nicht auf
Seine Güte vertrauen können? Gewiß kränkten sowohl Maria
als auch Martha das Herz Jesu, als sie sagten: „Herr, wenn
du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben." Sie dachten, daß ihre Trauer, ihre Trübsal nicht die
Seinige gewesen sei. Sie kannten das Mitgefühl Jesu nicht.
Es ist die Absicht Christi, Der Seine Versammlung liebt, sie
für Sich Selbst zu besitzen. Er hat Sich ganz für sie hingegeben, um sie ganz als Sein Eigentum zu besitzen. Aber es wird
uns hier noch ein anderer Zug der Liebe Christi vor Augen
gestellt. Nachdem Er Sich Selbst für sie hingegeben hat, um
sie für Sich zu besitzen, „reinigt " Er sie. Sie sollte das
Bewußtsein haben, für eine so innige Beziehung zu Ihm
tauglich zu sein. Wenn ich frage: „Bin ich genug gereinigt?"
so verstehe ich nicht die Macht und Liebe Christi. Bevor Er
irgendetwas anderes beginnt, macht Er sie zu Seinem Eigentum. Dies zu wissen ist für unseren praktischen Wandel von
größter Wichtigkeit. Alle Handlungen Gottes, um uns Seiner
Heiligkeit teilhaftig zu machen, hängen von der Tatsache ab,
daß wi r Christu s angehören . „Er hat sich selbst
für sie hingegeben, auf daß er si e heiligte , si e rei -
nigen d durc h di e Waschun g mi t Wasse r
durc h da s Wort. " Das heißt, er fährt fort, die Versammlung nach Seinem Wohlgefallen zuzubereiten und sie
nach den Wünschen Seines eigenen Herzens zu bilden. Zuerst
ruft Er sie ins Leben, und dann nimmt Er das Zeugnis Gottes
und wirkt damit duxch die Kraft des Heiligen Geistes auf das
Gewissen und auf die diesem Verwandtschaftsverhältnis entsprechenden Zuneigungen.
126
„Auf daß er sie heiligte/' Welch eine Quelle von Segnungen!
Es ist Sein Wille, unsere Herzen vom Bösen abzusondern
und sie zu erfüllen und zu bilden durch den Genuß der
Gnade, in der wir stehen, sowie durch den Vorgeschmack
der Herrlichkeit, die geoffenbart werden soll. Das Mittel der
Reinigung ist „die Waschung mit Wasser durch das Wort."
In derselben Weise beschreibt der Apostel in seinem Brief
an die Kolosser Mittel und Wirkung des Dienstes am Wort.
Er spricht von Christus und fährt dann fort: „Den wir verkündigen, indem wir jeden Menschen ermahnen und jeden
Menschen lehren in aller Weisheit, auf daß wir jeden Menschen vollkommen in Christo darstellen." Der Zweck seiner
Predigt war, daß Christus dem Herzen in Seiner Fülle geoffenbart, und das Herz nach dieser vollen Offenbarung alles
dessen, was Er ist, geistlich gebildet werden möchte. Wenn
du sagst: „Ich habe diese oder jene Sünde oder Begierde, die
mich niederdrückt", so verstehe ich dich, aber ist deine Sünde
stärker als Christus? Christus wirkt durch den Geist und
offenbart Sich dir. Findest du Ihn, Der Sich so in Macht und
Liebe offenbart, nicht anziehender als alles, was du, getrieben
von deinen Begierden, verlangen kannst? — Wenn ich als
Mensch habsüchtig bin und meinen Blick auf das Geld richte,
dann wird meine Hand von der Begierde meines Herzens
getrieben, doch immer wieder danach zu greifen, obgleich ich
es für die erste Zeit beiseiteschieben möchte. Wenn ich aber
durch die Gnade Christus in Seiner Fülle und Kostbarkeit
betrachte, so kann ich Ihn nur lieben. Dann verbannt meine
Liebe zu Ihm meine Begierden und ich vergesse das Geld
ohne Anstrengung. Ich brauche es dann nicht einmal beiseite
zu schieben. Nein, dann hat das Geld keinen Wert für mich.
Mein Herz hat einen besseren, mir völlig genügenden Gegenstand gefunden. Was hat Christus getan, um Seine Versammlung zu heiligen und ihre Neigungen zu reinigen? Er
hat sie geliebt, Er hat Sich Selbst für sie hingegeben und
jetzt möchte Er ihre Zuneigungen hervorlocken, damit sie auf
Ihm ruhen. Wi r sind berufen, unsere Wonne da zu finden,
wo Got t Seine Wonne findet. Welch ein glückseligender
und heiligender Gedanke ist es, daß wir mit Gott in der
127
Liebe zu demselben Gegenstand vereinigt sind und die gleichen Zuneigungen wie Er haben. In der Tat, auf diesem Wege
wird ein aufrichtiges Verlangen nach einem reicheren Maß
persönlicher Heiligkeit geweckt.
Wenn einfach Heiligkeit von uns gefordert würde, dann
würde nichts erreicht werden. Unter dem Gesetz hätten wir
sicher nichts, was Gott wohlgefällig ist, vollbracht, denn das
Gesetz zeigt nur die Grundsätze, nach denen der Mensch
hätte sein sollen, ohne jedoch die Zuneigungen mitzuteilen,
die ihn fähig machen, das Vorgeschriebene vollbringen zu
können. Durch die Zuneigungen bekommen wir das, was
die Quelle unseres Betragens wird. Wenn Jesus ihr Gegenstand ist, haben wir denselben Gegenstand, den Gott Selbst
hat, und dann trachten wir natürlich, Ihm gleich zu sein. Der
Herr sei gepriesen! Er hat uns berufen, dem Bilde Seines
Sohnes gleichförmig zu sein. „Treu ist, der euch ruft; der
wird es auch tun." Sollte das Anschauen dessen, was Christus
gelitten und getan hat, keine Wirkung auf mein Herz haben?
Ist es eine kraftlose Hoffnung, wenn wir über die Worte
nachdenken: „Wenn es offenbar werden wird, werden wir
ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist." Die
praktische Bedeutung dieser Wahrheiten ist aber nicht unseren eigenen Meinungen und Folgerungen überlassen, denn
wir lesen weiter: „Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat,
reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist". Wenn wir Ihm, Der
so herrlich ist, anschauen, wird unsere ganze Zuneigung wachgerufen, und dann wünschen wir zu verwirklichen, was wir
in Jesu sehen. Unmöglich können wir Seine Vollkommenheiten in Seinem Wandel auf Erden betrachten, ohne daß
der Gedanke in unserem Herzen aufsteigt: „Ich wollte, ich
wäre wie Jesus!"
„Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie Geheiligte
seien durch Wahrheit," sagt der Herr. Das will sagen: Christus sondert sich für sie ab, damit der Heilige Geist Ihn in
Kraft ihren Seelen darstellen und sie nach dem Bilde Seiner
Vollkommenheit bilden möchte. Er sagt: „Ich bin nicht von
der Welt," und daher auch: „Sie sind nicht von der Welt."
128
Sie sind eins mit Ihm, dem himmlischen Menschen. Die Versammlung ist die Braut Christi. Welche Wirkungen hat ein
solches Verhältnis? Christus wird verantwortlich für alle ihre
Schulden, für alles, was sie getan hat und tun wird, und
durch diese Verbindung mit Ihm verliert sie ihre frühere
Stellung. Sie verliert auch ihr irdisches Bürgertum und erlangt
dafür ein himmlisches (Phil 3, 20). Christus ist von der Welt
verworfen, ausgestoßen und gekreuzigt worden. Sie ist stets
in Feindschaft gegen Ihn. Ihre Sprache ist immer: „Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche!" Aber die Zeit wird
kommen, wo Er „seine Engel aussenden (wird), und sie werden aus seinem Reiche alle Ärgernisse zusammenlesen und
die das Gesetzlose tun," und „dann werden die Gerechten
leuchten wie die Sonne in dem Reiche ihres Vaters." Dann
wird Christus von der Welt Besitz nehmen. Aber bevor alle
Ärgernisse niedergetreten und alles Ihm Mißfällige aus dem
Wege geräumt ist, können Seine Zuneigungen nicht auf der
Welt ruhen. Die Versammlung ist der Gegenstand Seiner
Liebe, und wie Er ist, so ist sie jetzt. Ihre Zuneigungen sind
gerichtet auf die Dinge, die auf der Erde sind (Kol 3, 2).
Wir müssen aus „Wasser", dem Sinnbilde der Reinigung,
„geboren" sein. Dies ist eine Anspielung auf die jüdische
Reinigung durch Waschung in reinem Wasser. Während der
Geist Gottes göttliches Leben mitteilt, ein Leben, das früher
nicht existierte, wird das Wort der Wahrheit auf das Herz
und Gewissen des Gläubigen angewendet, damit er praktisch
gerichtet und dem Charakter Christi gemäß gebildet wird.
Das ist die reinigende Kraft des Wortes, „die Waschung mit
Wasser durch das Wort." In Joh 17 spricht Christus als Sohn
des Menschen, als Mensch, an dem Gott Seine Wonne haben
konnte. Und „wer da sagt, daß er in ihm bleibe, ist schuldig,
selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat". Christus
gibt uns Licht. Er ist das Licht der sittlichen Vollkommenheit
und der rettenden Gnade, und Christus ist unser alleiniges
Vorbild. Gott will, daß wir wandeln wie Christus, daß wir
Ihm gleich sind, und um dieses zu bewirken, stellt Er uns
Christus als das Banner der Vollkommenheit nach den Gedanken Gottes vor Augen.
129
Wie kam es, daß Christus ein vollkommener Mensch nach
den Gedanken Gottes war? Weil Er außer Gott kein anderes
Ziel in der Welt hatte. Er aß und trank und unterhielt Sich
mit den Menschen, aber Gott war Sein einziger Gegenstand.
Er kam, um den Willen Seines Vaters zu tun. Das war Sein
alleiniger Zweck. Es war Seine Freude, den Willen des Vaters
zu tun. Er konnte, als Er auf der Erde war, von Sich sagen:
„Der Sohn des Menschen, der vom Himmel ist." Jedenfalls
ist dies von Ihm als einer göttlichen Person gesagt. Auf
Erden war Er stets der himmlische Mensch; und dadurch,
daß wir droben in Ihm, dem himmlischen Haupte Seines
Leibes, der Versammlung, bleiben, werden wir Ihm hienieden
gleich sein. Unsere Freude und unser Glück ist, daß wir das
Bewußtsein haben, in Christo zu sein, und daß wir Ihn im
Himmel als unser Haupt und Vorbild haben, so daß wir wie
Er keinen anderen Gegenstand haben als Gott. So auf Ihn
blickend, — „mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit
des Herrn anschauend, werden (wir) verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den
Herrn, den Geist." Der Apostel sagt: „Eines aber tue ich:
Vergessend was dahinten, und mich ausstreckend nach dem,
was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem
Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu."
Das will mit anderen Worten sagen: „Gott ruft mich nach
oben von der Erde. Ich habe mein himmlisches Teil noch
nicht empfangen, aber ich will nichts tun, was mit einer
solchen Berufung im Widerspruch steht/' Der Gläubige kann
nicht sagen, daß er es schon „ergriffen" habe, denn das Bild,
dem er gleichförmig sein soll, ist der auferstandene, verherrlichte Christus. Er hat jetzt jedoch nur eines zu tun: Christus
im Himmel stets vor sich zu haben. Er strebt danach, ob er
ergreifen möge, wozu er auch von Christo Jesu ergriffen ist.
In diesem Sinn werden wir also die Herrlichkeit nicht eher
besitzen, als bis wir dort sind, während wir sie in einem
anderen Sinn jetzt schon haben und sehen. Sie ist durch
Glauben unser Teil. Wir besitzen sie in Hoffnung. Angenommen, in einiger Entfernung von mir wäre eine Lampe, mit
deren Hilfe ich wandeln und meinen Weg verfolgen könnte.
130
Ihr Licht, obgleich es noch fern ist, wird natürlich zunehmen,
je mehr ich mich der Lampe nähere. Obwohl ich nun im Licht
dieser Lampe wandle, besitze ich sie doch nicht eher, als bis
ich sie erreicht habe. So verhält es sich mit den Christen. Mit
jedem Schritt nähert er sich der himmlischen Herrlichkeit.
„Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht
offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen, daß,
wenn es offenbar werden wird, wir ihm gleich sein werden,
denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und jeder, der diese
Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist."
Jeder, der weiß, daß er Christo in der Herrlichkeit gleich sein
wird, sollte auch wissen, daß er Ihm jetzt gleich sein sollte.
Er ist der Gegenstand, der stets vor unserem Herzen stehen
sollte und der jede unreine Neigung verurteilen muß. Das ist
die Waschung mit Wasser durch das Wort. Die Wirkung wird
uns in den folgenden Worten gezeigt: „Auf daß er die Versammlung sich selbst verherrlicht darstellte, die nicht Flecken
oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern daß sie
heilig und tadellos sei." Das ist die Absicht Christi. Das ist
die hohe Berufung und das Maß der Heiligung und der
Herrlichkeit, in der wir, als der Versammlung Gottes angehörend, erscheinen sollen. Nachdem der Herr Jesus Sich Selbst
geheiligt hat, heiligt Er auch die Versammlung. Er bewirkt
nicht nur, daß sie herrlich und ohne Flecken sei, sondern auch
daß sie es selbst darzustellen vermag.
Diese Liebe Christi und Sein Ratschluß bezüglich der Versammlung bilden die Grundlage unserer Segnung und unserer Hoffnung. Welche Wirkung muß nun diese Erkenntnis
auf unser Herz haben? Wenn ich weiß, daß Christus uns
selbst für Sich zu. haben wünscht, — eine verherrlichte Versammlung ohne Flecken und Runzel — werde ich dann Ruhe
in meinem Geist haben, wenn ich bezüglich meiner Zuneigungen nicht dasjenige erwidere, was Christus in Macht zu
vollbringen im Begriff ist? In dieser Weise wirkt der Heilige
Geist in der Seele, und in dem Maße wie wir genießen, was
Christus ist und was Er tut, wird sich unser geistliches
Wachstum und unser Verständnis vermehren, so daß wir
über die Dinge um uns her ganz anders urteilen als wir es
131
bisher getan haben. Da das Gewissen durch den Glauben an
das Werk Christi völlig zur Ruhe gekommen ist, beginnen
wir zu verstehen, daß wir von Ihm geliebt werden und
schuldig sind, Seine Liebe zu erwidern, und daß zwischen Ihm
und unseren Seelen nichts sein darf als der ungehinderte
Genuß Seiner Liebe. Wenn die Seele diese friedliche und
glückliche Ruhe des Glaubens genießt, kann sie sich von sich
selbst und ihren eigenen Interessen abwenden und sich mit
den Angelegenheiten Christi beschäftigen.
Das Wissen um die untrügliche Liebe Christi zu. Seinem
Volk setzt uns in den Stand, die Segnung jedes wahren,
wenn auch noch so schwachen Gläubigen voraussetzen zu
dürfen. Selbst wenn ein solcher gefallen ist, wie können wir
an der Macht der Gnade zweifeln, die ihn wieder aufrichten
kann, da wir doch wissen, daß er ein notwendiger Teil der
Versammlung ist, die Christus Sich Selbst verherrlicht darstellen will? Nein, daran können wir nicht zweifeln. Der
Glaube rechnet auf die Macht und Liebe in Christus und
bewahrt uns, daß wir nicht ermüden und in unseren Seelen
ermatten (Hebr 12, 12). So hören wir den Apostel, der wegen
der Galater in Verlegenheit war (Gal 4, 20), im Hinblick auf
die Liebe Christi die Worte sagen: „Ich habe Vertrauen zu
euch im Herrn, daß ihr nicht anders gesinnt sein werdet."
Wenn daher unsere Gefühle für gewisse Christen schwinden
wollen, so laßt uns daran denken, daß sie gesegnet werden
können, wei l si e Christu s angehören .
Er hat uns geliebt und Sich Selbst für uns hingegeben. Anstatt
Seiner Braut die Sünde zuzurechnen, hat Er ihre Sünden auf
Sich genommen. Weil wir Sünder waren und die Sünde nach
dem gerechten Urteil Gottes den Tod zum Lohn hat, darum
gab Er Sich für uns in den Tod; aber Sein Erlösungswerk ist
jetzt vollbracht, und seine Wirkung ist gegenwärtig vor Gott.
Wenn nun Christus die Versammlung so sehr geliebt hat, so
sollte doch ihr Herz auch gan z fü r Ih n sein. Wenn ihre
Zuneigungen geteilt sind und teils Ihm, teils der Welt gewidmet sind, die Ihn gekreuzigt hat und noch immer verwirft,
dann ist sie in der Tat eine untreue Braut. Sind wir
nicht in Seiner Abwesenheit durch die stärksten und zärt132
liebsten Bande mit Ihm verbunden? Haben wir nidit alle
Ursache, unsere Herzen treu, zu bewahren, uns in Bereitschaft
zu halten und auf Seine Wiederkehr zu warten? Sollte ein
einziger Zweifel darüber herrschen, daß wir Ihm angehören?
Sollte man uns nicht stets auf Seiner Seite sehen? Sollten wir
für irgendeinen anderen Gegenstand als Seine Herrlichkeit
leben? Unsere Pfade und Gewohnheiten sollten nie denen
der Welt gleichen. Die glatte Höflichkeit der Welt verbirgt
die schreckliche Tatsache ihrer eingewurzelten Feindschaft
gegen Christus, während ihre kalte Verehrung und ihre
äußeren Formen eine schlechte Nachahmung von Liebe sind.
Die Heiligkeit, zu der wir berufen sind, wird das Teil derer,
die mit Christo gestorben und auferstanden sind, und unsere
Kraft zur Überwindung des Bösen erlangen wir nicht dadurch,
daß wir daran denken, sondern durch Gemeinschaft mit
Christus. Wir sollen Ihm ganz gleich sein, aber je mehr wir
Seine Liebe und was Er für uns ist, verwirklichen, um so tiefer
werden wir fühlen, wie wenig wir in Wirklichkeit Ihm gleich
sind.
Wie bewundernswürdig ist das Los, zu dem wir berufen
sind! Das Herz Christi wäre nicht befriedigt, wenn Seine
Braut, die Teilhaberin Seiner ganzen Herrlichkeit, nicht bei
Ihm sein sollte. Und wir werden bei Ihm sein, gerade so wie
Er es angeordnet hat. Wir werden in der Gegenwart Gottes
wohnen, und Sein Auge wird an denen, die durch das Blut
des Lammes von jedem Flecken gereinigt sind, nicht den
geringsten Mangel erblicken. Je glänzender und klarer das
Licht ist, in das die Versammlung gebracht werden wird,
desto mehr wird es offenbar sein, daß weder Flecken noch
Runzel ihre Herrlichkeit besudeln.
„Und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein" (1. Thess
4, 17). Geliebte Brüder! Ist dies die Freude eurer Herzen?
Macht der Gedanke, allezeit bei Ihm zu sein, euch glücklich?
Habt ihr geschmeckt, wie gnadenreich und gütig Er ist, so daß
ihr sagen könnt: „Mein einziger Wunsch ist, allezeit bei dem
Herrn zu sein"? Wenn irgendetwas eure Herzen erfüllt, ist
es der Mühe wert, euch damit aufzuhalten? Blickt auf Jesus,
schaut Seine Lieblichkeit und Herrlichkeit an, und ihr werdet
133
alles andere fahren lassen können. Ihr werdet dann erfahren,
daß nur Einer eurer Liebe würdig ist. Von Christi Seite ist
das Verlangen, uns bei Sich zu haben, völlig vorhanden.
„Vater, ich will, daß die, wekhe du mir gegeben hast, auch
bei mir seien, wo ich bin, auf daß sie meine Herrlichkeit
schauen" (Joh 17, 24). Möchte doch die Wonne, die wir dann
bei Ihm genießen werden, schon jetzt in unseren Zuneigungen verwirklicht sein, und möchte doch die Kraft des Glaubens uns in jedem Kampf den Sieg geben!
Geliebte Brüder! Glaubt ihr, daß die Gedanken Christi in
dieser Weise mit euch beschäftigt sind? daß Er immer nur
euer Bestes im Auge hat? daß es nie eine Regung in Seinem
Herzen gibt, die nicht eure Segnung zum Zweck hat? Wenn
dies eure Überzeugung ist, dann laßt es auch euer Verlangen
sein, Ihn zu verherrlichen! Seid in Ihm ruhig, getrost und
glücklich; vertraut Ihm zu allen Zeiten, was euch auch begegnen mag, und seid versichert, daß „Güte und Huld euch
folgen werden alle Tage eures Lebens, und ihr werdet wohnen im Hause Jehovas auf immerdar" (vgl. Ps 23).
Das ist der nach Christo gebildete Charakter des Christen.
Mit Herzensentschluß hängt er an dem Herrn. In einem der
Psalmen lesen wir: „Meine Seele hängt dir nach" (Ps 63, 8)!
Hier sehen wir die Energie des Verlangens, aber nichts ist
imstande, eine tiefere Sehnsucht nach Gemeinschaft mit dem
Herrn zu erwecken, als die Macht eines erkannten Verhältnisses mit Ihm. Wo dieses Verhältnis besteht und erkannt
wird, da gibt es viel mehr Liebe, Vertrauen, Freude und
Ergebenheit des Herzens.
Erinnern wir uns, Geliebte, daß Christus das gleiche Ziel vor
uns hingestellt hat, das auch das Seinige war. Dieses Ziel ist
die verherrlichte Darstellung der Versammlung ohne Flecken
und Runzel für Sich Selbst. Er möchte, daß wir solange wir
hier sind, als Seine liebende Braut vorwärts schauen auf die
Vollendung unserer Freude. Wenn Er so der Gegenstand ist,
an dem unsere Herzen hängen, so ist das der Weg, Ihm, ohne
daß wir es merken, immer ähnlicher werden. Die Gemeinschaft mit Ihm wird es bewirken, daß Sein Bild immer mehr
von uns ausstrahlt. Mose trug den Abglanz der Herrlichkeit
134
Gottes. Das hatte er nicht selbst bewirkt, sondern sein Angesicht strahlte, ohne daß er es wußte, weil er in der Gegen -
war t Gotte s gewesen war. Und wenn wir Gott, geoffenbart in der Fülle der Gnade und Liebe in der Person Jesu,
anschauen und in Seiner Gegenwart verweilen, dann wird
auch sicher Sein Bild von uns ausstrahlen. Diese Gemeinschaft
ist die Quelle aller persönlichen Heiligkeit. Er wird dann der
Seele den Frieden bewahren inmitten aller Versuchungen und
Prüfungen. Wenn wir uns in Seiner Gegenwart erfreuen,
dann werden uns die schweren Dinge leicht und die bitteren
süß erscheinen. Wir können versichert sein, daß Er, Der unsere Seelen zu Sich gezogen und uns in den Genuß dieses
zarten Verwandtschaftsverhältnisses gebracht hat, nach den
ewigen Ratschlüssen Seiner Liebe und nach der Wirksamkeit
Seiner allmächtigen Kraft wirken wird, bis Er uns für Sich
Selbst in der Fülle der Freude darstellt. Der Herr gebe, daß
sich unsere Herzen beständig dieser Ruhe in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes erfreuen mögen!
Mit Christo gestorben
In Rö 6, 1-14 finden wir eine Wahrheit, die in ganz besonderer Weise unserer Aufmerksamkeit würdig ist. Zweifellos
ist die Rechtfertigung durch den Glauben an das Blut Jesu
(Rö 3, 19-26) von größter Wichtigkeit, aber diese Verse
zeigen uns im Kreuz eine Tatsache von noch größerer Tragweite, denn dort sehen wir, daß nicht nur die Sünden des
Gläubigen durch das Blut Christi abgewaschen sind, sondern
daß der ganze „Leib der Sünde", der „alte Mensch" (V. 6),
das „Fleisch", in dem wir waren (Kap. 7, 5), der „Leib des
Fleisches" (Kol 2, 11), das „Ich" (Gal 2, 20), kurz, die ganze
Natur, in der wir als Nachkommen Adams waren, im Tode
des Herrn Jesus Christus „gekreuzigt, gestorben und begraben" ist, und wir durch Gott mit Ihm begraben worden
sind — eine Tatsache, die durch die Taufe als das von Gott
gegebene Bild dargestellt wird. Dies ist doch weit mehr als
die Tatsache, daß Christus Selbst „unsere Sünden an seinem
135
Leibe auf dem Holze getragen hat" (1. Petr 2, 24), denn Er
hat, indem Er Selbst zur Sünde gemacht (2. Kor 5, 21) und
als solche behandelt wurde, die Sünde im Fleische verurteilt
(Rö 8, 3) und den „Leib der Sünde" hinweggetan. Dadurch
hat alles am Kreuz seinen Fluch, sein Gericht und sein Ende
gefunden, und wir sind dem gestorben, in dem wir als
Angehörige des ersten Adam festgehalten waren (Rö 7, 6)
und sind nun in dem auferstandenen Christus lebendig, eine
„neue Schöpfung" (2. Kor 5, 17. 18), „mit Christo auferweckt"
(Eph 2, 1-6; Kol 2, 13; 3, 1-3), „Glieder seines Leibes" (1. Kor
6, 15; Eph 5, 25, 32), und haben teil an Seinem Leben. Kann
im Leibe irgendeine Spur von der Sünde, vom Fleisch, vom
ersten Adam sein? Da unser „alter Mensch" mit Ihm gekreuzigt worden ist, sind wir der Sünde gestorben. Natürlich ist
hier nicht die Rede von dem, was wir praktisch im Wandel
verwirklichen, sondern von dem, was der Glaube dem Worte
Gottes gemäß uns vorhält, sowie von der wahren Bedeutung und dem ganzen Wert des Kreuzes für uns. Das ewige
Leben durch den Glauben an Christus zu besitzen, heißt
nichts weniger als daß Christus unser Leben und daß das
von Adam ererbte Leben gerichtet ist, ja daß wir von Gott
so gesehen werden, als lebten wir nicht darin, obwohl wir
uns noch im dem Leibe unserer Niedrigkeit befinden und
dem Leibe Seiner Herrlichkeit entgegenharren (Phil 3, 20).
Es ist wunderbar, über wieviele Schwierigkeiten uns diese
Wahrheit hinweghilft. Es ist eine unumstößliche Tatsache,
daß der Gläubige sich außerhalb des Bereiches Satans, der
Sünde, der Welt und des eigenen Ichs befindet. Gott sagt es
in Seinem Wort, und darum ist es wahr. Die Wirkungen
dieser Tatsache werden aber durch den Glauben verwirklicht.
Die Früchte stehen im Verhältnis zu. meinem Glauben. Nun
habe ich aber den bestimmten Befehl, mich der Sünde „für
tot zu halten", „denn wer gestorben ist, ist freigesprochen
von der Sünde" (Rö 6, 7). Christus nahm unsere Sünden am
Kreuz auf Sich, und nachdem Er gestorben ist, ist Er freigesprochen (losgelassen) von der Sünde, die Er am Kreuz
trug. Unser „alter Mensch" ist mit Ihm gekreuzigt, und wir
sind durch die Taufe (als Gegenbild) auf Seinen Tod getauft
136
und mit Ihm „einsgemacht .. . in der Gleichheit Seines
Todes." Christus ist durch den Tod und das Gericht gegangen und steht auf dem neuen Boden der Auferstehung. Dieser auferstandene Christus ist unser Leben, so daß es „keine
Verdammnis (gibt) für die, welche in Christo Jesu sind. Denn
das Gesetz des Geistes des Lebens — vom Blut ist hier nicht
die Rede, wiewohl es die erste Bedingung dieser Erlösung
ist — in Christo Jesu hat mich freigemacht . . . , indem er,
seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde
und für die Sünde sendend, die Sünde — nicht die Sünden —
im Fleische verurteilte" (Rö 8, 1-3). Die Sünde im Fleisch ist
also gerichtet, verurteilt worden. „Ihr aber seid nicht im
Fleische, sondern im Geiste, wenn anders Gottes Geist in
euch wohnt. Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der
ist nicht sein" (V. 9). Wir sehen also, hier ist keine Wahl;
entweder wir sind nicht „sein" oder wir sind „nicht im
Fleische". — „Wer aber dem Herrn anhängt ist ein Geist mit
ihm" (1. Kor 6, 17). Dies ist das einzige wahre Christentum,
die einzige Grundlage der an die Sünder gerichteten frohen
Botschaft, die gänzliche Abschaffung des Alten und eine völlig
neue Schöpfung in dem auferstandenen Christus. Wir befinden uns nicht in dem Alten, sondern in dem Neuen. „Das
Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden" (2. Kor
5, 17)!
Doch dann taucht die Frage auf: „Warum fühlen wir denn
beständig die Macht des Fleisches, den Einfluß der Welt und
die List Satans?" Die Antwort ist ganz einfach: „weil wir
das neue Leben nicht im Glauben ergreifen und nicht in der
Kraft dieses neuen Lebens wandeln". Wie hast du überhaupt das ewige Leben erlangt? Gewiß nicht durch Gefühle,
sondern durch den Glauben. Ebenso erlangen wir die Früchte
dieses Lebens nicht durch die Gefühle, sondern durch den
Glauben. Liebt denn ein Toter die Sünde? liebt er die Welt?
— „Haltet euch der Sünde für tot" (Rö 6, 11)! Wer lebt Gott?
Derjenige, der durch Gottes Gnade von ewiger Verdammnis
durch die Gabe und den Tod des Sohnes Gottes errettet,
jetzt in dem neuen Auferstehungsleben wandelt und mit
völliger Gewißheit Christus aus dem Himmel erwartet, um
137
in die Herrlichkeit eingeführt zu werden (Kol 3, 1-4). „Der
Lebende, der preist dich". — „Der Tod lobsingt dir nicht."
Die Vermischung dessen, was Gott getrennt hat, ist das Hindernis für den Frieden und das Wachstum des Christen. Das
Fleisch ist leider da, sonst wäre Christus nicht gestorben. Doch
Er starb , und das Fleisch erreichte vor Gott dort am
Kreuze ein für allemal sein Ende. Das Fleisch ist in mir, und
es ist bereit, zu wirken, wenn ich es zulasse; aber meiner
Stellung nach bin ich nicht „im Fleische". Ich darf den Tod
Christi als den meinigen betrachten; ich besitze das Leben
des Auferstandenen als mein Leben, und weil es sich nach
dem Wort Gottes so verhält und mir der Geist Gottes gegeben ist, soll ich nun in der Kraft dieses Lebens wandeln
(Rö 8, 9-13). Was wäre auch sonst zu tun? Ich habe daher
nicht auf meine Gefühle oder auf meine Erfahrungen zu
schauen, sondern auf das, was Gott denen sagt, die glauben
um die ganze Tragweite des Todes Christi für mich zu erfassen. Die Gefühle kommen aus dem Glauben, nicht der Glaube
aus den Gefühlen. „Also ist der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort." Die
Gefühle des Unglaubens stammen alle vom alten Menschen,
und das Kreuz sollte uns zeigen, daß sie allesamt schlecht
sind. Ich habe zuweilen die Äußerung gehört: „Die Adamsnatur muß Gott geopfert werden." — Welch ein verkehrter
Gedanke! Sollte Gott die so sehr besudelte Adamsnatur annehmen? Keineswegs. Gott hat sie am Kreuz gerichtet. Sie
hatte nur den Tod verdient, das Grab war ihr Bestimmungsort. „Haltet euch für tot" — „Tötet nun eure Glieder!"
Christus ist unserer Rechtfertigung wegen auferweckt. In
Ihm sind wir Gott „nahegebracht". In Ihm, dem Geliebten,
sind wir begnadigt worden. In Ihm ist keine Sünde, kein
Fleisch.
Nur wenn wir dies erkannt haben, können wir wahre Anbeter
sein, denn wenn die Sünde mir noch irgendwo anklebt, kann
ich nicht zu Gott nahen und als Anbeter ins Heiligtum treten
(Hebr 10, 19). In Seiner Gegenwart kann die Sünde nicht
bestehen. Da wir in Christo sind, können wir ohne Sünde
hinzunahen, denn in Ihm ist und kann keine Sünde sein.
138
Je heller das Licht ist, in das ich komme, desto mehr wird
meine Gerechtigkeit offenbar, denn Christus ist meine Gerechtigkeit. Das Licht der Gegenwart Gottes kann in Ihm
keinen Flecken entdecken.
Und da Christus, was meine Annahme betrifft, meine Gerechtigkeit ist, so muß Er auch hienieden mein Leben sein.
Meine Verantwortung besteht darin, daß ich Christo (nicht
nur für Christus) lebe (Phil 1, 21), in einer Welt, die durch
das Kreuz gerichtet ist (Joh 12, 31; 1. Joh 5, 19). Die von
Beröa untersuchten täglich die Schriften, ob „dies sich also
verhielte". Sie werden „edler" genannt. — Möchten wir
ihnen gleichen und denselben Fleiß im Erforschen der Schrift
über diese herrliche Wahrheit anwenden!
„Glückselig ist,
wer sich nicht an mir ärgern wird"
In Mt 11 finden wir einen merkwürdigen Vorfall aus dem
Leben Johannes des Täufers, einen Vorfall, der sehr zu
unserer Belehrung und Ermahnung dienen kann. Wir lesen
dort nämlich: „ Als aber Johannes im Gefängnis die Werke
Christus hörte, sandte er durch seine Jünger und ließ ihm
sagen: Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen
anderen warten? Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen:
Gehet hin und verkündet Johannes, was ihr höret und sehet:
Blinde werden sehen, und Lahme wandeln, Aussätzige werden gereinigt, und Taube hören, und Tote werden auferweckt, und Armen wird gute Botschaft verkündigt; und
glückselig ist, wer irgend sich nicht an mir ärgern wird"
(V. 2-6)! Johannes der Täufer ärgerte sich also an Jesu.
„Wie ist das möglich?" möchte vielleicht mancher unter uns
fragen. Johannes der Täufer, der Wegbereiter des Messias,
der Mann, dessen Finger auf Jesus, das Lamm Gottes hinwies — wie konnte er sich an Ihm ärgern? Und dennoch war
es so. Die Worte des Herrn: „Glückselig ist, wer irgend sich
nicht an mir ärgern wird" stellen diese Tatsache außer jeden
Zweifel. Aber warum ärgerte er sich? — werfen wir einen
139
Blick auf die Umstände, in denen sich Johannes befand, dann
wird es uns leicht sein, die rechte Antwort auf diese Frage zu
finden.
Johannes war in der Tat der Wegbereiter des Herrn gewesen.
Er hatte gepredigt: „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen." Er hatte den König Israels angeschaut und in Ihm das
Lamm Gottes gesehen, „welches die Sünden der Welt wegnimmt". Er hatte seine Jünger von sich weg und zu Jesu
hingewiesen. Aber ebenso wie die Jünger Jesu sogar noch
nach Seiner Auferstehung (s. Apg 1, 6), so hatte auch er
erwartet, daß die Ankunft des Messias in Glanz und Herrlichkeit stattfinden würde, daß Israel von der Zwingherrschaft der Römer erlöst werden und die von den Propheten
des Alten Testaments angekündigte herrliche Regierung des
Königs Israels sofort beginnen würde. Jedoch war nichts von
dem allem geschehen. Im Gegenteil, anstatt in Glanz und
Herrlichkeit war Christus in Niedrigkeit und Elend erschienen. Jesus mußte von Sich Selbst bezeugen: „Die Füchse
haben Höhlen, und die Vögel des Himmels Nester, aber der
Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege. Er,
Der der König der Juden war, ging verachtet und verspottet
Seinen Weg. Und Johannes der Täufer, der Vorläufer und
Herold Jesu, hatte, anstatt einen ausgezeichneten Platz im
Reiche zu bekommen, einen Platz im Gefängnis gefunden, um
sogar, bevor noch das Reich aufgerichtet war, von dem
Schauplatz dieser Erde zu verschwinden. Dies alles konnte
Johannes sich nicht erklären. Darüber war er unzufrieden,
daran ärgerte er sich. Darum sandte er aus dem Gefängnis
Boten zu Jesu mit der Frage: „Bist du der Kommende, oder
sollen wir auf einen anderen warten?" Diese Frage birgt
keineswegs einen Zweifel bezüglich der göttlichen Sendung
des Herrn in sich. O nein, davon war er überzeugt, denn
sonst hätte er nicht zu Ihm gesandt. Aber er glaubte dadurch den Herrn an den Zweck erinnern zu müssen, weshalb
Er in die Welt gekommen war. Es ist, als hätte er sagen
wollen: „Ist das nun die Offenbarung des Königs der Ehren?" Aber welche Antwort gibt ihm der Herr auf seine
Frage! Er weist Johannes auf Seine Werke und fügt dann
140
hinzu: „Glückselig ist, wer irgend sich nicht an mir ärgern
wird." Johannes hatte nicht verstanden, daß vor der Herrlichkeit die Leiden kommen mußten, und daß die Reinigung
und Heiligung Israels der Herrlichkeit der Regierung Christi
vorangehen mußte. Er hatte sich gefreut über die Erfüllung
der alttestamentlichen Prophezeiungen über die Herrlichkeit
des Königreichs, aber er hatte ebenso wenig wie die Jünger
Jesu die Prophezeiungen beachtet, die über die Leiden des
Messias sprachen.
Johannes ärgerte sich also an dem Wege, den der Herr Jesus
eingeschlagen hatte. Er begriff nicht, warum der Herr soviel
Erniedrigung und Schande ertrug und nicht Seine Herrlichkeit
offenbarte. Verurteilen wir ihn nicht! Sicher, es war hart für
Johannes, sein Leben im Gefängnis zubringen und endigen
zu müssen, nachdem er einen Platz in dem herrlichen Königreich Christi erwartet hatte. Und ach, wie oft befinden wir
uns in einer ähnlichen Lage! Wie manchmal ärgern wir uns
an dem Wege, den der Herr uns führt! Wie oft seufzen und
klagen wir, wenn Er uns in schwierige Lagen kommen läßt,
oder uns aufs Krankenlager legt, oder uns durch andere
Leiden und Trübsale heimsucht! Der Herr führt uns oft ganz
anders als wir erwartet hatten. Anstatt uns Glück und Wohlsein finden zu lassen, bringt Er uns manchmal in Kampf
und Leiden. Anstatt unsere mühevolle Arbeit durch äußere
günstige Erfolge gekrönt zu sehen, finden wir nicht selten
Mißgeschick und Unglück. Und anstatt uns dann dem Willen
Gottes zu unterwerfen und in Seiner liebreichen Fürsorge zu
ruhen, zweifeln wir oft an Seiner Liebe, wünschen es anders
zu haben und ärgern uns an dem Wege, den der Herr uns
führt. In einer solchen Gemütsstimmung sind dann auch wir
gene'gt, zu rufen: „Bist Du der liebreiche und gnädige Heiland, Der uns verheißen hat, für uns zu sorgen und unsere
Gebete erhören zu wollen?"
Die Hand aufs Herz, geliebte Brüder! Ist es nicht oft so bei
uns? Und was tut dann der Herr? Er weist uns zunächst auf
die Heilung unserer Herzen hin, bevor Er uns aus unserer
schwierigen Lage befreit. Der Herr wird sicher unsere Gebete
erhören und unseren Trübsalen ein Ende machen, aber Er
141
will uns zuerst durch die Trübsale reinigen und segnen und
uns dadurch, daß Er uns nicht sofort erhört, im Glauben
üben. O möchten wir doch dieses verstehen lernen! Zu den
Israeliten sagte Gott am Ende ihrer vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste: „Um dich zu demütigen und um dich
zu versuchen, damit er (Jehova) dir wohltue an deinem
Ende." Und ebenso ist es mit uns. Die Wege, die der Herr
uns führt, haben den Zweck, uns zu demütigen und zu offenbaren, was in unseren Herzen ist. Durch diese Wege werden
die Grundsätze und Beweggründe unserer Herzen offenbar,
und wir werden dahin geführt, sie vor Gott zu verurteilen.
Dies dient natürlich zu unserer Demütigung, zur Niedertretung unseres Hochmuts und unseres Eigenwillens, und das
ist es eben, was Gott will. Er will uns immer mehr zur Selbsterkenntnis führen, damit wir nichts mehr von uns selber
erwarten und uns allein Seiner Selbst und Seiner Gnade
rühmen. Das Endziel der Wege Gottes ist stets Seine Verherrlichung und unser Glück. Darum: glückselig ist, wer
irgend sich nicht an den Wegen Gottes ärgert, sondern sich
kindlich dem Willen Gottes unterwirft.
Beachten wir schließlich noch, mit welcher Schonung der Herr
Jesus den Johannes behandelt. Weder die Volksmenge noch
die Boten des Johannes vermochten den sanften Tadel zu
begreifen, der in der Antwort des Herrn verborgen war; aber
für Johannes waren diese Worte verständlich. Und kaum
haben sich die Boten entfernt, da richtet der Herr die Frage
an die Volksmenge: „Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu sehen? ein Rohr, vom Winde hin und her bewegt?
Aber was seid ihr hinausgegangen zu. sehen? einen Menschen, mit weichen Kleidern angetan? Siehe, die die weichen
Kleider tragen, sind in den Häusern der Könige. Aber was
seid ihr hinausgegangen zu sehen? einen Propheten? Ja, sage
ich euch, und mehr als einen Propheten." Und dann fügt der
Herr hinzu, daß unter denen, die von Weibern geboren seien,
kein Größerer aufgestanden sei als Johannes der Täufer.
Alles dies tat der Herr, obwohl Johannes noch etliche Augenblicke vorher sich als ein vom Winde hin und her bewegtes
Rohr erwiesen hatte. Welch eine Liebe! Welch eine Zartheit!
142
Und behandelt uns der Herr nicht mit derselben Liebe, mit
derselben Zärtlichkeit? Ja, gewiß. Wohl straft und tadelt Er,
doch er tut es stets mit derselben Sanftmut und Liebe. Er
gibt nie harte Verweise. Er ist stets bemüht, unsere Herzen
und Gewissen zu erreichen und uns durch die Macht Seiner
Liebe zu. überwinden. Hochgepriesener Jesus! Lehre uns mehr
und mehr, Dich und Dein Herz zu kennen, damit wir stets
in Dir ruhen und uns Deiner Liebe erfreuen!
Die grünen Auen und die stillen Wasser
(Psalm 23, 2)
Wie der Leib, so kann auch die Seele nicht ohne Speise und
Trank sein. Es ist nicht genug, daß wir durch den Glauben
an den Herrn Jesus das Leben empfangen haben, sondern
es muß auch unterhalten, genährt und gestärkt werden. Wie
der Israelit in der Wüste jeden Tag das Manna brauchte, so
hat der Gläubige täglich neue Speise nötig. Diese Speise nun
hat der Herr für uns bereitet. David sagt: „Jehova ist mein
Hirte, mir wird nichts mangeln. Er lager t mic h au f
grüne n Auen , e r führ t mic h z u stille n
Wassern. " Und der Herr Jesus sagt: „Ich bin die Tür;
wenn jemand durch mich eingeht, so wird er errettet werden
und wird ein- und ausgehen und Weid e finden " (Joh
10, 9). Sobald man durch die Tür in den Hof der Schafe
getreten ist, ist man nicht nur gerettet, sondern man findet
auch alles, was zur Nahrung und Stärkung nötig ist. Dort
sind grüne Auen und stille Wasser, dort wird man Weide
finden. Dort ist kein Mangel, sondern Überfluß. David hat
es erfahren und jeder, der in Wahrheit sagen kann: „Der
Herr ist mein Hirte," wird es ebenfalls erfahren.
Aber wo sind die grünen Auen und die stillen Wasser? Hier
auf Erden? O nein. Die Welt ist für den Gläubigen eine
Wüste voller Dornen und Disteln. Da ist alles wüst, dürr
und leer. Da findet sich keine Speise, keine Erquickung für
die Seele. Wer da etwas sucht, wird schließlich mit dem
weisen Salomo sagen müssen: „Eitelkeit der Eitelkeiten! Alles
143
ist Eitelkeit." Aber wo ist denn das Nötige zu finden? „Meine
Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie
folgen mir," sagt der gute Hirte. Und wo ist der gute Hirte?
Nicht mehr in der Welt, sondern außerhalb des Lagers; nicht
mehr hier auf der Erde, sondern droben zur Rechten des
Vaters. Seine Schafe hören Seine Stimme, und sie folgen
Ihm. Vom Himmel ruft Er uns zu, damit wir auf den Flügeln
des Glaubens mit Ihm Gemeinschaft haben. Dort oben sind
die grünen Auen, dort oben sind die stillen Wasser. „Unser
Bürgertum ist in den Himmeln." — „Sinnet auf das was
droben ist, nicht auf das was auf der Erde ist." Dort ist
Überfluß an Speise und Trank. Jesus Selbst ist die Speise
der Seele, Er Selbst ist die grüne Aue. Er Selbst gibt das
frische lebendige Wasser. Wie Er das Leben ist, so ist Er
auch der Erhalter des Lebens. „Wer an ihn glaubt hat ewiges
Leben." Wer Gemeinschaft mit Ihm pflegt, hat Speise und
Trank in Überfluß. „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir
kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird
nimmermehr dürsten" (Joh 6, 35).
Lieber Leser, bist du durch die Tür eingegangen und bist du
gerettet? Dann muß ich zwei Fragen an dich richten: Lebst
du in Gemeinschaft mit Jesu? Kannst du mit David sagen:
„Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen
Wassern"? Ach, wieviel Kälte, Trägheit und Gleichgültigkeit
finden wir oft unter den Gläubigen! Wie viele sind krank,
wie viele schlafen, ja wie viele sind sozusagen gestorben!
Alles zeugt von einem Mangel an Gemeinschaft mit Jesu.
Man folgt Ihm nicht nach, man wandelt nicht mit dem Herzen im Himmel, man ist erfüllt mit den nichtigen und eitlen
Dingen dieser Welt.
Es fehlt an Speise und Erquickung, und darum ist keine Kraft,
kein Glauben, kein Leben, keine Frische, kein Eifer da Möchten wir doch alle mit Jesu wandeln. Ihm folgen in die Wohnungen des Lichtes und des Lebens, ietzt durch den Glauben
und bald in Wirklichkeit mit einem neuen, verherrlichten
Leibe!
144
Das Wort Gottes und das Priestertum Christi
(Hebräer 4 und 5)
Es ist hier von zwei Dingen die Rede, derer Sich Gott bedient,
um uns in der Wüste aufrechtzuerhalten. Das eine ist das
Wort Gottes, das andere das Priestertum unseres Herrn Jesus
Christus.
Das Wort Gottes dient dazu, die Gedanken und Überlegungen des Herzens aufzudecken und zu beurteilen. Es ist „lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige
Schwert . . . ein Beurteiler der Gedanken und Gesinnungen
des Herzens" (Hebr 4). Alles, was vom Fleische ist, schneidet
das Wort Gottes ohne Barmherzigkeit weg; und Gott sei
gepriesen, daß es so ist, weil das Fleisch nur den Segen
hindert. Bei dieser Gelegenheit weist der Apostel warnend
auf die Geschichte der Kinder Israels, indem er sagt, daß ihre
Leiber in der Wüste fielen. Sie gingen von Ägypten aus,
und danach fielen ihre Leiber in der Wüste. Es läßt sich nicht
leugnen, daß für uns eine ähnliche und sehr große Gefahr
vorhanden ist. Gott wird ohne Zweifel die Seinigen bis ans
Ende bewahren, aber die Gefahr besteht darin, zu vergessen,
daß wir nur durc h Glaube n bewahrt werden. Das
Fleisch ist die Ursache des Fallens in der Wüste, und das
Wort Gottes, das schärfer ist als jedes zweischneidige Schwert,
ist das Mittel, dessen Gott Sich bedient, damit wir nicht in
der Wüste fallen. Das Wort Gottes richtet jeden Gedanken,
der nicht von Gott kommt, und wir wissen, daß alles, was
aus dem Herzen des natürlichen Menschen hervorquillt,
Fleisch ist. Das Fleisch geht nie aus der Wüste in das Land
der Verheißung. Es kann in der Wüste sterben, sie aber nie
verlassen. Das Fleisch gehört gewissermaßen der Wüste an,
es kann darin sterben, aber sich nie davon trennen. Für das
Fleisch gibt es nur das Schwert — ein Bild dessen, das es
aufdeckt, richtet und verurteilt. Gott sei dafür gepriesen!
Im Blick auf unsere Annahme bei Gott können wir sagen,
daß das Fleisch schon verurteilt ist. „Das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott,
indem Er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches
145
der Sünde und (als Opfer) für die Sünde sendend, die Sünde
im Fleische verurteilte," Handelt es sich um die Frage der
Gerechtigkeit, so hat Gott am Kreuz Christi die Sünde im
Fleische verurteilt; handelt es sich hingegen um die Wüstenreise, so richtet das Wort Gottes alles, was ihm nicht angemessen ist. Das Kreuz hat bereits mit dem Fleisch zu tun
gehabt. Alles in Gedanken und Werken, was nicht mit dem
Tode Christi in Einklang war, hat am Kreuz sein Gericht und
seine Verurteilung gefunden. Das Mittel aber, um dies praktisch zur Anwendung zu bringen, ist einerseits das Wort
Gottes und andererseits das Priestertum unseres Herrn Jesus
Christus.
Wie wir schon gesehen haben, richtet das Wort Gottes die
Gedanken und Überlegungen des Herzens, während das
Priestertum Jesu auf Schwachheiten und Vergebung Bezug
hat. Sobald von Gedanken und Gesinnungen des Herzens
die Rede ist, müssen diese, da sie vom Fleisch kommen, gerichtet werden. Das geschieht durch das Wort Gottes, das
schärfer ist als jedes zweischneidige Schwert. Wenn es sich
andererseits um die Prüfungen und Schwachheiten handelt,
so haben wir das Priestertum unseres Herrn Jesus Christus.
Das Wort Gottes ist das Auge Gottes, das in unserem Herzen alles richtet, was Ihm nicht angemessen ist. Dann haben
wir „einen großen Hohenpriester, der durch die Himmel
gegangen ist, Jesum, den Sohn Gottes." Wenn wir durch
mancherlei Schwierigkeiten gehen, so haben wir diesen Hohenpriester voller Mitleid und Erbarmen, „auf daß wir
Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen
Hilfe." Diese Hilfe kann aber unmöglich irgendwie im Widerspruch zum Wort Gottes stehen. Keineswegs kann das
eine gegeben sein, um das Fleisch zu töten, und das andere
um es zu verschonen. Deshalb muß uns der Priester ganz
außerhalb des Fleisches aufrechterhalten, in Übereinstimmung
mit dem Segen, der uns mitgeteilt wird. Auf diese Weise
haben wir Christus als Hohenpriester. Er ist dorthin hinaufgestiegen, wohin das Fleisch nicht gelangen kann. Dort ist
der Platz, wo wir es mit Gott zu tun haben, und dorthin, in
die Gegenwart Gottes, wohin nichts Unreines dringen kann,
146
muß unser Hoherpriester alles bringen, was uns betrifft.
Die Grundlage dieser Stellung und dieser Gnade ist das
Opfer, kraft dessen Er dort eingehen konnte, so daß das
Priestertum Christi auf unsere Annahme gegründet ist.
Die Erlösung Israels aus Ägypten, die der ganzen Wüstenreise voranging, ist hier als Vorbild gewählt. Wir sind mit
Ägypten ganz fertig. Das Rote Meer hatte den Tod und das
Gericht zwischen die Pilger und Ägypten gestellt, und ebenso
verhält es sich jetzt mit den Gläubigen. Der Tod und das
Gericht sind für sie der Ausgangspunkt. Zwar gibt es noch
Übungen des Herzens. Wenn eine Seele beginnt, diese Welt
des Verderbens und der Verdammnis zu verlassen, so ergeht
es ihr oft wie den Israeliten an der Küste des Roten Meeres,
als sie die Fluten vor sich und die Ägypter hinter sich hatten. Dort sahen sie sich gänzlich eingeschlossen in das Gericht, dem Satan sie entgegendrängte. Sobald sie aber durch
das Rote Meer gegangen waren, war alles völlig beendet
und zum Abschluß gebracht. Was sie verhindert hatte, auch
nur einen einzigen Schritt zu tun, das lag jetzt hinter ihnen
und bildete eine Schranke zwischen ihnen und Ägypten. So
ist auch für uns der Tod und das Gericht eine sichere
Schranke zwischen uns und allem was gegen uns war. Das
will nicht sagen, daß es nachher nicht Kämpfe geben und
nicht ein Mattwerden stattfinden könnte, aber von Erlösung
ist keine Rede mehr. Wenn die Kinder Israel nicht treu
waren, konnten sie keine Siege erringen, aber Gott war nicht
mehr gegen sie. Erst dann folgt die Reise durch die Wüste,
das Gericht über das Fleisch durch das Wort, und das Priestertum Christi für uns. Indem ich meinen Blick auf Christus
richte, erkenne ich in Ihm Den, Der durch Tod und Gericht,
derer ich schuldig war, gegangen ist und Seinen Platz in der
Gegenwart Gottes eingenommen hat, wo Er Sein Priestertum
ausübt. Er hat den Platz bezeichnet, dem ich angehöre und
wo ich anzubeten habe, und dieser Platz ist in der Gegenwart Gottes. Alles was im ersten Adam mein Teil war, ist
infolge meines Verhältnisses völlig hinweggetan, d. h. nicht
hinsichtlich meines Kampfes mit dieser Natur, sondern hinsichtlich meines Platzes bei Gott. Tatsächlich ist die alte Natur
147
fortwährend vorhanden, und das Wort richtet alle ihre
Regungen, die mich in meinem Laufe aufhalten könnten. Der
Platz aber wo Christus Sein Priestertum ausübt, ist ganz
außerhalb des Bereiches des Fleisches: er ist im Himmel. „Ein
solcher Hoherpriester geziemte uns: heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern und höher als die
Himmel geworden" (Hebr 7, 26). Israel hatte seinen Platz
und einen Priester auf der Erde, wir haben unseren Platz
und einen Priester im Himmel. „Und, vollendet worden, ist
er allen, die ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden" (Hebr 5, 9). Zunächst mußte Er seinerseits vollendet
werden, bevor Er diejenigen, die durch Ihn anbeten sollten,
einführen und für sie wirken konnte.
Wir finden also, daß Christus dieses Priestertum ausübt, weil
wir einem Platz angehören, wo das Fleisch nicht hingelangen
kann. Alles, was uns mit dem ersten Adam verbunden hatte,
hat Er beiseitegesetzt. Er gestattet uns den Zutritt in die
Gegenwart Gottes und erhält uns darin. Der aus den Menschen genommene Hohepriester Israels befand sich dort nicht.
Er ging nicht einmal vorbildlich in das Innere des Vorhangs,
außer einmal des Jahres, und dann auch nur in der Wolke
des Weihrauchs, die ihm die Herrlichkeit Gottes verhüllte.
Die Israeliten waren Menschen im Fleisch und konnten folglich nicht mit dem Allerheiligsten in Verbindung stehen. Wir
hingegen sind nicht im Fleisch, sondern im Geist, und befinden uns daher im Allerheiligsten, wo das Fleisch durchaus
keinen Platz findet. Die Juden als Nation waren im Fleische
und mußten einen im Fleische mit Schwachheit umgebenen
Hohenpriester haben, weil auch sie Schwachheiten hatten,
wie geschrieben steht: „der Nachsicht zu haben vermag mit
den Unwissenden und Irrenden, da auch er selbst mit
Schwachheit umgeben ist." Gleich ihnen befand auch er sich
draußen; er stand mit ihnen auf demselben Boden. Auch wir
stehen mit unserem Hohenpriester auf gleichem Boden, nämlich auf dem Boden des letzten, verherrlichten Adam, Der im
Himmel ist. Wir sind mit Gott verbunden in dem neuen
Platz, den Er uns in Christo bereitet hat. Aber als unse r
Hoherpriester stellt Jesus einen völligen Gegensatz zu dem
148
aus Menschen genommenen jüdische n Hohenpriester
dar. Er muß „abgesondert von den Sündern und höher als
die Himmel" sein, weil wir es sind. In bezug auf unsere
Fähigkeit, als solche, die droben ihren Platz haben, mit
Freuden unseren Lauf fortzusetzen, hängt alles von der Fürbitte Christi ab.
Hinsichtlich der Eigenschaften Christi als Hoherpriester seien
hier drei Dinge erwähnt. Das erste ist der Rechtstitel Seiner
Person. „Und niemand nimmt sich selbst die Ehre, sondern
als von Gott berufen, gleichwie auch Aaron. Also hat auch
der Christus sich nicht selbst verherrlicht, um Hoherpriester
zu werden" (Hebr 5, 4. 5). Er hat Sich nicht erhoben als eine
Person, die durch ihre Würdigkeit sich selbst verherrlicht hat,
sondern Gott sagt von Ihm: „Du bist mein Sohn." Dies
genügt, um Seine Person mit aller erforderlichen Befähigung
zu bekleiden. Er ist verherrlicht worden durch Den, Der zu
Ihm gesagt hat: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich
gezeugt." In Psalm 2 lesen wir: „Habe doch ich meinen
König gesalbt auf Zion, meinem heiligen Berge! Vom Beschluß will ich erzählen: Jehova hat zu mir gesprochen: Du
bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt". Wenn ich
Christus als Mensch auf der Erde anschaue (hier ist nicht
die Rede von Seiner ewigen Eigenschaft als Sohn), und mir
die Frage vorlege: Welches ist Sein Anrecht, um ein Priestertum zu besitzen? dann lautet die Antwort: Er ist der Sohn
Gottes. Er ist in Seiner Person zu einer solchen Tätigkeit
befähigt. Wir haben daher in bezug auf Seine Einsetzung
in dieses Amt den Ausspruch: „Wie er auch an einer anderen
Stelle sagt: „Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung
Melchisedeks." Er ist nicht wie ein anderer aus den Menschen
genommener Hoherpriester, der stirbt und seinen Dienst
einem anderen überläßt, sondern Er ist Priester in Ewigkeit.
Die Ausübung des Priestertums Christi im Himmel ist, was
die Blutvergießung und die Gerechtigkeit betrifft, auf ein
schon vollbrachtes Heil gegründet. Wenn die Gerechtigkeit
nicht schon vollkommen wäre, so würde jeder Fehltritt notwendigerweise das Gericht, nicht aber die Fürbitte hervorrufen. Wenn die Sühnung für die Sünden nicht geschehen
149
ist, so hat die Sünde das Gericht zur Folge, weil aber die
Gerechtigkeit in Christo ganz und gar für uns vollbracht ist,
sitzt Er jetzt im Himmel und bittet zugunsten derer, für die
die Sühnung durch Sein Blut geschehen ist. Die Versöhnung
ist ganz vollbracht, die Sünde weggetan, und wir sind Gerechtigkeit Gottes in Christo. Jetzt handelt es sich nur um
unsere Verbindung mit Gott, als Gesegnete im Heiligtum,
und um unser Verhältnis im vollen Genuß der Stellung, in
die Er uns aufgrund des an Christus vollzogenen Todes und
Gerichts eingeführt hat. Und das ist die Wirkung der Fürbitte. „Wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesum
Christum, den Gerechten" (1. Joh 2, 1). So besitzen wir also
den Herrn Jesus Christus in der Würde Seiner Person als
Sohn Gottes, und mit Seinem Amtstitel als Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks. Soll Er unser Priester
vor Gott sein, so ist Er es in der vollkommenen Würde, in
der Er Seinen ganzen Dienst verrichten kann.
Es gibt aber noch eine andere Schwierigkeit. Wenn Er den
erhabenen Titel „Sohn" besitzt, wie kann Er dann teilnehmen
an all den Nöten und Prüfungen armer Kreaturen, wie wir
es sind? Wäre Er ein Priester wie andere Menschen, so
könnte Er ihre Schwachheiten verstehen. Ich antworte darauf:
Das Priestertum wird da ausgeübt, wo nicht einmal der
Gedanke einer Schwierigkeit hingelangt, wo der Genuß ein
geistlicher ist, ja, wo durchaus keine Gemeinschaft mit Gott
sein könnte, wenn irgendein Gedanke des Fleisches oder der
Sünde dort existieren würde. Darum ist der Platz Christi als
des Hohenpriesters notwendigerweise außerhalb des Bereiches jeglicher Schwachheit. Ein anderer Priester konnte sich
zu. den Sündern gesellen und ihre Schwachheit fühlen als
jemand, „der selbst mit Schwachheit umgeben" ist. Wie aber
ist der Herr Jesus im vollen Sinn des Wortes befähigt
worden, unser Hoherpriester zu werden? Hat Er jetzt, während Er dieses Priestertum besitzt, die Fähigkeit zu diesem
Amt erlangt? Gewiß nicht. Nicht was Er jetzt als Priester ist,
sondern was Er auf Erden war, hat Ihn zu einem solchen
Werk bereitet. „Ein solcher Hoherpriester geziemte uns usw."
Er ging durch die Prüfungen und Schwierigkeiten eines gott150
seligen und vollkommenen Menschen auf der Erde, Er hat
alle Schwierigkeiten erfahren, die einem gottesfürchtigen
Menschen auf seinem Wege durch die Welt begegnen können. Er hat auch alle Prüfungen eines solchen kennengelernt.
Er hat gelitten, denn Er ist „in allem versucht worden . . .
in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde." Das ist
es nun gerade, was wir nötig haben. Wir brauchen keine
Teilnahme an unserer Sünde; wir haben das Wort Gottes,
um sie mitleidlos hinwegzutun. Christus bittet nicht für das
Fleisch. Wir brauchen die Hilfe Christi für den neuen Menschen gegen das Fleisch. Als Gläubige, die durch die Welt
gehen, haben wir nötig, daß uns gegen uns selbst geholfen
werde, da, wo das Fleisch vorhanden ist.
„Der in den Tagen seines Fleisches, da er sowohl Bitten als
Flehen dem, der ihn aus dem Tode zu. erretten vermochte,
mit starkem Geschrei und Tränen dargebracht hat (und um
seiner Frömmigkeit willen erhört worden ist), obwohl er
Sohn war, an dem, was er litt, den Gehorsam lernte." Das
ist es, was ich zu lernen habe. Wenn es sich aber um Ihn
handelt, höre ich die Worte: „Obwohl Er Sohn war usw."
Christus mußte den Gehorsam lernen. Warum? Weil Er von
Ewigkeit her allem befahl. Ich soll Gehorsam lernen, weil
mein Herz und mein Wille böse sind; Christus mußte ihn
lernen, weil Er Gott war über alles und darum der Gehorsam
etwas Neues für Ihn war. Der Gehorsam ist für mich neu,
weil ich ein ungehorsames Geschöpf bin; er war neu für Ihn,
weil Er gar kein Geschöpf war. Christus ist in alle Schwierigkeiten und Prüfungen gestellt worden, durch die wir zu
gehen haben, und überdies ist Er Selbst unter den Zorn Gottes gestellt worden, damit uns dieser Zorn nicht treffen
könnte. An diesen Leiden können wir nie teilhaben, während
wir an Seinen Leiden, denen Er als gerechter Mensch auf der
Erde ausgesetzt war, in geringem Maße unseren Anteil haben können. Wenn ich ein gottseliges Leben in dieser Welt
führen will, muß ich mein Kreuz auf mich nehmen und Ihm
nachfolgen. „Alle aber auch, die gottselig leben wollen in
Christo Jesu, werden verfolgt werden." Wenn die Bequemlichkeiten dieses Lebens unser Teil sind, ist Gefahr vorhan151
den. Wir sind berufen zu leiden. Wenn wir in unseren Wegen
gottselig sind, oder in der Macht der Liebe Christi wandeln,
werden wir Leiden finden. Mögen wir jedoch auch um der
Gerechtigkeit und um der Liebe Christi willen leiden, so finden wir doch auf dem Wege durch die Welt den Herrn
Selbst als Den, Der vor uns hergeht und Der zuerst vor
allem litt. In den Leiden für unsere Sünden war Christus ganz
allein, aber es gibt eine andere Art Leiden, die Christus
kennengelernt hat, und von denen wir zwar nicht sagen können, daß die Seinigen mit Ihm leiden, aber in denen Er mit
den Seinigen leiden kann. Wir finden diese Leiden am Ende
Seines Lebens. Das wird auch der besondere, wenn auch
nicht ausschließliche Charakter der Leiden des jüdischen
Überrestes in den letzten Tagen sein. Diese Auserwählten
sind unter dem Gesetz, sie kennen nicht die Versöhnung mit
Gott und treten in den schrecklichen Kampf mit Satan, dem
Antichristen und allen Schrecknissen jener Zeit. Sie werden
in der Trübsal sein, die aus der ganzen Machtentfesselung
Satans gegen sie erwächst, und sie werden darin sein, ohne
zu wissen, daß das Wohlgefallen Gottes auf ihnen ruht. Das
ist nicht ein Leiden mit Christus; aber sie, die Auserwählten,
werden des Mitleidens Christi teilhaftig sein. Auch durch
diese Leiden ist Christus gegangen. Und darum kann er teilnehmen an den Leiden, die der Überrest Israels erdulden
muß.
Überall, wo wir diesem Charakter der Leiden begegnen, finden wir, daß von den Leidenden das Gericht über die Menschen gefordert wird, daher der beständige Ruf zu Gott, daß
Er Sich erheben möge und sie an ihren Widersachern rächen
möge, — ein Ruf, den wir von Anfang bis Ende in den
Psalmen finden. Wenn hingegen die Versöhnung geschehen
ist, wird die Barmherzigkeit angerufen. In einem Fall wird
das Gericht über die Menschen gefordert, weil sie Christus
als Werkzeuge Satans Leiden bereiten, aber von dem Augenblick an, wo Er von Seiten Gottes für die Sühnung unserer
Sünde leidet, zeigt sich das Gegenteil. Dann lesen wir: „Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern; inmitten
der Versammlung will ich dich loben." Alles ist Gnade, nichts
als Gnade.
152
Wie ist dies nun auf uns anzuwenden? Betrachten wir die
Seelen unter dem Gesetz, die etwas von der Tiefe und dem
Umfang ihrer Sünden erkennen und deren Geist den Schrekken des Gesetzes preisgegeben ist, wenn auch nicht ganz in
dem Zustand der Verzweiflung. Christus kann mit ihnen
leiden. Weil Er durch alle diese Schrecken, sowie durch die
Bedrängnis, die die Macht Satans verursachte, hindurchgegangen ist, ist Seine Gnade da, um die Seele zu erhalten und zu
verhindern, daß sie völlig unterliegt. Die Leiden für die Versöhnung sind etwas ganz anderes. Christus allein hat diesen
Kelch getrunken, weil Er von Seiten Gottes litt, und nichts
als die Gnade ist übriggeblieben. Nachdem Er gesagt hat:
„Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel," finden
wir nichts anderes mehr als Gnade. Das war der Zorn Gottes,
den Er für andere trug. In den ersten beiden Arten von Leiden kann Christus mit uns leiden; es sind die Prüfungen und
Leiden einer gerechten Seele. Er kann für uns bitten und uns
helfen, voranzugehen. Ich zweifle auch nicht daran, daß die
Anwesenheit Christi im Himmel das Volk Israel besonders
unterstützt. „Und, vollendet worden, ist er allen, die ihm
gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden." Er ist von
Grund aus zu einem Hohenpriester bereitet worden, indem
Er durch das, was Er auf Erden erlitt, fähig gemacht wurde,
mit uns leiden zu können. Er hat alle Schwierigkeiten eines
gottseligen Lebens auf der Erde erlebt, und darum ist Er
jetzt, nachdem Er uns einen Platz im Himmel gegeben hat,
imstande, mit uns während unseres Wandels durch diese
Welt Mitleiden haben zu können.
Unser Platz ist im Himmel, und unser Weg auf der Erde ist
in Übereinstimmung mit dem Platz, den wir im Himmel haben, und das soll unser Wandel auch zum Ausdruck bringen.
Welches war der Weg Christi in dieser Welt? Selbst als Sohn
des Menschen auf Erden war Er stets der „Sohn des Menschen, der im Himmel ist". Jedes Atom Seines Lebens war
der Ausdruck dieses himmlischen und gesegneten Wesens,
und so ist es mit uns, wenn wir praktisch in Ihm bleiben.
Der Christus, Der im Himmel ist und uns diesen Platz im
Lichte der Gegenwart Gottes gibt, ist derselbe Christus, Der
153
in uns ist. Auch sagt der Apostel: „Allezeit das Sterben
Jesu am Leibe umhertragend, auf daß auch das Leben Jesu
an unserem Leibe offenbar werde." Das Leben des Gläubigen
auf der Erde ist die Offenbarung dieses Lebens in Jesu, mit
dem Er im Himmel ist. Es ist der Ausdruck dieses Christus
auf Erden. Da wo wir fehlen, wo unser Leben nicht der Ausdruck des Lebens in Jesu ist, wird das Wort Gottes, das als
der Ausdruck desselben uns richtet, angewandt. Auf diese
Weise vollzieht sich die Heiligung durch die Wahrheit. Das
Wort stellt Christus, wenn ich Ihn nicht offenbare, vor mich
hin und richtet diesen Zustand. Was geschieht aber, wenn ich
Schwierigkeiten und Prüfungen auf dem Wege begegne?
Dann habe ich die Fürbitte Christi. Ich habe Christus, Der
für mich bittet, als Den, Der den ganzen Trost der Gnade
Gottes kennt, — einer Gnade, die aus Ihm hervorquillt und
bis auf das Leben auf der Erde herabströmt. Er hat es erfahren, wie eine Seele in der Prüfung aufrechterhalten wird. Er
gebraucht dies alles für mich und verwendet Sich zu meinen
Gunsten vor Gott nach Seiner eigenen Kenntnis meiner Bedürfnisse. Dort finde ich die Schätze der Gnade, die ich
benötige, in einer Person, die die Gnade auf ein Herz, das
durch diese Schwierigkeiten geht, anzuwenden weiß. Er Selbst
hat diese Schwierigkeiten durchgemacht, bevor Er in Seiner
Stellung als Priester war. Sein Wandel auf Erden war immer
der Wandel eines abhängigen Menschen, und jetzt bittet Er
für uns abhängige Wesen und hält dadurch unsere Gemeinschaft mit dem Gott aller Segnungen aufrecht, und zwar an
dem Ort, zu dem wir ein Anrecht haben. Man kann sich
vieler Schwachheiten bewußt sein, wenn man aber sagt: „Ich
bin schwach", so hat man zugleich das Recht zu sagen: „Hierin
ist Gott für mich." Wenn ich Licht und Leitung auf meinem
Wege brauche, so ist Gott hierin für mich. Ich habe alles,
was Gott für meine Bedürfnisse ist, und das ist die Wirkung
der Fürbitte Christi. Auf unserem ganzen Prüfungsweg hier
gibt es nicht eine einzige Schwierigkeit, in die Gott nicht in
Gnaden eintritt. Ich tue nicht einen einzigen Schritt auf meiner
Bahn, bei dem Gott nicht an mich denkt. Es können Dinge in
mir sein, die es erforderlich machen, daß Gott sich damit
154
beschäftigt, wie es z. B. bei Hiob der Fall war. Er sieht, daß
bei Hiob nicht alles in Ordnung ist und sagt: „Ich muß mich
mit ihm beschäftigen." Er erlaubt Satan, die Pfeile seiner Bosheit auf Hiob abzuschießen, bis dieser in seinen eigenen
Augen zunichte geworden ist. Und das war es gerade, was
ihm nötig war. Der Herr sagt zu Petrus: „Simon, Simon,
siehe, der Satan hat euer begehrt, euch zu sichten wie den
Weizen. Ich aber habe für dich gebetet, daß dein Glaube
nicht aufhöre". Hier betete Er, bevor die Sünde geschehen
war. Der Herr gedachte des Petrus; und als der passende
Augenblick gekommen war, schaute Er ihn an, und Petrus
weinte bitterlich. Es war gut für ihn, gesichtet zu werden. Er
war ein treuer und aufrichtiger Mensch, aber er setzte ein zu
großes Vertrauen in sich selbst und in seine Liebe zu. dem
Herrn. Später bedient der Herr Sich des Wortes, um ihn
völlig wiederherzustellen, und sagt zu ihm: „Liebst du mich
mehr als diese?" Und Petrus, im Bewußtsein der geringen
Liebe, die er gezeigt hat, ist genötigt, sich hierin auf die
göttliche Kenntnis zu berufen, und sagt: „Du weißt alle
Dinge; du weißt, daß ich dich lieb habe." Ja, Du weißt es,
wenn auch niemand anders es wissen kann. Dann spricht der
Herr zu ihm: „Weide meine Schafe." Das ist die Erfüllung
der Worte: „Und du, bist du einst zurückgekehrt, so stärke
deine Brüder."
Christus, Der „an dem, was er litt, den Gehorsam lernte",
verbindet unsere Herzen mit Sich in der Vollkommenheit, in
der Gott ist, und wendet diese Vollkommenheit in Gnaden
auf alle Bedürfnisse unserer Seele an. Straucheln wir, so
tritt die Fürbitte ein und stellt die Seele wieder her, indem
sie sie fortwährend in dem Vertrauen zur göttlichen Liebe
erhält. Der Herr bittet für uns selbst ohne daß wir Ihn darum
angehen. Wir erlangen Seine Fürbitte nicht durch unsere
Reue oder durch unsere Gebete. Nicht erst dann, als Petrus
Reue fühlte, sondern schon ehe er gesündigt hatte, hat der
Herr für ihn gebetet. Er betete für ihn, weil Petrus es nötig
hatte. „Wenn jemand gesündigt hat, — wir haben einen
Sachwalter bei dem Vater." Es heißt nicht: „Wenn jemand
seine Sünde bereut", sondern: „Wenn jemand gesündigt hat."
155
Das ist die Wirksamkeit der Gnade im Herzen Jesu zur
Wiederherstellung unserer Seelen.
In Hebr 5, 12 lesen wir: „Denn da ihr der Zeit nach Lehrer
sein solltet, bedürfet ihr wiederum, daß man euch lehre,
welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes
sind; und ihr seid solche geworden, die der Milch bedürfen
und nicht der festen Speise." Man ist geneigt, die feste Speise
als etwas sehr Großes anzusehen. Die einfache Wahrheit
aber, die hier gelehrt wird, ist daß den Kindern die Milch
und den Erwachsenen die Speise gehört. Wer also nicht fähig
ist, feste Speise zu genießen, der befindet sich in einem
schlechten Zustand. Ich gebe die Milch nicht einem Erwachsenen, weil für ihn das Fleisch da ist. Wenn wir die feste Speise
nicht genießen können, ist das ein Beweis, daß wir uns begnügt haben, Kinder zu bleiben, weil wir nicht in Christo
gewachsen sind. Die Gedanken und Überlegungen des Herzens sind demnach nicht lauter. Wir sind berufen, geübte Sinne zur Unterscheidung des Guten und Bösen zu haben, und
dies ist unmöglich, wenn wir nicht wirklich mit Gott wandeln.
Der Platz aber, wo Christus unsere Herzen bewahrt, ist das
Allerheiligste. Er hat Sich Selbst in der Gegenwart Gottes für
uns geheiligt, und dort bewahrt Er uns. Wir können Jesus
vergessen, wir können die Stellung, in die Er uns gebracht
hat, durchaus nicht nach ihrem Wert schätzen, und es darum
vernachlässigen, daß Er uns im Allerheiligsten bewahrt, in
dem vollen und immer frischen Genuß dessen, was dort ist, —
in der vollkommenen Liebe und im Licht, wie Gott im Licht
ist, weil die Sünde getilgt ist und wir selbst Gottes Gerechtigkeit in Ihm sind. Ich habe gar nicht mehr an meine Fähigkeit,
dort zu. sein, zu denken. Ich bin dort und habe nur vollkommen gereinigt dorthin gelangen können. Weil jede Sünde
getilgt ist und ich folglich als ein Gereinigter dort bin,
genieße ich auch die Gunst Gottes vollkommen. Ich bin
wirklich dort eingeführt, von wo das vollkommene Wohlgefallen Gottes hervorströmt — ein Wohlgefallen, das mir
durch den Tod Christi, der mich gereinigt hat, zuteilgeworden
ist. Jetzt soll ich auf der Erde Christus offenbaren. Inmitten
aller Prüfungen und Schwierigkeiten des Weges finden wir
156
jedoch das Wor t Gottes , das schärfer als jedes zweischneidige Schwert, alles richtet, was Gott zuwider ist, und
die Fürbitt e Christi , die all unseren Schwachheiten
und Fehltritten begegnet. Dieser beiden Mittel bedient Sich
Gott, um uns voranzuführen. Er ist denselben Weg gegangen, den wir zu gehen haben und ist denselben Versuchungen
begegnet, denen auch wir begegnen. Wenn wir in der Abhängigkeit Christi bewahrt werden, ist jetzt unsere Schwachheit für Ihn nur ein beständiger Grund zur Ausübung Seiner
Liebe, und für uns ist sie das Mittel, aus den Schätzen
Seiner Liebe beständig zu schöpfen. J. N. D.
Die Anbetung in Geist und Wahrheit
Hast du jemals im Licht der Heiligen Schrift untersucht, was
die Anbetung eigentlich ist? Leider ist es dem Feind gelungen,
die meisten Gläubigen hinsichtlich ihrer Stellung in Christo —
als durch ein Opfer auf ewig vollendet und in Ihm, dem
Auferstandenen, vollkommen gemacht — so sehr in Verwirrung zu bringen, daß sie ganz und gar kein Auge haben
für das, zu dem Gott sie gebracht hat, und stattdessen Ersatzmittel aller Art suchen. „Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten", und: „der
Vater sucht solche, die ihn anbeten". Es muß im Geiste sein,
eine äußere Form genügt nicht, und es muß in Wahrheit
sein, d. h. der Grund muß so fest und unerschütterlich gelegt
sein, daß Gott Selbst dadurch befriedigt ist und das Opfer
des Anbeters als einen duftenden Wohlgeruch annehmen
kann. Zu diesem Zweck muß die Sünde vom Anbeter entfernt sein. Es genügt nicht, daß ihm seine Sünden vergeben
sind, sondern die Sünde muß weggetan sein, und zwar in
einer so vollkommenen Weise, daß er geheiligt und fähig
gemacht ist, ja sogar aufgefordert wird, nicht in den äußeren
Vorhof, nicht in das Heilige, in das die Priester des Alten
Bundes eintreten durften, sondern als Anbeter ins Alierheiligste einzugehen, in jene Stätte, die im Vorbild nur der
Hohepriester und das nur einmal im Jahr betreten durfte.
Welch eine Reinigung muß es sein, die ihn hierzu befähigt!
157
Nicht in seiner eigenen Person, sondern in Christo geht er
hinein. Über die Sünde, die der Sohn Selbst an Seinem eigenen Leib auf dem Holz getragen hat, ist das Gericht ergangen. Er, das Schlachtopfer, das einzige, das uns vollkommen
vertreten konnte, weil es unbefleckt und göttlich war, trank
den Kelch des Gerichts bis zur Neige an unserer Stelle, so
daß — wenn man sich so ausdrücken darf — nicht das
kleinste Teilchen der Gerechtigkeit Gottes unbefriedigt oder
für uns zu befriedigen übriggeblieben ist. Am Kreuz wurde
der Mensch für immer beiseitegesetzt, und zwar als von
Grund auf verderbt, ohne Hoffnung, tot in Sünden. Der Tod
Christi ist das über den Menschen als Sohn Adams gefällte
Urteil Gottes, so daß das Leben aus Adam für alles Gute als
völlig unbrauchbar erklärt worden ist.
Welch eine Beruhigung für den Gläubigen, dem „elenden
Menschen" sozusagen Lebewohl zurufen zu dürfen (Rö 6, 3-
11), sowohl den Leib der Sünde als auch die Sünden weggetan
(Kol 2, 11), und sich vom Leibe des Todes (Rö 7, 24) erlöst
zu sehen! Ja, mehr noch, die Schuld ist bezahlt, und was ist
aus dem Schuldner geworden? Wir haben gesehen, daß er
gestorben ist. Ist das alles? Nein, er ist in ein neues Leben
eingegangen. Nicht ein Funke, nicht eine Spur des alten
Lebens ist übriggeblieben: „Siehe, alles ist neu geworden."
Und von welcher Art ist dieses neue Leben? Es ist das Leben
Christi. Das Gesetz des Geistes des Lebens in Christo Jesu
hat mich freigemacht" (Rö 8, 2). Der Geist aber (ist) Leben
der Gerechtigkeit wegen" (Rö 8, 10). „Dies ist das Zeugnis:
daß Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben
ist in seinem Sohne. Wer den Sohn hat, hat das Leben"
(1. Joh 5, 11. 12). „Euer Leben ist verborgen mit dem
Christus in Gott" (Kol 3, 3). Ist das nicht die richtige Zubereitung zum Eintritt in das Allerheiligste? Ja, wir sind in
Christus ins Allerheiligste versetzt, denn „er hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen örtern in
Christo Jesu" (Eph 2, 7). Dieses und kein anderes, kein geringeres ist unser Heiligtum. Können wir Christus aus diesem
Heiligtum herunterziehen? Kann Gott Ihn anderswo sehen
als im Heiligtum? Kann Er uns i n Ih m anderswo sehen?
158
Gewiß nicht, und wenn wir diesen Platz nicht einnehmen,
so heißt das, Ihn verunehren und Sein Werk gering achten.
Wenn du diese Stellung als Anbeter nicht einnehmen kannst,
so betrachtest du dich entweder in deiner alten Natur und
hast sie nicht völlig aufgegeben, oder du unterschätzest den
Wert der Person Christi, an Den zu glauben du behauptest.
Versuche nicht, Licht und Finsternis miteinander zu vermengen. Bediene dich des Lichtes, das Gott in Christo hervorstrahlen lassen hat, und laß das Kreuz dich trennen von aller
Finsternis in dir, wie das Kreuz es nach Gottes Gedanken
und nach Seinem Werk bereits getan hat (2. Kor 5, 17. 18;
Eph 2, 10; 5, 8). Höre die Worte: „Das Alte ist vergangen,
siehe, alles ist neu geworden". Betrachte sie und vertiefe
dich in sie. „Vergangen" und „neu geworden". Nicht nur die
Sünden, nein, „Das Alte", d. h. alles, was uns von Adam her
anhaftete, „ist vergangen". — „Alles ist neu geworden." Und
noch mehr: „Alles aber von Gott." Kannst du dir dieses
Wort aneignen? „Alles von Gott". Vom Alten ist nichts
mehr vorhanden, alles ist neu geworden, alles von Gott.
Wunderbar aber wahr. Das Wort Gottes sagt es, und darum
kann es nicht anders sein. Weder die Gefühle, die Erfahrungen, noch die verschiedenen Arten von Zweifeln und Vernünfteleien können diese kostbare Wahrheit umstoßen. Es
ist das wahrhaftige Wort Gottes. Fragst du, wie das möglich
sei, so ist die einzige Antwort: Gott hat es wahr gemacht,
indem Er das „Alte" in den Tod gegeben und das „Neue"
in Christus uns geschenkt hat. Und fragst du: Warum? so
lautet die Antwort: Weil Gott, Der „reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat,
. . . uns mit dem Christus lebendig gemacht (hat), . . . auf
daß er . . . den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade
in Güte gegen uns erwiese in Christo Jesu" (Eph 2, 4-7),
und damit schon jetzt „durch die Versammlung kundgetan
werde die gar mannigfaltige Weisheit Gottes" (Eph 3, 10).
Doch wer soll die Frucht dieses Gnadenwerkes ernten? Sicherlich der Gläubige, aber nicht er allein. Soll Gott säen und —
wenn man es in Ehrfurcht sagen darf — nicht auch ernten?
Darfst du Ihm Seinen Anteil an diesem wunderbaren Werk
rauben? Willst du, mit anderen Worten, die Frucht eines
159
dankbaren, vollen und überfließenden Herzens verweigern,
das in Lob, Preis und Anbetung zu Ihm hinaufstrebt? Wer
war es, der zur festlichen Freude einlud? War es der verlorene
Sohn? Nein, es war der Vater, der sagt: „Laßt uns fröhlich
sein". — „Der Vater sucht solche als seine Anbeter. —
„Durch ihn nun laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes
darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen
bekennen . . . denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen" (Hebr 13, 15. 16). „Werdet mit dem Geiste erfüllt,
redend zueinander in Psalmen und Lobliedern und geistlichen
Liedern, singend und spielend dem Herrn in eurem Herzen"
(Eph 5, 19). Welches ist die erste Frucht des Kreuzes, die in
Psalm 22 erwähnt wird? — „Verkündigen will ich deinen
Namen meinen Brüdern; inmitten der Versammlung will ich
dich loben," sagt Christus.
Geliebte Brüder! Haben wir den Vater kennengelernt als Den,
Dem wir „nahe geworden" sind (Eph 2, 13-19)? Fühlen wir
uns in Seinem Hause heimisch? Haben wir von dem gemästeten Kalbe gegessen? Ist der Vater, Der sagt: „Freuet euch
mit mir"? fröhlich unter uns? Der Brief des Paulus an
die Epheser und der Brief des Petrus an die auserwählten
Fremdlinge von der Zerstreuung beginnen beide mit den
Worten? „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn
Jesus Christus". Das ist Anbetung. Kann sonst etwas das
Herz Gottes befriedigen? Wenn deine Kinder mit dir an deinem Tische säßen, und alles was das Herz ersinnen oder wünschen kann, für sie gedeckt und bereitet wäre, was würde
dann dein Wunsch sein? Würdest du wünschen, daß deine
Kinder trotz eines solchen Reichtums dich immerfort um Brot
anflehten? Würde es dir nicht vielmehr eine Freude sein, wenn
sie fein Zugriffen und dir für deine Güte dankten? — Sicher
wird sich unser Mund zu Bitten und Gebet öffnen müssen,
aber sollen wir dies an die Stelle dessen setzen, was Gott
von uns fordert, nämlich Anbetung, Danksagung und Opfer
der Erstlinge (5. Mo 26, 1-11)? Gerade das Herz dessen, der
am meisten seine Abhängigkeit im Gebet fühlt, wird am
weitesten geöffnet sein, um mit Lob und Dankbarkeit für
Gott erfüllt zu sein (Lk 34, 53).
160
Die letzten Worte Davids
(2. Samuel 23)
Es liegt etwas außergewöhnlich Rührendes und zugleich
Tröstendes in den letzten Worten des Mannes, der „der
hochgestellte Mann, . . . der Liebliche in Gesängen Israels"
ist (V. 1). Sicher ist es für uns sehr nützlich und lehrreich, wenn wir auf die „letzten Worte" eines erfahrenen
Greises oder auf die zarten Töne solcher Heiligen Gottes und
solcher Diener Gottes lauschen, die den letzten Abschnitt
ihres stürmischen Lebens erreicht haben. Wir wissen, daß
unsere ersten Schritte auf dem christlichen Wege mit vielen
eitlen Einbildungen und törichten Vorstellungen, die unser
Herz erfüllen, begleitet sind. Wir erwarten große Dinge von
den Menschen und Umständen. Wir halten alles was glänzt
für reines Gold, und wir schenken dem, was das Herz bewegt
und was das Auge sieht, blindes Vertrauen, ohne an dessen
Verwirklichung auch nur im Geringsten zu zweifeln. Aber
ach, wie bald werden wir enttäuscht! Wie bald wird unser
Irrtum offenbar! Die traurige Wirklichkeit heilt uns nur
zu. bald von den Träumen unserer Kindheit, und die schneidenden Windstöße der Wüste verscheuchen die Blumen unserer Jugendtage. Der junge Gläubige ist geneigt, einem
jeden, der ein gutes Bekenntnis ablegt, Vertrauen zu schenken, und in der Tat ist dieses arglose Vertrauen liebenswürdig. Möchte es doch eine würdigere Erwiderung finden! Aber
leider ist dies nicht immer der Fall. Wie bald stößt die junge
Seele auf ältere Christen, die, anstatt das Wachstum zu fördern, einen schädlichen Einfluß ausüben und Mutlosigkeit,
Trägheit und Kälte in dem noch unerfahrenen Herzen hervorrufen! Wie wichtig und wertvoll sind daher die „letzten
Worte" eines Gläubigen, besonders wenn sie nicht nur die
Frucht eines durch Erfahrung gereiften Urteils, sondern wie
bei David durch Inspiration des Heiligen Geistes hervorgegangen sind.
Dies sind die letzten Worte Davids: „Es spricht David, der
Sohn Isais, und es spricht der hochgestellte Mann, der Gesalbte des Gottes Jakobs und der Liebliche in Gesängen Isra161
eis: Der Geist Jehovas hat durch mich geredet, und sein
Wort war auf meiner Zunge. Es hat gesprochen der Gott
Israels, der Fels Israels zu mir geredet: Ein Herrscher unter
den Menschen, gerecht, ein Herrscher in Gottesfurcht; und
er wird sein wie das Licht des Morgens, wenn die Sonne
aufgeht, ein Morgen ohne Wolken; von ihrem Glänze nach
dem Regen sproßt das Grün aus der Erde" (V. 1-4).
Hier richtet David das göttliche Banner des Charakters für
jemand auf, der berufen ist, über die Menschen zu herrschen.
Er muß ein gerechter Herrscher sein, und auf der Grundlage
der Gerechtigkeit ist ein Bau wolkenlosen Lichts aufgebaut,
in reichstem Segen und überströmender Fülle. Dies alles wird,
wie wir wissen, verwirklicht werden, wenn der jetzt in den
Himmel aufgenommene Sohn Davids vom Thron Seines Vaters herabsteigen und Sein Szepter über die wiederhergestellte
Schöpfung ausstrecken wird.
David richtet aber nicht nur das göttliche Banner auf, sondern vergleicht sich selbst damit, und in diesem Vergleich
finden wir eine große moralische und praktische Wahrheit,
die sich dem Leser tief ins Herz einprägen sollte. David sagt:
„Obwohl mein Haus nicht also ist bei Gott, so hat er mir
doch einen ewigen Bund gesetzt, geordnet in allem und
verwahrt; denn dies ist all meine Rettung und all mein Begehr, obwohl er es nicht sprossen läßt" (V. 5)! Der einzige
Weg zur richtigen Einschätzung unserer eigenen Person ist,
auf Christus zu blicken. Das tut David in diesen „letzten
Worten". Er wiegt sich auf einer vollkommenen Waage und
findet sich als gering; er mißt sich mit einem vollkommenen Maß und findet sich mangelhaft. Er blickt auf das vollkommene Muster und ruft aus: „Ich gleiche ihm nicht." Er
schaut zurück auf die Vergangenheit und sieht die Mängel
und Gebrechen. Er wendet eine Seite der Geschichte seines an
Erfahrungen reichen Lebens nach der anderen um, und sein
Auge, das durch die Lichtstrahlen des Heiligtums erleuchtet
ist, sieht die Runzeln und Flecken. Aber, Gott sei gepriesen,
er kann zurückgreifen auf den „ewigen Bund, geordnet in
allem und verwahrt", und in diesem geordneten Bunde findet
er „all seine Rettung und all sein Begehr."
162
Eine ungewöhnliche Schönheit zeigt sich in der Verbindung
der beiden Wörtchen „obwohl" und „doch", die wir in der
oben angeführten Stelle finden. Das erste läßt einen weiten
Rand offen, um dem Ausdruck eines überführten und gebeugten Herzens einen neuen Platz anzuweisen, und das zweite
öffnet die Schleusen, um die volle Flut göttlicher Gnade und
Huld einzulassen. Das Wörtchen „obwohl" setzt den Menschen in den Staub eines Fehlenden, während das Wörtchen
„doch" Gott einführt in die Fülle Seiner erbarmenden Liebe.
Jenes ist die Sprache einer Seele, die sich kennengelernt hat,
dies der Ausdruck eines Herzens, das einige Bekanntschaft
mit Gott gemacht hat.
Geliebter Leser, ist es nicht ein großes Glück, daß wir, wenn
wir das Ende unserer Geschichte erreicht haben und zurückblickend auf unser Leben, ausrufen müssen: „Mein Haus ist
nicht also bei Gott"!, daß wir dann die ewige Unerschütterlichkeit jener Gnade erfahren, in der „all unsere Rettung
und all unser Begehr" ist?
Kurze Gedanken
„Wenn ihr mich liebet, so haltet meine Gebote" (Joh 14. 15).
Der Wunsch des Herrn ist, daß wir aus Liebe zu Ihm in Seinen Geboten wandeln sollen, und sicher ist dies auch der
einzige, kostbare Beweggrund eines guten Wandels, weil
dabei das Herz in Tätigkeit für den Herrn ist.
Weil unsere Liebe zum Herrn so schwach ist, gibt es leider
bei uns viele andere Beweggründe für unser Tun. Aber wenn
es auch an und für sich anerkennenswert ist, wenn das Böse
gemieden und das Gute getan wird, so werden doch solche
Werke nur dann als völlig vor unserem Gott erfunden werden, wenn sie aus der einzigen gottgefälligen Quelle hervorgehen.
Wie vieles tun und wie manches lassen wir, weil wir gesetzlich sind und der Unruhe des Gewissens ausweichen möch163
ten, oder weil wir die Ermahnungen der Brüder fürchten,
oder gar das Urteil der Welt scheuen! Aber dies alles hat
nicht die Liebe zu Jesus zur Quelle. „Lasset uns ihn lieben,
denn er hat uns zuerst geliebt." Wenn wir uns von dieser
Liebe leiten lassen, werden unsere Werke den wahren Klang
vor Ihm haben. Alles andere ist wertlos und bringt keine
Frucht.
„Gebet nicht das Heilige den Hunden; werfet auch nicht
eure Perlen vor die Schweine, damit sie dieselben nicht etwa
mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen" (Matthäus 7, 6).
Diese Worte, sowie die ganze sogenannte Bergpredigt sind
zwar zunächst Grundsätze des Reiches der Himmel, das auf
dieser Erde aufzurichten der Herr gekommen war. Aber die
Kirche oder Versammlung hat schon jetzt, obwohl das Reich
noch nicht geoffenbart ist, die Berufung, ihren himmlischen
Charakter zu zeigen, und darum ist gerade die obige Stelle
in einem weit höheren Sinn auf die Versammlung anwendbar, weil sie „Heiliges" und "Perlen" besitzt, die sich im
Reiche nicht finden.
Man hat nun oft dieser Stelle die Bedeutung unterschoben,
als sollte man, weil Widerspruch und sogar Spott und Verachtung zu erwarten sei, nicht mit den Kindern dieser Welt
über die Notwendigkeit ihrer Bekehrung reden, oder als beträfen diese Worte überhaupt die Verkündigung des Evanliums. Doch sicher ist dies nicht ihre wahre Deutung. Das
Evangelium sollte man allen nahebringen, obwohl es sich
bei dem einen als ein Geruch des Lebens zum Leben und bei
dem anderen als ein Geruch des Todes zum Tode erweisen
wird.
Unmöglich ist daher mit dem „Heiligen" und den „Perlen"
das Evangelium gemeint. Diese Ausdrücke sind vielmehr
Bilder für die Köstlichkeit der Beziehungen, in denen die
Kinder Gottes zu ihrem Vater und ihrem Heiland stehen.
Wer möchte mit der Welt reden über diese herrlichen Bezie164
hungen, über die kostbare Hoffnung der Kinder Gottes, über
ihre Gemeinschaft mit Gott, über ihre Freude im Herrn, über
den allen Verstand übersteigenden Frieden Gottes — kurz,
über die Dinge, die die Welt nicht kennt und nie erfassen
kann? Eine Unterhaltung dieser Art mit den Kindern dieser
Welt hieße „das Heilige den Hunden geben" und „die Perlen
vor die Schweine werfen" und würde keineswegs eine gute
Wirkung haben, während das Evangelium sie zu erretten
vermag.
„Dann stand er auf und bedrohte die Winde und den See;
und es ward eine große Stille" (Matthäus 8, 26).
Der Herr hatte kurz zuvor mehrere Wunder verrichtet. Er
hatte einen Aussätzigen geheilt, den Knecht des Hauptmanns
gesund gemacht und die Schwiegermutter des Petrus vom
Fieber befreit. Bis dahin hatte Sich der Herr mit den Menschen und deren Elend beschäftigt. In der oben angeführten
Stelle beschäftigt Er Sich mit den Elementen. Die Winde verstehen Ihn und sind Ihm Untertan. Er kann sie hervorrufen
wie bei Jona, und Er kann sie zum Schweigen bringen. Welch
ein Herr, Dem die Krankheiten, die Teufel und die Winde
gehorchen! Wie ruhig können wir sein, wenn wir verstehen
und durch den Glauben festhalten, daß Er für uns ist!
Die Jünger weckten Ihn in ihrem Kleinglauben, aber der Herr
richtet die Frage an sie: „Was seid ihr furchtsam, Kleingläubige?" Trotz Seines Schlafes hätten sie ihr Vertrauen nicht
aufgeben sollen. Hätten sie verstanden, daß der Herr Selbst
mit ihnen untergehen würde, wenn das Schiff sank, und hätten sie die ewigen Ratschlüsse Gottes gekannt, die sich an
diese heilige Person Jesu, knüpften, dann hätten sie ihn sicher
ungestört schlafen lassen. Ein Windstoß kann die ewigen
Ratschlüsse Gottes nicht vereiteln. Wie klein und machtlos
wird alles, was uns zuwider ist, wenn wir Jesus kennen und
Seine Macht und Treue verstehen. Aber wie unüberwindlich
groß erscheint uns der geringste Widerstand, wenn wir den
Herrn nicht einbeziehen!
165
„Und nun laß mich, daß mein Zorn wider sie entbrenne und
idi sie vernichte; dich aber will ich zu einer großen Nation
machen" (2. Mose 32, 10).
Das Volk Israel hatte gesündigt, und bevor Mose dies wußte
und bevor er ein Wort gesprochen hatte, sagte Gott zu ihm:
„Und nun laß mich ... " Welch ein Zeugnis für die Treue
Moses! Gott kannte diesen Mann, der treu war in seinem
ganzen Hause. Obwohl Gott hinzufügte: „Dich aber will ich
zu einer großen Nation machen", macht dies auf Mose durchaus keinen Eindruck. Der treue Knecht begehrte nichts für
sich, aber sein ganzes Herz hing an diesem Volk. Er hatte
daher nichts Eiligeres zu tun als Gott zu sagen, daß dieses
Volk Sein eigenes Volk sei. Er erinnert Gott an die Macht, die
nötig war, um das Volk aus Ägypten zu führen, er erinnert
Ihn daran, daß die Ägypter sagen würden, Gott habe dieses
Volk nicht ins Land Kanaan bringen können, und schließlich
beruft er sich auf die Verheißungen, die Er Abraham, Isaak
und Jakob gegeben hatte. Umsonst hat Gott gesagt: „Und
nun laß mich ... " Mose hatte kein Ohr für solche Worte,
aber ein Herz, ein ganzes Herz für das Volk Gottes.
Nicht als ob Mose die Sünde gering achtete. O nein. Wir
sehen dies aus der Geschichte, wie er einst gegen die Sünde
handelte. Er verstand es, bei dem Sünder für die Heiligkeit
Gottes tätig zu sein, und bei Gott die Erbarmung gegen die
Sünder zu erwirken. Möchten wir ihm ähnlich sein! Möchten
wir lernen, uns eins zu machen mit dem Volke Gottes und
die Fürbitte zu üben, wie Mose sie übte.
„Und Gott sprach zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist vor
mich gekommen; denn die Erde ist voll Gewalttat durch sie;
und siehe, ich will sie verderben mit der Erde. Mache dir
eine Arche von Gopherholz" (1. Mo 6, 13. 14).
Noah glaubte den Aussprüchen Gottes und machte sich daran,
sein Rettungsschiff zu bauen. Das mußte eine wunderliche
Sache für die Menschen sein, von Noah zu hören, daß die
Welt bald untergehen werde, und zu sehen, daß er sich ein
großes Schiff zu seiner Rettung baute. Wie mögen die gott166
losen Menschen gespottet haben und wie töricht mag ihnen
Noah bei seiner Zimmermannsarbeit erschienen sein! Aber
Noah baute und die Menschen blieben gottlos, bis die Flut
kam. Dann ruhte Noah in Sicherheit in seiner Arche, aber
sein Ohr hörte die Spottreden nicht mehr. Das Gericht verschloß den Mund und vernichtete die Werke der Sünder für
ewig.
Und wie es mit der Arche ging, so geht es heute noch. Die
einen suchen den Platz, wo man sicher ist vor den kommenden Gerichten und sie ruhen nicht eher, als bis sie in Christus
die Ruhe des Gewissens und den Frieden des Herzens gefunden haben. Die anderen lachen und spotten, wenn man
sie an den kommenden Zorn Gottes erinnert. — Wie es Noah
ging, so geht es heute noch. Ist Christus die Arche des Heils
für uns geworden, dann gibt es keine Gefahr. Je näher die
Wasser der Flut stiegen, um so näher kam Noah zu Dem,
Der über den Wassern wohnte. — Wie es damals den Gottlosen erging, so wird es auch wiederum den Gottlosen ergehen. Sie werden essen und trinken, usw., bis der Richter
Sich erhebt und alle Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße
gelegt werden. O, möchten sich noch einige warnen lassen!
„Das Gesetz wurde durch Moses gegeben; die Gnade und
die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden" (Johannes
1, 17).
Das Gesetz sagte dem Menschen, was er tun sollte, aber
nicht was er war. Es knüpfte das Leben an seinen Gehorsam
und den Fluch an seinen Ungehorsam. Aber es sagte ihm
nicht, daß Gott die Liebe ist. „Tue dies und du. wirst leben",
und „Verflucht ist, wer nicht hält alle Worte dieses Gesetzes."
Alles dies war vollkommen an seinem Platz. Aber man lernte
daraus weder was der Mensch, noch was Gott war. Die Wahrheit hingegen zeigt uns nicht, wie der Mensch sein sollte,
sondern wie er ist, und wie Gott ist. Dies aber konnte nicht
geoffenbaret werden ohne Gnade. Wie konnte der schreckliche Zustand des Menschen vor seinen Blicken enthüllt
werden, ohne daß zugleich in Jesus das Heilmittel gezeigt
wurde! Wie konnte dem Sünder die Heiligkeit und Gerech167
tigkeit Gottes enthüllt werden, ohne zugleich in Jesus Den
zu. offenbaren. Der in Gnaden gekommen war, um die
Sünder anzunehmen und die Gerechtigkeit Gottes zu befriedigen! Die Wahrheit zeigt den Zustand des Menschen, und
die Gnade heilt diesen Zustand. Die Wahrheit offenbart Gott
in Seiner ganzen Fülle, und die Gnade führt zu dieser Fülle
Gottes. Wahrheit und Gnade sind zwei Begriffe, die nie getrennt werden dürfen.
Die Fürbitte Christi
(Lies den Hebräerbrief und 1. Johannes 2, 1. 2)
Es scheint, daß die Lehre der Fürbitte Christi bei vielen
Christen in eine gewisse Dunkelheit gehüllt ist und es von
großem Nutzen sein dürfte, sie zu erhellen. Die meisten weisen dieser Lehre den unrechten Platz an, indem sie aus ihr
das Mittel zur Erlangung der Gerechtigkeit und des Friedens
machen wollen, wodurch natürlich der von ihnen nicht erkannte Charakter der Erlösung abgeschwächt wird. Andere
hingegen, die verstanden haben, daß die Erlösung vollkommen und vollendet ist, lassen die Fürbitte beiseite, weil diese
mit der Vollkommenheit der Erlösung, die sie dadurch geschwächt und verleugnet zu sehen glauben, für unvereinbar
halten. Daß aber alle diese Christen im Irrtum sind und den
wahren Charakter der Fürbitte Christi verkennen, ist einleuchtend. Sie ist auch nicht ein Mittel zur Erlangung der
Gerechtigkeit und des Friedens. Sie zu. diesem Zweck benutzen zu wollen, ist von großem Schaden und verhindert uns,
an der Wahrheit festzuhalten, daß wir Gottes Gerechtigkeit
in Christo sind. Aber ebenso schädlich ist es, die Fürbitte
Christi aus dem Auge zu verlieren, nachdem wir Christus
als unsere vollkommene Gerechtigkeit erkannt haben. Auf
diese Weise macht man aus der Gerechtigkeit eine kalte
Sicherheit, an der das Herz keinen Anteil hat. Man zerstört
in der Seele das tiefe und süße Gefühl der beständigen Liebe
Christi zu uns, sowie unsere Abhängigkeit von der täglichen
Ausübung dieser Liebe.
168
Weil, wie schon bemerkt, die Mehrzahl der Christen der
vollkommenen Liebe Gottes in Gerechtigkeit nicht versichert
ist, gehen sie zu Christus, um von Ihm zu erlangen, daß Er
Sich mit ihrer Sache befasse und für sie vor Gott Fürbitte
einlege, um alles in Ordnung zu. bringen. Ohne sich davon
Rechenschaft zu geben und ohne es eingestehen zu wollen,
erblicken sie tatsächlich in Christus die Liebe , in Gott das
Gericht , und sie erwarten von Christus, daß Er Gott
zum Mitleid, zum Erbarmen und zur Vergebung bewege. Im
Blick auf die allgemeinen Belehrungen in unseren Tagen ist
es wirklich kein Wunder, daß sich viele in einem solchen
Seelenzustand befinden. Aber dieser Zustand verrät nicht
unsere wahrhaft christliche Stellung. Die Liebe Gottes ist die
Quelle aller unserer Vorrechte und der Hoffnungen unseres
Heils, und kraft des Werkes Christi, in dem Gott verherrlicht
worden ist, betätigt sich diese Liebe vollkommen in der
Gerechtigkeit (Rö 5, 21). Wir sind Gottes Gerechtigkeit in
Christo (2. Kor 5, 21), wir haben nicht nötig, sie zu suchen.
Christus ist unsere Gerechtigkeit für immer. Diese Gerechtigkeit ist ebenso vollkommen wie beständig und fortdauernd,
wie vollkommen. Gott ist in dieser Beziehung vollkommen
verherrlicht worden, und Seine Liebe ergießt sich völlig und
nach der Gerechtigkeit auf den Christen wie aui Christus
Selbst. Die Stellung ist sicher und von Gott festgestellt —-
eine Stellung und eine Verbindung, die sich nie verändern.
Die Fürbitte Christi ist auf sie gegründet. Wenn ich später
vom Brief an die Hebräer spreche, werden wir auch sehen,
inwiefern jene Handlung, die das Fundament unseres Platzes
vor Gott vervollständigte, eine Handlung des Priesters war.
Andererseits ist es ebenso wahr, daß wir auf Erden arme,
schwache Kreaturen sind, die oft straucheln (Jak 3, 2).
Unser Platz vor Gott ist im Licht, wie Gott im Licht ist, und
dort sind wir in der Gerechtigkeit, von der wir eben gesprochen haben, angenommen. Aber wir wandeln noch durch eine
versuchungsreiche Wüste, und zwar in einem noch nicht
erlösten Leibe. Wir sind schwache und abhängige Geschöpfe,
die oft straucheln, und leben in einer Welt, wo wir der
Gnade und der Barmherzigkeit „zur rechtzeitigen Hilfe"
169
bedürfen. Die besseren Neigungen werden durch unsere täglichen Bedürfnisse, durch das tägliche Vertrauen und durch
das tägliche Erfahren der Treue des Herrn, nicht aber durch
das Gefühl unserer Sicherheit erweckt und in Tätigkeit gesetzt, obwohl das Zweite die Grundlage des Ersten und
durchaus notwendig ist, und schon an und für sich Dank und
Lob hervorbringt. Aber es ist einleuchtend, daß die Abhängigkeit und alles, was damit zusammenhängt, weder hervorgerufen noch unterhalten wird durch die Tatsache, daß wir
vollkommen und auf immer vollendet sind. Wenn ich das
Gefühl verliere, daß ich so auf immer vollkommen vor Gott
bin, so wird meine Furcht eine knechtische sein, und wenn ich
in Gott einen gerechten Richter erblicke, werde ich wegen
meiner Sicherheit auf Christus sehen. Wenn ich aber das
Gefühl meiner Abhängigkeit in der Schwachheit verliere,
dann genügt es mir, mich in Sicherheit zu wissen; höher geht
mein Bestreben dann nicht, und die besten Neigungen und
die köstlichsten Gnadengaben werden nicht wachgerufen.
Betrachten wir jetzt, worin denn eigentlich die Fürbitte besteht und welches der Platz ist, der ihr im Christentum
gebührt.
Die Fürbitte unseres Herrn hat zwei verschiedene Charaktere:
Christus ist Priester vor Gott und Sachwalter bei dem Vater.
Unter diesen beiden Charakteren erscheint Er vor Gott und
vor dem Vater für uns, damit wir die Segnungen empfangen,
die wir brauchen. Der erste dieser Charaktere ist aber allgemeiner als der zweite. Als Prieste r ist Christus vo r
Gott , so daß wir zu Gott kommen und Ihm nahen dürfen;
Er bittet aber auch zugleich für unsere Bedürfnisse. Als
Sachwalte r be i de m Vate r ist Er mehr für die
Wiederherstellung der Gemeinschaft tätig.
Hier stoßen wir auf einige Schwierigkeiten. Es gibt Personen,
die leugnen, daß das Wort Fürbitte die tatsächliche Fürbitte
oder Dazwischenkunft für uns bezeichnet. Sie behaupten, der
griechische Ausdruck ..entvgckän-ö" bezeichnet nur die persönliche Gegenwart oder das Erscheinen des Herrn vor Gott
und unserem Vater für uns. Doch das ist ein Irrtum. Wenn
wir in Hebr 7, 25 lesen, daß „er immerdar lebt, um sich für
170
sie zu verwenden", so lebt Er doch nicht immerdar, um unsertwegen nur vor Gott zu erscheinen. Auch in Rö 8, 34 lesen
wir: „Der auch zur Rechten Gottes ist, der sich auch für uns
verwendet." Und wenn wir in demselben Kapitel (V. 26, 27)
in bezug auf den Heiligen Geist die Worte lesen: „Der Geist
verwendet sich für uns in unaussprechlichen Seufzern", so ist
es klar, daß der Ausdruck, um den es sich hier handelt, in
dem einfachen und gewöhnlichen Sinn einer tatsächlichen
Fürbitte für uns angewendet wird. Denn in keiner Weise
erscheint der Heilige Geist in der Gegenwart Gottes für uns,
sondern Er spricht für uns; Er verwendet Sich in unaussprechlichen Seufzern. Der Gebrauch des Wortes „eatvgchü/uT,
ist also unzweideutig.
Andere Personen haben, wie seltsam dies auch scheinen mag,
sich nicht zu sagen gescheut, daß der Brief an die Hebräer
nicht an Christen, sondern an den jüdischen Überrest gerichtet sei. Allerdings gibt es in diesem Brief Aussprüche,
die wie Äste eines fruchtbaren Baumes über die Mauer hinausragen und so bis zu jenen Gläubigen zu ihrem Nutzen
und Segen hingelangen. Dennoch ist der Brief an Christe n
gerichtet. An wen wuxde (und in der Tat ist, da es ein Brief
ist und keine Prophezeiung, dies ein genügender Beweis) der
Brief gerichtet, an Christen oder an Nichtchristen? Ohne Zweifel an Christen. Es bestand damals kein anderer jüdischer
Überrest, als Christen, an den der Brief hätte gerichtet sein
können. Der Irrtum, in den man in dieser Beziehung gefallen
ist, scheint daher zu kommen, daß der Brief sich nicht auf
den eigentlichen christlichen Boden stellt, d. h. auf den Boden
der Vereinigung der Gläubigen mit Christus. Er sieht vielmehr die Gläubigen auf der Erde und Christus für sie im
Himmel abgesondert, von ihnen getrennt, für sie persönlich
in der Gegenwart Gottes. Er sieht die Gläubigen nicht als in
die himmlischen örte r versetzt (vgl. Eph 1, 3-6. 22; 2, 5. 7),
sondern als in Trübsal, in der Wüste geübt und geprüft. Der
Brief richtet sich an die heiligen Brüder der damaligen Zeit,
die Genossen der himmlischen Berufung waren und Christus
zum Apostel und Hohenpriester ihres Bekenntnisses hatten
(Hebr 3, 1). Er richtete sich also damals nur an Christen, denn
171
nur sie genossen diese Stellung, und er richtet sich nicht d i -
T e k t an jemand anders. Gott brachte viele Söhne zur Herrlichkeit und Christus ist der Urheber ihrer Errettung (Hebr 2,
10). Vom Anfang bis zum Ende des Briefes finden wir dieselbe Wahrheit. Sie nimmt Bezug auf die, die damal s die
himmlische Gabe geschmeckt hatten und des Heiligen Geistes
teilhaftig geworden waren (Hebr 6, 4). Damal s hatten sie
den Heiligen gedient, damal s hatten sie mit Freuden den
Raub ihrer Güter aufgenommen, da sie wußten, daß sie selbst
eine bessere und bleibende Habe besaßen (Hebr 6, 10; 10. 32.
34). Es scheint mir nicht wahrscheinlich, daß jemand daran
zweifeln könnte, daß die, von denen man damals diese Dinge
sagen konnte, Christen waren, oder daß sich, mit anderen
Worten, dieser Brief an Christen , und nur an solche,
richtet. Ihre Hoffnung war innerhalb des Vorhangs, wo
Jesus eingegangen ist als Vorläufer des Schreibers und derer, an die er schrieb (Hebr 6, 18-20). War der Schreiber
kein Christ? Sie nahten Gott damals , ich denke, als
Gläubige, d. h. als Christen. Ihnen geziemte ein Hoherpriester, höher als die Himmel geworden, weil sie im Geiste dort
eintraten (Hebr 7, 26; 8, 2). Das ganze neunte Kapitel setzt
eine damal s ewige Erlösung, ein ewiges Erbe, die himmlischen Dinge, und das Erscheinen Christi Selbst im Himmel
zur Zeit der Abfassung des Briefes für die voraus, an die er
gerichtet war. Ihre Gewissen waren gereinigt (Hebr 9, 11-14),
während die des Oberrestes es erst dann sein werden, wenn
sie Christus kommen sehen. Christus sitzt für immer zur
Rechten Gottes (Hebr 10, 12), und der Eintritt ins Heiligtum
war für sie auf einem neuen und lebendigen Weg geöffnet
(Hebr 10, 19-22). Sie sollten den Anfang ihres Bekenntnisses
standhaft festhalten (Hebr 3, 6-14; 4, 14; 6, 11; 10, 23). Sie
waren Gläubige, d. h. solche, die Zutritt hatten in das Alierheiligste. Der ganze Brief setzt voraus, daß die, an die er sich
richtet, Gläubige waren, daß sie ein ihnen bekanntes Teil
im Himmel hatten, und daß dies ihre Berufung war. Er
spricht nicht nur von den einzelnen, die, nachdem sie getötet
worden seien, einen Platz im Himmel haben würden (vgl.
Offb 6, 9-11; 20,4); der Himmel ist die Berufung aller derer,
172
an die der Brief gerichtet ist. Es waren Christen, wenn auch
Christen aus dem Judentum. Der Brief richtet sich nur an
solche, die es sind, obwohl er in seiner Ausdrucksweise auch
derer gedenkt, die späterhin auf der Erde geschont werden;
denn für diese ist noch eine Ruhe übriggeblieben.
Es ist in der Tat ganz unglaublich, daß man den Brief an die
Hebräer lesen kann ohne zu erkennen, daß er zu Christen
redet und nur an Christen gerichtet ist, d. h. an solche, die
damals für den Himmel berufen waren und deren Bekenntnis
ein solches war. Ich gebe gerne zu, daß der Brief nicht an die
Kirche als solche gerichtet ist. Er würde, wie auch die Kirche,
seine wahre Bedeutung verlieren, weil die Kirche mit Christus
im Himmel vereinigt ist, und hier die Christen nicht von diesem Standpunkt betrachtet werden. Der Brief wäre nicht an
seinem wahren Platz, weil er lehrt, daß Christus für uns im
Himmel ist, während wir noch auf der Erde wandeln und
kämpfen und unsere irdische Stellung zur Anbetung der
himmlischen Gnade Veranlassung gibt. Aber die Gnade von
oben, die uns in einer irdischen Lage findet, während wir für
den Himmel berufen sind, führt uns ein in die Erkenntnis der
Liebe, der Teilnahme und Treue, die in Jesus ist, sowie des
Interesses, das er an unserer Lage und den Verhältnissen
nimmt, in denen wir uns hier befinden. Das kann nicht der
Fall sein, wenn von unserer Vollkommenheit in Ihm die Rede
ist. Die Gnade bildet uns also zur Abhängigkeit und zum
Vertrauen auf Ihn; sie lehrt uns, auf Seine Treue zu rechnen,
sie macht, daß wir das Interesse, das Er beständig für uns hat,
ergreifen, und läßt uns auf den Zeitpunkt hinschauen, wo wir
Ihn sehen werden, wie Er ist. Dies kann nicht der Fall sein,
wenn von unserer Anwesenheit in Ihm im Himmel die Rede
ist.
Was nun die Stellen in 1. Joh 2, 2 und Rö 8, 34 betrifft,
so beziehen diese sich unstreitig auf Christen . Die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn ist unstreitig das
Teil der Christen. Das achte Kapitel des Römerbriefes bedarf
in dieser Hinsicht gar keiner Erklärung. Wenn man die Stelle
in 1. Joh 2, 2 auf Nichtchristen beziehen wollte, wie wäre sie
dann mit der Fürbitte in Einklang zu bringen? Das Eintreten
173
des Herrn als Sachwalter ist also auf die Tatsache gegründet,
daß Jesus Christus, der Gerechte, der Sachwalter und die
Sühnung für unsere Sünden ist. Die göttliche und vollkommene Gerechtigkeit und die vollkommene Versöhnung haben
uns gezeigt, wie Gott im Lichte ist, auf daß wir darin wandeln
sollen; und weil wir fehlen — „wenn jemand gesündigt hat"
— dann wird und kann keine Zurechnung möglich sein, weil
diese Gerechtigkeit und diese Versöhnung immerdar vor Gott
sind. Es ist unmöglich, weil die Sünden weggenommen sind
und die Gerechtigkeit fortbesteht. Gott kann jedoch die Sünde
in denen, die Er liebt, nicht dulden, und Christus bittet für
uns sowohl kraft Seines Werkes, als auch kraft dessen, daß Er
unsere Gerechtigkeit vor Gott ist. So wird die Seele wiederhergestellt. Der Grundlage der Tätigkeit Christi als Sachwalter führt auch dahin, von der ähnlichen oder wirklich
gleichen Grundlage des Priestertums zu sprechen. Auf Erden
konnte Christus nicht Priester sein, aber es gab ein Werk, das
der Hohepriester außerhalb der im Heiligtum stattfindenden
Ausübung des Priestertums zu vollziehen hatte, •— ein Werk,
das den Grund zu dieser Ausübung legte, bei dem er der
Stellvertreter des Volkes war und das den Grund legte zu
dem, was eigentlich sein priesterlicher Dienst im Laufe des
Jahres war: ich meine das Opfer des großen Versöhnungstages, an dem das Blut auf den Gnadenstuhl gebracht und
die Sünden auf den Kopf des Bockes Asasel bekannt wurden
(3. Mo 16). Auf diese Weise wurde das Volk versöhnt, und
auf dieser Grundlage ruhte die ganze Ausübung des Priestertums. Der Brief an die Hebräer nimmt nun Bezug auf diese
Handlung sowie auf das Priestertum selbst. Durch Sein
irdisches Leben wurde Christus befähigt, Mitgefühl zu haben,
obwohl Er jetzt im Himmel ist, und das auf Erden vollbrachte
Opfer (durch das Er, was die Schuld betrifft, die Sünden für
immer wegnahm) bildet die Grundlage der Fürbitte wegen
der täglichen Segnung und des täglichen Zutritts zu Gott
durch Ihn. Darum erklärt der Brief an die Hebräer nachdrücklich, daß Christus nicht Priester sein könnte, wenn Er
auf Erden wäre (Hebr 8, 4), und er sagt zugleich: „Daher
mußte er in allem den Brüdern gleich werden, auf daß er in
174
den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer Hoherpriester werden möchte, um die Sünden des Volkes zu sühnen" (Kap 2, 17). Auf dieser Grundlage beruhen sein erbarmungvolles und fortdauerndes Priestertum und Seine Fürbitte. Auf Grund des Opfers Christi ist es unmöglich geworden,
daß die Sünde uns angerechnet würde, und Sein Leben des
Leidens und der Versuchung befähigt Christus, denen zu
helfen, die versucht werden, weil Er weiß, was es ist, zu leiden und versucht zu werden (Kap 2, 17. 18; 4, 15). Darum
werden wir Christen in Kap 4 ermahnt, unser Bekenntnis
festzuhalten*; „denn wir haben nicht einen Hohenpriester,
der nicht Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher
Weise wie wir, ausgenommen die Sünde". Wir haben also
einen Priester bei Gott und einen Sachwalter bei dem Vater.
Christus ist dort in diesem doppelten Charakter kraft eines
Opfers, durch das Er ein für allemal unsere Sünden getragen hat. Nachdem Er durch das Opfer Seiner Selbst die
Sünde weggenommen hat, befindet Er sich dort in vollkommener Annahme, an der auch wir teilhaben. Er allein —
Jesus Christus, der Gerechte, die Sühnung für unsere Sün»
den — war fähig, völlig (wörtlich: bis zur Vollendung) die
zu erretten, die durch Ihn Gott nahen, indem Er immerdar
lebt, um sich für sie zu verwenden, weil Er, nachdem Er die
Reinigung unserer Sünden gemacht hat, als großer Hoherpriester sitzt zur Rechten des Thrones der Majestät in den
Himmeln (Kap 8, 1-2; 9, 11. 14. 24-28; 10, 5. 22; 1. Joh 2,
1. 2).
Dies führt uns zu einem anderen Punkt. Wir nahen uns nicht
dem Hohenpriester, sondern wir kommen zu Got t durch
Ihn als zu einem Gnadenthron. Ich zweifle nicht, daß die
herablassende Gnade Gottes Geduld haben würde mit jemand, der in Aufrichtigkeit des Herzens sich zu Christus, als
dem Hohenpriester nahte; aber dies ist nicht die Belehrung
des Wortes Gottes.
*) Beachten wir, daß dies im Gegensatz steht zur Rückkehr ins Judentum. Wie fern
liegt daher der Gedanke, daß der Brief nur auf den jüdischen Überrest anwendbar
sei.
175
Christus erscheint in der Gegenwart Gottes für uns; wir nahen durch Ihn zu Gott. Es gibt in dieser Hinsicht weder
Ungewißheit noch Ausnahme in der Schrift. Die Fürbitte
Christi ist weder die Folge unserer Rückkehr zu Gott, noch
die Folge unserer Reue, sondern Er bittet für uns wegen
unserer Schwachheiten, Bedürfnisse und Mängel. Seine Gnade
ist in Tätigkeit, weil Seine Wirksamkeit diese Gnade zur
Quelle und Sein Werk, Seine Stellung in Gerechtigkeit vor
Gott zur Grundlage hat, wie wir gesehen haben.
Wenn wir uns Christus in der soeben erwähnten Weise nahen, haben wir weder die Liebe Gottes noch unseren Platz
und unsere Verbindung mit Gott — um mit Johannes zu
reden — im Licht, wie Er im Lichte ist, jemals erkannt, und
ebenso wenig die volle Freiheit zum Eintritt in das Heiligtum
durch den zerrissenen Vorhang (Hebr 10, 20). Wir haben
dann noch nicht erfahren, daß es weder Verdammnis noch
Trennung gibt für die, welche in Christo Jesu sind (Rö 8).
Das Priestertum Christi, sowie Sein Eintreten oder Sein Werk
als Sachwalter setzen voraus, daß wir unseren Platz im Himmel haben. Fehlt dieses Bewußtsein, dann sind wir in Gefahr,
betreffs unseres Wandels mit diesem Vorrecht nicht in Übereinstimmung zu sein. Einerseits kann Gott kein Böses dulden
an denen, die in Verbindung mit Ihm stehen, wie sehr sie
sonst auch vor Ihm begnadigt sein mögen; sie müssen mit
reinen Füßen und reinen Herzen vor Ihm sein, weil sie rein
sind . Andererseits prüft Er sie hier auf der Erde, und
Christus geht in besonderer Weise in alle ihre Leiden und
Schwachheiten ein. Er fördert ihr Wachstum, trifft Vorsorge
in ihren Schwachheiten und reicht Barmherzigkeit, Reinigung
und Wiederherstellung dar. Dies ganze Eintreten Christi hat
nichts mit unserer Annahme vor Gott zu tun. Sie hat aber
zum Zweck, uns zu bewahren oder uns zum wirklichen Genuß
der Gemeinschaft mit Gott und in die Verbindung zurückzuführen, in der wir uns Ihm gegenüber befinden. Die Sicherheit ist nicht das Ende, sondern der Anfang des Christentums. Das Christentum stellt uns in Verbindung und Gemeinschaft mit Gott, wie Er ist, sowie mit unserem Vater und
Seinem Sohne Jesus Christus. Das Priestertum und das Werk
176
des Sachwalters halten uns darin aufrecht, helfen dazu und
führen uns dahin zurück. Das geschieht jetzt, da unsere Verbindung der göttlichen Gerechtigkeit gemäß bereits besteht,
wir uns aber auf einem Schauplatz der Versuchungen und
Prüfungen befinden, dessen ganze Wirkung dahin gerichtet
ist, diese Gemeinschaft zu unterbrechen wegen unserer
Schwachheit und der Seelenprüfungen, durch die wir inniger
zu dieser Gemeinschaft gebildet werden sollen. Aber nicht
w i r bewirken es, daß unser großer Hoherpriester Sich für
uns in den Riß stellt; Er tut es in Seiner Gnade und nach
Seinem Willen. So sehen wir in einem Beispiel, wo Er die
Grundsätze Seines Priestertums schon im voraus offenbarte,
daß Er für Petrus betete, noch ehe dieser die Sünde begangen
hatte, und daß Er gerade um das flehte, was Petrus nötig
hatte, — und zwar nicht, daß der Jünger nicht gesichtet werde, sondern daß sein Glaube nicht aufhöre und er nicht der
Verzweiflung anheimfalle. Im rechten Augenblick wird das
Herz des Petrus durch die Gnade und die Tätigkeit Christi
getroffen, und bitterlich weint er über seinen Fehltritt. Diese
Rückkehr des Jüngers ist nicht die Ursache, sondern die Wirkung der Tätigkeit Christi. Später stellt der Heiland die
Seele des Petrus ganz wieder her. Ebenso lesen wir, wenn es
sich um die Tätigkeit des Sachwalters handelt, in 1. Joh 2, 1:
„Wenn jemand gesündigt hat —• (nicht aber: „Wenn jemand
bereut"), wir haben einen Sachwalter bei dem Vater."
Derselbe Grundsatz findet seine Anwendung in Joh 13. Christus, anerkannt als Sohn Gottes, als Sohn Davids, als Sohn
des Menschen, nimmt jetzt Seinen Platz droben im Himmel
ein und zeigt, daß Er noch unser Diener ist, indem Er uns
reinigt, damit wir, weil Er nicht hier bei uns bleiben konnte,
ein Teil dort wo Er ist mit Ihm haben. Es handelt sich um
die Tätigkeit Christi, nicht um etwas, das die Jünger gewünscht hatten. Sie, die durch das Wort gewaschen sind und
als rein betrachtet werden, sind der Gegenstand des Dienstes
Christi. Durch Seine Gnade dazu bewogen, wäscht Christus
ihre Füße von dem Schmutz, der sie bei ihrem Wandel verunreinigt hat.
177
Bemerken wir ferner, daß die Fürbitte Christi zugunsten derer
stattfindet, die in Verbindung mit Ihm sind. „Nicht bitte ich
ich für die Welt, sondern für die, welche du mir gegeben hast",
sagt Er und fügt hinzu: „Aber nicht für diese allein bitte
ich, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich
glauben." Im Hebräerbrief ist es ebenso klar, daß Christus
Priester ist für diejenigen, die in Verbindung mit Gott sind,
nur bezieht es sich hier mehr auf Bekenntnis und das Volk
als im Römerbrief und in den Schriften des Johannes. Trotzdem redet der Hebräerbrief von uns. Wenn darin von der
Tätigkeit Christi für uns die Rede ist, so wird hier unserer
Fehler weniger gedacht als bei Johannes. Der Brief hat sich
die Darstellung der besonderen Natur und des besonderen
Charakters des Priestertums im Gegensatz zu dem, was zum
Gesetz gehörte, zum Hauptgegenstand gewählt, nämlich die
Abschaffung des irdischen und die Aufrichtung des himmlischen Priestertums. Jedoch handelt es sich keineswegs um
den Gedanken, daß es der Priester sei, an den man sich
wenden müsse. Wir gehen zu Gott durch Ihn. Wir nahen mit
völliger Zuversicht dem Gnadenthron, weil Jesus vor diesem
Throne ist, aber nirgends zeigt die Schrift den Gedanken,
daß wir zu Ihm gehen, sondern nur, daß wir uns zuversichtlich Gott Selbst nahen. Im ganzen Brief ist in keiner Weise
der Gedanke ausgesprochen, daß wir die Gerechtigkeit mittels
des Priestertums erlangen; in dieser Hinsicht läßt sie keine
Ungewißheit. „Durch ein Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden", und: „Durch welchen Willen wir geheiligt sind durch das ein für allemal
geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi" (Hebr 10, 14. 10).
Er hat S;
ch ein für allemal geopfert (Hebr 7, 27; 9, 25). Sein
Priestertum ist für diejenigen, die versucht werden. Er kann
ihnen helfen, weil Er immerdar lebt, um sich für sie zu verwenden (Hebr 7, 23-25). Er ist durch das Bewußtsein unserer
Schwachheiten zum Mitleiden bewegt, da Er versucht worden
ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde (Hebr
2, 17f; 4, 15f). Er hilft denen, die geheiligt und durch das
ein für allemal geschehene Opfer Christi vollkommen gemacht
sind, während sie durch die Wüste gehen. Er ist Derjenige,
durch Den sie zu Gott nahen.
178
Das Priestertum Christi wird also ausgeübt, damit wir vor
dem Gnadenthron Barmherzigkeit und Hilfe finden. Das
Bedürfnis nach Barmherzigkeit, das jeder einzelne von uns
hat, geht in bemerkenswerter Weise aus der wohlbekannten
Tatsache hervor, daß die an einzelne Personen gerichteten
Briefe die Barmherzigkeit erwähnen, während in den an die
Versammlungen gerichteten Briefen davon keine Rede ist
(Rö 1, 7; 16, 24; 1. Kor 1, 3; 2. Kor 1, 2; Gal 1, 2; Eph 1, 2.
Kol 1, 2 usw.; 1. Tim 1, 2; 2. Tim 1, 2; Tit 1, 4 usw.). Aus
diesem allen ergibt sich, daß der Charakter der Fürbitte Christi, Seines Priestertums und Seiner Dazwischenkunft als Sachwalter ganz einfach für uns ist. Diese Tätigkeiten werden
ausgeübt zugunsten derer, die bereits mit Gott in Verbindung
sind, und dienen mithin nicht dazu, diese zu Ihm hinzuführen. Sie stehen im Dienst derer, die schon Gottes Gerechtigkeit in Christus sind, und in Ihm ihren Platz in den himmlischen örtern haben. Christus tritt als Sachwalter zugunsten
derer ein, die im Licht wandeln, wie Gott im Licht ist. Seine
Fürbitte ist für die, die Gott für sich haben, und die durch
niemand verdammt werden können. Sie ist in Tätigkeit wegen der Vergehungen und Schwachheiten der Gläubigen auf
dem Wege hier, nicht aber, um für sie einen Platz in den
himmlischen örtern zu erwerben. Sie ist da, damit sie für
uns, die wir droben sind, einstehe bei allen Abweichungen
in unserem Wandel durch die Wüste, um uns in unseren
Schwachheiten zu helfen, um uns armen, strauchelnden Geschöpfen, die wir hier noch sind, die Fähigkeit zu geben,
mit Freimütigkeit dem Thron der Gnade nahen zu können,
„auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden
zur rechtzeitigen Hilfe" (Hebr 4, 16).
Auf diese Weise erhält die Fürbitte in uns das Gefühl unserer
Abhängigkeit sowie zugleich auch das Gefühl eines völligen
Vertrauens lebendig. Wenn Christus nicht vor dem Thron
wäre, dann könnten wir uns diesem nicht mit Zuversicht
nahen. Wenn es sich noch darum handelte, Gerechtigkeit
erlangen zu müssen, dann wäre zwar von Schuld und Annahme, nicht aber von Hilfe die Rede. Wenn unser Weg zu
Christus als dem Priester führt, dann würde das nur bedeu179
ten, daß wir nicht zu Gott nahen dürfen, und das wäre gerade
das Gegenteil von dem, was das Christentum uns lehrt. Aber
von diesem allem ist keine Rede. Wir nahen freimütig zu Gott,
weil Christus vor Ihm ist als unser Hoherpriester. Wir denken nicht daran, daß uns irgend etwas zugerechnet werden
könnte, aber die Tatsache, daß wir Gottes Gerechtigkeit in
Ihm sind, hat nicht zur Folge, daß wir es in irgendeiner Weise
mit unseren Mängeln und Gebrechen auf dem Wege leichtfertig nehmen. Christus nimmt Notiz davon, und Er ist unser
Sachwalter, weil Er der Gerechte und die Sühnung für uns
ist. Das persönliche Gefühl der Schuld wird auf diese Weise
aufrechterhalten und keineswegs durch das Gefühl der Gnade
geschwächt, und dennoch wird unsere Annahme bei Gott nie
in Frage gestellt oder die Gerechtigkeit Gottes in Zweifel
gezogen, oder durch das Bewußtsein unserer Verbindung mit
Gott beseitigt. Alles ist auf diese Dinge gegründet. Zugleich
aber ist die Heiligkeit Gottes betreffs unseres Wandels völlig
aufrechterhalten, und wir werden, wenn wir fehlen sollten,
in einem wahren Geiste des Bekenntnisses bewahrt. Unser
eigenes Urteil über das Gute und Böse wird lebendig erhalten
und wächst ohne die mindeste Spur einer knechtischen
Furcht. In dieser Beziehung wird eine beseligende Zuversicht
in der Seele wachgehalten.
Ich habe bereits auf den Unterschied zwischen dem Eintreten
Christi als Sachwalter, das uns in die Gemeinschaft mit dem
Vater zurückführt oder uns in ihr erhält, und dem Priester -
tum, dessen Ausübung sich auf das Vorrecht, Gott nahen
zu dürfen, und auf die Hilfe, die wir als Menschen brauchen,
bezieht, aufmerksam gemacht. Aber bezüglich ihrer Grundlage und Natur sind diese beiden Ämter dieselben. Sie haben
die positive Beziehung, in der wir zu Gott stehen, zur Grundlage und werden auf unseren Wandel hier in der Schwachheit angewendet, wenn wir uns in dieser Lage befinden. Wie
Johannes uns den Sachwalter beim Vater zeigt, wenn wir
gesündigt haben, so stellt uns der Hebräerbrief den Hohenpriester dar, Der mit unseren Schwachheiten Mitleid haben
kann und Der, obwohl Er jetzt alle Macht im Himmel und
auf Erden besitzt, Mitgefühl haben kann, weil Er die Schwach180
heitert kennt; Er ist beständig mit uns in unserem Zustand
beschäftigt, und dadurch wird das heilige Selbstgericht in
unseren Seelen aufrechterhalten, während zugleich das Bewußtsein der Gnade sowie die Zuversicht in die unveränderliche Liebe Dessen unangefochten bleibt, Der „in allem den
Brüdern gleich (geworden ist), auf daß er in den Sachen mit
Gott ein barmherziger und treuer Hoherpriester werden
möchte." Das Gefühl der Abhängigkeit und des Vertrauens
wird auf diese Weise erhalten und vermehrt, und zwar nicht,
als ob wir in einer Schwierigkeit zum Priester unsere Zuversicht nähmen, um Seine Hilfe anzusprechen, sondern in
dem Bewußtsein der freien und beseligenden Tätigkeit und
der treuen, fürsorglichen Ausübung Seiner eigenen Liebe.
Diese Liebe wird nie müde, wenn wir im richtigen Gefühl
der Demütigung zu Ihm zurückkehren, denn wenn dieses
Gefühl richtig ist, dann ist es die Frucht der köstlichen Wirksamkeit Seiner Gnade.
Ich füge nichts weiter hinzu. Mein Zweck war nicht, bei dieser
Gnade und ihren Früchten, die sie in uns hervorbringt, zu
verweilen. Mich leitete nur der Wunsch, den Platz, den das
Priestertum Christi und Sein Werk als Sachwalter in der
Schrift haben, klar hervorzuheben. Ich wollte nur zeigen, daß
beide Tätigkeiten auf die Aufrichtung der göttlichen Gerechtigkeit und der vollbrachten Versöhnung, sowie auf den
Platz, den diese Versöhnung uns zuwegegebracht hat, gegründet sind. Weder das eine noch das andere dieser beiden
Ämter verdunkelt die Gerechtigkeit und Versöhnung, sondern
diese bilden die Grundlage für die Ämter, die den Zweck
haben, unsere Schwachheiten und Mängel hier auf der Erde
mit jenem glorreichen Platz in Übereinstimmung zu bringen,
so daß einerseits bezüglich der Gnade keinerlei Ungewißheit
herrschen kann, andererseits aber nichts geduldet wird, was
(obwohl nichts zugerechnet wird) mit ihr nicht im Einklang
steht. Statt einer kalten, gefühllosen Sicherheit bezüglich des
Heils vereinigen sich im Herzen die Gefühle der Abhängigkeit, des Vertrauens und der Liebe mit der Sicherheit in Ihm,
Der der Gegenstand des Herzens ist, bis wir dahin gelangen,
wo es der Ausübung dieser beiden Ämter nicht mehr bedarf.
J.N. D.
181
Die Wolke und das Lager
(4. Mose 9, 15-23)
„Und an dem Tage, da die Wohnung aufgerichtet wurde,
bedeckte die Wolke die Wohnung des Zeltes des Zeugnisses;
und am Abend war es über der Wohnung wie das Ansehen
eines Feuers bis an den Morgen. So war es beständig: die
Wolke bedeckte sie, und des Nachts war es wie das Ansehen
eines Feuers. Und so wie die Wolke sich von dem Zelte erhob, brachen danach die Kinder Israel auf; und an dem Orte,
wo die Wolke sich niederließ, daselbst lagerten sich die Kinder Israel. Nach dem Befehl Jehovas brachen die Kinder
Israel auf, und nach dem Befehl Jehovas lagerten sie sich;
alle die Tage, da die Wolke auf der Wohnung ruhte, lagerten
sie. Und wenn die Wolke viele Tage auf der Wohnung verweilte, so warteten die Kinder Israel der Hut Jehovas und
brachen nicht auf. Und geschah es, daß die Wolke wenige
Tage auf der Wohnung war — nach dem Befehl Jehovas lagerten sie sich, und nach dem Befehl Jehovas brachen sie auf.
Und geschah es, daß die Wolke da war vom Abend bis an
den Morgen, und die Wolke erhob sich am Morgen, so brachen sie auf; oder einen Tag und eine Nacht, und die Wolke
erhob sich, so brachen sie auf; oder zwei Tage oder einen
Monat oder eine geraume Zeit — wenn die Wolke auf der
Wohnung verweilte, indem sie darauf ruhte, so lagerten die
Kinder Israel und brachen nicht auf; und wenn sie sich erhob
so brachen sie auf. Nach dem Befehl Jehovas lagerten sie
sich und nach dem Befehl Jehovas brachen sie auf; sie warteten der Hut Jehovas nach dem Befehl Jehovas durch Mose."
Unmöglich könnte ein lieblicheres Gemälde von gänzlicher
Abhängigkeit und völliger Unterwerfung unter die göttliche
Leitung entworfen werden als dasjenige, das uns in dieser
Stelle vor Augen geführt wird. Weder Fußspuren noch
Grenzpfähle waren in dieser „großen und schrecklichen
Wüste" zu sehen. Es war eitel und nutzlos darauf zu warten,
daß jemand sie führte, der den Weg früher schon einmal
gegangen war. Die Kinder Israel waren bei jedem Schritt auf
ihrem Weg auf Gott angewiesen. Sie befanden sich in einem
182
Zustand des beständigen Wartens auf Ihn. Das wäre für
einen ungebrochenen und nicht unterworfenen Willen unerträglich; aber für eine Seele, die Gott kennt, Ihn liebt, Ihm
vertraut und sich in Ihm erfreut, kann es nichts Gesegneteres
geben. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn das Herz
Gott erkannt hat, Ihn liebt und Ihm vertraut, dann wird
es sich an einer völligen Abhängigkeit von Ihm freuen. Im
entgegengesetzten Fall aber ist diese Abhängigkeit nicht zu
ertragen. Der nicht wiedergeborene Mensch betrachtet sich
gern als unabhängig und findet ein Vergnügen daran, sich
einzubilden, er sei frei, könne tun was ihm beliebe, gehen
wohin und reden was er wolle. Doch ach, wie groß ist diese
Täuschung! Der Mensch ist nicht frei. Er ist der Sklave des
Teufels, seines größten Feindes. Fast sechstausend Jahre sind
verflossen, seit er sich den Händen und Ketten dieses furchtbaren geistlichen Sklavenhalters überliefert hat, und seit dieser Zeit befindet er sich unter dessen Macht und Herrschaft
und wird bis zu diesem Augenblick festgehalten.
Ja, Satan hält den unbekehrten, natürlichen, nicht bußfertigen
Menschen in schrecklicher Sklaverei. Hände und Füße hat er
ihm mit den Ketten der Finsternis gebunden, die in ihrer
wirklichen Gestalt nicht gesehen werden, weil sie in trügerischen Schimmer gehüllt sind. Satan übt eine völlige Herrschaft über den Menschen aus, indem er auf dessen Lüste und
Begierden wirkt und die Reize, die Schätze und die Vergnügungen der Welt vor seine Augen stellt. Er ruft die Begierden und Leidenschaften im Herzen wach und befriedigt sie
mit den Dingen dieser Welt, und weil der Mensch seine
Wünsche erfüllt sieht, zieht er daraus den falschen Schluß,
daß er frei ist. Leider aber wird sich früher oder später herausstellen, daß dies der allertraurigste Selbstbetrug ist. Es
gibt keine andere Freiheit als diejenige, womit Christus Sein
Volk befreit. Er sagt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird euch frei machen," und „Wenn nun
der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei
sein" (Joh 8).
Hier ist die wahre Freiheit. Es ist die Freiheit, die der neue
Mensch findet, indem er im Geiste wandelt und die Werke
183
tut, die nach dem wohlgefälligen Willen Gottes sind. Der
Dienst des Herrn ist die vollkommene Freiheit. Jedoch steht
dieses Dienen stets mit der bestimmten Abhängigkeit von
Gott in unzertrennlicher Verbindung. So verhielt es sich mit
dem einzig wahren und vollkommenen Knecht, Der je auf
dieser Erde gewandelt hat. Er wandelte stets in völliger Abhängigkeit. Jede Handlung, jede Tat, jedes Wort, kurz, alles
was Jesus tat oder ließ, war die Frucht der völligen Abhängigkeit und der eindeutigen Unterwürfigkeit unter Gott. Er
handelte, wie es in jeder Beziehung der Wille Gottes war.
Er harrte, wie Gott Ihm zu harren gebot, Er sprach, Er
schwieg, wie Gott es wollte. Alles war bei Ihm in völliger
Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes.
In dieser Weise setzte der Herr Jesus, als Er auf dieser Erde
lebte, Seinen Weg fort. Auch wir, als Teilhaber Seiner Natur,
Seines Lebens und Seines Geistes, sind berufen, in Seinen
Fußstapfen zu wandeln und von Tag zu Tag Gott zu leben
in einfältigem kindlichem Vertrauen. In den oben angeführten
Versen liefert uns die Schrift ein passendes und herrliches
Vorbild eines solchen Lebens in der Abhängigkeit von Gott.
Der Israel Gottes, — das Lager in der Wüste — das Heer
der Pilger, folgte den Bewegungen der Wolkensäule. In Bezug
auf ihre Führung waren sie genötigt, aufwärts zu schauen.
Das ist die eigentliche Tätigkeit des Menschen. Dazu ist er geschaffen, um im Gegensatz zu dem Tier das Antlitz nach
oben erheben zu können, während das Tier geschaffen ist,
nach unten zu blicken. Die Kinder Israel konnten sich keine
Pläne machen. Sie konnten nie sagen: „Morgen wollen wir
nach diesem oder jenem Ort reisen". Sie waren ganz abhängig
von der Bewegung der Wolke.
Wie mit Israel, so sollte es sich auch mit uns verhalten. Auch
wir durchwandern eine pfadlose, ungebahnte Wüste, eine
Wildnis im sittlichen Sinn. Nirgends zeigt sich die Spur eines
Wegweisers. Wir wüßten nicht, wie wir wandeln und wohin
wir gehen sollten, wenn nicht die kostbaren und verständlichen Worte unseres hochgepriesenen Herrn: „Ich bin der
Weg!" unser Ohr erreicht hätten. Hier ist also eine göttliche,
unfehlbare Leitung. Wir müssen Ihm folgen, denn Er ruft
184
uns zu: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird
nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des
Lebens haben" (Joh 8). Es ist eine lebendige Leitung. Es ist
nicht ein Handeln nach dem Buchstaben gewisser Regeln und
Vorschriften, nein, hier heißt es, einem lebendigen Christus
nachfolgen, zu wandeln, wie Er gewandelt, zu, tun, wie Er
getan hat, und in allem Seinem Beispiel zu folgen. Hier gilt
es, das Auge fest auf Jesus gerichtet und Sein Bild in unsere
neue Natur eingeprägt zu haben, damit es hervortrete in
unserem täglichen Leben und in unseren täglichen Handlungen.
Ein solcher Wandel schließt unbedingt eine völlige Unterwerfung des Herzens und eine gänzliche Aufopferung des
eigenen Willens, der eigenen Pläne und der eigenen Wege
in sich. Wir müssen ohne Zögern der Wolkensäule folgen.
Wir müssen imme r und ausschließlic h auf Gott
warten. Wir können nicht sagen: „Wir wollen hierhin und
dorthin gehen, oder wir wollen morgen oder in der folgenden Woche diese und jene Arbeit verrichten." Alle unsere
Wege müssen gestellt werden unter die waltende Kraft der
gebietenden Worte: „Wen n de r Her r will! " —
Worte, die leider nur zu oft in leichtfertiger Weise ausgesprochen oder niedergeschrieben werden.
O möchte unser Verständnis in diesen Dingen doch mehr
erleuchtet sein! Möchten wir doch alle besser verstehen, was
göttliche Leitung ist! Oft bilden wir uns in törichter Weise
ein, und behaupten es sogar mit großer Sicherheit, daß die
Wolke sich in dieser oder jener Richtung bewege, nur weil
diese neue Richtung in Übereinstimmung ist mit unseren
Neigungen! Wir wünschen eine gewisse Arbeit zu tun, oder
diesen oder jenen Weg einzuschlagen, und wir suchen uns
dabei einzureden, daß unser Wille der Wille Gottes sei. Auf
diese Weise betrügen wir uns oft selbst, anstatt uns von
Gott leiten zu lassen. Unser Wille ist nicht gebrochen, und
darum können wir nicht in rechter Weise geleitet werden.
Denn das wahre Geheimnis, um recht, d. h. durch Gott geleitet zu werden, besteht darin, den eigenen Willen ganz und
gar in Unterwürfigkeit zu halten. „Er leitet die Sanftmütigen
185
im Recht, und lehrt die Sanftmütigen Seinen Weg". — „Mein
Auge auf dich richtend, will ich dir raten". Laßt uns die ernste
Ermahnung zu Herzen nehmen: „Seid nicht wie ein Roß, wie
ein Maultier, das keinen Verstand hat; mit Zaum und Zügel,
ihrem Schmucke, mußt du sie bändigen, sonst nahen sie dir
nicht" (Ps 32, 9). Wenn das Antlitz nach oben gerichtet ist,
um die Bewegungen des göttlichen „Auges" zu beobachten,
dann werden wir „Zaum und Zügel" nicht benötigen. Doch
hier liegt gerade der Punkt, wo wir oft in trauriger Weise
unsere Unachtsamkeit und Nachlässigkeit an den Tag legen.
Wir leben nicht nahe genug bei Gott, um die Winke Seiner
Augen erkennen zu können, und unser eigener Wille steht
im Vordergrund. Wir handeln und wandeln nach unserem
eigenen Gutdünken, und darum bleibt uns nichts anderes
übrig, als daß wir bittere Früchte ernten. Der Prophet Jona
liefert uns in dieser Hinsicht ein lehrreiches Beispiel. Er erh
;
elt den Befehl, nach Ninive zu gehen. Doch sein Verlangen war, nach Tarsis zu reisen, und alle Umstände schienen zu seinen Gunsten zu sein; die Vorsehung schien sich
nach seinem eigenen Willen zu richten. Aber ach, Jona mußte
seinen Zustand im Eingeweide eines Fisches kennenlernen.
Ja, aus dem Schöße des Scheols, wo das Meergras sich um
sein Haupt schlang, mußte er in seiner Angst seine Stimme
erheben. Dort mußte er die bitteren Früchte seines eigenwilligen Handelns kosten. Es war für ihn eine Notwendigkeit,
in der Tiefe des Meeres die wahre Bedeutung von „Zaum
und Zügel" kennenzulernen, weil er der sanften Leitung des
„Auges" nicht Folge leisten wollte.
Doch wie gnädig, wie zart, wie geduldig ist unser Gott! Er
will uns unterweisen; es ist das Bedürfnis Seines Herzens,
Seine armen, schwachen, irrenden Kinder zu leiten. Er läßt
es bei uns an keiner Mühe fehlen. Er ist ununterbrochen mit
uns beschäftigt, um uns die traurigen Folgen unserer eigenen Wege, die voller Dornen und Disteln sind, zu ersparen,
und uns in Seinen Wegen zu leiten, in denen unser Herz
Frieden und Freude in Fülle genießen kann.
Nichts in dieser Welt ist gesegneter, als ein Leben in beständiger, ununterbrochener Abhängigkeit von Gott. Ihn in jedem
186
Augenblick und in allen Umständen als Stütze zu haben,
auf Ihn zu warten und sich vor allen Dingen an Ihn festzuklammern, Ihn als die unerschöpfliche und unversiegbare
Quelle aller guten Gaben zu besitzen, — das ist das wahre
Geheimnis des Friedens im Herzen und der Kraft unseres
Zeugnisses hier auf Erden. Die Seele, die in Wahrheit sagen
kann: „Alle meine Quellen sind in dir", ist erhaben über
jedes auf das Geschöpf gestellte Vertrauen und über alle
menschlichen Hoffnungen und irdischen Erwartungen.
Wir wollen hier jedoch durchaus nicht behaupten, daß Gott
die Geschöpfe nicht auf tausenderlei Weise gebraucht, um
uns zu dienen. Im Gegenteil, der Herr geht oft diesen Weg
zu unseren Gunsten. Aber sobald wir uns, statt auf Ihn auf
die Kreatur stützen , machen wir das Fleisch zu unserem
Arm und werden bald eine große Leere und Dürre in unseren
Seelen verspüren. Es besteht ein großer Unterschied zwischen
der Tatsache, daß Gott Sich Seiner Geschöpfe bedient, um
uns zu segnen, und einem Umstände, wo wir uns auf das
Geschöpf stützen und Gott gleichsam ausschließen. Im ersten
Fall werden wir gesegnet, und Gott wird verherrlicht, im
zweiten werden wir enttäuscht und Er verunehrt.
Es ist unbedingt nötig, daß unsere Seelen diesen Unterschied
allen Ernstes erwägen, denn wir glauben, daß von dieser
Seite auf mancherlei Weise gefehlt wird. Wir meinen oft, auf
Gott zu vertrauen und auf Ihn zu sehen, während wir noch
eine große Menge Sauerteig des Vertrauens auf Menschen,
auf die Umstände und auf uns selbst entdecken würden,
wenn wir nur mit Aufrichtigkeit auf die Wurzel der Dinge
blicken und uns im Licht der unmittelbaren Gegenwart Gottes
beurteilen würden. Wie mancher rühmt sich, durch Glauben
zu leben und sein Vertrauen allein auf Gott zu setzen, während zugleich sichtbar ist, daß er sich an die Umstände
klammert und Gott nicht den einzigen Platz im Herzen einnimmt.
Mein teurer Leser, sei auf der Hut. Ich bitte dich, habe acht,
daß dein Auge allein auf den lebendigen Gott und nicht auf
sterbliche Menschen gerichtet ist, „in deren Nase nur ein
Odem ist!" Harre auf Gott! Harre geduldig und ununterbro187
chen nur auf Seine Güte! Bist du wegen irgendeines Umstandes in Verlegenheit, richte dann mit einfältigem Vertrauen deine Augen auf den Herrn. Weißt du nicht, welchen
Weg du einschlagen, wohin du dich wenden und wen du
in deiner Not um Hilfe ansprechen sollst, dann laß dich
daran erinnern, daß der Herr Jesus sagt: „Ich bin der Weg!"
und: „Ich werde dich nicht versäumen und dich nicht verlassen." Folge Ihm in Zuversicht nach und vertraue Seinen
Verheißungen. Er wird alles hell und klar und sicher machen.
Wenn wir Ihm nachfolgen, kann Er keine Dunkelheit, keine
Verwirrung und keine Unsicherheit an uns dulden, denn wir
dürfen Seinen eigenen Worten Glauben schenken, wenn Er
sagt: „Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben." Sind wir
in Finsternis, dann können wir sicher sein, daß wir uns nicht
in Seiner Nachfolge befinden. Auf dem gesegneten Pfad,
auf dem Gott diejenigen leitet, die mit einem einfältigen
Auge Jesus nachzufolgen trachten, herrscht keine Dunkelheit.
Vielleicht ist jemand, der diese Zeilen liest, dennoch geneigt
zu sagen: „Trotzdem bin ich über meinen Weg in Verlegenheit, denn ich weiß wirklich nicht, welchen Pfad ich einschlagen und zu welchem Schritt ich mich entschließen soll." Wenn
diese Worte aus deinem Munde kommen, mein teurer Leser,
dann wollen wir dir nur die einzige Frage vorlegen: „Folgst
du Jesus?" Kannst du diese Frage mit Aufrichtigkeit bejahen,
so gedulde dich ein wenig. Dann wirst du erfahren, daß du
nicht in dieser Schwierigkeit bleiben wirst. Folgst du der
Wolkensäule? Tust du es, dann ist der Weg so deutlich, wie
Gott ihn machen kann. Hierin liegt der Kernpunkt der Sache. Verwirrung, Mutlosigkeit und Zweifel sind oft die Folgen der Tätigkeit unseres eigene n Willens . Wir sind
oft beschäftigt, etwas zu unternehmen, wozu Gott uns durchaus nicht gerufen hat. Wir meinen oft, irgend wohin gehen
zu müssen, wo Gott es nicht für nötig erachtet. Wir bitten
oft um eine Sache, ohne eine Antwort zu erhalten; wir wiederholen unsere Bitte, und noch bleibt die Antwort aus. Warum das? Es ist sehr einfach. Gott will, daß wir uns ruhig
verhalten, daß wir stillstehen und da bleiben sollen, wo wir
188
uns gerade befinden. Trachten wir daher danach, nichts anderes zu tun, als auf Gott zu warten, anstatt unseren Kopf
zu zerbrechen über das, was wir tun sollen.
Das ist das geheime Mittel, um völlig glücklich, ruhig und
in Frieden zu sein. Wenn ein Israelit sich in den Kopf gesetzt hätte, irgendeinen Schritt vorwärts oder rückwärts zu
machen, ohne auf Jehova zu achten, — wenn er sich vorgenommen hätte weiterzugehen wenn die Wolke ruhte, oder
stillzustehen wenn sie sich in Bewegung setzte, dann könnten wir leicht erraten, was die Folgen gewesen wären. Ebenso wird es jederzeit bei uns der Fall sein. Bewegen wir uns,
wenn wir still sein sollen, oder ruhen wir, wenn wir uns in
Bewegung setzen sollen, dann werden wir uns sicher nicht
der Gegenwart Gottes erfreuen können. Von den Kindern
Israels heißt es: „Nach dem Befehl Jehovas lagerten sie sich,
und nach dem Befehl Jehovas brachen sie auf". Beständig
auf Gott zu warten war für sie erforderlich, und das ist
in der Tat der gesegnetste Zustand, in dem man sich befinden kann. Doch dieser PJatz muß eingenommen werden, bevor das glückliche Gefühl, das er gibt, genossen werden
kann. Es ist nicht nur ein Lehrsatz, über den man sprechen
kann, sondern eine Wirklichkeit, die gekannt sein muß.
Der Herr gebe uns das Vorrecht, während unserer ganzen
Lebensreise in steter und ununterbrochener Abhängigkeit von
Ihm zu sein.
Das Jubeljahr
(3. Mose 25," 16)
Die Einsetzung des Jubeljahres war, wie jemand ganz richtig
bemerkt hat, nach zwei Seiten hin von Bedeutung. Sie zeugte
von der Verwirrung der Menschen und von der Ordnung
Gottes. In 49 Jahren mußten notwendigerweise viele Dinge
in der Hand der Menschen in Unordnung geraten. Der eine
verarmte, ein anderer geriet in Schulden, ein dritter in Sklaverei, ein vierter wurde verbannt. Ferner hatte der eine sein
Erbe durch Schwelgerei verpraßt, der andere durch Sparsamkeit und Fleiß das Seinige vergrößert.
189
So geschah es in den Tagen der Menschen. Aber die Trompete des Jubeljahres änderte auf einmal die Lage. Sobald der
Ton dieser Posaune auf der Erde gehört wurde, war der
Schuldner gelöst, der Sklave befreit, und der Verbannte
durfte zurückkehren. Das Jubeljahr war Gottes Jahr, und Er
wollte keine Schuldner, keine Sklaven, keine Verbannten.
Alle sollten frei und glücklich sein, und alle in dem Jahre
Jehovas volles Genüge haben. Es ist nun interessant und von
sehr großem praktischem Wert, die verschiedenen Gemütsstimmungen, in die die Menschen durch das Herannahen
des Jubeljahres versetzt wurden, zu betrachten. Wenn einer
sein Eigentum verloren hatte, war er froh, weil er es zurückerhielt. Derjenige aber, der sein Besitztum vergrößert hatte,
wurde traurig, weil er alles verlieren mußte. Aber derjenige,
der keines von beiden getan, weder verloren noch gewonnen
hatte, der rechte Israelit, der sein Erbe bewahrt hatte und sich
mit ihm begnügte, er betrachtete das Jubeljahr nicht im Hinblick auf seinen eigenen Gewinn oder Verlust, sondern nur
als ein herrliches Zeugnis der göttlichen Ordnung, und als
ein Mittel, die ganze Nation zu segnen.
Das war das Verhältnis der Juden zu dem Jubeljahr, und so
sollte auch das Verhältnis des Christen zu der herrlichen
Erscheinung des Sohnes Gottes vom Himmel sein. Wir sollten dieses gesegnete Ereignis einfach betrachten als den
Augenblick der Erhöhung Christi, den Augenblick, der aller
Verwirrung oder Unordnung der Menschen ein Ende machen
und die göttliche Ordnung für immer zur Geltung bringen
wird. Welch ein gesegneter, heißersehnter Augenblick; Das
Kreuz ist nun das Heilmittel für alle menschliche Verwirrung
und der Grund der göttlichen Ordnung. Das zeigt uns ganz
deutlich die Einsetzung des Jubeljahres. „Du. sollst im siebenten Monat, am zehnten des Monats, den Posaunenschall
ergehen lassen; an dem Versöhnungstage sollt ihr die Posaune
ergehen lassen durch euer ganzes Land." Die Posaune des
Jubeljahres und der Tag der Versöhnung waren unzertrennlich vereinigt. Das auf dem Kreuz vergossene Blut ist die
Grundlage von allem. Wenn alles wiederhergestellt sein
wird, wird der Strom des Lebens vom Throne Gottes und
des Lammes fließen (Offb 22, 1).
190
Ist Christus dir kostbar?
Wenn Christus dir nicht kostbar ist, dann bist du in Feindschaft gegen Gott. Wenn Er dir nicht kostbarer ist als alles
andere, dann befindest du dich in einem traurigen Zustand.
Wenn es dich langweilt, von Ihm zu hören, dann kann und
wird der Himmel nichts Anziehendes für dich haben, denn
der Himmel ist der vornehmste Gegenstand der Freude und
Wonne. Erblickst du noch nicht soviel Schönheit in Christus,
daß du Ihn allem vorziehst, verlangst du nicht nach Ihm und
kannst ohne Ihn fertig werden, dann ist dein Herz sicher
noch von Gott entfremdet, und dann besteht keine Gemeinschaft zwischen dir und Gott, denn Gott hat alle Seine Wonne an Christo. Er sagt: „Dies ist mein geliebter Sohn, an
welchem ich Wohlgefallen gefunden habe." Denke darüber
ernstlich nach. Wirf alles weg und achte „alles für Verlust
wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu."
Das Ausharren bis ans Ende
(Die Beantwortung eines Briefes)
Teurer Freund!
Ihr Brief berührt einen höchst wichtigen Gegenstand. Die
Frage in Bezug auf das Ausharren bis ans Ende hat, wie
einfach ich sie auch für mich finde, schon viele in Verlegenheit gebracht, und sowohl die Fragen, die Sie an mich richten, als auch die Schriftstellen, die Sie anführen, beweisen
zur Genüge, daß es auch Ihnen in diesem Punkt in etwa an
Licht mangelt, es sei denn, daß Sie die Untersuchung dieser
Wahrheit nach dem Worte Gottes weniger Ihretwegen begehren, sondern vielmehr anderen dadurch nützen wollen.
Wie dem auch sei, in jedem Fall schätze ich mich glücklich,
meinen Lesern Zeugnis von dem Licht geben zu können,
das mir der Herr in Seiner Gnade bezüglich dieser wichtigen
Frage geschenkt hat.
In der Beantwortung Ihres Briefes habe ich mich mit drei
Dingen zu beschäftigen: 1. den Lehrsatz über das Ausharren
191
bis ans Ende, oder mit anderen Worten, die ewige Sicherheit
aller Glieder des Leibes Christi festzustellen; 2. die Fragen,
die Sie an mich richten, die seitens der Gegner jener Wahrheit erhoben werden, zu beantworten, und 3. die Schriftstellen, die Sie anführen und die Ihnen so große Schwierigkeiten bereiten, zu erklären. Möge der Herr uns unterweisen
und uns einen den Aussprüchen Seines Wortes unterwürfigen Geist schenken, damit wir fähig sind, über den uns vorliegenden Gegenstand ein gesundes Urteil zu fällen.
1.
Der Lehrsatz in betreff des Ausharrens bis ans Ende ist sehr
deutlich und einfach, wenn wir ihn nur in unmittelbarer
Verbindung mit Christus betrachten — eine Verbindung, in
der jede Frage dieser Art allein betrachtet werden muß.
Christus ist die Seele, der Mittelpunkt und das Leben der
ganzen christlichen Lehre. Ein von Christus getrennter Lehrsatz ist ohne Leben und ohne Kraft; er ist nicht mehr als
ein Artikel eines Glaubensbekenntnisses. Darum muß jede
Wahrheit in Verbindung mit Christus betrachtet werden. Er
muß unser Ausgangspunkt sein, und nur wenn wir an Ihm
festhalten und von diesem großen Mittelpunkt aus alle anderen Punkte betrachten, können wir uns eine richtige Vorstellung von ihnen bilden. Wenn ich z. B. mich selbst zum
Ausgangspunkt wähle und dann die Frage bezüglich des
Ausharrens bis ans Ende betrachte, dann kann ich sicher
sein, daß ich einen ganz falschen Begriff von diesem Gegenstand erhalte, weil es sich um mein Ausharren handelt, und
alles, was von mir abhängt, ist durchaus unsicher. Ist hingegen Christus mein Ausgangspunkt und untersuche ich von
dort aus den Gegenstand, dann werde ich sicher eine richtige
Anschauung von der Sache bekommen, denn dann handelt es
sich um das Ausharren Christi. Ich bin völlig sicher, daß Er
ausharren wird, und daß weder die Welt, noch das Fleisch,
noch der Teufel Christus hindern können, bis ans Ende, und
zwar zum Glück für alle die auszuharren, die Er kraft Seines
Blutes losgekauft hat. Denn „er vermag völlig zu erretten,
die durch ihn Gott nahen" (Hebr 7, 25). Wahrlich das ist ein
Ausharren bis ans Ende. Welches auch die Schwierigkeiten
192
und die feindlichen Mächte sein mögen, „er vermag völlig
zu erretten." Die Welt mit ihren unzähligen Fallstricken ist
gegen uns, aber Er besitzt alle Gewalt (Mt 28,18). Die Sünde
in uns mit ihren tausenderlei Wirkungen ist gegen uns, aber
Er hat alle Gewalt. Der Teufel mit seinen listigen Angriffen
ist gegen uns, aber Er hat alle Gewalt. Mit einem Wort, die
Macht Christi, die Treue Christi, das Ausharren Christi bis
ans Ende, das und nur das ist die einzige Grundlage unseres
Ausharrens. Alles hängt in dieser wichtigen Sache von Ihm
ab. Er hat Seine Schafe losgekauft, und Er wird sie beschirmen; und da Ihm „alle Gewalt im Himmel und auf Erden
gegeben ist", müssen Seine Schafe für ewig in völliger Sicherheit sein. Wenn das Leben des schwächsten Lammes
Seiner Herde angetastet werden könnte, dann könnte nicht
von Christus gesagt werden, daß Er „alle Gewalt" habe.
Es ist daher von höchster Bedeutung, die Frage des Ausharrens bis ans Ende in unzertrennlicher Verbindung mit
Christus zu betrachten. In diesem Fall lösen sich alle Schwierigkeiten auf, Zweifel und Furcht schwinden, das Herz wird
befestigt, das Gewissen befreit und der Verstand erleuchtet.
Unmöglich können diejenigen, die einen Teil des Leibes
Christi ausmachen, verloren gehen; und der Gläubige ist ein
Teil dieses Leibes, „von seinem Fleische und von seinen
Gebeinen" (Eph 5, 30). Jedes Glied des Leibes Christi ist vor
Grundlegung der Welt in dem Buche des geschlachteten
Lammes eingetragen worden, und kein Geschöpf besitzt die
Macht, das auszulöschen, was dort eingeschrieben steht. Man
höre nur, was der Herr von denen sagt, die Ihm angehören:
„Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und
sie folgen mir, und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie
gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus
meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat,
ist größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand
meines Vaters rauben" (Joh 10, 27-29).
In diesen Worten findet das Ausharren bis ans Ende einen
starken, beredten Ausdruck, und zwar nicht allein das Ausharren der Heiligen, sondern dasjenige des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. In diesem Licht, mein teurer
193
Freund, müssen Sie diesen Gegenstand betrachten. Es ist das
Ausharren der heiligen Dreieinheit bis ans Ende. Es ist das
Ausharren des Heiligen Geistes, um die Ohren der Schafe zu
öffnen, das Ausharren des Sohnes, um alle aufzunehmen,
deren Ohren geöffnet sind, und endlich das Ausharren des
Vaters, um in Seinem Namen alle zu bewahren, die durch
das Blut Seines Sohnes freigekauft sind. Das ist, glaube ich,
sehr deutlich. Wir müssen entweder die trostvolle und kraftgebende Wahrheit bezüglich des Ausharrens bis ans Ende
annehmen, oder jener gotteslästerlichen Einflüsterung Gehör
geben, daß der Feind Gottes und der Menschen die Macht
besitze, bis zum Ende hin, und zwar mit Erfolg, den Streit
gegen die heilige Dreieinheit aufrechtzuerhalten. „Das Heil
ist des Herrn" von Anfang bis Ende. Es ist ein unverwelkliches und ewiges Heil. Er sucht den Sünder auf, wo dieser
sich befindet, in seinem Zustand der Sünde, des Verderbens
und des Verfalls, um ihn dahin zu versetzen, wo der heilige,
wahrhaftige und gerechte Gott Seine Wohnstätte hat. Der
Vater ist die Quelle, der Sohn der Kanal, und der Heilige
Geist die Macht dieses Heils, wodurch die Seele es empfängt
und genießt. Alles ist von Gott von Anfang bis Ende, von
Ewigkeit zu Ewigkeit. Wäre dies nicht der Fall, dann wäre
es törichte Vermessenheit, von einem Ausharren bis ans
Ende zu sprechen; aber da es sich also verhält, ist es nichts
als verwerflicher Unglaube, wenn man anderen Gedanken
über diesen Punkt Gehör schenkt.
Ohne Zweifel zeigen sich auf unserem Weg sowohl vor als
auch nach der Bekehrung unzählige Schwierigkeiten. Wir haben mächtige Feinde, aber gerade um ihretwillen müssen wir
den Lehrsatz über das Ausharren bis ans Ende ganz frei
halten von unserem eigenen Ich und von allem, was damit
in Verbindung steht, und allein in Gott unsere Ruhe suchen.
Was auch unsere Schwierigkeiten und unsere Feinde sein mögen, der Glaube kann immer triumphierend sagen: „Wenn
Gott für uns ist, wer wider uns?" und: „Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi? Drangsal oder Angst oder Verfolgung oder Hungersnot oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?
Wie geschrieben steht: „Um deinetwillen werden wir getötet
194
den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden ... " Aber in diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin überzeugt,
daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgend ein anderes Geschöpf uns
zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in
Christo Jesus ist, unserem Herrn" (Rö 8, 35-39).
Auch hier wird uns das Ausharren bis ans Ende in der deutlichsten und kräftigsten Weise vor Augen gestellt. Kein Geschöpf wird uns zu scheiden vermögen. Weder das eigene
Ich, in welcher Form es sich auch zeigen mag, noch der Teufel mit all seiner List und seinen boshaften Anschlägen, noch
die Welt mit all ihren Reizen oder mit ihrer Verachtung
vermögen uns nach Rö 8, 39 zu scheiden von der Liebe
Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn. Unleugbar
gibt es Menschen, die sich selbst und andere betrügen. Es
können sogar Fälle von Bekehrung vorkommen, die nur
scheinbar bestehen. Man kann eine Zeitlang den Schein eines
guten Wandels an sich tragen, und danach das Gegenteil
zeigen. Es kann sein, daß trotz der schönen prangenden Blüten des Frühlings die reife herrliche Frucht des Herbstes vergeblich auf sich warten läßt. Und nicht allein dies, sondern
die wahren Gläubigen selbst können in mancher Hinsicht
traurige Wege einschlagen. Sie können straucheln und in
ihrer Laufbahn gehemmt werden. Mehr als eine Ursache kann
für sie vorhanden sein, um sich in bezug auf die Einzelheiten
ihres praktischen Lebens demütigen und verurteilen zu müssen. Aber wenn wir auch alle diese Dinge in ihrer vollsten
Bedeutung anerkennen, so bleibt doch die wichtige Frage
bezüglich des Ausharrens bis ans Ende unerschütterlich fest
auf ihrem ewigen und göttlichen Fundament stehen. „Ich
gebe ihnen ewige s (nicht ein zeitliches oder vergängliches) Leben, und si e gehe n nich t verTore n
ewiglich. " — „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen, und des Hades Pforten werden sie nicht
überwältigen." Andere mögen sich nach ihren eigenen Gedanken ihr Urteil bilden und ihre Beweise in Beispielen suchen,
195
die von Zeit zu Zeit in der Geschichte der Bekenner des
Christentums in Erscheinung treten; wir aber betrachten diese
Frage von einem göttlichen Standpunkt und halten uns fest
an der Wahrheit, daß alle, die zu dem „uns" (Rö 8), zu den
„Schafen" (Joh 10) und zu der „Versammlung" (Mt 16) gehören, so sicher sind, wie Christus sie sicher machen kann,
und wir betrachten dies als das Wesen der Lehre über das
Ausharren bis ans Ende.
2.
Ich gehe jetzt, teurer Freund, zum zweiten Teil Ihres Briefes
über und werde die Fragen, die Sie an mich richten, kurz
aber auch deutlich zu beantworten suchen.
Zunächst fragen Sie: Wird der Gläubige errettet werden,
selbst wenn er in der Sünde lebt und stirbt?" Meine Antwort
lautet: Ein wahrer Gläubiger wird sicher und gewiß errettet
werden. Aber ich glaube, daß die Seligkeit nicht nur eine
vollkommene Erlösung von den zukünftigen Folgen der
Sünde, sondern selbst auch in der Gegenwart die Erlösung
von der Macht und dem Tun der Sünde in sich schließt.
Wenn ich daher mit jemand zusammentreffe, der in der Sünde
lebt, und sich trotzdem der Gewißheit seiner Seligkeit rühmt,
dann betrachte ich ihn als einen, der die Gnade Gottes auf
Mutwillen zieht, und keineswegs als einen, der selig gemacht
ist. „Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben
und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die
Wahrheit" (1. Joh 1, 6). Der Gläubige kann straucheln, aber
er wird wieder aufgerichtet werden. Er kann sich durch die
Sünde überwältigen lassen, aber er wird wiederhergestellt
werden. Er kann irren, aber er wird wieder zurückgeführt
werden, weil Christus so völlig zu erretten vermag, daß
selbst nicht der Kleinste unter den Seinigen verloren gehen
kann (Siehe Mt 18, 24).
Ihre zweite Frage lautet: „Kann der Heilige Geist in einem
Herzen wohnen, in dem Bosheit und unreine Gedanken genährt und gepflegt werden?" Meine Antwort ist: Der Leib
jedes Gläubigen ist der „Tempel des Heiligen Geistes" (1. Kor
6, 19). Diese wichtige Wahrheit ist das unerschütterliche
196
Fundament, auf welchem jede Ermahnung zur Reinheit und
Heiligkeit des Herzens und des Lebens ruht. Bosheit und
unreine Gedanken zu pflegen, ist wirklich nicht der Beweis
eines göttlichen Wandels. Der Christ kann von bösen Gedanken überfallen, bestürmt und betrübt werden, aber in
diesem Fall braucht er nur auf Christus zu sehen, um den
Sieg davonzutragen. Der Wandel, der eines Christen würdig
ist, wird uns in dem ersten Brief des Johannes deutlich beschrieben. In Kap. 5, 18 lesen wir: „Wir wissen, daß jeder,
der aus Gott geboren ist, nicht sündigt; sondern der aus Gott
Geborene bewahrt sich, und der Böse tastet ihn nicht an."
Das ist die göttliche Seite unserer Frage. Wir wissen leider
wohl, daß es hier auch eine menschliche Seite gibt, aber wir
beurteilen die menschliche durch die göttliche. Wir dürfen
die Gedanken Gottes nicht mit den Gedanken der Menschen
auf die gleiche Höhe stellen, im Gegenteil müssen unsere
Blicke unverrückt auf die göttliche und nicht auf die menschliche Seite unserer Frage gerichtet sein. Wir dürfen uns mit
nichts Geringerem begnügen als mit dem, was wir in 1. Joh
5, 18 lesen. Nur wenn wir uns allezeit das wahre Muster
und Vorbild vor Augen halten, können wir eine erhabene
sittliche Höhe erreichen. Die Behauptung, daß man den Heiligen Geist habe, während man der Bosheit und unreinen
Gedanken freien Raum gestattet, ist nach unserer Meinung
nichts anderes als eine Lehre der Nikolaiten oder derer, die
die Gnade auf Mutwillen ziehen (Offb 2, 6-15).
Ihre dritte Frage lautet: „Wenn sich dies also verhält (nämlich daß die Errettung des Menschen allein ein Werk der
freien und unumschränkten Gnade Gottes ist), kann man
dann nicht behaupten, daß jeder leben könne, wie es ihm
beliebe?" — Nun, wie wünschen denn die Christen zu leben?
Soviel wie möglich wie Christus, nicht wahr? Wie hätte wohl
Paulus geantwortet, wenn diese Frage an ihn gerichtet worden wäre? In 2. Kor 5, 14f und in Phil 3, 7-14 finden wir
seine Antwort. Es ist mit Recht zu furchten, daß alle, die
solche Fragen stellen, nicht viel von Christus kennen. Ich
begreife es sehr gut, daß sich jemand in die Netze eines
theologischen Systems, das die Dinge nur von einer Seite
197
betrachtet, verstricken und durch die widersprechendsten
Lehrsätze der systematischen Gottesgelehrtheit in Verwirrung geraten kann. Aber ich bin auch völlig überzeugt,
daß jeder, der die freie unumschränkte und ewigdauernde
Gnade Gottes zu einem Deckmantel gebraucht, um in der
Sünde zu leben, nichts vom Christentum versteht und weder
Teil noch Los daran hat, sondern sich vielmehr in einem
gefährlichen und schrecklichen Zustand befindet.
Was den Fall des jungen Mannes betrifft, der aus dem Munde
eines Predigers die Worte hörte: „Wenn man einma l ein
Kind Gottes ist, so ist man es z u alle n Zeiten" , und
der daraus die Veranlassung nahm, sich öffentlich ins Sündenleben zu stürzen, so ist dies nur ein Beispiel aus tausendden. Ich glaube, daß der Prediger die Wahrheit gesprochen
und der Jüngling eine falsche Anwendung von seinen Worten
gemacht hat. Die Worte des Predigers nach den Werken des
Mannes beurteilen zu wollen, würde ein grober Irrtum sein.
Was würde ich wohl von meinem Sohne denken, wenn er
sagte: „Da ich einmal Sohn bin, bin ich es auch zu allen
Zeiten, und darum darf ich alle Dinge, die meinem Vater
gehören, in Stücke zerschlagen und mich allem Bösen überliefern." Ich beurteile das, was der Prediger gesagt hat, nach
dem Worte Gottes, und dann muß ich bezeugen, daß er die
Wahrheit gesprochen hat. Ebenso beurteile ich das Betragen
des Jünglings nach demselben Maßstabe und erkläre es als
höchst verwerflich. Nichts gibt uns Veranlassung zu glauben, daß der Jüngling jemals wirklich die Gnade Gottes geschmeckt hat, denn wenn dies der Fall gewesen wäre, dann
hätte er Gott lieb gehabt und hätte der Heiligkeit nachgejagt. Der Christ hat sich der Sünde für tot zu halten, aber
sich der Sünde für tot zu halten und in der Sünde zu leben,
geht unmöglich zusammen. Im ersten Fall kann man auf die
Kraft und die Gnade Gottes rechnen, während man im anderen Fall den Namen Christi lästert, da ein solches Betragen
Christus zu einem Sündendiener erniedrigt.
Die Wahrheit Gottes nach den Handlungen der Menschen
beurteilen zu wollen, ist, wie bereits gesagt, ein grober Irrtum. Alle die das tun, müssen notwendigerweise zu einer
198
falschen Schlußfolgerung kommen. Um in der Wahrheit zu
bleiben, muß man im Gegenteil die Handlungen der Menschen nach der Wahrheit Gottes prüfen. Setze dich zunächst
in den Besitz dieser Wahrheit und beurteile dann nach ihr
alle Dinge. Nimm die Richtschnur Gottes zur Hand und miß
danach alle Dinge ab. Nimm die Waagschale des Heiligtums
und bestimme danach das Gewicht von allem und jedem. Du
darfst die Waagschale nicht regeln nach dem Gewicht eines
jeden, sondern du mußt das Gewicht nach der Waagschale
beurteilen. Wenn selbst zehntausend Bekenner ihr Bekenntnis verleugnen sollten, um öffentlich in der Sünde zu leben
und zu sterben, so würde dies keineswegs unser Vertrauen
zu der Lehre bezüglich des Ausharrens bis ans Ende zum
Wanken bringen. Dasselbe Wort, das die Wahrheit dieses
Lehrsatzes beweist, beweist ebenso sehr die Unwahrheit ihrer Bekenner. „Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren
nicht von uns" (1. Joh 2, 19). „Doch der feste Grund Gottes
steht und hat dieses Siegel: der Herr kennt, die sein sind;
und: „jeder der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von
der Ungerechtigkeit" (2. Ti 2, 19).
3.
Untersuchen wir nun in unserem dritten Abschnitt die verschiedenen Schriftstellen, die, wie Sie in Ihrem Brief sagen,
gewöhnlich angeführt werden von denen, die die Lehre über
das Ausharren bis ans Ende bestreiten. Vor allem ist es
jedoch von großer Bedeutung, einen Grundsatz zu beleuchten, der nach meinem Urteil für die Erklärung der Heiligen
Schrift im allgemeinen von höchster Bedeutung ist. Dieser
Grundsatz heißt: „Keine einzige Stelle der Schrift kann mit
einer anderen im Widerspruch sein." Wenn daher scheinbar
ein Widerspruch besteht, so hat er nur seinen Grund in dem
Mangel unseres geistlichen Verständnisses. Wenn z. B. jemand Jak 2, 24 anführen wollte, um die Rechtfertigung aus
Werken zu beweisen, so wäre es vielleicht möglich, daß ich
mich außerstande fühle, ihm die richtige Antwort zu geben.
Es ist sehr wohl möglich, daß Tausende, wie Luther, durch
diese Stelle in die Enge getrieben worden sind. Ich kann die
vollkommenste Sicherheit bezüglich meiner Rechtfertigung
199
besitzen, ich kann völlig überzeugt sein, daß nicht irgendein
Werk, das ich getan habe, sondern einfach der Glaube an
Jesus Christus die Ursache meiner Errettung ist, und kann
doch vielleicht nicht imstande sein, die Worte des Jakobus:
„Ihr seht also, daß ein Mensch aus Werken gerechtfertigt
wird und nicht aus Glauben allein", zu erklären. Vielleicht
verstehe ich den Apostel Jakobus nicht und finde mich daher
wegen der scheinbaren Widersprüche, die zwischen Jakobus
und Paulus bestehen, sehr in Verlegenheit. Was ist zu tun?
Nichts anderes, als jenen Grundsatz anzuwenden, den ich oben
angeführt habe: „Keine Schriftstelle kann mit einer anderen
im Widerspruch sein". Man könnte ebenso gut den Zusammenstoß zweier Himmelskörper, die sich in der ihnen
vom Schöpfer vorgeschriebenen Bahn bewegen, befürchten,
als daß zwei durch göttliche Eingebung redende Schriftsteller
einander widersprechen sollten. Jetzt lese ich in Rö 4, 5 die
folgenden sehr deutlichen Worte: „Dem aber, der nicht wirkt,
sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird
sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet." Hier ist das SelbstWirken, als rechtfertigender Grundsatz, ganz und gar ausgeschlossen, und nur der Glaube wird als solcher anerkannt.
Ebenso lese ich in Kap. 3, 28: „Denn wir urteilen, daß ein
Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke". Und auch in Kap. 5, 1: „Da wir nun gerechtfertigt
worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott
durch unseren Herrn Jesus Christus". Dasselbe finden wir
im Brief an die Galater, denn dort lesen wir: „ . . . wissend,
daß der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt
wird, sondern nur durch den Glauben an Jesum Christum,
auch haben wir an Christum Jesum geglaubt, auf daß wir
aus Glauben an Christum gerechtfertigt würden, und nicht
aus Gesetzeswerken, weil aus Gesetzeswerken kein Fleisch
gerechtfertigt werden wird" (Gal 2, 16).
In allen diesen und vielen anderen Stellen werden, wie bereits
erwähnt, die Werke als rechtfertigender Grundsatz gänzlich
ausgeschlossen und die Sprache dieser Stellen ist so einfach,
daß jeder Mensch, wie ungebildet er auch sein mag, sie verstehen kann. Wenn wir daher Jak 2, 24 nicht erklären kön200
nen, müssen wir entweder diese Stelle leugnen oder unsere
Zuflucht zu dem obengenannten Grundsatz nehmen, daß
keine Schriftstelle mit einer anderen im Widerspruch sein
kann. Im letzteren Fall werden wir mit einem unwandelbaren
Vertrauen und in vollkommener Ruhe unseren Weg weitergehen und mit Freuden festhalten an der Hau.ptlehre des
Evangeliums, der „Rechtfertigung durch den Glauben ohne
Gesetzeswerke".
Da wir indessen nun einmal unsere Aufmerksamkeit auf
Jak 2, 24 gerichtet haben, ist es wohl am Platze, im Vorübergehen einige Bemerkungen, die zur Förderung eines
richtigen Verständnisses beitragen können, über diese Stelle
zu machen. In Vers 14 finden wir ein kleines, unscheinbares
Wort, das sozusagen der Schlüssel ist zu der Stelle, die wir
vor uns haben. Dort fragt der Apostel: „Was nützt es, meine
Brüder, wenn jemand sagt , er habe Glauben, hat aber
nicht Werke?" Wenn er gefragt hätte: „Was nützt es, wenn
jemand Glauben hat? " dann wäre die Schwierigkeit unüberwindlich. Aber das Wörtchen „sagt" nimmt alle Schwierigkeit weg und zeigt uns in deutlicher Weise, worüber uns
der Apostel belehren will. Wir könnten mit demselben Recht
fragen: „Was nützt es, wenn jemand sagt , daß er hunderttausend Taler besitzt, wenn er sie nicht hat? Es hat sicher
keinen Nutzen für jemand, wenn er nur sagt , daß er
Glauben habe, sondern nur dann, wenn er ihn wirklich besitzt, hat er sowohl für die Gegenwart als auch für die Ewigkeit „Nutzen" davon, indem der Glaube ihn mit Christus
einsmach t und ihn in den vollen und ungeschmälerten
Besitz alles dessen stellt, was Christus für uns getan hat und
was Er für uns vor Gott ist.
Dies gibt mir Veranlassung, den vorliegenden Gegenstand
noch von einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten, wodurch die scheinbaren Widersprüche zwischen den Briefen
des Paulus und des Jakobus vollends beseitigt werden. Es
besteht ein großer Unterschied zwischen den Werke n de s
Gesetze s und den Werke n de s Glaubens . Paulus schließt die ersten aus, während er die anderen gebietet.
Doch wir wiederholen mit allem Nachdruck, daß es nur die
201
Werke des Gesetzes sind, die Paulus ausschließt, und daß
Jakobus nur die Werke des Glaubens gebietet. Die Werke
Werke Abrahams und Rahabs waren keine Gesetzeswerke,
sondern Werke des Glaubens. Sie waren die natürlichen
Früchte des Glaubens, ohne die sie jeder rechtfertigenden
Kraft ermangelt haben würden. Und fragt jemand nach dem
Unterschied zwischen den Werken des Gesetzes und den Werken des Glaubens, so lautet die Antwort, daß die Werke des
Gesetzes solche sind, die man verrichtet, um das Lebe n
z u erlangen , während man in den Werken des Glaubens die natürlichen Früchte des Lebens erblickt, das man
bereit s besitzt . Und was muß man tun, um das
Leben zu erlangen? Man muß glauben an den Sohn Gottes.
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und
glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben" (Joh
5, 24). Bevor wir das Geringste tun können, müssen wir das
Leben haben; und nicht dadurch, daß wir sage n : „Ich habe
Glauben", sondern dadurch, daß wir wirklic h glau -
ben , erlangen wir das Leben. Und wenn wir das Leben
besitzen, so werden wir auch Früchte des Lebens hervorbringen.
Nachdem ich nun versucht habe, Ihnen, teurer Freund, meinen
Grundsatz durch Beispiele klarzumachen, überlasse ich es
fernerhin Ihrer Sorge, ihn auf die verschiedenen Schwierigkeiten und scheinbaren Widersprüche anzuwenden, die Ihnen
bei der Betrachtung des Wortes Gottes auffallen mögen,
während ich mich jetzt mit der Hilfe des Herrn bemühen
werde, die wichtigen Schriftstellen, die Sie mir angeführt
haben, zu erklären.
1. Die erste dieser Schriftstellen finden wir im zweiten
Petru.sbrief: „Es waren aber auch falsche Propheten unter
dem Volke, wie auch unter euch falsche Lehrer sein werden,
welche verderbliche Sekten nebeneinführen werden und den
Gebieter verleugnen, der sie erkauft hat, und sich selbst
schnelles Verderben zuziehen" (Kap 2, 1). Die Schwierigkeit
besteht für Sie in den Worten: „Und den Gebieter verleugnen, der sie erkauft hat." Dennoch aber bieten diese Worte
keine besondere Schwierigkeit. Der Herr hat an allen, die
202
unter dem Himmel leben, Männern, Frauen und Kindern,
ein zweifaches Recht: ein Recht als Schöpfer und als Erlöser.
Die Worte des Petrus deuten auf das zweite Recht. Die falschen Lehrer verleugneten nicht nur den Herrn, Der sie ge -
schaffen , sondern auch den Gebieter, Der sie erkauft
hatte. Hierauf das Augenmerk zu richten, ist von großer Wichtigkeit, weil hierdurch mehr als eine Schwierigkeit beseitigt
wird. Der Herr Jesus hat Sich ein Recht auf die Glieder des
Menschengeschlechts erworben. Der Vater hat Ihm Gewalt
gegeben über alle s Fleisch. Daher kommt die Sünde derer,
die Ihn verleugnen. Es ist Sünde, wenn man Ihn als Schöpfer verleugnet, und es ist eine noch größere Sünde, wenn
man Ihn als Erlöser verleugnet. Es handelt sich hier keineswegs um die Frage der Wiedergeburt. Der Apostel sagt nicht:
„Den Gebieter verleugnen, der sie lebendi g gemach t
hat." Wäre dies der Fall, dann bestünde wirklich eine Schwierigkeit; so aber läßt der Wortlaut der Stelle die Frage bezüglich des Ausharrens bis ans Ende unangetastet.
2. Die zweite Schriftstelle findet sich am Schluß desselben
Kapitels (V 20-22): „Denn wenn sie, entflohen den Beflekkungen der Welt durch die Erkenntis des Herrn und Heilandes Jesus Christus, aber wiederum in diese verwickelt, überwältigt werden, so ist ihr Letztes ärger geworden als das
Erste. Denn es wäre ihnen besser, den Weg der Gerechtigkeit
nicht erkannt zu haben, als, nachdem sie ihn erkannt haben,
umzukehren von dem ihnen überlieferten heiligen Gebot. Es
ist ihnen nach dem wahren Sprichwort gegangen: Der Hund
kehrte um zu seinem eigenen Gespei, und die gewaschene
Sau zum Wälzen im Kot." Die Ausbreitung der Schrifterkenntnis und des Lichtes des Evangeliums kann einen wunderbaren Einfluß auf das Betragen und den Charakter eines
Menschen ausüben, der doch nicht die lebendigmachende,
erlösende und freimachende Kraft des Evangeliums Christus
kennengelernt hat. Es wäre fast unmöglich, daß da wo die
Bibel gelesen und das Evangelium der Gnade gepredigt wird,
keine deutlichen Folgen zu sehen wären, ohne daß darum
nun auch eine Wiedergeburt bewirkt sein müßte. Man kann
durch den Einfluß einer reinen und verständlichen Erkenntnis
203
des „Herrn und Heilands Jesus Christus" viele schlechte
Gewohnheiten ablegen und unsittliche Handlungen unterlassen, während das Herz doch nicht die Seligkeit des Glaubens erfahren hat. Aber man wird stets finden, daß diejenigen, die unter dem Einfluß des Evangeliums gewesen sind
(d. h. wenn dieser Einfluß sich nur auf das äußere Verhalten
ausgebreitet hat) sobald sie sich davon freimachen können,
viel tiefer in den Schlamm der Sünde sinken, und sich zu weit
größeren Ausschweifungen hinreißen lassen, als ehe sie unter
diesen Einfluß kamen: „Ihr Letztes (ist) ärger geworden als
das Erste." Der Teufel findet seine Freude daran, den ehemaligen Bekenner durch einen weit schmutzigeren Schlamm zu
ziehen als der war, worin er sich früher in den Tagen seiner
Unwissenheit und sorglosen Torheit gewälzt hat. Wie notwendig ist es daher, daß wir bei allen, mit denen wir irgendwo in Berührung kommen, auf eine völlige Übergabe des
Herzens an den Herrn Jesus dringen, damit bei ihnen nicht
nur eine äußere Veränderung hervorgebracht werde, sondern
damit sie das Leben empfangen — ein Leben, das derjenige,
der es besitzt, nie verlieren kann. Die oben angeführte
Schriftstelle enthält durchaus nichts, wodurch die Schafe
Christi beunruhigt werden könnten, aber sie enthält dagegen
sehr ernste Ermahnungen für diejenigen, die, wenn sie sich
auch für eine Zeitlang in Schafskleider gehüllt haben, sich
dennoch niemals in Wirklichkeit von einem „Hund" oder
einer „Sau" unterschieden haben.
3. Dieselbe ernste Wahrheit wird uns in Hebr 6 vor die
Seele gestellt, denn dort lesen wir: „Denn es ist unmöglich,
diejenigen, welche einmal erleuchtet waren und geschmeckt
haben die himmlische Gabe, und teilhaftig geworden sind
des Heiligen Geistes, und geschmeckt haben das gute Wort
Gottes und die Wunderwerke des zukünftigen Zeitalters,
und abgefallen sind, wiederum zur Buße zu erneuern, indem
sie den Sohn Gottes für sich selbst kreuzigen und ihn zur
Schau stellen." Diese Worte haben bereits manche in Verlegenheit gebracht. Dennoch ist ihre Erklärung einfach, sobald man nur an zwei Personen in der Heiligen Schrift
denkt, die in einem solchen Zustand gewesen sind. Wir mei204
nen den Saul und den Judas. Beide sind erleuchtet gewesen,
beide haben geschmeckt die himmlische Gabe, beide sind des
Heiligen Geistes (als Gabe) teilhaftig geworden. Saul weissagte durch den Heiligen Geist; Judas verkündigte das Evangelium, verrichtete Wunder und trieb Teufel aus. Doch war
keiner von beiden wiedergeboren, und darum gingen sie verloren, als sie abtrünnig geworden waren. Ebenso können auch
Personen in der christlichen Gemeinde sein, die ihnen ähneln,
und die wie sie abtrünnig werden oder abfallen und verloren gehen. Es tritt dann zum Schluß an den Tag, daß sie
nicht wiedergeboren waren, wieviel Licht und wie viele Gaben sie auch gehabt haben mögen. Ein Wiedergeborener
kann in diesem Sinne nicht abtrünnig werden oder abfallen,
sondern wird bis zum Ende hin bewahrt durch die Macht
Gottes (1. Petr 1, 5).
4. In Joh 15, 2 sagt der Herr: „Jede Rebe an mir, die nicht
Frucht bringt, die nimmt er weg; und jede, die Frucht bringt,
die reinigt er, auf daß sie mehr Frucht bringe" (V. 6): „Wenn
jemand nicht in mir bleibt, so wird er hinausgeworfen wie
die Rebe und verdorrt; und man sammelt sie und wirft sie
ins Feuer, und sie verbrennen." Zur Erklärung dieser Worte
ist es nötig, auf den Unterschied hinzuweisen, der zwischen
den Rehen des Weinstocks und den Gliedern des Leibes
Christi besteht. Niemand kann ein Glied des Leibes Christi
sein, wenn er nicht wiedergeboren ist. Man muß mit Christus
gestorben und auferstanden sein, um ein Glied Seines Leibes
sein zu können. Eine Rebe am Weinstock ist hingegen jeder,
der zu Christus in irgendeiner Beziehung steht, und wenn
dies auch nur durch ein äußerliches Bekenntnis der Fall ist.
Behält man diesen Umstand im Auge, dann ist die Erklärung
der Worte Jesu nicht schwierig, denn dann geht klar daraus
hervor, daß alle, die nur durch ein äußeres Bekenntnis zu
Christus in Beziehung getreten sind, und darum natürlich
keine Früchte hervorbringen, von dem Weinstock abgeschnitten werden. Man vergleidie hiermit das, was Paulus in Rö 11
über den Ölbaum sagt.
5. In Mt 12, 45 lesen wir: „Dann geht er hin und nimmt
sieben andere Geister mit sich, böser als er selbst, und sie
205
gehen hinein und wohnen daselbst; und das Letzte jenes
Menschen wird ärger als das Erste. Also wird es auch diesem
bösen Geschlecht ergehen." Der letzte Satz dieser Stelle erklärt das Ganze. Der Herr schildert den sittlichen Zustand
des jüdischen Volkes. Der Geist der Abgötterei hat die Israeliten eine Zeitlang verlassen, aber nur, um später mit siebenfacher Heftigkeit und Gewalt zurückzukehren, so daß ihr
letzter Zustand bedeutend ärger sein wird, als alles was bis
dahin in ihrer Geschichte bekannt geworden ist. Es ist klar
und deutlich, daß hier nicht im mindesten die Rede ist von
den Gläubigen, die abfallen.
6. Endlich finden wir in Offb 3, 11 die Worte: „Ich komme
bald; halte fest was du hast, daß niemand deine Krone nehme." In dieser Stelle müssen wir auf zwei Dinge unser Auge
richten: zunächst, daß es sich hier um eine Ermahnung handelt, die an eine Versammlung gerichtet ist; und dann: daß
wir in dieser Stelle nicht lesen: „Auf daß niemand dein
Lebe n nehme." Ein Knech t kann seine Belohnung
verlieren, aber ein Kin d Gotte s kann nie das ewige
Leben verlieren. Man würde viele Schwierigkeiten beseitigen,
wenn man auf diesen Punkt sein Augenmerk richtete. Die
Beziehung eines Kindes ist ganz verschieden von der eines
Jüngers. Die Sicherheit i n Christus ist etwas ganz anderes
als das Zeugnis fü r Christus. Wenn unsere Sicherheit von
unserem Zeugnis, oder unsere Kindschaft von unserer Treue
als Jünger abhängig wäre, wo würde es dann mit uns enden?
Es ist sicher wahr, daß ich mein Verhältnis als Kind um so
mehr genieße und daß mein Zeugnis als Jünger um so kräftiger und treuer sein wird, je mehr ich meine Sicherheit verstehe. Dennoch aber dürfen wir diese beiden Dinge nicht
miteinander vermengen.
Teurer Freund, Sie sagen am Schluß Ihres Briefes: „Alle
Stellen, die von einem Ausharren bis ans Ende und von
einem Überwinden sprechen, scheinen anzudeuten, daß, da
die Möglichkeit eines Nicht-Ausharrens und eines NichtÜberwindens vorhanden ist, also auch die Möglichkeit besteht, daß man am Schluß nicht selig wird." Hierauf kann ich
Ihnen nur die Antwort geben, daß ich es mir immer als ein
206
Glück anrechnen werde, alle Stellen, die Sie meinen, mit
Ihnen zu untersuchen, um Ihnen durch die Gnade Gottes zu
beweisen, daß keine von all diesen Schriftstellen mit der
wichtigen Frage bezüglich des Ausharrens bis ans Ende im
Widerspruch steht, sondern daß im Gegenteil jede Stelle an
und für sich oder in dem Zusammenhang, in dem sie steht,
den Beweis liefert, daß sie sich in vollkommener Übereinstimmung befindet mit der Wahrheit der ewigen Sicherheit
auch des schwächsten Lammes, das der Herde Christi angehört.
Möge der Herr unsere Seelen mehr und mehr in Seiner
Wahrheit befestigen und uns bewahren zur Verherrlichung
Seines Namens!
Die silbernen Trompeten
(4. Mose 10)
„Und Jehova redete zu Mose und sprach: Mache dir zwei
Trompeten von Silber; in getriebener Arbeit sollst du sie machen; und sie sollen dir dienen zur Berufung der Gemeinde
und zum Aufbruch der Lager. Und stößt man in dieselben,
so soll sich die ganze Gemeinde zu dir versammeln an den
Eingang des Zeltes der Zusammenkunft. Und wenn man in
eine stößt, so sollen sich die Fürsten zu dir versammeln, die
Häupter der Tausende Israels. Und blaset ihr Lärm, so sollen
die Lager aufbrechen, die gegen Osten lagern; und blaset ihr
Lärm zum zweiten Male, so sollen die Lager aufbrechen, die
gegen Süden lagern: zu ihrem Aufbruch sollen sie Lärm
blasen. Aber um die Versammlung zu versammeln, sollt ihr
hineinstoßen und nicht Lärm blasen. Und die Söhne Aarons,
die Priester, sollen in die Trompeten stoßen. Und sie sollen
euch zu einer ewigen Satzung sein bei euren Geschlechtern.
Und wenn ihr in eurem Lande in den Streit ziehet wider den
Bedränger, der euch bedrängt, so sollt ihr mit den Trompeten
Lärm blasen; und es wird euer gedacht werden vor Jehova,
eurem Gott, und ihr werdet gerettet werden von euren
207
Feinden. Und an euren Freudentagen und an euren Festen
und an euren Neumonden, da sollt ihr in die Trompeten
stoßen bei euren Brandopfern und bei euren Friedensopfern;
und sie sollen euch zum Gedächtnis sein vor eurem Gott. Ich
bin Jehova, euer Gott" (V. 1-10).
Wir haben hier dem Leser die ganze interessante Stelle vorgeführt, damit er in der Sprache göttlicher Eingebung die bemerkenswerte Anordnung der „silbernen Trompeten" vor
Augen habe. Der Gebrauch dieser Instrumente entspricht ganz
und gar den Anordnungen, die Gott bezüglich der Wolke
getroffen hat und steht eng mit der ganzen — sowohl vergangenen als auch künftigen — Geschichte Israels in Verbindung. Jedes Ohr in Israel war mit dem Ton der Trompete
vertraut. Dieser Ton verkündigte den Willen Gottes in bestimmter und für jedes Glied der Versammlung verständlicher Weise, wie weit auch jemand von dem Ort, von wo
das Zeugnis ausging, entfernt sein mochte. Gott trug Sorge,
daß jeder in der großen Versammlung, wie fern er auch stehen mochte, die Töne der silbernen Trompete des Zeugnisses
hören konnte.
Die beiden Trompeten waren aus einem Stück gemacht und
erfüllten einen doppelten Zweck. Der Ursprung des Zeugnisses war, mit anderen Worten, ein und derselbe, wie verschieden auch der Zweck und die Wirkung sein mochte. Jede
Bewegung im Lager war von dem Ton der Trompete abhängig. Sollte das Volk zur Freude des Festes und zur Anbetung
versammelt werden — der Ton der Trompete gab das Zeichen
dazu; sollten die Stämme zu einem Zug gegen die Feinde
versammelt werden — der Ton der Trompete verkündigte
es. Mit einem Wort: feierliche Zusammenkünfte und Kriegszüge, Friedensju.be! und Kriegslärm, alles wurde geregelt
durch den Ton der silbernen Trompete. Jede Bewegung,
mochte sie festlicher, religiöser oder kriegerischer Natur sein,
war, wenn sie nicht durch diesen allbekannten Klang hervorgerufen war, nur die Frucht eines ruhelosen, nicht unterworfenen Eigenwillens, dem Jehova Seinen Segen nicht verleihen
konnte. Die in der Wüste wandernde Schar war ebenso abhängig von dem Ton der Trompete, wie von der Bewegung
208
der Wolke. Das in dieser bestimmten Weise mitgeteilte Zeugnis Gottes sollte jede Bewegung der vielen Tausende in Israel leiten.
Überdies geziemte es den Söhnen Aarons, den Priestern,
auf den Trompeten zu blasen, denn der Wille Gottes kann
nur in priesterlicher Nähe und Gemeinschaft erkannt und
mitgeteilt werden. Es war das hohe und heilige Vorrecht der
Priester, sich um das Heiligtum Gottes zu versammeln, um
dort zuerst die Bewegung der Wolke wahrzunehmen und
dieses dann bis in die entferntesten Teile des Lagers zu verkündigen. Sie hatten die Verantwortung, einen bestimmten
Ton hervorzurufen, und jedes Glied des kämpfenden Heeres
war in gleicher Weise zu einem bereitwilligen, unbedingten
Gehorsam verpflichtet. Es hätte als Zeichen vollständigen
Aufruhrs gegen Gott gegolten, wenn jemand versucht hätte,
sich, ohne den Befehl dazu erhalten zu haben, in Bewegung
zu setzen, oder wenn er sich geweigert hätte, aufzubrechen,
falls der Befehl dazu gegeben wurde. Alle mußten auf das
göttliche Zeugnis warten und genau in dem Augenblick, wenn
es gegeben wurde, im Licht dieses Zeugnisses wandeln. Den
Marsch ohne göttlichen Befehl fortzusetzen, war ein Wandeln
in der Finsternis; den Aufbruch zu verweigern, wenn der Befehl dazu gegeben wurde, war nichts anderes als ein Bleiben
in der Finsternis.
Dies ist höchst einfach und in praktischer Beziehung von
großer Bedeutung. Es wird uns nicht schwierig sein, davon
eine Anwendung auf die Versammlung in der Wüste zu machen. Aber wir dürfen dabei nicht aus den Augen verlieren,
daß alles dies ein Vorbild ist, und daher zu unserer Belehrung geschrieben ist. Wir sind daher verpflichtet, die großen
praktischen Lehren, die für uns in dieser einfachen und
schönen Anordnung der silbernen Trompete enthalten sind,
für uns selbst auszuwerten und auf uns anzuwenden. Für
die gegenwärtige Zeit ist wirklich nichts passender und von
größerer Wichtigkeit. Wir finden darin eine Unterweisung,
der der Leser seine ganze Aufmerksamkeit schenken sollte.
In deutlicher Weise wird uns hier gezeigt, daß das Volk
Gottes in all seinen Handlungen von dem göttlichen Zeug209
nis abhängig sein und sich ihm unterwerfen sollte. Ein
Kind kann das aus dem Vorbild, das wir betrachten, herauslesen. Das Volk Israel in der Wüste durfte sich zu keinem
Fest und zu keiner religiösen Feierlichkeit versammeln, bevor
es nicht den Ton der Trompete vernommen hatte, und ebenso durften die Kriegsleute erst dann ihre Rüstung anlegen,
wenn sie durch das Lärmsignal berufen wurden, gegen die
Unbeschnittenen in den Kampf zu ziehen. Dem Ton der
Trompete gehorchend beteten und kämpften, wanderten und
ruhten sie. Es handelte sich dabei keineswegs um das, was
sie gern oder ungern taten. Weder ihre Gedanken, noch ihre
Wünsche, noch ihr Urteil spielte dabei eine Rolle; es gab hier
nur unbedingten Gehorsam. Alle ihre Handlungen waren abhängig von dem Zeugnis Gottes, das von den Priestern aus
dem Heiligtum gegeben wurde. Der Gesang der Anbeter,
der Schlachtruf der Kämpfer, beides war die einfache Frucht
des Gehorsams gegenüber dem Zeugnis Gottes.
Wie lieblich, wie treffend, wie belehrend und von welch
hohem praktischen Interesse ist dies alles! Warum hebe ich
dies mit solchem Nachdruck hervor? Weil ich hierin für die
Zeit, in der wir leben, eine höchst wichtige und beachtenswerte Unterweisung zu finden glaube. Wenn es einen Zug
gibt, der für die Gegenwart charakteristisch ist, so sehe ich
ihn vor allem in dem Ungehorsam gegen die göttliche Autorität, in dem positiven Widerstand gegen die Wahrheit, wenn
diese unbedingten Gehorsam und Unterwürfigkeit verlangt.
Alles geht gut, solange die Wahrheit unserer Errettung, unserer Annahme, unseres Lebens, unserer Rechtfertigung und
unserer Sicherheit in Christo mit göttlicher Fülle und Klarheit
verkündigt wird. Wir lauschen diesen Wahrheiten und erfreuen uns daran. Sobald es sich aber um die Gebote und
die Autorität Dessen handelt, Der Sein Leben hingegeben
hat, um uns vor den Qualen der Verdammnis zu retten und
uns in die ewigen Freuden des Himmels einzuführen, dann
tauchen Schwierigkeiten aller Art auf. Die verschiedensten
Fragen und Vernunftschlüsse werden geteilt, ganze Wolken von Vorurteilen sammeln sich um die Seele und verfinstern das Verständnis, die scharfe Schneide der Wahrheit
210
wird abgestumpft, und auf alle mögliche Weise sucht man
einen Weg, um auszuweichen. Man wartet nicht auf den Ton
der Trompete, und wenn sie auch so hell und klar erklingt,
wie nur Gott Selbst sie erschallen lassen kann, so schenkt
man dieser Aufforderung doch kein williges Ohr. Wir wandern, wenn wir ruhen, und ruhen, wenn wir wandern sollen.
Was ist aber die Folge eines solchen Verhaltens, geliebter
Leser? Entweder werden wir gar keine Fortschritte machen,
oder, was noch weit schlimmer ist, wir machen Fortschritte
in einer ganz falschen Richtung. Es ist ganz unmöglich, daß
wir im göttlichen Leben zunehmen, wenn wir uns nicht völlig
dem Worte Gottes unterwerfen. Wir mögen durch den überschwenglichen Reichtum der göttlichen Gnade und durch die
versöhnende Kraft des Blutes Christi gerettet sein, aber sollten wir uns damit begnügen, durch Ihn gerettet zu sein, und
nicht danach trachten, mit Ihm zu wandeln und für Ihn zu
leben, wenn auch in Schwachheit? Sollen wir die Erlösung
durch das von Ihm vollbrachte Werk annehmen und nicht
danach verlangen, mit Ihm in innigem Umgang zu sein? Wie
wäre es den Israeliten in der Wüste ergangen, wenn sie sich
geweigert hätten, auf den Ton der Trompete zu achten? Die
Antwort ist nicht schwierig. Hätten sie sich z. B. vorgenommen, sich an irgendeinem Tage zu einem Fest oder zu einer
religiösen Feierlichkeit zu versammeln, ohne durch die göttlichen Töne dazu aufgefordert zu sein, was wäre die Folge
gewesen? Oder wenn sie es gewagt hätten, aus eigenem
Antrieb ihren Marsch fortzusetzen oder in den Krieg zu ziehen, bevor die Trompete erscholl, was wäre daraus geworden? Oder schließlich, wenn sie sich beim Ertönen der Trompete geweigert hätten, sich zu einem Fest zu versammeln
oder ihre Reise fortzusetzen oder in den Krieg zu ziehen, —
wie wäre es ihnen ergangen?
Die Antwort auf diese Fragen liegt auf der Hand. Laßt uns
sie tief in unsere Herzen einprägen und sie zu unserem Nutzen verwerten, denn, wie bereits gesagt, diese göttlichen Anordnungen enthalten eine beachtenswerte Unterweisung für
uns. Die silberne Trompete veranlaßte und leitete jede Bewe211
gung des Volkes Israel und ebenso sollte auch jetzt das
Zeugnis Gottes in der Kirdie oder Versammlung alles bestimmen und regeln. Die silbernen Trompeten wurden von
den Priestern des alten Bundes geblasen, und auch jetzt wird
das Zeugnis Gottes nur in einer priesterlichen Gemeinschaft
mit Ihm erkannt. Ein Christ hat kein Recht, sich zu bewegen
und zu handeln, wenn nicht das Zeugnis Gottes ihn dazu
auffordert. Er muß auf das Wort seines Herrn warten und
so lange stehen bleiben, bis dieses Wort an ihn gerichtet
wird. Wenn es aber an sein Ohr dringt, dann muß er vorwärts gehen. Gott kann und wird Seiner Kirche Seinen Willen mitteilen, und zwar ebenso bestimmt und genau, wie
Er ihn Seinem Volke Israel kundtat. Das geschieht jetzt natürlich nicht durch den Ton einer Trompete oder durch die
Bewegung einer Wolke, sondern durch Sein Wort und durch
Seinen Geist. Unser Vater leitet uns nicht durch etwas, das
auf unsere äußeren Sinne Einfluß hat, sondern durch etwas,
das auf das Gewissen, das Herz und das Verständnis wirkt.
Nicht auf natürlichem, sondern auf geistlichem Wege teilt Er
uns Seinen Willen mit.
Aber wir können überzeugt sein, daß unser Gott unsere Herzen über das, was wir tun und lassen, wohin wir gehen und
nicht gehen sollen, ganz gewiß nicht im Unklaren lassen
kann und wird. Das sollte jeder Christ wissen, und es ist
höchst sonderbar, daß dies von vielen bezweifelt oder gar
geleugnet wird. Ja, wie oft befinden wir uns in Zweifel oder
Verwirrung. Und leider kennen wir Christen, die rundheraus
leugnen, daß wir in den Dingen des täglichen Lebens und
Handelns immer den Willen Gottes bestimmt erkennen können. Welch ein Irrtum! Kann nicht ein irdischer Vater seinem Kind auch in den kleinsten und unbedeutendsten Dingen
seinen Willen verständlich machen? Wer wird dies leugnen?
Sollte nun unser himmlischer Vater uns nicht in allen unseren
Wegen von Tag zu Tag Seinen Willen mitteilen können?
Ja, ohne Zweifel kann Er es. Darum sollte sich kein Christ
das Vorrecht, den Willen seines Vaters in allen Umständen
des täglichen Lebens zu, erkennen, rauben lassen.
212
Dürfen wir einen Augenblick dem Gedanken Raum geben,
daß die Kirche Gottes in bezug auf ihre Führung und Leitung
von oben den Kindern Israel in der Wüste nachstehe? Unmöglich. Woher kommt es denn, daß man so viele Christen
findet, die über ihr Tun und Lassen in Ungewißheit sind?
Die Ursache ist, daß man keine „beschnittenen" Ohren hat,
so daß man den Ton der Trompete nicht hört. Ebenso ist ein
völlig unterworfener Wille erforderlich, um diesem Ton zu
folgen. Freilich sind wir nicht berufen, eine Stimme aus dem
Himmel zu erwarten, die uns sagt, dieses oder jenes zu tun,
hierhin oder dorthin zu gehen, oder eine Schriftstelle ausfindig zu machen, die uns buchstäbliche Anweisungen für unser
Verhalten in den kleinen Umständen des täglichen Lebens
gibt. Wie könnte z. B. jemand erfahren, ob es der Wille des
Herrn sei, in diese oder jene Stadt zu gehen und dort eine
Zeitlang zu bleiben? Wir antworten: Wenn dein Ohr beschnitten ist, wirst du sicher den Ton der silbernen Trompete hören. Halte dich ganz ruhig, bis sie ertönt, aber sobald
du den Ton vernimmst, dann zögere nicht länger. Ein solches
Verhalten wird alles klar, einfach und sicher machen. Es ist
das beste Mittel gegen Zweifel, gegen Zögern und Schwanken. Es wird uns der Mühe entheben, bei diesem oder jenem
Bruder Rat über unser Tun und Lassen einzuholen. Überdies
lernen wir hieraus, daß es nicht unsere Aufgabe ist, die
Handlungen und Bewegungen anderer zu verhindern. Wenn
jeder ein offenes Ohr und ein unterwürfiges Herz hat, dann
wird er von Tag zu Tag in allem, was er tut, eine so völlige
Gewißheit haben, wie nur Gott sie geben kann. Unser gütiger
und gnädiger Herr kann in allen Dingen Klarheit und Sicherheit geben. Wenn Er es nicht tut, dann kann es niemand.
Wenn Er es tut, dann brauchen wir den Rat eines anderen
nicht mehr.
Soviel über die herrliche Anordnung über die silbernen Trompeten, die wir hier nicht weiter verfolgen wollen, obwohl sie
in ihrer Anwendung nicht auf Israel in der Wüste beschränkt
werden darf, sondern mit der ganzen Geschichte dieses Volkes innig verbunden ist. Es ist die Rede von dem Fest der
Trompeten, von der Trompete des Jubels, von dem Blasen
213
der Trompete beim Opfer. Auf alles dieses können wir jetzt
nicht näher eingehen, da wir es hier als unsere einzige Aufgabe betrachten, dem Leser behilflich zu sein, den großen
und herrlichen Gedanken zu erfassen, der in dem vorliegenden Kapitel enthalten ist. Möge der Heilige Geist die köstliche und für alle beachtenswerte Lehre der „silbernen Trompete" tief in unsere Herzen einprägen!
O Ton, so schön und herrlich,
Wie klingst du klar und laut
Dem Ohre jedes Gläub'gen,
Der auf den Herrn vertraut!
Du rufst ihn zum Gebete,
Zum Feste hin, zur Freud',
Stärkst ihn auf schweren Wegen,
Ermunterst ihn im Streit.
Du wirst auch einmal tönen,
Wenn alles ist vollbracht,
Wenn vor dem Morgensterne
Entflieht die finst're Nacht.
Dann wird der Kummer enden,
Verscheucht sein jeder Schmerz;
Wir werden selig ruhen
An Gottes Vaterherz.
Alisheimisch vom Leibe
Wir sind oft geneigt, uns darüber zu verwundern, daß im
Neuen Testament so wenig die Rede ist von dem Zustand
des Geistes von dem Augenblick an, wo er bis zum Auferstehungstag den Leib verläßt. Doch bei näherer Prüfung dieses Gegenstandes muß es auffallen, daß gar manches darüber
gesagt wird. Allerdings finden wir nur vier Stellen im Neuen
Testament, die auf dieses äußerst wichtige Verhältnis Bezug
haben, aber welch ein Schatz von Unterweisung liegt in jeder
dieser Stellen verborgen! Wenn unsere Leser einige Augenblicke mit uns bei diesen Stellen verweilen wollen, dann
werden sie sehen, daß dieser Gegenstand uns in seiner An214
wendung auf die vier verschiedenen Zustände des christlichen Lebens vor Augen gestellt wird. Wir werden den erlösten Geist aus vier verschiedenen Zuständen in die Gegenwart Christi übergehen sehen. Wir werden einem begegnen,
der einfach als ein durch Gnade geretteter Sünder, und einem
anderen, der als Märtyrer diese Welt verläßt. Wir werden
dann die Seufzer eines beschwerten Gemüts vernehmen, das
verlangt, „ausheimisch vom Leibe und einheimisch beim
Herrn" zu sein, und schließlich werden wir auf die heiße
Sehnsucht eines Arbeiters im Weinberg des Herrn, der auf
ewig in der Gegenwart seines Herrn und Meisters ruhen
möchte, stoßen.
1. Wir wenden uns zunächst zu der ersten Stelle in Lk 23,
wo wir lesen: „Einer der gehenkten Übeltäter lästerte ihn
und sagte: Bist d u nicht der Christus? Rette dich selbst und
uns! Der andere aber antwortete und strafte ihn und sprach:
Auch du fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht
bist? und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes
getan. Und er sprach zu Jesu: Gedenke meiner, Herr, wenn
du in deinem Reiche kommst! Und Jesus sprach zu ihm:
Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese
sein" (V. 39-43).
Es ist nicht meine Absicht, bei dieser lieblichen Geschichte
stehen zu bleiben und die Einzelheiten in ihrer evangelistischen Unterweisung zu entfalten. Ich habe diese Stelle nur angeführt, um dem Leser ein deutliches Zeugnis der Schrift vor
Augen zu stellen. Wir begegnen hier jemandem, der in dem
einfachen Charakter eines aus Gnaden geretteten Sünders
ins Paradies ging. Am frühen Morgen war er ein verurteilter
Verbrecher, im Laufe des Tages ein Lästerer Jesu (Mt 27, 44),
aber ehe der Abend anbrach, war seine erlöste Seele im
Himmel: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein." Als
ein zu Recht verurteilter Sünder hatte er sich Jesu übergeben
und anvertraut, und als ein mit Blut erkaufter Heiliger ging
er mit Jesus ins Paradies. Er war nicht berufen, die Krone
eines Märtyrers zu tragen. Es wurde ihm nicht gestattet, für
seinen Herrn und Meister zu arbeiten. Er hatte als Christ
215
keine lange, gefahrvolle Laufbahn zu durchwandern. Aber
er war ein Sünder, der durch die Gnade errettet war. Überdies wurde er durch die Gnade fähig gemacht, ein Zeugnis
abzulegen von der sündlosen Menschheit unseres gesegneten
Herrn, und zwar in dem Augenblick, wo die religiösen Führer des jüdischen Volkes den Herrn als einen Missetäter der
weltlichen Obrigkeit überliefert hatten. Ja, er bekannte Ihn
als seinen Herrn und sprach von Seinem künftigen Königreich in einem Augenblick, wo das menschliche Auge keine
Andeutung von diesem Königreich erkennen konnte. Das
waren gute Werke. Christus zu bekennen und der Welt, die
Christus verwirft, zu widersprechen — das sind Werke der
erhabensten Art, Werke, die den herrlichsten Wohlgeruch
verbreiten und im vollsten Glanz strahlen. Der Mörder am
Kreuz zeugte von Jesus, als die feindliche Welt Ihn verwarf
und die erschreckten und verzagten Jünger Ihn verlassen
hatten. „Gedenke meiner, Herr", sagt er, „wenn du in deinem Reiche kommst." Liebliche Worte für den sterbenden
Erlöser! Aber noch lieblicher ist die Antwort, die der sterbende Mörder empfing: „Heute wirst du mit mir im Paradiese
sein." Das übertraf seine kühnsten Erwartungen. Der sterbende Jesus gab über Bitten und Verstehen; an eine solche
Erfüllung seines Wunsches hatte der Mörder nicht gedacht.
Er hatte nur gebeten, daß der Herr seiner gedenken möge,
wenn Er Sein Königreich aufrichten würde. Aber der Herr
sagte: „Heut e wirst du mit mir im Paradiese sein." Und
darum, als die römischen Kriegsknechte kamen, um das
fürchterliche Werk des Beinbrechens an dem sterbenden
Manne zu verrichten, konnte er voll Freude sagen: „Diese
Männer kommen, um mich geradewegs in den Himmel zu
senden."
Ja, teurer Leser, der Mörder ging in den Himmel, um dort
bei Ihm zu sein, Der an seiner Seite an dem Fluchholz gehangen, und Der so herrliche Worte gesprochen hatte, um
sein Herz zu trösten. Das stand für ihn unwiderruflich fest.
Nie war er einem solchen Freund begegnet, wie Jesus es war.
Niemand als Jesus hatte ihn so sehr geliebt, niemand sein
Herz so getröstet. Die Gnade Jesu hatte einen Strom himm216
lischen Lichtes ausgegossen über das fürchterliche Kreuz, an
das der Mörder zur Strafe für seine Verbrechen gehängt
worden war, und nun ging er ins Paradies, um für ewig bei
Jesus zu sein. Das Paradies würde kein fremder Ort für ihn
sein, denn dort würde er Jesus sehen. Wie kostbar ist das
für unser Herz! Wie erquickend ist der Gedanke daran! Der
Himmel ist uns weit näher, als wir oft denken. Er ist die
Wohnstätte jener Liebe, die ihre glänzenden und gesegneten
Strahlen über die dürre Wüste sendet, durch die wir zu pilgern haben. Bei Jesus zu sein, ist das allerbeste, das macht
das Herz jetzt schon glücklich. In der Gesellschaft Dessen zu
sein, Der mich so unaussprechlich liebt, daß Er Sich Selbst
für mich hingab, was könnte es Köstlicheres geben? Im Himmel werden wir uns ganz zu Hause fühlen. Wir brauchen
nicht zu fragen: „Wo ist der Himmel? Wie ist diese Wohnstätte beschaffen? Was werden wir dort tun?" Wir werden
bei Jesus sein; diese Tatsache beantwortet alle Fragen dieser
Art. Dort, wo die zärtlichsten Zuneigungen eines Vaterherzens uns in göttlicher Reinheit und unwandelbarer Kraft
entgegenströmen, wo die Liebe des Bräutigams in ungestörtem Genuß unser Teil sein wird, wo die Gemeinschaft eines
Herzens, das sich nicht schämt, uns Brüder zu nennen, sowie
auch die Sympathie eines Freundes in all ihrer göttlichen
Frische und Kraft geschmeckt wird, — dort ist der Himmel.
Dorthin ging der am Kreuz hängende Mörder. „Heute wirst
du mit mir im Paradiese sein!" — Da können wir wohl ausrufen :
Was wird's sein, was wird's sein,
Führest du mich droben ein!
Wo nicht Sund' und Welt mehr störet,
Nie ein Seufzer wird gehöret, —
Ewig werd' ich bei Dir sein!
Freilich mußte der Mörder seinen Leib zurücklassen, bis der
herrliche Augenblick der Auferstehung anbrechen und der
Leib in Unverderblichkeit, in Unsterblichkeit, in Herrlichkeit
und Kraft auferweckt werden würde. Er wartet jetzt mit
allen, die in Jesu entschlafen sind, auf diesen glückseligen
Augenblick. Aber ebenso gewiß ist es, daß der Herr Jesus
217
zu ihm sagte: „Heut e wirst du mit mir im Paradiese
sein." Welch ein Gedanke! Vom Kreuz, dem schändlichen
Kreuz eines Verbrechers, in das Paradies Gottes; von einem
Schauplatz der Lästerung, der Verhöhnung, der Grausamkeit
in die Gegenwart Jesu einzugehen, das war das herrliche Los
des sterbenden Übeltäters, und zwar nicht aus eigenem Verdienst, sondern auf Grund des kostbaren Opfers Christi, Der
ins Heiligtum einging mit Seinem eigenen Blut.
2. Betrachten wir jetzt die zweite Stelle, die über unseren
Gegenstand handelt. Wir finden sie in Apg 7, 59 und 60.
„Und sie steinigten den Stephanus, welcher betete und sprach:
Herr Jesus, nimmt meinen Geist auf! Und niederknieend
rief er mit lauter Stimme: Herr, rechne ihnen diese Sünde
nicht zu ! Und als er dies gesagt hatte, entschlief er."
Hier sehen wir das Ende eines Märtyrers, des ersten aus der
großen Schar, die ihr Leben für den Namen Jesus hingegeben
haben. Stephanus war nicht nur ein aus Gnaden geretteter
Sünder, sondern litt auch um des Namens und um der Sache
des Herrn willen. Er litt bis in den Tod. Er verließ die Mordstätte der Steinigung, um in die Gegenwart seines Herrn zu
gehen, Der ihm erst vor kurzem vorangegangen war und nun
bereit war, den Geist Seines Knechtes aufzunehmen. Welch
eine Veränderung! Welch ein Gegensatz! Und laßt uns daran
denken, daß es Stephanus gestattet wurde, einen klaren Blick
werfen zu dürfen in den Bereich, in den er so bald eintreten
sollte. „Als er aber, voll Heiligen Geistes, unverwandt gen
Himmel schaute, sah er die Herrlichkeit Gottes, und Jesum
zur Rechten Gottes stehen; und er sprach: Siehe, ich sehe
die Himmel geöffnet, und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen" (V. 55f)! Wunderbarer Aufblick! Der
Himmel sollte kein fremder Wohnort für Stephanus sein.
„Der Sohn des Menschen" war dort, so daß er sich in jener
Stätte ganz zu Hause fühlen konnte. Er sah nicht, wie der
Mörder am Kreuz, Jesus an seiner Seite hängen, aber er sah
Ihn vor sich im Himmel. Er sah nicht wie der Mörder einen
sterbenden Heiland, sondern er sah Ihn auferstanden und
verherrlicht, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt, zur Rediten
der Majestät in der Höhe.
218
Konnte daher der Mörder an den Himmel denken als an die
Wohnstätte jenes Gesegneten, Der ans Kreuz genagelt war,
so konnte Stephanus den Himmel als die Wohnung Dessen
anschauen, Der bereits in die Herrlichkeit eingegangen war.
Es war derselbe Himmel und derselbe Jesus für den einen
wie für den anderen. Für beide war es kein fremdes, unbekanntes Land, sondern es war die glückselige Wohnung des
gekreuzigten, auferstandenen und verherrlichten Jesus. Allerdings mußte der Märtyrer ebenso gut wie der Übeltäter
seinen Leib zurücklassen, damit er im Schoß der Erde schliefe
bis zur Auferstehung. Allerdings mußte auch er diesen ersehnten Augenblick erwarten, aber sein Geist war von dem
Augenblick seines Abscheidens von dieser Erde bei Jesus.
Ja, sowohl der Märtyrer als auch der Übeltäter, beide sind
jetzt bereits seit neunzehn Jahrhunderten bei ihrem Herrn.
Welche glückseligen Augenblicke mögen sie in diesen Jahrhunderten gehabt haben! Nicht die geringste Störung hat ihren Genuß der herrlichen Gemeinschaft zu schmälern vermocht. Ihre Stellung ist zwar eine abwartende Stellung, aber
dennoch ist vollkommene Ruhe ihr Teil. Kein Kampf, kein
Schmerz, keine Veränderung! Dies alles ist für sie auf immer
vorbei. Immer sind sie glücklich, immer getrennt von Sünde
und Schwachheit, immer befreit von den Versuchungen einer
feindseligen Welt und den Listen des Teufels. O wie herrlich
ist es, dort zu sein! Erblicken wir darin auch noch nicht unsere
Vollendung, und mag auch unsere Freude noch größer sein,
wenn wir mit unserem neuen Leib bekleidet von Jesus in
die Wohnungen des Vaterhauses eingeführt werden, so wird
doch die Freude, mit dem Herrn im Paradiese zu sein, alle
unsere Vorstellungen übertreffen.
3. Dies führt uns zu unserer dritten Stelle, die wir in dem
zweiten Brief an die Korinther finden. „Denn wir freilich,
die in der Hütte sind, seufzen beschwert, wiewohl wir nicht
entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das
Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber
eben hierzu bereitet hat, ist Gott, der uns auch das Unterpfand des Geistes gegeben hat. So sind wir nun allezeit
gutes Mutes und wissen, daß, während einheimisch in dem
219
Leibe, wir von dem Herrn ausheimisch sind (denn wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen); wir sind aber
gutes Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem Leibe
und einheimisch bei dem Herrn sein" (Kap. 5, 4-8).
Aus diesen Worten des Apostels sehen wir deutlich, daß
nicht, entkleide t sein , sondern überkleide t z u
werde n die eigentliche Hoffnung der Christen ist. Der
Gläubige wartet auf den Augenblick, wo er mit einem verherrlichten Leibe bekleidet werden wird, und zwar gleichförmig dem Leibe Jesu.. Mit anderen Worten, er wartet auf
die glückselige Erscheinung des Sohnes Gottes, Der kommen
wird, um Seine teure Braut in Seine Herrlichkeit aufzunehmen. Die Worte: „Wiewohl wir nicht entkleidet, sondern
überkleidet werden möchten" wollen nichts anderes sagen
als: „Wiewohl wir nicht zu sterben, sondern ohne zu sterben den neuen, verherrlichten Leib zu empfangen wünschen."
Wenn der Herr Jesus in der Luft erscheint (1. Thess 4), um
Seine Versammlung aufzunehmen, dann werden die entschlafenen Heiligen auferweckt und die übriggebliebenen Lebenden verwandelt werden. Es war nun das große Verlangen
des Apostels, die Zahl der übrigbleibenden Lebenden anzugehören, und das ist die wahre Hoffnung aller wahren Glieder der Versammlung. Dennoch aber ist es stets sein Wunsch,
den Leib der Sterblichkeit ablegen zu können, um bei dem
Herrn zu sein. Es ist weit besser, bei dem Herrn zu wohnen als in dieser finsteren, öden Welt. Darum sagt der Apostel: „Wir . . . möchten lieber ausheimisch von dem Leibe
und einheimisch bei dem Herrn sein." Stellt er das Sterben
dem Verwandeltwerden gegenüber, dann wählt er das Letztere, aber wenn er das Sterben dem Bleiben auf dieser Erde
gegenüberstellt, dann will er lieber sterben und bei dem
Herrn sein (Phil 1, 22f). Dieser Augenblick, der für den
unbekehrten Menschen der Tod, der König des Schreckens
ist, ist für den Gläubigen nichts anderes als einfach ein Ablegen alles dessen, was ihn hindert, mit Jesus in einer ungestörten Gemeinschaft sein zu können. Welch ein Unterschied
bestand zwischen jenen beiden Übeltätern, die unter den
Händen römischer Soldaten ihr Leben beendeten! Der eine
220
ging hin, um für immer bei Jesus zu sein, der andere eilte
jenem Ort zu, wo jede Hoffnung ausgeschlossen ist. Wie
herrlich für uns zu wissen, daß ausheimisch vom Leibe zu
sein, für uns nichts anderes ist, als einheimisch bei dem
Herrn! Aber wie schrecklich, wie unaussprechlich entsetzlich ist der Zustand derer, die, wenn sie „ausheimisch von
dem Leibe" sind, einheimisch sind beim Teufel und seinen
Engeln.
4. Wir wollen jetzt einige Augenblicke bei unserer vierten
Stelle verweilen, die wir im schönen Brief an die Philipper
finden. „Ich werde aber von beidem bedrängt, indem ich Lust
habe, abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn es ist weit
besser" (Kap. 1, 23).
Hier sehnt sich ein Arbeiter im Werke des Herrn mit brennendem Verlangen nach dem Augenblick, wo er in der Gegenwart seines Herrn sein wird. Er ist im Kampf mit sich
selbst. Seine Seele verlangt abzuscheiden, doch sein Blick ist
auf die gerichtet, die über den Verlust seiner Person betrübt
sein würden, und der Gedanke hieran bringt ihn in Verlegenheit. Für ihn war es besser, „abzuscheiden und bei Christo zu
sein", für die geliebten Philipper aber war sein Bleiben besser. „Das Bleiben im Fleische aber ist nötiger um euretwillen"
(V. 24). Was sollte er wünschen? Sollte er das Abscheiden
wählen? Nein! „In dieser Zuversicht weiß ich, daß ich bleiben
und mit und bei euch bleiben werde zu eurer Förderung und
Freude im Glauben" (V. 25). Welch eine Selbstverleugnung!
Welch eine aufopfernde Liebe gegen die Philipper strahlt uns
hier entgegen! Er verlangte danach, im Himmel zu sein, aber
da er noch auf der Erde nötig war, erklärte er sich bereit zu
bleiben. Für ihn war es „weit besser", abzuscheiden, aber
das Bleiben war um ihretwillen nötiger, und darum war er,
erfüllt mit dem Geiste Christi, sogleich bereit, seinen eigenen
Vorteil und seinen eigenen Genuß ihnen zum Opfer zu
bringen. Welch ein treuer Knecht war Paulus! Möchten wir
ihm gleichen und in seinen Fußstapfen wandeln!
Wenn wir nun das, was uns diese vier Stellen gezeigt haben,
zusammenfassen, dann haben wir alles für uns, was im Neuen Testament über die Seelen derer gesagt wird, die im Glau221
ben an Christus entschlafen sind, und dann wird es uns zu
gleicher Zeit deutlich, daß der Heilige Geist uns diesen Gegenstand unter vier verschiedenen Gesichtspunkten vor Augen
stellt. In Lk 23 sehen wir, wie ein soeben geretteter Sünder
mit Jesus im Paradies aufgenommen wird. In Apg 7 bemerken wir einen Gläubigen, der um des Namens Jesu willen den
Märtyrertod erduldet. In 2. Kor 5 hören wir einen seufzenden und beschwerten Christen das Verlangen aussprechen,
seinen Leib ablegen und bei dem Herrn sein zu können. In
Phil 1 schließlich sehen wir einen Arbeiter des Herrn, der an
dem Herzen seines geliebten Meisters auszuruhen wünscht.
Wir haben also wohl Ursache zu sagen, daß der Herr uns,
wenn auch nur in einzelnen Stellen, vieles über den Zustand
der Seelen nach dem Tode gesagt hat. Wir können vollkommen ruhig sein, denn die entschlafenen Heiligen sind mit
Jesus im Paradies, und bei Jesus ist ist es gut, bei Ihm ist es
besser als hier, bei Ihm ist man vollkommen glücklich. Es
gibt deshalb keinen Grund, wie einige zu glauben, daß die
Seele, solange der Leib im Grab ruht, sich in einem Zustand
des Schlafens befindet. Selbst wenn wir nicht so viele Schriftstellen besäßen, die eine solche Auffassung als völlig unbegründet hinstellen, würde diese seltsame Vorstellung sich sozusagen selbst widerlegen. Wer kann sich wohl einen schla -
fende n Geist vorstellen? Der Herr Jesus sagte auch nicht
zu dem Mörder: „Heute wirst du schlafen", sondern: „Heute
wirst du mit mir im Paradiese sein." Es wäre wirklich keine
herrliche Aussicht für die Seele dieses Mannes gewesen, wenn
er im Paradiese hätte schlafen sollen. Was hätte er dann an
Jesus gehabt? Paulus hätte dann wirklich nicht sagen können:
„Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein, denn
es ist weit besser". Ach nein, wenn wir nach unserem Abscheiden schlafen sollen, dann ist es weit besser, hier auf der
Erde zu bleiben, denn so lange wir hier sind, können wir
wenigstens Gemeinschaft mit Jesus haben und Seine Liebe
genießen, wie mangelhaft dies auch sein mag; das wäre im
Paradies unmöglich, wenn wir dort schliefen! Es ist daher
unbegreiflich, wie jemand einer solchen Vorstellung Raum
geben kann. Der Herr sei gepriesen, daß uns Sein Wort in
222
deutlicher Weise lehrt, daß, wenn es der heilige Wille Gottes ist, uns vor der Wiederkunft unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus von dieser Erde abzurufen, unser Platz
bei Ihm droben in der herrlichen Welt sein wird, wo Sünde
und Trauer keine Stätte finden, um dort die ungestörte Gemeinschaft Dessen zu genießen, Der uns geliebt und uns
durch Sein Blut von unseren Sünden gewaschen hat, und auf
den glückseligen Augenblick zu warten, wo beim Klang der
Posaune die Toten unverweslich auferweckt und die übriggebliebenen Lebenden verwandelt werden.
Die Liebe untereinander
(Johannes 13, 35)
Es ist leider offenbar, daß der gegenwärtige Zustand der
Kirche oder Versammlung Christi die Betrachtung der brüderlichen Liebe sehr erschwert, und daß das Zeugnis in
dieser Hinsicht sehr mangelhaft ist. Dennoch besteht die
Pflicht, Liebe untereinander zu haben, ungeschwächt weiter.
Die erschwerenden Umstände können weder diese Pflicht beiseitestellen noch die Forderungen des Wortes Gottes aufheben. Der Herr Jesus Selbst sagt: „Dies ist mein Gebot, daß
ihr einander liebet, gleichwie ich euch geliebt habe (Joh 15,
12)." Es ist daher eine unabweisliche Notwendigkeit, daß wir
uns immer wieder ermahnen, Liebe untereinander zu haben.
„Jeder, der den liebt, welcher geboren hat, liebt auch den, der
aus ihm geboren ist" (1. Joh 5, 1). Das ist eine sehr wichtige
Erklärung für die Bruderliebe. Hier wird nicht von irgendeinem Gebot geredet oder von irgendeiner Ermahnung, sondern
hier wird eine Tatsache bestätigt, daß derjenige, der Gott
liebt, auch die Brüder liebt. Mit anderen Worten, wenn die
Liebe Gottes im Herzen wohnt, wird da unfehlbar auch Bruderliebe zu finden sein. Wenn ich aus Gott geboren bin, habe
ich nicht nur Den lieb, Der mich geboren hat, sondern ich
liebe auch diejenigen, die aus Ihm geboren sind. Liebe ist die
Natur des Lebens, das ich empfangen habe. Bei einer solchen
Erklärung ist es unmöglich, zuzugeben, daß diejenigen, die
223
aus Gott geboren sind, keine Liebe zueinander haben. Das
göttliche Leben mag unscheinbar, schwach und elend sein und
in einem solchen Fall wird die Bruderliebe sich mangelhaft
und armselig erweisen, aber dennoch bleibt es wahr, daß
überall, wo Leben aus Gott vorhanden ist, auch die Liebe zu
den Brüdern gefunden wird. Von einem Kind im zartesten
Alter kann ich sagen: „Es ist ein Sünder, die Sünde wohnt in
der Natur dieses Kindes; und wenn es am Leben bleibt, wird
sich auch ohne Zweifel die Sünde offenbaren". Mit derselben
Sicherheit kann ich von einem, der aus Gott geboren ist, sagen: „Das ist jemand, der liebt. Sicher wird die Bruderliebe
bei ihm zutagetreten, sie wird sich in geringerem oder größeren Maß gewiß in irgendeiner Weise offenbaren". Der Teufel kann dem Leben, das wir von Gott empfangen haben,
nichts anhaben, er kann es nicht vernichten, denn das, was
uns befähigt zu lieben, bleibt unangetastet. Der Teufel versucht der Entwicklung des Lebens entgegenzuarbeiten, um
dessen Offenbarung zu verhindern und dessen Früchte zu
vernichten. Er versuchte es bei Christus und wird es auch bei
uns versuchen, und leider sind seine Bemühungen bei uns
nicht immer fruchtlos.
Das ist, glaube ich, die Ursache, warum die Schrift uns bezüglich der Liebe untereinander so viele Ermahnungen gibt, um
uns die Notwendigkeit fühlen zu lassen, „von Gott gelehrt
(zu sein), einander zu. lieben" (1. Thess 4, 9). „Vor allen
Dingen aber habt untereinander eine inbrünstige Liebe"
(1. Petr 4, 8). „Geliebte, wenn Gott uns also geliebt hat, so
sind auch wir schuldig, einander zu lieben . . . Und dieses Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe" (1. Joh 4). „Die Bruderliebe bleibe" (Hebr 13, 1).
Wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf diese Ermahnung
richten und „aufeinander achthaben zur Anreizung zur Liebe,,
(Hebr 10, 24). Und ach, wie viele Dinge sind geeignet, unsere
Liebe zu schwächen und zu verringern! Laßt uns daher acht
haben auf uns selbst und einander ermahnen und anreizen
zur Liebe! Möge Gott Selbst uns lehren, einander zu lieben!
Der Herr sagt: Dies ist mein Gebot, „daß ihr einander liebet,
gleichwie ich euch geliebt habe" (Joh 15, 12). — Wenn
224
wir also etwas von der Bruderliebe verstehen wollen, müssen
wir zuerst die Liebe Jesu zu uns kennen, denn diese Liebe ist
der Maßstab und das Muster unserer Liebe. Das Erste, was
man von dieser Liebe Christi sagen kann und muß, ist, daß
sie die Erkenntnis übersteigt (Eph 3, 19). Je mehr man sie
betrachtet, desto größer erscheint sie uns; wir werden nie
ihren Boden oder ihre Grenze entdecken, denn sie ist ohne
Boden und ohne Grenze. Sie ist unendlich, wie Gott unendlich
ist, sie „übersteigt die Erkenntnis". Wir werden sie deshalb
nur unvollkommen verstehen. Das darf jedoch kein Grund
sein, uns wenig mit ihr zu beschäftigen, sondern im Gegenteil
müssen wir umso mehr dadurch angespornt werden, sie stets
zum Gegenstand unserer Beschäftigung zu machen. Es dient
zu unserer Sicherheit, und es ist ja der Wunsch Jesu: „Bleibet
in meiner Liebe."
Ich will mich darauf beschränken, drei Charakterzüge der Liebe
Jesu zu uns zu nennen, die in bezug auf den Gegenstand, der
uns beschäftigt, ganz besonders wichtig sind. Der erste dieser
Züge ist, daß Er uns zuers t gelieb t hat. „Gott aber
erweist seine Liebe gegen uns darin, daß Christus, d a wi r
noc h Sünde r waren , für uns gestorben ist" (Rö 5,8).
Er hat uns nicht nur geliebt, als nichts Liebenswürdiges an uns
zu finden war, sondern sogar, als wir uns in einem hassenswürdigen Zustand befanden, als wir nichts als verderbte, widerspenstige Sünder waren. Dieser Tatsache, die uns so deutlich in der Heiligen Schrift vor Augen gestellt wird, können
wir die an die Jünger gerichtete Unterweisung des Herrn beifügen: „Liebet eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen;
. . . Und wenn ihr liebet, die euch lieben, was für Dank ist
euch? denn auch die Sünder lieben, die sie lieben . . . Und ihr
werdet Söhne des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen
die Undankbaren und Bösen" (Lk 6, 27-35).
Die Unterweisung und das Beispiel des Herrn sind für uns
eine Aufforderung, zu lieben, wie Er geliebt hat, zuerst zu
lieben, und die zu lieben, an denen nichts Liebenswürdiges
ist, — selbst die Undankbaren und die Bösen. Wenn man
daher unter den Brüdern solche findet, die wenig liebenswürdig, die arm, schwach, elend und verachtet sind, dann fordert
225
uns der Herr Jesus auf, gerade an ihnen zuerst unsere Liebe
zu betätigen (Siehe Mt 18, 10-14). Diejenigen zu lieben, die
uns lieben, ist nichts anderes als was auch die Sünder tun,
und vielleicht gleichen wir in dieser Hinsicht noch ein wenig
den Sündern. Die Neigung, die zu lieben, die uns lieben,
ist ganz natürlich und oft so stark, daß man wohl zehnmal
Gelegenheit finden wird, diejenigen, die uns lieben, zu besuchen und ihnen wohlzutun, während wir kaum einmal Gelegenheit finden, so gegen die zu handeln, die uns nicht so
lieben, oder die weniger liebenswürdig und anziehend sind.
Wie es jedoch auch sei, das Beispiel und die Unterweisung des
Herrn zeigen uns, wie Er uns geliebt hat, und wie wir einander lieben sollen. „Dies ist mein Gebot, daß ihr einander
liebet, gleichwie ich euch geliebt habe".
Der zweite Charakterzug der Liebe Jesu, zu uns besteht darin,
daß sie immer mit der Wahrheit vereinigt ist. „Die Gnade und
die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden" (Joh 1,17).
Die göttliche Liebe ist hierin so wunderbar, daß sie sich weder
auf Kosten der Heiligkeit noch auf Kosten der Wahrheit
geoffenbart hat. Wie groß die Liebe auch sein mag, die Jesus
den Sündern entgegengebracht hat, so hat man doch nie von
Ihm sagen können: „Das ist Einer, Der das Böse zuläßt und
auf Kosten der Wahrheit Liebe ausübt, oder der den Menschen
schmeichelt und ihre Fehler vor ihnen verbirgt, um sie an sich
zu ziehen." — Nein, Christus, „der treue und wahrhaftige
Zeuge", hat die Ungerechtigkeit des Menschen ebenso treu
ans Licht gestellt, wie die Barmherzigkeit Gottes. Er hat die
Fehler des Menschen nie verdeckt. Er hat sie auch nicht übertrieben, sondern in dieser und jeder anderen Beziehung hat
Er stets die Wahrheit gesagt. Als Seine Feinde das im Ehebruch ergriffene Weib zu Ihm führten, wollten sie Ihn zwingen, die Gnade auf Kosten der Wahrheit zu verkündigen.
Doch auch hier verließ Er den Boden der Wahrheit nicht, sondern sagte: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den
Stein auf sie" (Joh 8, 7). Und zu gleicher Zeit offenbart Er die
Liebe, indem Er sagt: „So verurteile auch ich dich nicht; gehe
hin und sündige nicht mehr" (V. 11). In derselben Weise handelt Jesus gegenüber dem kananäischen Weibe. Er ließ sie
226
Seine Liebe erfahren und sagt ihr zugleich die Wahrheit in
bezug auf ihren Zustand, sogar in scheinbarer Härte. Ebenso
wirft Er in die Seele der Samariterin ein helles Licht über
ihren Zustand, indem Er die Worte an sie richtet: „Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein
Mann" (Joh 4, 18). Aber auch die Liebe strömt hier in ihrer
ganzen Fülle aus. Das gleiche finden wir im Hause Simons gegenüber der Sünderin, sowie in dem Gleichnis vom verlorenen
Sohn; überall verbinden sich Wahrheit und Liebe.
Die Welt kann von ihrer Liebe sagen, daß sie blind ist, aber
die göttliche Liebe ist hellsehend und wahrheitsliebend: „die
Wahrheit festhaltend in Liebe" (Eph 4, 15; siehe auch die Anmerkung). „Sie (die Liebe) freut sich mit der Wahrheit"
(1. Kor 13, 6). Die Bruderliebe wird sich daher nie darin erweisen, daß wir unsere Augen schließen vor unseren gegenseitigen
Fehlern; sie erlaubt uns nie, zu dem Bruder zu sagen: „Kümmere dich nicht um meine Fehler, und ich will mich nicht um
die deinigen kümmern." Denn niemand liebt uns mehr, als
derjenige, der uns unseren Zustand nicht verbirgt, sondern
uns die Wahrheit sagt. Setzen wir einmal den Fall, daß ich
Torheiten begehe, die eines Christen unwürdig sind, und auf
einem Wege wandle, wodurch ich mir ein Gericht zuziehe, und
mein Bruder, der dies sieht, würde dazu schweigen. Wird so
die Liebe handeln? Nein, sicher nicht! Die Liebe tadelt, die
Liebe straft, die Liebe sagt die Wahrheit. Wenn sie eine Wunde auswäscht und verbindet, wird vielleicht der Verwundete
schreien und im Zorn die Hand der Liebe abweisen, aber die
Liebe wacht, setzt ihre Pflege fort, bis die Wunde gereinigt
und verbunden ist; erst dann hat sie ihren Zweck erreicht.
„Deshalb, da ihr die Lüge abgelegt habt, redet Wahrheit, ein
jeder mit seinem Nächsten, denn wir sind Glieder voneinander" (Eph 4, 25).
Der Anfang des sechsten Kapitels des Briefes an die Galater
zeigt uns, in welchem Geist die Liebe untereinander geübt
werden muß, besonders wenn sie es sich zum Ziel setzt, dem
Bösen entgegenzutreten und den Irrenden zurechtzuweisen.
Wo der Geist der Sanfmut und das Auf-sich-selbst-sehen fehlt,
fehlt die Liebe. Denn wenn die Liebe die Wahrheit sagt, dann
227
ist sie, wie schneidend und verletzend auch die Wahrheit sein
mag, immer „langmütig, ist gütig; die Liebe neidet nicht; die
Lieb tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie gebärdet sich
nicht unanständig, sie rechnet Böses nicht zu, sie freut sich
nicht über die Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit
der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles,
sie erduldet alles" (1. Kor 13). Wir wissen alle, daß es nicht
nur eine unangenehme Sache ist, sich mit dem Bösen beschäftigen zu müssen, sondern sogar eine höchst mühevolle Sache.
Die Dinge werden jedoch bedeutend vereinfacht, wenn die
Liebe uns leitet und das Herz, auf sich selbst sehend, frei ist
von aller Bitterkeit. In diesem Fall wird das Böse gänzlich
durch die Wahrhei t ans Licht gebracht werden, während
die Lieb e da ist, um die Wunde zu pflegen und zu verbinden. Im anderen Fall aber, wenn die Liebe fehlt, wird das
Böse nur noch mehr aufgeweckt, das Übel ärger gemacht und
die Wunde vergrößert. Liebe und Wahrheit dürfen nie getrennt gehen.
Aber dem Herrn sei Dank! Die Liebe hat sich nicht allein mit
dem Bösen zu beschäftigen. Es gibt auch Unwissende zu unterweisen, Traurige zu trösten, Kranke zu pflegen, Arme zu
speisen und zu kleiden. Die Liebe hat immer Arbeit genug,
nie wird es ihr an Gelegenheit fehlen, wohltun zu können.
Sie braucht sich nur umzusehen und wird Arbeit in Überfluß
finden. „Kinder, laßt uns nicht lieben mit Worten, noch mit
der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit" (1. Joh 3, 18).
„Wenn aber ein Bruder oder eine Schwester nackt ist, und der
täglichen Nahrung entbehrt, und jemand unter euch spricht zu
ihnen: Gehet hin in Frieden, wärmet euch und sättiget euch!
ihr gebet ihnen aber nicht die Notdurft des Leibes, was nützt
es" (Jak 2, 15. 16)?
228
„Das Leben ist für mich Christus
und das Sterben Gewinn"
(Philipper 1, 21)
Paulus wußte aus allem Nutzen zu ziehen, mochte es das
Leben oder der Tod sein. Völlig ergeben in die Wege Gottes,
konnte von ihm gesagt werden, daß er sich stets und in allem
vom Herrn leiten ließ. Welch ein Mann, weise zum Guten!
War es der Wille seines Herrn, ihn noch in dieser Welt zu
lassen, dann war es für ihn der Mühe wert, denn das Leben
war für ihn Christus.
Wenn Paulus dies durch den Heiligen Geist sagt, dann wissen
wir, daß es die Wahrheit ist. Wir sagen vielleicht: „O wie
sehr wünsche ich, das ist auch mein ganzes Flehen zu Ihm,
daß Er mich befähige, ganz für Ihn zu leben". Aber der Apostel konnte sagen, daß es bei Ihm wirklich so war, daß er auf
dem Pilgerweg nur Christus als den einzigen Gegenstand vor
sich hatte, daß auf seinem Pfade alles bei ihm sich um Christus als seinen Mittelpunkt drehte. Ja, Christus war in der
Tat der Mittelpunkt seiner Gedanken, Worte und Werke,
Christus war seine Freude, sein Leben, sein Alles.
Und dieser Christus war für sein Herz; so kostbar, daß er
Lust hatte, abzuscheiden, um bei Ihm zu sein. Der Tod war
für ihn Gewinn. Ach, sähen wir doch auch wie Paulus unser
Bestes im Leben und unser Bestes im Tod! Wie wird er sich
an dem Genuß Christi erfreut haben in einem solchen Leben
für den Herrn! Und wie glücklich wird für ihn der Augenblick
seines Abscheidens gewesen sein! Ja, das Herz muß gelöst
sein von allem Sichtbaren, wenn man sagen will: „Sterben ist
Gewinn". Man verliert dann nichts, weil man nichts hat in
dieser Welt, sondern man gewinnt, weil man bei Christus etwas findet, was in der ganzen Welt nicht zu finden ist.
O möchte es doch bei uns nicht nur ein leerer Wunsch, sondern
der wirkliche Zustand unserer Herzen sein, sagen zu können:
„Das Leben ist für mich Christus und das Sterben Gewinn".
229
,Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der
Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind
einander entgegengesetzt, auf daß ihr nicht
das tuet was ihr wollt"
(Galater 5, 17)
Was diese Stelle sagt, bestätigen unsere Erfahrungen, nämlich, daß das Fleisch und der Geist einander völlig entgegengesetzt sind. Im Fleisch wohnt nichts Gutes, und der Geist
von oben ist rein. Es gibt keine Harmonie bei diesen beiden.
Bei einem gesegneten, dem Herrn wohlgefälligen Wandel
bleibt nichts übrig, als die Regungen des Fleisches zu töten
(Rö 8, 13). Was man vom Fleische leben läßt, ist böse, denn
das Fleisch ist Feindschaft wider Gott. Darum finden wir
auch in der Schrift die bestimmte Aufforderung, uns der
Sünde für tot zu halten, uns als mit Christus gestorben zu
betrachten, und die Glieder, die auf der Erde sind, zu töten,
— ein Beweis, daß vom Fleische nichts bestehen bleiben darf,
während wir andererseits in der Schrift der Lehre begegnen,
uns vom Geist leiten zu lassen, nach dem Geist zu wandeln,
usw.
Wie einfach und klar ist diese Wahrheit und wie gesegnet für
uns, wenn wir sie besitzen! Aber wie schwach zeigt sich oft
ihre Verwirklichung bei uns, die wir schuldig sind, nicht nach
dem Fleisch zu wandeln (Rö 8, 12)! Das Fleisch macht uns
immer unglücklich, wenn wir ihm folgen, während wir glücklich sind, wenn wir uns vom Geist leiten lassen. Das Fleisch
entfernt uns aus der praktischen Gemeinschaft mit Gott, der
Geist hingegen führt uns inniger in die Gemeinschaft hinein.
Das Fleisch zieht uns herab in die armseligen Dinge dieser
Welt, der Geist erhebt uns zu seligem Schauen der ewigen,
unvergänglichen Dinge. Das Fleisch macht uns unfähig zu
allem Guten, während der Geist uns Kraft dazu verleiht.
Wenn wir nach dem Fleisch wandeln, wird das Bewußtsein
der Kindschaft geschwächt. Wandeln wir nach dem Geist, bestätigt der Geist uns dieses Zeugnis in unserem Herzen. Das
230
Fleisch macht uns träge und unfähig zum Gebet, während
der Geist uns befähigt, Abba, Vater! sagen zu können. Ach,
welch ein Verlust, wenn man dem Fleische Raum gibt, und
welch ein Gewinn, wenn man sich durch den Geist leiten
läßt! Möchten wir dieses doch beherzigen!
Ich rede hier nicht von einem völligen Wandel nach dem
Fleisch; aber schon wenn man nicht mit Entschiedenheit das
Fleisch unterworfen hält, verliert man die Kraft zum Guten,
und das Fleisch wird stark. In diesem Fall will man zwar das
Gute, man betet, man sagt hundertmal zum Fleisch: „Nein",
aber das Fleisch sagt immer „Ja" und trägt schließlich den Sieg
davon. Wenn man den Neigungen des Fleisches Gehör
schenkt, oder auch nur einen Kampf mit ihm eingeht, so erkennt man etwas als lebend an, das man für tot halten sollte.
Auf die Regungen des Fleisches keine Antwort geben, ist der
wahre Kampf und führt stets zum Sieg. Der Geist wird uns
dazu die rechten Wege zeigen.
Gepriesen sei Gott, Der uns den Geist und mithin Kraft gegeben hat, um das Böse zu überwinden, so daß wir nicht nötig
haben, in Sklaverei der Sünde zu wandeln. Der Geist ist
dem Fleisch entgegengesetzt, damit wir das Böse, was das
Fleisch will, nicht ausüben. Welch ein Glück, nicht mehr Sklaven der Sünde zu sein! „Freigemacht aber von der Sünde, seid
ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden" (Rö 6,18). Wenn wir
nicht fähig wären, das Böse zu. meiden und das Gute zu tun,
wenn wir den wohlgefälligen Willen Gottes kannten und uns
ihm nicht unterwerfen könnten, wenn wir die Köstlichkeit der
Gemeinschaft mit Gott verständen und ihren Genuß entbehren müßten, wie unglücklich wären wir dann! Aber da wir
fähig gemacht sind durch die Gnade und die Kraft des Geistes,
das Böse abweisen, die Glieder zu töten und das Vorrecht der
Gemeinschaft mit Gott genießen zu können, ist es jetzt unsere
Sache, Gebrauch zu machen von der Kraft des Geistes, nach
dem Geiste zu wandeln, und die köstlichen Früchte des Geistes,
Liebe, Friede, Freude usw. zu genießen. Warum sind wir doch
so wenig treu, so wenig entschieden?
231
Kurze Bemerkungen über Philipper 4
Bei der Betrachtung des Briefes an die Philipper ist es lehrreich, in Verbindung damit die persönliche Geschichte des
Apostels im Auge zu halten. Er schrieb diesen Brief im Gefängnis zu Rom. Abgeschnitten von seinem Dienst, mußte er
sagen: „Alle, die in Asien sind, haben sich von mir abgewandt". — „Alle suchen das Ihrige, nicht das, was Jesu Christi
ist". Dennoch gab es etwas, das sein Herz über alles andere
erhob. Nicht als ob er sich gleichgültig über alles hinwegsetzte/
aber er kannte eine höhere Kraft. Der Aufblick zu. Christus,
weg von den Umständen, war die Ursache seiner Freude.
In Gal 4 sagt der Apostel: „Ich fürchte um euch", und im
nächsten Kapitel lesen wir: „Ich habe Vertrauen zu euch im
Herrn" .
Der Weg des Herrn war stets derselbe. Überall begegnete Er
der Trübsal und dem Elend, und dennoch betete Er für Seine
Jünger, daß sie Seine Freude völlig in sich haben möchten. Er
lebte in einer Kraft, die über das Böse erhaben war, und wenn
wir nicht in dieser Kraft leben, werden wir vom Strom des
Bösen in uns und um uns her niedergedrückt werden, anstatt
uns allezeit zu erfreuen. Um sich immer freuen zu können,
ist es nötig, daß unser Herz sich bei Ihm befindet, Der schon
überwunden und Sich zur Rechten Gottes gesetzt hat. Das
erste Merkmal der Kraft ist die Geduld. Wir sehen dies an
dem Apostel. Nichts störte den Frieden seiner Seele, so daß er
sich frei genug fühlte, an andere zu denken, wie z. B. an
Evodia und andere, oder sich wegen eines davongelaufenen
Sklaven Mühe zu machen. Er ging durch das Tränental und
machte es zu einem Quellenort. Es ist weit gesegneter,
Trübsal e zu einer Ursache des Dankes zu machen, als
unsere Segnungen" . Jehova will ich preisen allezeit,
beständig soll sein Lob in meinem Munde sein" (Ps 34).
In allen seinen vielen widrigen Umständen durfte er erfahren, daß der Herr genu g war. Er besaß jenes innere
Glück, das ihn, als er vor Festus stand, befähigte zu sagen:
„Ich wollte zu Gott, daß . . . alle . . . solche würden, wie
auch ich bin" (Apg 26, 29).
232
Bist auch du so glücklich in deiner Seele, eine solche Sprache
führen zu können? Der junge Christ ist meistens nur glücklich bei dem Gedanken an seine Errettung, an seine Freude,
an seinen Frieden, kurz, an das, was er besitzt. Der alte
Christ hingegen freut sich mehr in Christus . Der junge
Christ sagt: „Ich habe dieses, ich habe jenes", während der
alte Christ sagt: „Christus ist dieses, Christus ist jenes".
Das soll nicht heißen, daß der junge Christ ein Unrecht begeht, wenn er so redet, denn er kann in diesem Sinn kein
alter Christ sein, und wenn er mit Gott wandelt, wird er
auch schnell heranreifen. „Ich habe euch, Väter, geschrieben,
weil ihr den erkannt habt, der von Anfang ist" (1. Joh 2,14).
Während der Apostel in bezug auf die „Jünglinge" ins einzelne geht, wiederholt er an die Väter nur das, was er ihnen
schon einmal gesagt hat.
Es gibt beständigen Kampf mit Amalek, aber wir dürfen mit
der Zuversicht kämpfen, daß er schon gewonnen ist. „In der
Welt habt ihr Drangsal; aber seid gutes Mutes, ich habe die
Welt überwunden" (Joh 16, 33). „Laßt auch uns . . . mit
Ausharren laufen den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens,
welcher . . . sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes"
(Hebr 12, 1-2). Lassen wir uns durch keine Macht des Bösen
oder der Umstände verhindern, uns immer im Herrn zu freuen, was allerdings nur in Seiner Gegenwart geschehen kann.
„Laßt eure Gelindigkeit kundwerden allen Menschen" (Phil
4, 5). Meiner Natur nach will ich auf meinem Recht in der
Welt bestehen, und es verwundet mich tief, wenn ich sehe,
daß mir Unrecht geschieht. Die Gelindigkeit legt einen Hemmschuh vor unseren eigenen Willen und ist mit dem zufrieden,
was sich in der gegenwärtigen Zeit findet. „Der Herr ist
nahe". Als der Herr Sein Angesicht nach Jerusalem richtete
und die Samariter Ihn nicht aufnahmen, wollten die Jünger
Feuer auf sie fallen lassen (Lk 9). Wenn du dein Angesicht
feststellst, um nach Jerusalem zu gehen, dann werden die
Lauen (Halbherzigen) dich auch nicht aufnehmen. „Der Herr
ist nahe". Glaubst du das? Wenn du es glaubst, so wird der
Charakter deines ganzen Lebens dadurch bestimmt werden.
233
Du sagst vielleicht: „Ich habe Schwierigkeiten in meiner Familie", oder: „Es steht schlecht in der Versammlung". —
„Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott
kundwerden". Was brauchst du? Gehe und bitte Ihn darum.
Anstatt dich abzuquälen, bringe dein Anliegen zu. Gott. Obwohl nicht gesagt wird, daß Er dir gerade das geben wird,
um was du Ihn bittest, weil das vielleicht nicht zu deinem
Besten dienen könnte, so gibt Er dir doch Seine n Frie -
den . Lege deine Sorgen in Sein Herz, und Er wird Seinen
Frieden in dein Herz legen. Kann etwas, das dich beunruhigt,
den Frieden Gottes stören? „Lasset . . . mit Danksagung eure
Anliegen vor Gott kundwerden". Wenn ich meine Angelegenheiten in die Hand eines anderen lege und ihn bitte, sie für
mich zu besorgen, dann bedanke ich mich für seine Mühe
im voraus, obgleich er bis jetzt noch nichts dafür getan hat.
In diesem Seelenzustand ist das Herz frei, die Gunst zu genießen, die ich bei einem anderen entdecke. Es ist eine starke
Neigung in uns, in den Dingen dieser Welt zu leben, wo aber
das Herz Christi nicht bei uns sein kann. „Was ihr auch gelernt und empfangen und gehört und an mir gesehen habt,
dieses tut, und der Gott des Friedens wird mit euch sein"
(V 9). Die Freude ist etwas Veränderliches, während der Friede etwas Beständiges und Bleibendes ist. Gott wird nie der
Gott der Freude, aber oft der Gott des Friedens genannt. Solange Christus vor Seinem Tod bei Seinen Jüngern war, sagte
Er nie zu ihnen: „Friede euch!" wohl aber: „Fürchtet euch
nicht". Nachdem Er aber aus den Toten auferstanden war,
sprach Er zu ihnen: „Friede euch"! Christus hat durch das
Blut Seines Kreuzes auf eine solche Art Frieden gemacht, daß
Gott nichts sieht, was Seinen Frieden stören könnte. Ich bin
im Licht, wie er im Licht ist, und wenn ich mit Gott Frieden
habe, werde ich Ruhe haben, obgleich ich Kampf mit der
Welt, dem Fleisch und Satan habe. Der wahre Seelenzustand
eines Menschen kann durch seine täglichen Lebensgewohnheiten beurteilt werden. Der Apostel sagt: „Ich habe gelernt,
worin ich bin, mich zu begnügen". Er hatte es gelernt und
nicht nur gesagt. Überfluß zu. haben, ist gefährlicher als erniedrigt zu sein; aber Christus war ihm genug. Ich bekomme
234
nicht nur Frieden i n den Umständen, sondern auch Kraft, um
mich übe r sie zu erheben. Wenn er sagt: „Mein Gott", so
will er damit gleichsam sagen: „Ich kenne Ihn gut; ich stehe
dafür ein, daß Er alle eure Notdurft erfüllen wird nach Seinem Reichtum in Herrlichkeit in Jesu Christo". Welch eine
Wirklichkeit ist doch das Leben des Glaubens! Der Herr mag
uns durch Trübsale führen, weil es gut für uns ist, aber Er
wird in allen Trübsalen bei uns sein.
Die Stellung der Gläubigen in Christo
Wie können wir das kennen, was uns von Gott gegeben ist?
— Er hat es uns in Seinem Wort geoffenbart. Nur hier können wir es kennenlernen. Daher ist es von hoher Wichtigkeit, das Wort wirklich zu erforschen, damit wir nichts von
dem Segen einbüßen, mit dem Gott uns in Christus gesegnet
hat. Wenn du Grund hättest zu glauben, daß dir eine Erbschaft hinterlassen worden sei, dann würdest du sicher alle
Erkundigungen einziehen, um festzustellen, ob das wahr ist.
Der Gläubige ist ein Erbe Gottes, ein Miterbe Christi (Rö
8, 17; Gal 4, 7). Was soll er erben? Ist das nicht der Erforschung wert? Woher hat er die Berechtigung? — Christus ist
seine Berechtigung. Die Sache ist sehr einfach. Als Abkömmlinge Adams waren wir von Natur Sünder, unfähig, in Gottes
Gegenwart zu stehen; ja, wir waren Kinder des Zorns. Es
hat Gott gefallen, im Bilde des Aussätzigen unseren Zustand
uns vor Augen zu. stellen. Verderbt, unrein, unfähig, Gott als
Anbeter zu nahen, durfte der Aussätzige erst dann nahen,
wenn er vom Priester für rein erklärt worden war. Obwohl
nur Gott dem Menschen in diesem Zustand Seine Barmherzigkeit und Liebe erweisen konnte, und, nachdem Er ein
Heilmittel gefunden hatte, es auch getan hat, so konnte Er
doch nie die Sünde übergehen, als wenn sie keine Gerechtigkeit von Seiner Seite erforderte. Er mußte Seinen Charakter
als Der, Welcher mit der Sünde nichts zu tun haben kann,
aufrechterhalten. Daher gab es nur einen Weg: das Gericht
über die Sünde. Wenn dies Gericht den Sünder traf, war er
235
für immer verloren. Doch die Liebe Gottes fand einen Ausweg. Er gab Seinen Sohn, damit Dieser die Strafe trage. Die
Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" zeigen den Platz, den Christus als Sündenträger einnahm. Er wurde „zur Sünde gemacht", und so von Gott behandelt. Er trug den Fluch der Sünde vollkommen und leerte
den Kelch so vollständig, daß nicht ein Tropfen für die übrig
blieb, an deren Stelle Er litt. Er hat „den Tod zunichte gemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht
. . . durch das Evangelium" (2. Tim. 1, 10). „Einer (ist) für
alle gestorben . . . und somit (sind) alle gestorben" (2. Kor
5, 14). Durch dieses eine Opfer hat Er die Sünde hinweggetan. Die Gerechtigkeit Gottes erforderte jetzt nichts mehr,
sondern die Liebe Gottes konnte ungehindert durch den von
Ihm Selbst geöffneten Kanal fließen.
Zwar war die Liebe Gottes von jeher da, aber die Sünde im
Menschen war das Hindernis, das ihren freien Ausfluß zu
den Menschen hemmte. „Also hat Gott die Welt geliebt,
daß er seinen eingeborenen Sohn gab", um dieses Hindernis
wegzuräumen. Und am Kreuz ertrug Jesus als Sündenträger
in Seiner Person, was uns hätte treffen müssen, nämlich
das Gericht Gottes. „Getötet nach dem Fleische" legte Er
Sein Leben nieder und verließ das Grab, befreit und losgesprochen von der Sünde. „Zum zweiten Male (wird er) denen, die ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen zur Seligkeit"
(Hebr 9, 28; Rö 6, 10). Die Gerechtigkeit Gottes wurde vollkommen befriedigt. Nichts hindert nun die Gnade, durch
Gerechtigkeit zu herrschen. Gott kann jetzt „gerecht sei(n)
und den rechtfertige^), der des Glaubens an Jesum ist" (Rö
3, 26; 4, 5). Er kann jetzt den Gottlosen rechtfertigen. Hätte
Er es früher getan, dann wäre Er nicht gerecht gewesen, aber
nun ist eine größere Versöhnung zustandegekommen als je
durch einen Menschen hätte geschehen können, und Gott
ist vollkommen verherrlicht worden.
Sollte nun aber der Mensch die frühere Stellung der Verantwortlichkeit, in der er sich als völlig verloren erwiesen hatte,
wieder einnehmen? Wozu dann das Gericht? Wenn der
Mensch nicht dem Tode verfallen war, warum mußte dann
236
Einer für ihn sterben? Nein, jene Stellung des Menschen war
für immer gerichtet. Derselbe Tod, der die Sünde hinwegtat,
war das Gericht über den Menschen im Fleisch, den Menschen in der Natur Adams. Diese war vor Gott auf immer
vorbei. Gott hat mit ihr keine Beziehungen mehr, als daß Er
dem Menschen in jenem Zustand Barmherzigkeit anbietet.
Von dort erwartet Gott nichts Gutes. Die Ursache, warum
viele Seelen keinen Frieden haben, ist eben, weil sie noch
etwas Gutes in dem suchen, was Gott als von Grund auf
schlecht aufgegeben hat. Nein, hier ist weder Liebe und
Dankbarkeit noch das geringste Verlangen nach Gott zu finden. Warum wäre sonst Christus gestorben? Nicht in dir,
sondern in Gott ist das Heilmittel. Christus ist uns Gerechtigkeit geworden. Es ist die Gerechtigkeit Gottes und nicht
des Menschen. Wir werden Gottes Gerechtigkeit, wenn wir
glauben. Später werden natürlich die Früchte der Gerechtigkeit folgen, aber die Früchte der Gerechtigkeit sind nicht die
Gerechtigkeit selbst. Aber wie ein Kranker nicht die Beweise
der Genesung erwartet, bevor er genesen ist, so werden auch
die Früchte der Gerechtigkeit erst dann erscheinen, wenn die
Krankheit der Sünde beseitigt ist. Aber wo ist der Beweis,
daß die Sünde hinweggetan ist? Christus ist auferstanden,
und Gott wird allen, die glauben, Gerechtigkeit zurechnen.
„Dem aber, der .. . an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet". —
„Christus Jesus (ist) uns geworden . . . Gerechtigkeit" (Rö
4, 5; 1. Kor 1, 30).
Welch ein Ausgangspunkt! Gerechtigkeit Gottes! Können wir
höher steigen? Du sagst: „Es ist zu hoch"! Gewiß, wenn du
den Menschen hineinbringst. Aber nur in Christus, Der von
Gott für uns zur Sünde gemacht wurde, sind wir gerecht.
Du kannst nur in Christus daran teilhaben, und zwar unter
der Vorausstezung, daß die Sünde am Kreuz hinweggetan
ist. Er hat sie beseitigt, und nun hat der Gläubige mit Ihm
teil an Seiner Auferstehung. Durch das Kreuz Christi und in
Christus, dem Auferstandenen hat der Gläubige Gerechtigkeit erlangt. „Gleichwie Er ist, (sind) auch wir in dieser Welt"
(1. Joh 4, 17).
237
Ja, noch mehr, der auferstandene Christus ist unser Leben.
Mit dem alten Leben hat Gott nichts mehr zu schaffen. Wir
haben kein Leben mehr unter dem Gericht oder der Erprobung. Die Probezeit ist vorbei, und auch das Gericht! Christus, Der siegreich aus dem Gericht hervorgegangen ist, ist
unser Leben. Und Christus, unser Leben, ist aufgefahren
und sitzt in den himmlischen örtern (Eph 1, 20; 2, 6).
Das Leben aus Adam und aus Christus darf nicht miteinander
vermengt werden. Für das eine Leben ist das Kreuz, für das
andere die Gerechtigkeit und die Herrlichkeit der Auferstehung. Du kannst nicht beides zugleich haben „Er . . . hat uns
mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen örtern".
Aber das Erbe ist auch da. Wir sind Miterben Christi. Auch
die Herrlichkeit ist unser. „Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben". Wir haben teil an allem,
was Er als Sohn des Menschen empfangen hat. Wunderbar!
Aber wir ehren Gott nicht, wenn wir die Größe Seiner Gnade
in Zweifel ziehen. Wenn du nur einmal dich selbst losgeworden bist, indem du dich nun am Kreuz gerichtet siehst,
dann wirst du einsehen, daß nichts mehr vorhanden ist, was
Gott hindert, das Wohlgefallen Seines Willens auszuführen,
so daß die Gnade durch Gerechtigkeit herrscht.
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