Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 1870 | |
Der Altar Abrahams | 1 |
Der Versöhnungstag | 9 |
Unsere Rechtfertigung | 14 |
David | 18 |
"Gott widersteht den Hochmütigen" | 20 |
Das zweifache Erscheinen Jesu | 21 |
Die drei Männer im Feuerofen | 25 |
Wem ,gehörst Du, und wem lebst Du | 28 |
"Wir sehen Jesum" | 32 |
Was ist ein Bund? | 38 |
Vernunft und Offenbarung | 39 |
Die Berufung der Braut | 41 |
Die Auferstehung Jesu, ein Heilmittel für alle übel | 50 |
Das Gesetz der Freiheit | 57 |
Demut | 59 |
Gesetz und Gnade | 60 |
Abraham und Lot | 61 |
Balak, Bileam und Israel | 65 |
Der Herr als Richter | 70 |
Der christliche Wandel | 76 |
Kurze Gedanken | 79 |
Das Passahlamm und das Rote Meer | 81 |
Die Vorsorge Gottes f. d. Bedürfnisse d. Menschen | 88 |
"Hast Du Frieden gefunden?" | 96 |
Josia und seine Zeit | 101 |
Das Manna und das Erzeugnis dies Landes | 114 |
Ev. Johannes 19, 31 | 119 |
Auszug aus einer Betrachtung über 4. Mo 28, 1 -13 | 121 |
"Was irgend mir Gewinn war" . . . (Phil 3, 7) | 140 |
Einige Gedanken über 1. Joh 3, 1-7 | 159 |
Das Haus Gottes | 161 |
Die wahre Abhängigkeit | 165 |
Grenzen und Anstöße | 169 |
Ihr aber, wert saget ihr, daß ich sei (Mt. 15, 18)? | 177 |
Die Verherrlichung Christi auf dem Berge | 181 |
Die beiden Throne | 187 |
Der Gehorsam Jesu | 191 |
Die Fürsorge Jesu für die Seinigen | 196 |
Petrus auf dem Meere | 199 |
Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 1870
Der Altar Abrahams
Der Versöhnungstag
Unsere Rechtfertigung
David ... .
„Gott widersteht den Hochmütigen"
Das zweifache Erscheinen Jesu ... .
Die drei Männer im Feuerofen ... .
Wem gehörst Du, und wem lebst Du
„Wir sehen Jesum" ...... .
Was ist ein Bund? ...... .
Vernunft und Offenbarung
Die Berufung der Braut ..... .
Die Auferstehung Jesu, ein Heilmittel für alle Übel
Das Gesetz der Freiheit
Demut
Gesetz und Gnade
Abraham und Lot ...... .
Balak, Bileam und Israel .... .
Der Herr als Richter ..... .
Der christliche Wandel
Kurze Gedanken
Das Passahlamm und das Rote Meer .
Die Vorsorge Gottes f. d. Bedürfnisse d. Menschen
„Hast Du Frieden gefunden?" ... .
Josia und seine Zeit ..... .
Das Manna und das Erzeugnis des Landes .
Ev. Johannes 19, 31
Auszug aus einer Betrachtung über 4. Mo 28, 1-13
„Was irgend mir Gewinn war" . . . (Phil 3, 7)
Einige Gedanken über 1. Joh 3, 1 - 7
Das Haus Gottes ... .
Die wahre Abhängigkeit
Grenzen und Anstöße
Ihr aber, wer saget ihr, daß ich sei (Mt. 15, 18)?
Die Verherrlichung Christi auf dem Berge
Die beiden Throne .... .
Der Gehorsam Jesu ... .
Die Fürsorge Jesu für die Seinigen
Petrus auf dem Meere ... .
Die Schriftstellen sind nach der bekannten Übersetzung,
der „Elberfelder Bibel", angeführt
Der Altar Abrahams
Es ist köstlich, im ersten. Buch Mose den. umfangreichen
Grundsatz und die unerschütterliche Grundlage der Beziehungen Gottes zu den Menschen in voller Frische zu finden, und zwar von Anfang der Schöpfung an bis zur Sünde und der
Ankündigung des letzten Adam. Wir sehen darin auch, wie Gott Seine Herrschaft ausübte, wie der Mensch zu Fall kam, wie das Gericht der großen Flut die ganze Welt vertilgte und
welche Verheißungen Abraham empfing; und ebenso finden wir darin die beiden Bündnisse der Hagar und der Sara, und schließlich, in der schönen vorbildlichen Geschichte Josephs,
das Verhältnis Gottes zu den Juden. Kurz, wir finden im ersten Buch Mose nicht nur Geschichte, sondern auch die herrlichen Grundsätze der Beziehungen Gottes zu den Menschen; und in dieser Hinsicht nimmt Abraham einen besonderen Platz als Verwahrer der Verheißungen Gottes ein. Das,
was der Apostel zu den Galatern (Kap. 3, 13. 14) sagt, macht uns dies klar,
Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes erlöst, indem Er für uns zum Fluch gemacht worden ist, denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jeder, der am Holze hängt, auf daß
der Segen Abrahams in Christo Jesu zu den Nationen käme, auf daß wir die Verheißung des Geistes empfingen durch den Glauben". Wir fühlen, welche Bedeutung „der Segen
Abrahams" für uns hat, und bei näherer Erwägung sehen wir, welche Stellung uns Gott in Seiner Gnade durch die Erfüllung der Verheißungen zuteil werden läßt. Wenn wir jenen Segen als Grundsatz betrachten, können wir als Erben aller Verheißungen die Herrlichkeit Christi verstehen. Zwar
war das Verhältnis Christi zu Seiner Kirche (außer in Vorbildern) noch verborgen, da dies erst nach Seinem Tode geoffenbart wurde; dennoch nehmen wir schon im ersten Buch
Mose die verschiedenen Gedanken der Beziehungen Gottes zu den Menschen wahr und entdecken im Keim die Umstände, in denen sie sich kundgeben.
Im neunten Kapitel, nach der Erzählung der großen Flut,
finden wir, daß Noah, dem die Herrschaft über die Erde an7
vertraut worden war, nicht dieser Stellung gemäß wandelte.
Er berauschte sich. Diesem traurigen Vorfall folgte das Vergehen Harns, der seinen Vater verspottete, und dann die
Zerstreuung der Nationen nach ihren verschiedenen Sprachen
in Babel. Im zehnten Kapitel empören sich die Menschen insgesamt wider Gott. Da erscheint Nimrod, der gewaltige Mann,
auf der Erde, während Gott im Schöße der gesegneten Familie
Sems besondere Beziehungen zu den Menschen anknüpft. Im
elften Kapitel sehen wir in Babel sowohl den Ursprung des
Reiches Nimrods als auch die falsche Herrlichkeit jener Menschen, die sich getrennt von Gott in Babel zusammentun. Die
Hauptzüge dieser drei Kapitel sind folgende: Noah hatte gefehlt, und danach die Nationen; anstatt Gott unterwürfig zu
sein, erhoben sie sich gegen Ihn. Sie vereinigten sich, um sich
einen Namen zu machen, und gerade diese Erhebung wurde
d
:
e Ursache ihrer Zerstreuung.
Bevor wir uns jedoch der Geschichte Sems zuwenden, mit der
Gott Sich besonders beschäftigt hat, müssen wir eine Bemerkung vorausschicken. Ein furchtbarer Grundsatz ist in dieser
Zeit an den Tag gekommen. Infolge der Zerstreuung erhebt
sich der Mensch gegen Gott, aber damit nicht genug, wird er
ein Sklave: er unterwirft sich der Macht Satans, er dient ihm
und betet ihn an. Weil er Gott verlassen hat, maßt Satan
sich den Platz Gottes an. Satan beunruhigt das Gewissen,
nimmt Besitz von Herz und Willen des Menschen, um ihn
zum Götzendienst zu verleiten. Wir finden diese Tatsache in
Jos 24, 2. Es ist der Grundsatz der Macht Satans über die
Erde, der sich der Geschichte des Menschen anschließt. Josua
berichtet uns die Ereignisse, die nach der Flut stattfanden:
die Gewalttätigkeit der Menschen, die Zerstreuung der Nationen, und namentlich, daß sogar die Familie Sems, die Kinder Hebers, außer dem wahren Gott auch andere Götter anbeteten. Der Apostel sagt uns, daß ihre Götter böse Geister
gewesen seien: „Was die Nationen opfern, . . . opfern (sie)
den Dämonen".
Das ist der Zustand der Welt. Satan ist Fürst auf der Erde
geworden, die wir bewohnen. Wir denken oft zu wenig daran.
In einem Sinne kann Gott uns von dem Joch Satans befreien,
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obwohl es wahr bleibt, daß der Teufel uns durch die Lüste
dieser Welt versuchen und moralisch unter sein Joch bringen
kann. Wenn z. B. das Evangelium äußerlich in einem Lande
aufgenommen wird, so daß das Wort Gottes dort ungehindert gepredigt werden kann, während in einem anderen Land
eine solche Predigt nicht gestattet wird, so wird es sich deutlich zeigen, daß in dem zuletzt genannten Land die Seelen
mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, und daß das
Joch derer in dem erst genannten Land weit leichter zu tragen
ist; und es scheint, als ob Satan über eines dieser Länder
mehr Macht habe als über das andere. Es ist sehr wichtig, in
dieser Zeit solche Erscheinungen wohl zu unterscheiden. Die
einfache Tatsache, daß wir durch unsere eigenen Lüste unter
das Joch Satans gezogen werden, ist nicht die Macht, von der
wir sprechen.
Es ist sicher, daß in Gegenden, wo das Evangelium gepredigt
werden darf, die Seelen eine größere Verantwortung tragen
als in Gegenden, wo eine solche Predigt nicht gestattet wird,
und zwar deshalb, weil sie höhere Vorteile genießen. Doch
das Joch ist sehr verschieden. Unabhängigkeit von Gott ist
der Wunsch jedes Menschen. Er will seine eigenen Wege gehen und fällt in die Hand des Feindes. So erging es Abraham,
so ergeht es der ganzen Menschheit. Doch Gott begegnet
Abraham inmitten all dieser Übel und offenbart ihm drei
Dinge: die Auserwählung, die Berufung und die Verheißungen. Er erblickt ihn im Elend und beruft ihn Seiner Wahl
gemäß, um ihm die Verheißungen zu geben; und Abraham
empfängt sie.
Außerdem sehen wir, wie Gott dies ausführte. Er kam hernieder, offenbarte Sich, verkehrte oft sichtbarlich mit einzelnen und redete mit ihnen. Indes, wie verschieden auch die
Art und Weise sein mag — Er offenbart Sich stets dem Glauben und weckt das Vertrauen. Als z. B. der Herr Jesus Sich
des Paulus auf dem Wege nach Damaskus offenbarte, tat Er
es in sichtbarer Herrlichkeit; Er wirkte dabei jedoch auf das
Gewissen und zog das Herz zu Sich. Paulus sagt selbst: „Habe
ich nicht Jesum Christum, unseren Herrn, gesehen?"
9
In Apg 7, 2 sagt Stephanus die Worte: „Der Gott der Herrlichkeit erschien unserem Vater Abraham, als er in Mesopotamien war, ehe er in Haran wohnte". Gott offenbart Sich
dem Gewissen; dieses fühlt Seine Gegenwart und ein kommendes Gericht, und wie verschieden es sich auch nach außen
hin zeigen mag, es ist gezwungen, Gott zu begegnen, es muß
Ihm folgen, wie es ehemals seinen eigenen Willen befriedigte.
So erging es Saulus von Tarsus. Saulus hatte sich nicht um
den Willen Gottes bekümmert, aber sobald er die Stimme
Jesu hört, muß er sich ergeben. Welche Wirkung diese Übergabe in seinem Herzen hervorbrachte, ist aus den Worten zu
ersehen: „Was willst du, daß ich tun soll?" — Die Mitteilung
des Lebens findet, wie wir wissen, in der Seele statt. Gott
redet auch jetzt, wiewohl Er Sich wie bei Saulus den Blicken
offenbaren könnte. Sein Wort ist hörbar , wiewohl es
geschrieben ist; und das geschriebene Wort ist ohne Zweifel
glaubwürdig, wiewohl ein Apostel spricht. Der Herr Selbst
weist Seine Jünger darauf hin, wenn Er in Lk 16, 19 sagt:
„Sie haben Moses und die Propheten usw."; und Er stellt das
was diese gesagt haben, als das Zeugnis Seiner eigenen Worte
auf. Ich sage „Zeugnis", und das ist mehr als Richtschnur,
denn ob geschrieben oder durch Seine eigenen Lippen gesprochen — es ist Sein Wort. Die Autorität der Heiligen Schrift
ist unmittelbar. Er kann Seine Apostel als Boten gebrauchen,
doch will Er, daß wir das was sie sagen als Sein Wort aufnehmen. Wenn Er es an die Menschen richtet, so muß es aus dem einzigen Grunde aufgenommen werden, weil Er spricht.
Wenn wir nicht ohne Zögern die Stimme Gottes unterscheiden und uns Ihm unterwerfen können, weil Er es ist, Der
da redet, so ist das kein Glaube. Im natürlichen Zustand versteht das Herz Seine Stimme nicht. „Abraham glaubte Gott,
und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet". BevoT die
Autorität Gottes im Herzen Wurzel gefaßt hat, ist viel Kampf
darin.
Täglich erkenne ich die Wichtigkeit dieses Punktes besser.
Eine Seele, die fühlt, daß Gott Sich ihr geoffenbart hat, und
deren Gewissen in Tätigkeit ist, weil es die Verantwortung
vor Ihm erkennt, wird dem Worte völligen Glauben schen10
ken. Im anderen Fall mag sie einen starken Eindruck empfangen haben, und das Gewissen mag erwacht sein, weil Gott
Sich Ihm geoffenbart hat, aber sie nimmt das Wort nicht mit
jenem stillen Glauben auf, durch den sie Ihm völlig und
ohne Zögern vertraut und in Frieden erfunden wird, weil
Gott gesprochen hat. In einem solchen Zustand dürfen wir
nicht verharren. Wenn ich Gott angehöre, kann ich nicht
länger meinen eigenen Willen tun; darum sagt Gott zu Abraham: „Gehe aus deinem Lande und aus deiner Verwandtschaft usw." — Das ist weder leicht noch angenehm, aber
hören wir, was der Herr Jesus sagt: „Jeder . . . der nicht
allem entsagt . . . , kann nicht mein Jünger sein".
Das ist ein wichtiger Grundsatz. Gott will ein Volk besitzen,
das Ihm allein anhängt. Christus hat Sich für uns nicht zum
Teil, sondern ganz hingegeben. Die Umstände sind verschieden, aber der Grundsatz bleibt derselbe. Wer auch die Freunde und was auch die Gegenstände, die uns zurückhalten wollen, sein mögen, so müssen doch die Worte: „Gehe aus deinem Lande und aus deiner Verwandtschaft" eine Wahrheit
bei uns geworden sein. Für das Fleisch ist ein solcher Befehl
höchst beschwerlich. Selbtverständlich wird hier keine Lieblosigkeit gegen Vater oder Mutter gefordert, aber die Kette,
die uns festhält, muß zerrissen werden. Das Herz hält uns
oft zurück. Auch diesem Kampf möchten wir gern entgehen,
aber mit dem „Ich" muß unbedingt gebrochen werden. Gott,
Der das Herz kennt, bringt es dahin, sich selbst zu verleugnen, indem Er es die äußeren Bande zur Welt zerreißen läßt.
„Gehe aus deinem Lande", sagt Er. Ja noch mehr: „Und aus
deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause". —
Abraham muß Gott ganz angehören, nachdem Er Sich ihm
geoffenbart hat. Abraham übergibt sich Ihm, aber nicht ganz.
Schon zu Anfang handelt er nicht wie er sollte. Zwar verließ
er gehorsam sein Vaterland und seine Freunde, aber nicht
völlig seines Vaters Haus, sondern er ging nur bis Haran
und blieb dort. Er wünscht nicht wie manche alles mitzunehmen; er sagt im Gegenteil vielem ab, aber das genügt nicht
und ist darum nutzlos. Tarah konnte nicht mit ihm nach
Kanaan auswandern, weil er nicht berufen war. Wir lesen in
11
1. Mo 11, 31: „Und Tarah nahm seinen Sohn Abram, und
Lot, den Sohn Harans, seines Sohnes Sohn, und Sarai, seine
Schwiegertochter, das Weib seines Sohnes Abram; und sie
zogen miteinander aus Ur in Chaldäa, um in das Land Kanaan
zu gehen; und sie kamen bis Haran und wohnten daselbst".
Wir sehen also, daß Tarah den Abram führte, der seines
Vaters Haus nicht verlassen hatte. Daher konnte das von
Gott gesteckte Ziel nicht erreicht werden. Das finden wir
klar und deutlich im 11. Kapitel, und Stephanus teilt uns
diese Begebenheiten in folgenden Worten mit: „Der Gott der
Herrlichkeit erschien unserem Vater Abram, als er in Mesopotamien war, ehe er in Haran wohnte, und sprach zu ihm:
„Gehe aus deinem Lande und aus deiner Verwandtschaft,
und komme in das Land, das ich dir zeigen werde" (Vergl.
1. Mo 12, 1). Gott sprach zu ihm: „Gehe aus deines Vaters
Hause", aber Abram ging nicht. So ergeht es jedem Herzen, das noch nicht recht verstanden hat, daß es sich Gott
gan z übergeben muß. Es verleugnet sich in vielen Stücken,
aber sein halbes Vorangehen bleibt ohne wahre Frucht. Wenn
wir uns in der Nachfolge Gottes befinden, aber noch das eine
oder andere für uns zurückbehalten, dann ist dies, obwohl
uns wie Abraham Gnade zuteil werden mag, die Ursache, daß
wir noch so oft mit Zweifel und Ungewißheit zu kämpfen
haben.
Jehova hatte gesagt: „Gehe aus . . . und komm in das Land,
das ich dir zeigen werde". Da Abram anfangs dem Befehl
Gottes nicht ganz nachgekommen war, hätte er jetzt sagen
können: „Was soll aus mir werden? Ich bin nicht aus meines
Vaters Hause gegangen; was wird mir begegnen? Ich habe
dem Befehl Jehovas nur zur Hälfte Folge geleistet; darum
muß ich in Haran bald zugrundegehen". Doch Gott dachte
nicht so. Wir lesen in Kap. 12, 4: „Und Abraham ging hin,
wie Jehova zu ihm geredet hatte". Jetzt ist alles gut; Lot zieht
mit ihm. Sie lassen sich nicht in Haran nieder, um dort zu
wohnen, sondern gehen nach Kanaan. Sobald wir dem Willen
Gottes nachkommen, geht alles gut; dann sorgt Er für alles.
Vorher in Haran war Abram nicht gesegnet worden, erst als
sein Vater gestorben und er nach Kanaan gelangt war, kam
12
der Segen. Das finden wir in den vier ersten Versen des
12. Kapitels. Hier sehen wir, wie Gott Sich Abram darstellt.
Er wirft ihm nichts vor, sondern beseitigt alle Hindernisse
und bringt ihn auf den Weg des Glaubens.
Im 7. Vers erscheint Gott Abram: eine neue Offenbarung.
Er sagt zu ihm: „Deinem Samen will ich dieses Land geben".
Er erneuert die Verheißungen mit bestimmten Worten. Er
hatte ihn bereits so weit gebracht, daß er in Abhängigkeit
von Ihm leben und wandeln konnte. Jetzt zeigt er ihm das
Land und wiederholt Seine Verheißungen; ja, Er erklärt ihm
sogar die Art ihrer Erfüllung. Er verheißt das Land seiner
Nachkommenschaft. Dies ist für uns der Himmel. Gott will
auch uns segnen, wenn wir in Abhängigkeit von Ihm leben.
In Vers 2 hatte Gott gesagt: „Ich will dich zu einer großen
Nation machen; und du sollst ein Segen sein!" und in Vers 3:
„Ich will segnen die dich segnen, und wer dir flucht, den
werde ich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle
Geschlechter der Erde!" Gott will verherrlicht werden und
uns segnen. Beides ist sehr köstlich, denn indem Er uns segnet, verherrlicht er Sich. Er ermuntert Abram auf dem Glaubenspfade, indem Er ihn der Segnungen teilhaftig macht. Er
fordert nur Vertrauen von Abram. „Ich will segnen die dich
segnen". Wir werden durch Jesus gesegnet; Gott gibt uns
dieselben Segnungen wie Jesu. Wenn auch Seine Kirche zu
kämpfen hat, so kann sie doch stets überzeugt sein, daß nur
Segen für sie daraus erwachsen kann durch Christus.
Gott führt Abram jetzt nach Kanaan. Was gibt es dort für
ihn? Durchaus nichts, was er sogleich besitzen könnte. Er
sieht viele Kanaaniter — lauter Feinde in diesem Lande der
Verheißung. Es bleibt ihm nach aller Beschwerde nur sein
Glaube, aber nicht ein Plätzchen, das er sein Eigentum hätte
nennen können. Stephanus teilt uns dies in Apg 7, 5 mit:
„Und er gab ihm kein Erbe darin, auch nicht einen Fußbreit;
und er verhieß es ihm zum Besitztum zu geben und seinem
Samen nach ihm, als er kein Kind hatte".
In derselben Lage befindet sich die Kirche. Wir sind Fremdlinge auf der Erde, und sind im verheißenen Lande von Feinden umgeben. Wie Abraham besitzen wir keinen Fußbreit. Es
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ist für das Fleisch sehr schwer, alles zu verlassen und nichts
zu finden; aber das Land kann noch nicht in Besitz genommen
werden. Wir gleichen dem jüdischen Volk auf seiner Wanderung. Sie durchschritten eine Wüste und erblickten nichts als
eine Wüste um sich her. Wir müssen alles opfern, was wir
lieben, und uns emporschwingen zu der Höhe der Gedanken
Gottes. Bis zur Vollziehung des Gerichts bleiben wir Fremdlinge im Lande der Verheißung. Wir lesen in Hebr 11, 8:
„Durch Glauben war Abraham, als er gerufen wurde, gehorsam, auszuziehen an den Ort, den er zum Erbteil empfangen
sollte; und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme".
Das kennzeichnet seinen Glauben. Durch Glauben hielt er
sich auf in dem Lande der Verheißung, wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben
derselben Verheißung; denn er erwartete die Stadt, welche
Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist".
Auf dem Pfade des Glaubens und der Entsagung zog Gott
ihn in das Land der Verheißung und gab ihm nichts; aber Er
wies ihm eine so erhabene Stellung an, daß er die Stadt vor
sich sah, welche Grundlagen hat.
So führt Gott auch uns in die Wüste und gibt uns da nichts;
und wenn wir Ihn um etwas bitten, dann ist Seine Antwort:
„Es ist nicht gut genug!" Die Jünger hätten gern gehabt,
daß Jesus immer bei ihnen geblieben wäre, aber Er sagt:
„Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich
hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder
und werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch
ihr seiet". Nur wenn wir dieser Welt gänzlich entsagt haben,
kann Er uns aufnehmen. Erst als alle irdischen Bande Abrahams zerrissen waren, zeigte Er ihm die Stadt, welche Grundlagen hat. Weil Gott die Kanaaniter (was für uns die geistlichen Mächte der Bosheit sind) noch nicht aus dem Lande
vertrieben hat, sind wir Fremdlinge auf Erden; doch Gott
erscheint, weil Abraham da ist. Das ist hier der große, wohl
zu beherzigende Grundsatz. Es ist gut, uns daran zu erinnern, daß Gott zuerst auf das Gewissen wirkt, und uns erst
danach fähig macht, Ihn zu genießen; und sobald wir von
der Welt ausgegangen sind, schenkt Er uns die Freude, mit
14
Ihm reden zu dürfen. Wie der Gott der Herrlichkeit dem
Abram in Ur erschien, so enthüllt Er Sich vielleicht ebenso
unseren Blicken, um uns anzuziehen. Dann aber wirkt Er
auf das Gewissen, trennt uns von allem, was das Herz gefesselt hält und will uns als Seine Auserwählten wandeln
sehen, um dann, wenn wir ausgegangen sind, friedlich mit
uns zu verkehren.
Auch jetzt, nachdem Abram in Kanaan ist, kann Gott mit
ihm reden, aber nicht mehr, um ihn auf den Weg zu schikken, sondern um ihn durch Seine Nähe zu beglücken und
ihm Seine Gedanken in bezug auf die Erfüllung der Verheißungen mitzuteilen. Die Stellung Abrams ist, daß er mit
Gott wandelt, obwohl er noch nicht das Erbteil in dem Land
besitzt, wohin Gott ihn geführt hat, denn die Feinde sind noch
da. Aber Jehova erscheint dem traurigen Abram; und im
Genuß dieser Gemeinschaft baut Abram einen Altar für Gott;
Der ihm erschien.
Wir haben dieselbe Stellung der Verheißungen, in der wir
Ihn anbeten können, und Er läßt uns verstehen, auf welche
Weise Er sein Wort erfüllen wird. Wenn Christus wiederkommt, werden wir mit Ihm in Herrlichkeit erscheinen und
alles mit Ihm besitzen. Unser gegenwärtiges Teil ist die Gemeinschaft mit Gott und die Einsicht in Seine Ratschlüsse,
die Er ausführen wird. „Deinem Samen will ich dieses Land
geben". — „Und er baute daselbst Jehova, der ihm erschienen war, einen Altar".
Als Jehova Sich zum ersten Mal dem Abram offenbarte,
konnte er seine Wanderung antreten; dann aber konnte er
im Genuß Seiner Gemeinschaft und im Bewußtsein der Verheißungen Gott anbeten und zwar in dem Lande, in das Er
ihn geleitet hatte. Wir sehen Gott im Glauben und wissen,
daß Er Seine Verheißungen bald erfüllen wird. Er läßt uns
Jesum, den wahren Samen und Erben aller Dinge, schauen,
und unsere Seelen erfreuen sich in Ihm.
Abraham wandelt als Pilger von einem Ort zum anderen:
er schlägt sein Zelt auf und baut einen Altar. Sonst aber
besitzt er nichts im Lande. Glücklich und still ruht er in den
15
Verheißungen Gottes. Das ist auch unsere Stellung. Im
schlimmsten Falle müssen wir noch ein Grab kaufen wie
Abraham (Kap. 23).
Der Herr gebe uns denselben stillen Glauben, der Abraham
befähigte, allem zu entsagen! Er begnügt Sich nicht mit einem
halben Gehorsam. Er will, daß wir in Seinen Wegen wandeln und in Seiner Liebe ruhend einen Altar haben, bis wir
Ihn schauen, in Dem alle Verheißungen erfüllt werden —
Ihn, unseren Herrn, in Welchem alle Verheißungen „Ja und
Amen" sind — , zu r Verherrlichun g Gotte s
durc h uns !
Der Versöhnungstag
(3. Mose 16)
Nachdem Gott für Befleckungen, die Sein Volk verunreinigten, die nötigen Vorkehrungen getroffen hatte, offenbarte Sich
Seine Vorsorge im allgemeinen bezüglich der Reinigung des
Heiligtums und bezüglich der Sühnung der Sünden des Volkes Gottes Selbst. Zwei große Gedanken treten hier ans
Licht: 1. Die Versöhnung war von solcher Tragweite., daß
trotz der Sünden des Volkes sein Verhältnis zu Gott fortbestand, und 2. Die Schwierigkeiten, die Aaron bei seinem
Eintritt ins Heiligtum begegneten, bezeugten, daß in jener
Zeit der Weg ins Allerheiligste noch nicht geoffenbart war.
Es ist wichtig, dieses Kapitel von diesen beiden Gesichtspunkten aus zu betrachten. Es bildet ein Ganzes für sich. An
keiner anderen Stelle wird erwähnt, was sich an jenem feierlichen Tage zutrug. Durch das Passah wurde das Opfer
Christi als Erlösung bildlich vorgestellt. Hier handelt es sich
um das Nahen zu Gott, Der Sich auf Seinem Throne offenbarte, und um die Austilgung der Sünden derer, die nahen
wollten, und endlich um die Reinigung ihres Gewissens.
Während uns nun die Mittel dazu vorbildlich vor Augen
gestellt werden, war in Wirklichkeit das Werk der Erlösung
noch nicht vollbracht. Der Hohepriester nahte persönlich
und füllte das Heiligtum mit Rauchwerk; dann nahm er das
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Blut und sprengte es gegen und vor den Gnadenstuhl. Das
zeigt im allgemeinen die Wirksamkeit des Opfers. Die Sünden waren gemäß den Anforderungen Gottes, der Majestät
auf dem Thron, gesühnt, so daß die volle Befriedigung Seiner Majestät den Thron der Gerechtigkeit günstig stimmte, die Gnade freie Bahn hatte und der nahende Anbeter das
Blut als Zeugnis auf dem Throne fand. Die zweite Tätigkeit
des Hohenpriesters war, daß er die Stiftshütte, den Altar,
sowie alles, was vorhanden war, reinigte. — Ebenso wird
Christus, kraft der Besprengung mit Seinem Blut, alle Dinge
mit Sich versöhnen, nachdem Er durch das Blut Seines Kreuzes Frieden gemacht hat. Es konnte keine Schuld in der
Stiftshütte sein, darum reinigt Gott sie von allen Befleckungen, damit Er sie nicht mehr sähe. — Die letzte Handlung
des Hohenpriesters bestand darin, daß er die Missetaten der
Kinder Israels bekannte, indem er seine Hände auf das Haupt
des lebendigen Bockes legte, der in die Wüste geschickt wurde
und alle Sünden mit sich nahm, damit Gott sie nie wiederfinden möge. Hierdurch wird der Begriff der Stellvertretung
in der deutlichsten Weise ausgedrückt.
Wir sehen also dreierlei: 1. Das Blut auf dem Gnadenthron,
2. die Versöhnung aller Dinge, und 3. die Sühnung für unsere Sünde, als bekannt und getragen durch einen anderen .
Diese Ordnung finden wir auch im ersten Kapitel des Kolosserbriefes. Wir lesen dort von Frieden, Versöhnung aller
Dinge, und bezüglich der Gläubigen: „Euch . . . hat er aber
nun versöhnt in dem Leibe seines Fleisches durch den Tod".
— Es ist klar, daß der lebendige Bock, obgleich lebendig
fortgeschickt, doch dem Tode eines anderen (bezüglich der
Wirksamkeit des Werkes) gleichgemacht wurde. Der Gedanke, daß die Sünde auf ewig aus dem Gedächtnis entfernt ist,
kann sich nur auf die Annahme des Todes gründen. Die
Herrlichkeit Gottes wurde anerkannt; und Seinem Recht wurde einerseits durch das Blut auf dem Gnadenthron und andererseits durch die Stellvertretung des Bockes Asasel — des
Herrn Jesus in Seiner köstlichen Gnade in betreff der Schuldigen, deren Sache Er übernommen hatte —, völlig Genüge getan; und weil Er ihre Sünden trug, war ihre Befreiung voll17
kommen und entschieden. Der erste Bock war das Los Jehovas, Sein Charakter und Seine Majestät erforderten dies. Der
andere Bock fiel dem Volke zu und war ohne Zweifel ein
Bild seiner Sünden. Diese beiden Seiten des Todes Jesu müssen in dem vollbrachten Opfer sorgfältig unterschieden werden. Er hat Gott verherrlicht, und Gott handelt gegen alle
nach dem Wert dieses Blutes. Er hat die Sünden Seines Volkes getragen, und darum ist das Heil des Volkes vollkommen. In gewissem Sinne ist der erste Teil der wichtigere. Die
Gerechtigkeit Gottes hätte den Sünder vernichten müssen;
aber wo hätte man dann Seine Liebe, Seinen Gnadenratschluß, Seine Vergebung oder gar Seine ewige Verherrlichung
finden können? Ich rede hier nicht von den Personen, die
gerettet werden sollten, sondern von der Herrlichkeit Gottes
selbst. Aber der Tod Jesu, Sein Blut auf dem Throne Gottes,
hat alles ans Licht gebracht, was Gott ist: Seine Wahrheit,
Seine Majestät, Seine Gerechtigkeit gegen die Sünde, und
Seine unendliche Liebe gegen den Sünder. Gott fand Mittel,
Seinen Gnadenratschluß zu erfüllen und zugleich die ganze
Majestät Seiner Gerechtigkeit und göttlichen Würde aufrecht
zu erhalten. Denn was hätte ihn mehr verherrlichen können,
als der Tod Jesu? Die Gerechtigkeit Gottes hat darin ihr volles
Genüge gefunden, und die Gnade kann sich in vollen Strömen ergießen. Der Herr Jesus sagt: „Ich habe eine Taufe,
womit ich getauft werden muß, und wie bin ich beengt, bis
sie vollbracht ist! — Sein von Liebe erfülltes Herz wurde in
der persönlichen Offenbarung dieser Liebe von den Menscher,
zurückgestoßen, aber durch die Versöhnung konnte sie dem
Sünder frei und ungehindert in der Erfüllung des Gnadenratschlusses Gottes zufließen; ja, der Herr Jesus hatte gewissermaßen ein Recht auf diese Liebe, und wir sind durch die
Gnade in dieselbe Stellung gebracht, die nicht ihresgleichen
hat. „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse,
auf daß ich es wiedernehme". Wir sprechen mit heiliger Ehrfurcht von solchen Dingen; doch es ist gut, davon zu sprechen,
denn sowohl die Herrlichkeit unseres Gottes als auch die
Herrlichkeit Dessen, Den Er gesandt hat, findet sich darin
geoffenbart und festgestellt. Es gibt keine Eigenschaft, keinen
Zug des göttlichen Charakters, der nicht in aller Vollkom18
menheit geoffenbart und durch das, was zwischen Gott und
Jesus vorging, völlig verherrlicht worden wäre.
Daß wir errettet und erlöst sind, und daß unsere Sünden
durch Sein Opfer dem Ratschluß Gottes gemäß gesühnt sind,
ist, wie anbetungswürdig und höchst wichtig diese Resultate
des Werkes Jesu für uns auch sein mögen, doch nur die untergeordnete Seite dieses glorreichen Werkes. Die Verherrlichung
Gottes nimmt den ersten Platz ein.
Nachdem wir nun die großen Grundsätze des Erlösungswerkes in flüchtigen Umrissen gezeichnet haben, wollen wir etwas
näher auf die besonderen Umstände eingehen.
Es ist bereits bemerkt worden, daß zwei Opfer da waren,
das eine für Aaron und seine Familie und das andere für
das Volk. Aaron und seine Söhne stellen immer die Kirche
dar, nicht im Sinne eines Leibes, sondern im Sinne einer
Gesamtheit als Priester. So haben wir selbst am Versöhnungstag den Unterschied zwischen denen, die die Kirche ausmachen und dem irdischen Volke, welches das Lager Gottes auf
Erden bildet. Die Gläubigen der Jetztzeit haben ihren Platz
außerhalb des Lagers, wo ihr Haupt als Sündopfer gelitten
hat; folglich ist ihre Stellung in der Gegenwart Gottes im
Himmel, wohin ihr Haupt gegangen ist. Die Stellung außerhalb des Lagers hier auf Erden entspricht einem himmlischen
Teil; dies sind die beiden Stellungen des in Ewigkeit gesegneten Christen. Wenn auch die bekennende Kirche die Stellung
des Lagers hier auf Erden einnimmt, so ist doch die Stellung
des Gläubigen stets außerhalb des Lagers. Die Kirche hat in
der Tat den Platz des Lagers eingenommen und rühmt sich
dessen sogar; aber es ist eine jüdische Stellung. Israel muß
sich zuletzt wirklich außerhalb des Lagers erkennen, um
durch die Gnade gerettet und wieder hereingebracht zu werden, weil der Erlöser, den sie am Tage ihrer Blindheit verachteten, alle ihre Sünden auf Sich genommen hat. Wir nehmen diese Stellung im voraus ein, während Christus im
Himmel ist. Der Überrest Israels wird, von Herzen gedemütigt, wieder zurückgebracht werden, und dann erst die Größe
und Tragweite des Opfers verstehen, wenn sie Ihn anschauen
19
werden, Welchen sie durchstochen haben. Deshalb wurde ein
. Tag verordnet, an welchem die Demütigung stattfinden sollte, und jeder der sich weigerte, sollte ausgerottet werden.
Dem Zustand der Dinge in der Wüste zufolge läßt der Versöhnungstag ferner die Erkenntnis zu, daß das Volk unfähig
war, sein völlig geoffenbartes Verhältnis zu Gott genießen
zu können. Gott hatte sie erlöst, hatte mit ihnen geredet.
Aber die Herzen der Kinder Israel, wie begünstigt sie auch
als Menschen sein mochten, waren nicht imstande, sich in
Jehova zu erfreuen. Sie hatten sich ein goldenes Kalb gemacht; Mose verhüllte sein Angesicht, und Nadab und Abihu
hatten fremdes Feuer auf dem Altar geopfert — Feuer, das
nicht vom Brandopferaltar genommen worden war. Der Zugang zum Allerheiligsten war ihnen verwehrt, selbst Aaron
durfte nicht zu allen Zeiten hineingehen, und wenn er hineinging, so geschah es nicht, um Gemeinschaft zu pflegen,
sondern um die Befleckungen eines Volkes hinwegzutun, in
dessen Mitte Gott wohnte. Die Vorschrift über den Versöhnungstag wurde eröffnet mit dem Verbot, zu. jeder Zeit in
das Heiligtum zu gehen, und Aaron opferte in einer Wolke
von Weihrauch, damit er nicht starb. Sicher war dies alles
eine gnädige Vorsorge, damit das Volk nicht wegen seiner
Verunreinigungen zugrunde gehe; aber der Heilige Geist
macht uns zugleich kund, daß der Weg ins Heiligtum noch
nicht geoffenbart war.
Inwiefern ist jetzt unsere Stellung eine andere? — Der Vorhang ist zerrissen, und wir treten als Priester mit Freimütigkeit in das Heiligtum „auf dem neuen und lebendigen Wege,
welchen Er uns eingeweiht hat durch den Vorhang hin, das
ist sein Fleisch" (Hebr 10, 20). Ohne Gewissen von Sünden
gehen wir hinein, weil der Schlag, der den Vorhang zerriß,
und der sowohl die ganze Herrlichkeit und Majestät des
Thrones als auch durch die Heiligkeit des darauf Sitzenden
erblicken ließ, die Sünde völlig ausgetilgt hat, die uns unfähig
machte, Ihm nahen oder auch nur ins Heiligtum schauen zu
können. Wir sind sogar dorthinein versetzt in Christo, unserem Haupte — dem Haupt Seines Leibes, der Versammlung.
Während dieser Zeit befindet sich Israel draußen. Die Ver20
Sammlung ist in der Person Christi, dem Hohenpriester, am
Versöhnungstag deutlich dargestellt, an dem der Hohepriester
Israels hinter dem Vorhang verborgen war. Der Vorhang, der
die Bedeutung aller jener Vorbilder verbarg, ist durch Christus
für uns weggetan, so daß wir durch den Heiligen Geist völlige
warten nicht auf Versöhnung, bis Er wieder heraustritt. Israel
liegt noch eine Decke. Er spricht zwar im Heiligtum durch
das dargebrachte Blut; aber die außerhalb des Vorhangs Stehenden wissen nichts davon, und folglich wird ihr Gewissen
noch nicht durch das Bewußtsein befreit, daß ihre Sünden
weggetan sind. Unsere Stellung ist eigentlich (bildlich gesprochen) in der Person Aarons, weil das Blut auf dem Gnadenthron ist. Wir sind nicht nur durch den Bock Asasel gerechtfertigt (dies ist ein für allemal vollbracht, und der Vorhang
oder die Decke sind nicht mehr zwischen uns und Gott, sondern auf dem Herzen Israels), sondern wir sind auch, eins mit
dem Hohenpriester, mit Ihm ins Heiligtum gegangen. Wir
warten nicht auf Versöhnung, bis Er wieder heraustritt. Israel
wird, obgleich es die gleiche Vergebung hat, diese Dinge erst
dann empfangen, wenn der wahrhaftige Aaron aus dem Heiligtum herauskommt. Darum wurde das Opfer Aarons und
seiner Söhne durch das Blut auf dem Gnadenthrone und
durch den Eingang Aarons in Person charakterisiert. Auch
unsere Stellung ist innerhalb des Vorhangs kraft des Wertes
Seines Blutes und der Annahme Seiner Person.
Wenn ich mich nun als einen auf der Erde verantwortlichen
Menschen betrachte, so erwarte ich den Herrn zur Befreiung
aller Dinge, zur Beseitigung aller Leiden und aller Macht des
Bösen, und mache mich selbst als Knecht darauf gefaßt, bei
Seinem Erscheinen als Herr das Zeugnis Seiner Anerkennung
vor der Welt zu empfangen. Wenn ich aber als Glied Seines
Leibes an meine Vorrechte denke, dann erinnere ich mich
daran, daß ich eins bin mit Ihm droben, und daß ich mit
Ihm zurückkehren werde, wenn Er in Seiner Herrlichkeit
erscheint. Es ist gut, daß wir diesen Unterschied zu machen
wissen, denn das ist das einzige Mittel, uns vor der Verwirrung in Gedanken oder in der Anwendung der darauf bezüglichen Stellung zu bewahren. Ich darf mich als mit Christus
21
vereint und in die himmlischen örte r versetzt betrachten;
und in diesem Falle sehe ich mich in dem Genuß all der Vorrechte, die Er als Haupt des Leibes vor Gott, Seinem Vater
genießt. Auch darf ich auf mich blicken, als auf ein armes
schwaches Geschöpf, das noch in der Wüste pilgert, das Bedürfnisse fühlt und Versuchungen zu überwinden hat; und
in diesem Falle sehe ich Christus droben, während ich hier
bin, vor dem Throne Gottes für mich eintreten, und ich bin
glücklich, Ihn, den Vollkommenen, in der Gegenwart Gottes
zu wissen. — Ihn, Der durch alle meine Schwierigkeiten gegangen ist, nun aber nicht mehr in den Umständen hier auf
Erden, sondern droben beim Vater weilt, und zwar für mich.
Diese letztere Stellung finden wir als Lehre im Hebräerbrief,
während die erstere — die Einheit der Versammlung mit
Christo — ganz besonders im Brief an die Epheser gelehrt
wird.
Der Herr aber gebe, daß wir in jeder Stellung, die uns durch
die Gnade zuteilgeworden ist, das mit dieser Stellung verknüpfte Glück, den Frieden und die Freude des Herzens in
reichem Maße genießen, um in praktischer Weise fähig zu
sein, hinauszugehen außerhalb des Lagers, um Seine Schmach
zu tragen.
Unsere Rechtfertigung
(Römer 5, 1-2)
Wenn wir diese und ähnliche Stellen der Schrift betrachten,
so ist es bezeichnend, daß der Heilige Geist den Worten
„gerechtfertigt, versöhnt, errettet" mit Sorgfalt den Zusatz
„durch unseren Herrn Jesus Christus" beifügt. Wenn wir der
Rechtfertigung bedurften, so setzt das voraus, daß wir schuldig waren; wenn unsere Versöhnung eine Notwendigkeit
war, so waren wir selbstverständlich unter dem Zorn. Darum
verbindet die Heilige Schrift die Lehre über unsere Erlösung
mit der Wahrheit, daß wir von Natur verlorene Sünder sind,
und daß unser Heil durch Jesus Christus ist.
22
Wohl wissen wir alle, die wir durch die Gnade errettet sind,
daß wir Sünder waren; aber der Wunsch des Herrn ist, daß
wir, nachdem wir gerrettet sind, uns stets lebendig erinnern,
woher wir gekommen sind, was wir waren, und was die
Quelle unseres Heils ist. Gott sei gepriesen, daß wir gerechtfertigt sind; aber je klarer das Bewußtsein unseres früheren
Zustandes in uns ist, desto größer ist die Freude und die
Dankbarkeit über unsere Rechtfertigung. Eine Schuld lag auf
uns, und diese Schuld ist weggenommen; der Zorn Gottes
ruhte auf uns, wir sind versöhnt mit Gott. Rechtfertigung ist
weit mehr als Vergebung. Der Herr Jesus, fleckenlos und
göttlich rein, nahm unsere Stelle ein, und Ihn traf die Strafe
der Gerechtigkeit. Wir, tot in Sünden und Vergehungen, nahmen durch die Gnade Seinen Platz ein, und sind nicht nur
gereinigt von allen Sünden, sondern besitzen sogar die Gerechtigkeit Gottes in Ihm. Er, der Gerechte, starb für uns, die
Gottlosen. Die Gerechtigkeit Gottes ist befriedigt, Sein Zorn
hat sich in Liebe verwandelt, und Er, in Dessen Gegenwart
wir uns nie hätten wagen dürfen, hat uns in Christo nahe
gebracht. Gott Selbst hat uns in Seiner unendlichen Gnade
in die Stellung von Gerechten gesetzt; Er Selbst ist es, Der
rechtfertigt, wer könnte jetzt verdammen? — Aber wer waren
wir, die wir jetzt gerechtfertigt dastehen? Wie groß muß die
Liebe sein, die uns gesucht und uns einen solchen Platz angewiesen hat! Welch eine Gnade, die sich mit Feinden und
Gottlosen beschäftigte! Verlangten wir nach einer solchen
Stellung? War in uns die Spur eines Wunsches, versöhnt zu
werden? Ach, wir dachten nicht an Ihn, Der solch eine Gnade
offenbarte, vielmehr wichen wir Seinem Gnadenarm aus. Doch
gepriesen sei Sein Name! Er dachte an uns und sandte Seinen
Sohn, Der unserer Übertretungen wegen hingegeben und
unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist.
Wir sind gerechtfertigt aus Glauben, und nicht aus Werken,
die wir getan haben, und wir stehen in der Gnade, also auf
einem Grunde, zu dem wir nichts beigetragen haben und zu
dem wir nichts beitragen konnten. Wir stehen vollkommen
gerechtfertigt vor Gott, aber alles ist Sein Werk. Er gab
Seinen Sohn, und durch Ihn verherrlicht, wirkte Er in unse23
rem Herzen, schenkte uns den Glauben, rechtfertigte uns und
stellte uns in Christo auf einen Boden, auf dem das Erbarmen Gottes in freier Gnade immer für uns tätig ist. Wie
elend waren wir, und welche Zukunft hatten wir, als wir noch
Sünder waren! Sicher, je klarer unser Verständnis über unseren früheren Zustand ist, desto höher schätzen wir den Reichtum Seiner Gnade, und anbetend werden wir ausrufen: „O
Gott, wohin hast Du uns geführt, die wir Sünder und Deine
Feinde waren"!
Wir haben mittels des Glaubens Zugang zu dieser Gnade.
Wir sind nicht unter Gnade gestellt, um uns jetzt selbst überlassen zu sein, als ob wir Gott entbehren könnten, sondern
wir bedürfen der Gnade, die in Gott für uns ist, zu jeder
Zeit; deshalb hat Gott uns einen freien Zugang zu ihr eröffnet. Ohne diese Gnade könnten wir keinen Schritt auf dem
Lebenspfad tun. Wir benötigten sie zu unserer Rettung, und
wir benötigen sie zu unserem Wandel. Wir sind völlig abhängig von ihr. Aber wie zart ist diese Abhängigkeit! Die
Liebe hat sie geschaffen, die Liebe, die sich immer durch die
Tat erweist. Es liegt nichts Knechtisches in dieser Abhängigkeit von Gott und Seiner Gnade, sondern bei den Bedürfnissen, die wir haben, und bei der persönlichen Schwachheit, in
der wir uns befinden, brauchen wir stets Hilfe und Stütze,
und Gott eröffnet uns einen Weg zu Seiner Gnade, damit wir
dort alles finden. Obwohl wir einerseits stets das Bewußtsein
haben sollen, daß nur die Gnade uns erhalten kann, so dürfen wir auf der anderen Seite auch sagen, daß Gott uns stets
in Liebe empfängt, wenn wir zu Ihm kommen, und daß es
eine Freude für Ihn ist, uns zu helfen und uns Seine reiche
Liebe zuteil werden zu lassen.
Noch wandeln wir in einer Wüste, wo es keinen Ruhepunkt
und keine Güter für uns gibt, denn alles was uns umgibt, ist
den Leiden und der Vergänglichkeit unterworfen. Aber wie
könnte die Liebe, die uns in Christo Jesu aufgesucht hat, uns
für immer in diesem Zustand lassen! Gott weiß viel besser
als wir, daß wir, wenn wir ohne Hoffnung wären, die elendesten unter allen Geschöpfen wären. Wie treu hat auch die
Liebe für uns gesorgt! Wir sind Erben Gottes und Miterben
24
Christi. Die Herrlichkeit Gottes ist unser Teil, und dieser
Herrlichkeit dürfen wir uns rühmen. Als himmlische Menschen haben wir unser Teil im Himmel; die Dinge dieser
Erde haben keinen Wert und befriedigen nicht das Herz eines
Himmelsbürgers. Die Herrlichkeit Gottes ist unsere sichere
Hoffnung und wir rühmen uns in Hoffnung dieser Herrlichkeit Gottes.
Aber die Trübsale? Ach, sie haben auf der armen Erde ihre
Heimat. Aber wie nützlich sind sie für die Gläubigen! Sie
helfen uns, die eigene Ohnmacht und die Macht und Liebe
Gottes zu erkennen und, gestützt auf diese Liebe und Macht,
den Weg mit Ausharren zu laufen. Anstatt sie daher zu
fürchten haben wir im Gegenteil Ursache, uns ihrer als einer
Sache zu rühmen, die uns den trostlosen Zustand dieser Erde
erkennen läßt und uns hinweist auf das unverwelkliche, unbefleckte und unverwesliche Erbteil droben im Himmel, so
daß uns am Ende nichts übrigbleibt, als uns Dessen zu rühmen, Der in Seiner Weisheit, Liebe und Gnade alles so vortrefflich für uns geordnet hat. Ja, „wir rühmen uns auch
Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen
wir jetzt die Versöhnung empfangen haben". Wir richten mit
glücklichem Herzen unseren Blick auf die Gnade, in welcher
wir stehen, wir rühmen uns ihrer Ergebnisse; aber wir erkennen in Ihm die Quelle aller dieser herrlichen Dinge. In
Seinem Herzen entsprang der erste Gedanke zu unserem
Heil.
Manche Brüder finden es zu gewagt, solche Gefühle der Sicherheit in ihrem Herzen aufkommen zu lassen und den
Platz einzunehmen, den sie nach den Aussprüchen Gottes in
Seinem Herzen und unter Seiner Gnade haben. Sie betrachten
es als Anmaßung, die ganze Tragweite des Werkes Christi
auf sich anzuwenden; sie sind unzufrieden, wenn jemand die
von Gott bewirkte vollkommene Versöhnung und Rechtfertigung als den einzigen Grund seines Friedens mit Gott bezeichnet und sich dessen mit dankbarem Herzen erfreut, und
sie halten es für geziemender und Gott wohlgefällig, stets mit
den Gefühlen eines armen Sünders zu erscheinen. Ach, solche
Brüder vergessen, daß wir uns nicht anders betrachten sollen
25
als Gott uns betrachtet, und daß es zur Verherrlichung des
Werkes Christi dient, wenn wir die ganze Tragweite dieses
Werkes für uns in Anspruch nehmen, ja, daß es ganz nach
dem Willen Gottes ist, uns völlig dessen zu erfreuen und zu
rühmen, was unser Herr und Heiland in Seiner unendlichen
Liebe für uns getan hat.
Freilich ist nichts verabscheuungswürdiger, als sich dieser
herrlichen Dinge zu rühmen und dabei im Wandel eine
Leichtfertigkeit zur Schau zu tragen, die deutlich verrät,
daß die Erkenntnis dieser Wahrheit nicht in einem demütigen Herzen wurzelt. Ach, solche Seelen haben nicht die
Worte beachtet: „Jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist". Entweder haben sie
vergessen oder nie in ihrem Herzen verstanden, was sie von
Natur sind, und welch einen Preis es gekostet hat, sie fähig
zu machen und zu sagen: „Da wir nun gerechtfertigt worden
sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus". Die wahre Erkentnis meiner
Stellung und die wahre Erkentnis dessen, was mich dem
Verderben entrissen und in diese glückselige Stellung gebracht hat, wird ohne Zweifel auch einen Wandel hervorbringen, der für eine solche Stellung geziemend ist. Eine tote
Erkenntnis läßt das Herz leer und ruft weder Anbetung
und Dank gegen Gott noch den nötigen Ernst in der Seele
hervor, einen solchen Gott durch einen heiligen Wandel zu
ehren. In einem solchen Zustand genießt das Herz keinen
wahren Frieden und ist unfähig, sich in Wahrheit von der
Welt und der Sünde trennen zu können.
Geliebte Brüder! Es ist dem Herrn wohlgefällig, den Wunsch
zu haben, die Wahrheit Gottes kennenzulernen und zu diesem
Zweck unter Gebet die Heilige Schrift zu erforschen. Er Selbst
hat uns gerechtfertigt und unter Seine Gnade gestellt, und Er
will, daß wir diesen Platz durch den Glauben von ganzem
Herzen einnehmen. Aber unterschätzen wir es nicht, wenn
der Herr uns in Seinem Wort daran erinnert, daß wir elende,
verdammungswürdige Sünder waren, daß der Zorn eines gerechten und heiligen Gottes auf uns ruhte, und daß der geliebte Sohn Gottes, der Heilige und Gerechte, diesen Zorn
26
für uns tragen mußte, um uns diesen Platz der Ruhe in der
Gnade geben zu können. Nur dann wird die Erkentnis unserer neuen Stellung mit dem Gefühl der tiefsten Dankbarkeit
und Anbetung vermischt sein und Früchte tragen zur Ehre
und Verherrlichung Gottes.
David
(1. Buch Samuel)
Betrachten wir kurz die Geschichte Davids. — Die Einfalt
seines Glaubens bewahrt ihn an dem Orte, wo die Pflicht
ihn gefesselt hält, und kein Wunsch regt sich in ihm, ihn zu
verlassen. Die Gegenwart Gottes genügt ihm. Folglich kann
er in dieser Stellung auf die Hilfe des Herrn rechnen, weil
sie ihm völlig zugesichert ist; er handelte in der Kraft Gottes. Der Löwe und der Bär fallen unter seiner jugendlichen
Hand. Warum auch nicht, da Gott ja mit ihm war? — Er
folgte Saul mit gleicher Einfalt, kehrt dann zurück und hütet
seine Schafe mit der gleichen Zufriedenheit. Dort hatte er im
Geheimen durch den Glauben verstehen gelernt, daß der Herr
mit Israel war; er hatte den Charakter und die Festigkeit
dieses Verhältnisses verstanden. Er sieht in dem Zustand Israels etwas, das diesem Zustand nicht entspricht, aber für
sich selbst ruht er in dem Glauben an die Treue Gottes. —
Ein unbeschnittener Philister fällt wie der Löwe. David dient
Saul mit der gleichen Einfalt als Saitenspieler, wie vorher, und
zeigt sowohl in Sauls Gegenwart als auch, wenn dieser ihn
als Anführer über tausend aussendet, Mut und Tapferkeit.
Er gehorcht den königlichen Befehlen. Schließlich verjagt ihn
der König, aber er bleibt in der Stellung des Glaubens. Jetzt
hören wir freilich nichts von seinen kriegerischen Taten. Aber
wir sehen seine Stellung, als die geistige Kraft in ihm, die
äußere göttliche Autorität aber in den Händen eines anderen
war. Es war die gleiche Stellung wie die des Herrn Jesus. Die
Schwierigkeiten, in denen David sich befindet, offenbaren
nur umso herrlicher alle Schönheit der Gnade Gottes und
der Früchte des Werkes des Geistes, während sie in beson27
derer Weise die Zuneigung und das vertraute Verhältnis zu
Gott enthüllen. Dies gab besonders den Psalmen ihren Ursprung.
Der Glaube genügt, um David über alle Schwierigkeiten seiner Stellung zu erheben. Und so ist es stets. Weil der Glaube
in Gott ruht, und mithin über dem Bösen steht, entzieht er
die Natur der Macht des Bösen, obwohl die Natur selbst keine
Kraft der Selbstbeherrschung hat. Der Glaube achtet was
Gott achtet, und urteilt wie Gott urteilt, und er erinnert das
Herz stets daran, daß Gott allmächtig und daß Er die Liebe
ist. David erkannte in Saul, in welch traurigem Zustand auch
dessen Seele sein mochte, stets den Gesalbten Gottes, weil
Gott ihn als solchen anerkannte. Der Glaube handelt stets
Gott gemäß und offenbart Ihn in allen Umständen, anstatt
von diesen Umständen beherrscht zu werden. Seine Erhabenheit über alles was ihn umgibt tritt stets ans Licht. Welch ein
Vorrecht, im Glauben inmitten des Kotes der armen Welt
ruhig vorwärtsgehen zu können!
Aber obwohl der Glaube in der Stellung, die er uns in dieser
Welt einräumt, in allem völlig genügt, bedienen wir uns
dieser Schutzwaffe leider zu wenig, weil unsere praktische
Gemeinschaft bei uns so mangelhaft ist. Anstatt unablässig
voranzugehen, weil Gott mit uns ist und nachdem wir den
Löwen und den Bären erlegt haben, auch den Goliath zu töten
und auf diese Weise den Glauben durch Siege zu stärken, ermüdet die Natur im Kampfe; und wir verlieren die richtige
Stellung des Glaubens und entehren und erniedrigen uns
selbst. Welch ein Unterschied ist zwischen der Stellung Davids,
als er in der Kraft des Glaubens den Riesen Goliath erschlug
und später durch die Frucht der Gnade dem König Saul Tränen entlockte und — wenigstens für den Augenblick —• dessen Liebe erweckte, und seiner Stellung, als er vor Saul in
das Land der Philister floh und in Gefahr stand, die Waffe
gegen sein eigenes Volk erheben zu müssen.
Geliebte Brüder, laßt uns in der Stellung des Glaubens ausharren. Diese Stellung scheint eine schwierige zu sein, aber
wir finden Gott darin und Seine wunderbare Gnade, die unsere Herzen durch tausend Bande der Liebe und der Dankbar28
keit mit Gott verbindet, mit Ihm, Der uns kannte und liebte,
da wir noch Gottlose und Sünder waren, und Der Sich in
Christo Jesu herabließ, unserem Elend und den Bedürfnissen
unseres Herzens entgegenzukommen. Der Glaube gibt Energie und Geduld, und er ruft in unseren Herzen oft die köstlichsten Gefühle wach, die, während der Glaube uns hier in
Abhängigkeit wandeln läßt, im Himmel selbst Freude verursachen, weil der Herr Jesus der Gegenstand des Glaubens ist
und Er den Ansprüchen des Glaubens in der Gegenwart Seines Vaters entspricht. Die Natur ist in den Umständen verzagt und ungeduldig, weil wir Gott nicht genug Raum in uns
geben; und wenn der Unglaube uns beherrscht, ist es unmöglich, den Herrn in irgendeiner Weise zu verherrlichen.
Doch wie gut ist es, daß, wie schwach unser Glaube auch sein
mag, der Gegenstand unseres Glaubens stets dieselbe Macht
und Treue offenbart. Das sehen wir bei David. Wie mangelhaft sich auch sein Glaube zeigte, als er aus Furcht vor Saul
sein Land verließ und zu. den Philistern floh, so gab Gott ihm
dennoch das Königreich. Seine Verheißungen sind Ja und
Amen. Die Gnade Gottes ist größer als alle unsere Mängel.
Gott muß Sich in Seinem Volk verherrlichen. Gepriesen sei
Sein Name!
„Gott widersteht den Hochmütigen,
den Demütigen aber gibt er Gnade!"
(1. Petri 5, 5)
Welch ein Unterschied besteht zwischen diesen beiden Stellungen! Gott muß den Hochmütigen widerstehen, aber wenn
der Mensch seinen wahren Platz einnimmt, dann findet Gott
keine Ursache, ihm zu widerstehen; denn weil jede Schranke
beseitigt ist, kann sich der volle Strom der göttlichen Güte
in das demütige Herz ergießen. In einem solchen Herzen hat
Gott Seine Wohnung. Es mag dort große Schwachheit, große
Armut und nichts Anziehendes vorhanden sein, aber Gott
wohnt dort, und das ist genug. Er kann Sich sicher nicht vereinigen mit der Hoffart, der Anmaßung und der Selbstüber29
hebung des Menschen. Wenn wir diese Dinge bei einem
Menschen entdecken, können wir sicher sein, daß Gott in
diesem Herzen Seine Wohnung nicht aufgeschlagen hat. Ich
rede hier nicht von der Errettung, sondern nur von dem kostbaren Vorrecht, in einem Zustand zu sein, der Gott gestattet,
im Herzen zu wohnen. Dies gibt Sicherheit, Mut und Kraft
auf unserem Pfade. O, möchte unser Herz gedemütigt sein
in diesen Tagen menschlicher Anmaßung! Welche Wege voller
Mühsal und Leiden muß mancher Christ gehen, um sein
hochmütiges Herz zu erkennen und mit dem Stolz und der
Anmaßung des eigenen Ich zu brechen! Wahrlich, es ist
Gnade, daß Gott dem Hochmütigen widersteht. Möchten wir
uns stets unter Seine mächtige Hand demütigen, damit Er uns
erhöhe zur rechten Zeit. Jemehr ich mein Nichts erkenne und
gelöst bin von mir selbst, desto mehr stütze ich mich auf Ihn
und vertraue Seiner Macht und Seiner Liebe. Und dem Demütigen gibt Er Gnade. Sind wir leer von uns selbst, dann
bietet sich Seiner Gnade die vollkommene Gelegenheit, uns
mit Seinen Segnungen zu überschütten. Darum sollen wir
stillhalten, wenn Er es für gut befindet, uns in einer Weise
zu begegnen, die unserer Natur nicht zusagt. Er hat stets
unser Bestes im Auge, und alle Dinge wirken uns zum Guten
mit.
Das zwei lache Erscheinen Jesu
(Hebräer 9, 26-28)
Der gesegnete Zweck der ersten Erscheinung des Herrn in
dieser Welt wird uns hier deutlich vor Augen gestellt, denn
wir lesen: „Jetzt aber ist er einmal in der Vollendung der
Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde
durch Sein Opfer". Er, Der schon längst vorbildlich durch
die jüdischen Opfer dargestellt worden war, erschien zur
festgesetzten Zeit Selbst, um das zu erfüllen, was die vorbildlichen Opfer nicht vermocht hatten, nämlich ein völliges Ende
mit der Sünde zu machen. Diese Tatsache hat auch in dem am
Kreuz für Sünder vollbrachten Werk Christi ihre Ausführung
30
gefunden. Der Gerechte starb für die Ungerechten. Welche
Liebe, Gnade und Güte! „Gott aber erweist seine Liebe gegen
uns darin, daß Christus, da wir noch Sünde r waren, für
uns gestorben ist" (Rö 5, 8). Auf diese frohe Botschaft antwortet der Glaube: „Das ist für mich; denn ich bin ein Sün -
der . Aber Gott liebt mich, einen Sünder ; denn Christus
starb für mich, einen Sünder " . Das Wort Gottes sagt
es, ich glaube es, und darum bin ich errettet, durch den Tod,
und bin glückselig in der erbarmenden und errettenden Liebe
Gottes. Das ist gewiß keine Anmaßung, o nein. Als einer,
der mit unter das Urteil: „Alle haben gesündigt" fällt, habe
ich ein Anrecht auf das Werk der Gnade für Sünder .
Anstatt mich daher einer Anmaßung schuldig zu machen,
ehre ich Gott und erhebe Christus durch meinen Glauben.
Vielleicht fühlt sich in diesem Augenblick jemand niedergedrückt unter der Last seiner Sünden. Das ist ganz natürlich. Wenn die Seele dahin geführt ist, das Verabscheuungswürdige im Licht und durch die belebende Macht des Heiligen
Geistes zu sehen und zu erkennen, dann fühlt sie in der
ersten Zeit die ganze Bitterkeit der Sünde. Es ist in der Tat
etwas Schreckliches, vom Licht des Herrn durchforscht zu
werden und zugleich bezüglich dessen, was Gott zur Rettung
der Sünder getan hat, in völliger Unkenntnis zu sein. Wer
könnte die Angst einer solchen Seele in diesem Zustand beschreiben, besonders, wenn diese Angst von folternden Selbstanklagen begleitet ist! Ach, wie sehr zeugen die Seufzer und
die Tränen eines aufgeweckten Gewissens von der Abscheulichkeit der Sünde!
Sollten diese Zeilen einem solchen in die Hände fallen, der
wegen des Heils seiner Seele in Unruhe ist, so daß er ängstlich ausrufen möchte: „Wer wird mich reinigen von meinen
Sünden?" so können wir nur erwidern, daß die vor uns liegende Schriftstelle (und viele andere derselben Art) die wahre
Antwort auf diese wichtige Frage gibt. Christus hat die Sünde
am Kreuz für uns weggenommen, und zwar durch Sein Opfer. Dort hat Er für uns die Sünde aus dem Wege geschafft,
als Sein kostbares Blut vergossen wurde, das von allen Sünden reinigt. Durch Glauben an dieses Blut finden wir Ver31
gebung und Frieden. „Diesem geben alle Propheten Zeugnis,
daß jeder, der an ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfängt
durch seinen Namen" (Apg 10, 43). In dem Augenblick, wo
du an Christus als deinen Erlöser glaubst, hast du Vergebung
der Sünden. „In welchem wir die Erlösung haben durch sein
Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum
seiner Gnade" (Eph 1, 7). Für alle, die glauben, trifft das zu.
Nachdem das Licht Gottes in deine bisher verfinsterte Seele
eingedrungen ist, erblickst du die Sünde, um derentwillen
der Herr Jesus am Kreuze starb, und die Er auf Golgatha auf
Sich genommen und hinweggetan hat. In der Tat, du seufzest unter der Last einer Sache, die in den Augen Gottes keinen Platz findet, da Christus sie durch Sein vollkommenes
Opfer ein für allemal weggenommen hat. „Denn durch ein
Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt
werden". Auf Grund dieses einen Opfers sagt Gott von den
Glaubenden: „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde
ich nie mehr gedenken" (Hebr 10, 14. 17). Für alle, die an
Christus glauben, ist die Sünde vergeben und weggetan. Natürlich beschäftigt Sich der Vater mit Seinen Kindern und
züchtigt und straft sie wegen ihrer Sünden, aber sie können
nie mehr als Sünder gerichtet werden, weil Christus für sie
gerichtet worden ist. Die Sünde konnte nur durch den Tod
beseitigt werden, und der Herr Jesus starb in Seiner großen
Liebe den Tod des Sünders und machte dadurch ein völliges
Ende mit der Sünde. Dies erklärt also, daß die Sünde, die
durch den Tod Jesu zunichte gemacht worden ist, dem Glaubenden nicht zugerechnet werden kann. Die Ursache ihrer
Beseitigung und Vernichtung ist allein das Werk Christi, Sein
Opfer. „Nachdem er durch sich selbst die Reinigung der Sünden bewirkt, (hat Er) sich gesetzt . . . zur Rechten der Majestät in der Höhe" (Hebr 1, 3). Der von den Toten auferstandene und gen Himmel aufgefahrene Christus ist das ewige
Zeugnis, daß die Sünde und die Sünden — Wurzel und
Zweige — weggetan sind in Übereinstimmung mit den Anforderungen der Herrlichkeit Gottes und den Bedürfnissen
des Sünders. Das ist die Antwort Gottes auf jede derartige
Frage, und sie sollte jedem Gewissen, das durch die Gnade
32
erleuchtet und aufgeweckt ist, völlig genügen. Das Werk
Christi ist vollbracht, die Sünde weggetan. Glaube es und
übergib dich Jesu mit einem Herzen voll von Dank und Anbetung!
Jetzt ist der Glaube an das fü r un s vollbrachte Werk
Christi der einzige Weg, um für ein unter dem Bewußtsein
der Sünde niedergebeugtes Gewissen Ruhe zu erlangen. Die
Folge davon ist — gepriesen sei Gott! — ein Werk der
Gnade i n uns . Aber der einzige, wahre Grund des Friedens ist das am Kreuz fü r un s vollbrachte Werk Christi.
Dies Werk ist auch der einzige Grund des Werkes der Gnade
i n uns , denn wie könnte der Geist i n un s wirken,
wenn nicht Christus fü r un s gestorben wäre? In der Tat,
der einzige Grund des Werkes Christi i n un s ist das Werk
Christi fü r uns . Nur durch den Glauben findet das Gewissen Ruhe und Frieden — durch den Glauben an das, was
Christus für uns ist, und was Er für uns getan hat. Nichts
als das Werk Christi wird in der Gegenwart Gottes dem
Gewissen bezüglich der Sünde genügen. Wenn die Seele nebenbei in etwas anderem ihre Ruhe und ihren Frieden sucht,
wird ihr Zustand immer schwankend sein. Ihre Unruhe wird
tiefer denn je zuiückkehren, denn das Opfer Christi ist der
einzig e Grund des Friedens.
Aber obgleich Christus erschienen ist als der Tilger der Sünde — als Vollbringer des großen Werkes der Gnade und
Liebe für den Menschen — , so kann doch nicht von Vergebung und Rettung die Rede sein, solange man nicht an den
Herrn Selbst und an Sein vollbrachtes Werk glaubt. Das Blut
Christi ist das einzige Heilmittel für die Sünde. Solange dies
Heilmittel außer Acht gelassen wird, hängen die beiden finsteren Wolken des Todes und des Gerichts drohend über
dem Haupt des Sünders. „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben , danach aber das Gericht" . Furchtbar wird das Los derer sein, an denen Tod und Gericht schonungslos ihre Wut auslassen und über die sie ihr endloses
Wehe herabschleudern. Wer das in Vers 26 erwähnte Opfer
verwirft, dessen Bestimmung wird in Vers 27 beschrieben.
„Der Lohn der Sünder ist der Tod", aber nach dem Tode
33
folgt das Gericht. Sollte der Tod bei dem Sünder einkehren
bevor der Sünder bei dem Erlöser eingekehrt ist, dann erwartet ihn ein noch furchtbarerer Tod, genannt „der zweite
Tod", die ewige Strafe, fern von der Gegenwart des lebendigen Gottes im Schlünde einer hoffnungslosen. Verzweiflung. Wie anders ist dagegen das Los des Gläubigen! Er ist
vereinigt mit Christus, Der für ihn den Weg des Todes und
des Gerichts gegangen ist. Er steht mit Ihm auf dem Felsen
der Auferstehung in der Kraft des Auferstehungslebens. Tod
und Gericht sind hinter ihm. In Christo ist er „aus dem Tode
in das Leben hinübergegangen". Der Glaube erwartet nur,
daß Christus in Herrlichkeit wiederkommt. Er wird „zum
zweiten Male denen, die ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen
zur Seligkeit".
Merke dir, lieber Leser, in diesem Vers den Ausdruck: „Denen, die Ihn erwarten". Zeigt uns diese Stelle nicht in der
deutlichsten Weise, daß die wahre und eigentliche Stellung
für den Christen ist, den Herrn Selbst zu erwarten? Der
Christ hat weder den Tod noch sonst ein auf der Erde angekündigtes Ereignis zu erwarten. Allerdings kann der Tod
kommen, ehe der Herr erscheint, aber für die Gläubigen ist
der Tod nicht ein Gegenstand der Erwartung. Christus Selbst
ist unsere glückselige Hoffnung. Wir sollten nie zulassen,
daß etwas sich zwischen unser Herz und Ihn drängt. Welch
eine gesegnete Sicherheit gibt uns dieses Wort: „Er wird . . .
denen, die ihn erwarten, . . . erscheinen". Ihre Erwartungen
werden nicht enttäuscht werden. Er wird sicher fü r si e
kommen, sei es, daß sie „wachen oder schlafen", und wird
mit ihnen offenbar werden. „Ich komme wieder und werde
euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr seiet"
(Joh 14, 3). „Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart
werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart
werden in Herrlichkeit" (Kol 3, 4). Sein erstes Erscheinen
war ein Werk vollkommener Gnade. Er kam als der gehorsame Knecht, um den Willen des Vaters zu tun und um das
große Werk der Erlösung zu vollbringen. Sein zweites Erscheinen wird in göttlicher Majestät stattfinden, und zwar in
Begleitung aller Seiner Heiligen. Weil Er bei Seinem ersten
34
Erscheinen die Sünde beseitigt hat, wird Er bei Seinem zweiten Erscheinen nichts mehr mit ihr zu tun haben.
Der Heilige Geist zeigt hier den Gegensatz zwischen den
Erwartungen eines Kindes dieser Welt und eines Kindes
Gottes. Ein Kind der Welt hat nichts zu erwarten als den
Tod und das Gericht, ein Kind Gottes erwartet die völlige
Erlösung Gottes. Zu welcher von beiden Klassen gehörst du,
mein Leser? Zur Welt oder zu Christus? Welch eine ernste,
ernste Frage! Erwäge sie im Lichte Gottes mit deiner ganzen
Aufmerksamkeit. Wenn du noch irgendeine Wolke von Zweifel in deiner Seele entdeckst, dann ruhe nicht, bevor sie völlig
beseitigt ist. Glaubst du an Jesus, an Sein vergossenes Blut,
dann gehörst du sicher Ihm an. Ruhst du wirklich auf Seinem
vollbrachten, von Gott anerkannten Werk? Laß dich nicht
durch einen bloßen Schein irreführen. Dem äußeren Scheine
nach magst du zwischen einem Gläubigen und einem Ungläubigen keinen großen Unterschied wahrnehmen. Sie wohnen
vielleicht in demselben Hause, speisen an demselben Tisch,
unterhalten sich oft über denselben Gegenstand, aber dennoch besteht in Wirklichkeit ein großer Unterschied zwischen
ihnen, denn beide stehen sich so fern wie Himmel und Erde.
Und würde der Herr kommen, solange dieser Unterschied
besteht, dann würde sich die Kluft zwischen beiden bis ins
Unendliche erweitern, und die Trennung würde unveränderlich und ewig sein. Der eine würde aufgenommen werden,
um bei und mit dem Herrn eine ewige Herrlichkeit zu genießen, und der andere würde den zerschmetternden Schlag des
schrecklichen Gerichts empfangen, das sich über die ganze
Erde ausstrecken wird, wenn die Versammlung aller wahren
Gläubigen weggenommen ist. Wie überwältigend ist dieser
Gedanke! Wer kann den Augenblick der zweiten Ankunft
des Herrn bestimmen? Sein eigenes Wort ist: „Siehe, ich
komme bald!" O möchte doch der gedankenlos dahinschreitende Sünder dahin geführt werden an diese sich vielleicht
plötzlich erfüllende Wahrheit zu denken, ehe es zu spät ist!
Möchte er doch jetz t am „Tage des Heils", in die geöffneten Arme Jesu eilen! Möchte er doch heut e im Glauben
zu Jesu kommen! Der Herr Jesus ruft in Seiner erbarmenden
35
Liebe noch immer jedem, der noch draußen steht, die Worte
zu: „Komm zu mir, .. . ich will dir Ruhe geben!" und: „Wer
zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen!" — Darum
eile zu Ihm, wenn du noch nicht diese Ruhe für deine Seele
gefunden hast, geliebter Leser! Suche in Ihm deine Rettung!
Zögere nicht, auf dem neuen und lebendigen Wege in die
Ruhe Gottes einzutreten! Du bist willkommen, — willkommen dem Schöße Seiner Liebe. Er freut Sich über dich mit
Jubel und stellt dich in Seine Gegenwart, und zwar bekleidet und mit Kleinodien geschmückt, gemäß der vollkommenen Liebe Seines eigenen Herzens, dem unendlichen Werte
Christi, der ewigen Wirkung Seines Opfers und der grenzenlosen Herrlichkeit Seiner Gnade.
Die drei Männer im Feuerofen
(Auszug aus einer Betrachtung über Daniel 3)
Die Geschichte dieser drei Männer des Glaubens ist höchst
lehrreich und ermunternd. Sie zeigt uns nicht nur deutlich
das Beispiel eines treuen und ausharrenden Glaubens, sondern
auch, wie sehr es sich lohnt, durch den Ofen des Elends zu
gehen, wenn es sich um ein reicheres Maß im Genuß der
Gemeinschaft Christi und des Mitgefühls Seines liebenden
Herzens handelt. Ist es nicht besser, Christus zu haben und
mit Ketten belastet zu sein, als ohne Ihn die kostbaren
Schätze zu besitzen?
Es ist gut, sich stets daran zu erinnern, daß die Zeit, in der
wir leben, nicht die der Mach t Christi, sondern die Zeit
Seines Mitgefühl s ist. Wenn wir die tiefen Wasser
der Trübsal durchwaten, dann mag das Herz wohl manchmal
geneigt sein, seufzend auszurufen: „Warum wirkt der Herr
nicht in Seiner Macht, um mich aus meiner Lage zu befreien?"
— Aber die einzige richtige Antwort auf diese Frage kann
nur die sein, daß wir jetzt nicht in der Zeit Seiner Macht
leben. Sicher hätte Er die Lage, die uns eben niederbeugt,
verhüten können; nichts hindert Ihn, diese oder jene Schwierigkeit zu beseitigen und dieses oder jenes Unglück abzuwenden. Was könnte Ihn auch hindern, jemand, den wir lieben,
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vor Krankheit oder gar vor dem Tode zu bewahren? Seine
Hand ist nicht zu kurz. Aber anstatt Seine Macht zu offenbaren, läßt Er den Dingen ihren Lauf und schenkt dem niedergebeugten Herzen Sein zärtliches Mitgefühl, so daß wir
wegen der Überschwenglichkeit Seines Trostes gedrungen
werden zu bekennen, daß wir um keinen Preis hätten verschont bleiben mögen von dieser oder jener Prüfung, die wir
nach Seinem Willen durchzumachen hatten.
In dieser Weise handelt der Herr Jesus jetzt. Doch die Zeit
rückt heran, in der Er Seine Macht offenbaren wird. Bald
wird Er auf dem weißen Pferde erscheinen, Sein Schwert zükken, den Arm Seiner Gerechtigkeit ausstrecken, Sein Volk an
dessen Feinden rächen und ihm auf immer Recht schaffen.
Aber jetzt ist Sein Schwert noch in der Scheide und Sein richtender Arm noch nicht ausgestreckt. Jetzt ist für Ihn die Zeit,
die Tiefe der Liebe Seines Herzens, und nicht die Schärfe Seines Schwertes und die Macht Seines Armes zu zeigen. Bist du
zufrieden, daß es so ist? Genügt das Mitgefühl Christi deinem Herzen auch in der größten Angst und im tiefsten Kummer?
Ach, wegen unseres verzagten Herzens, der Ungeduld unseres Geistes und unseres ungebrochenen Willens sind wir immer geneigt, den Prüfungen und Schwierigkeiten unseres Weges durch allerlei Anstrengungen auszuweichen. Aber zum
Glück lassen sich die Dornen und die Steine nicht von unserem Pfad verbannen, denn wenn es geschähe, würde für uns
sicher ein unermeßlicher Verlust daraus entstehen. Es ist
unbedingt nötig, daß wir jede Schulklasse durchlaufen, wenn
wir gründlich lernen wollen; aber unser Lehrer begleitet uns,
und das Licht Seines Angesichts, das zärtliche Mitgefühl Seines Herzens, sind unsere Stütze und unsere Kraft, wenn wir
die mühsamsten Erfahrungen in der Schule des Lebens zu
machen haben.
Wie wird der Name des Herrn verherrlicht, wenn Sein Volk
durch Seine Gnade fähig gemacht wird, siegreich aus der
Prüfung hervorzugehen! Als Beweis lese man nur die Geschichte der drei Männer im brennenden Ofen. Sie hatten
sich entschlossen geweigert, das goldene Bild des Königs
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Nebukadnezar anzubeten. Selbst der Anblick des so sehr
geheizten Ofens, daß die Männer, die sie hineinführten, davon getötet wurden, war nicht imstande, ihren Glauben zu
schwächen. Und wie verherrlichte Gott Sich an Seinen Knechten! Von Gewissensbissen gequält, eilte der König zur Öffnung des Feuerofens und ruft entsetzt: „Siehe, ich sehe vier
Männer frei wandeln mitten im Feuer, und keine Verletzung
ist an ihnen; und das Aussehen des Vierten ist gleich einem
Sohne der Götter . . . Sadrach, Mesach und Abednego, ihr
Knechte des höchsten Gottes, gehet heraus und kommet her!
Da gingen Sadrach, Mesach und Abednego aus dem Feuer
heraus . . . diese Männer, daß das Feuer keine Macht über
ihre Leiber gehabt hatte: das Haar ihres Hauptes war nicht
versengt, und ihre Leibröcke waren nicht verändert, und der
Geruch des Feuers war nicht an sie gekommen. Nebukadnezar hob an und sprach: Gepriesen sei der Gott Sadrachs, Mesachs und Abednegos, der seinen Engel gesandt und seine
Knechte errettet hat, die auf ihn vertrauten und das Wort
des Königs übertraten und ihre Leiber dahingaben, um keinem Gott zu dienen noch ihn anzubeten, als nur ihrem Gott"!
Wo könnte man reichere und schönere Früchte eines treuen
Wandels finden? Der König und die Großen seines Reiches,
die einen Augenblick zuvor in den Zeremonien eines falschen
Gottesdienstes versunken und von den lärmenden Tönen der
zur Anbetung des Bildes auffordernden Trompeten berauscht
waren, sind jetzt ganz von der wunderbaren Tatsache überführt, daß das Feuer, das die starken Kriegsleute getötet hatte, auf die Anbeter des wahren Gottes keine andere Wirkung
gehabt hatte, als ihre Bande zu verbrennen und sie in den
Stand zu setzen, in Begleitung des Sohnes Gottes inmitten
der lodernden Flammen zu wandeln. Welch ein herrliches
Zeugnis! Es hätte nie entstehen können, wenn der Herr
durch Seine Macht verhindert hätte, daß Seine treuen Diener
in den Feuerofen geworfen wurden. Mit einem Wort, der
Feind war zu schänden geworden, Gott war verherrlicht und
Seine geliebten Diener ohne irgendwelchen Schaden aus dem
glühenden Feuerofen herausgezogen worden. Welch köstliche
Früchte eines treuen, ausharrenden Glaubens!
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„Und Nebukadnezar hob an und sprach: Gepriesen sei der
Gott Sadrachs, Mesachs und Abednegos". Welch eine Ehre
genossen hier die drei für Gott abgesonderten Männer! Ihre
Namen werden mit dem Namen des Gottes Israels in Verbindung gebracht. Der Herr lohnte ihre Treue. Sie hatten
sich zu Ihm, dem wahrhaftigen Gott, gehalten, als es sich
um den Verlust ihres Lebens handelte; darum hält sich nun
auch der wahrhaftige Gott zu ihnen, um sie in eine reichere
und gesegnetere Stellung zu bringen. Er stellte ihre Füße
auf einen Felsen, von dem aus ihre Augen sich über ihre
Feinde erheben konnten. Wie sehr bewahrheitet sich hier das
Wort: „Ich ehre, die mich ehren!" und ebenso wahr ist es,
daß „die mich verachten, werden gering geachtet werden"
(1. Sam 2, 30)!
Wenn nun Gott alles, was zu unserer Erlösung erforderlich
war, getan hat, was bleibt dann noch? Nur dies eine: Lebe
für Christus! Du bist noch für eine kurze Zeit hier auf der
Erde, um in Seinem Dienst zu stehen und seine Wiederkunft
zu erwarten. O trachte danach, deinem hochgepriesenen Herrn
treu zu sein! Laß dich nicht entmutigen durch den Zustand
der Unordnung und Verwirrung, in dem sich alles was du
um dich her siehst befindet. — Möchte das Beispiel Daniels
und seiner Genossen dein Herz anspornen, hier auf der Erde
einen himmlischen Wandel zu führen! Es ist dein Vorrecht,
in einem ebenso innigen Verhältnis mit Jesus zu stehen, als
wenn du in den siegreichen Tagen des apostolischen Bekenntnisses lebtest. '
Möchten Leser und Schreiber dieser Zeilen mit dem Geiste
des Herrn Jesus erfüllt sein, um in Seinen Fußstapfen zu
wandeln, die Tugenden, die aus Ihm hervorstrahlen, zu verkündigen und Sein Kommen zu erwarten.
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Wem gehörst Du, und wem lebst Du?
Von dem Augenblick an, wo der Mensch durch die Gnade
von seinen sündigen Wegen überführt ist, die Liebe ihm begegnet, der Glaube ihn zu Jesus führt, die Gnade ihn aufnimmt und der Heilige Geist ihm als das Unterpfand der
Herrlichkeit und als der Geist der Sohnschaft gegeben wird,
gehört er nicht mehr sich selbst an, sondern ist das Eigentum
eines anderen, nämlich Christi, geworden, und er ist daher
berufen, nicht mehr seinen eigenen Willen zu tun und nicht
mehr sich selbst zu leben. Er ist durch Christus um einen
Preis gekauft, mithin rechtmäßig erworben worden, und gehört daher mit Leib und Seele Ihm. Als Sklave Christi sollte
er sich stets sagen: „Christ sein heißt: nicht mehr sich selbst
leben".
Wenn wir unseren Blick auf den Kaufpreis richten, den der
Herr Jesus für den Besitz der Seele des Sünders gegeben
hat, dann wird deutlich, welchen Wert wir in Seinen Augen
haben und wie wertvoll jede einzelne Seele der so teuer
Erkauften für Ihn sein muß, Der sie erkauft hat, um sie ganz
zu besitzen, nach Leib und Seele, mit all ihrem Tun, ihrer
ganzen Gesinnung, ihrem ganzen Leben. Je tiefer dies erkannt
wird, desto süßer ist das Bewußtsein, ein Eigentum Jesu zu
sein, und desto mehr Vertrauen wird das Herz zu Jesus
fassen, daß Er das, was Er so teuer und so vollständig für
Sich erworben hat, auch treu bewahren und reichlich versorgen werde.
Nicht mehr sich selbst leben heißt also: anderen leben! Alles
was wir tun, hat einen Beweggrund, einen Zweck, eine Richtung; unsere Bemühungen gelten entweder dem Fleisch oder
dem Herrn, und im Herrn den Brüdern. Der Herr aber sieht
unsere Pfade, kennt unsere Werke, und Er beurteilt die Beweggründe unseres Herzens bezüglich jedes Werkes. Welch
ein herrliches Vorbild ist in dieser Beziehung der Apostel
Paulus! Er arbeitete nicht, um Menschen zu gefallen, er suchte seinen vollen Lohn droben und wollte aus der Hand des
gerechten Richters seine Krone empfangen. Der Herr beurteilt alles nach Seinem Licht und wägt alles mit seiner Waa40
ge. Vor Ihm ist alles aufgedeckt, ob unsere Gesinnung, unsere Worte und Werke für das Fleisch oder für Ihn sind.
Vor Ihm ist alles offenbar. Wie ernst ist dieser Gedanke!
Wer Ihm nachfolgen will, muß sich selbst verleugnen, seinen
eigenen Willen preisgeben, und zwar so vollständig, als sei
er nicht mehr da. Der Herr, Dem wir alles was wir sind und
haben verdanken, sollte für unser Herz zu wertvoll sein, als
daß wir Ihm nicht allein leben möchten; aber Ihm gehört auch
unser Leben, denn wir sind Sein Eigentum, des aus den Toten
Auferweckten, geworden (Rö 7, 4) und sind Sklaven Gottes,
um Gott zu leben (Rö 6, 22). Ein Sklave hat kein Recht,
einen eigenen Willen zu haben, und wenn ein Christ seinem
eigenen Willen folgt, greift er in die Rechte, die sein Herr
über ihn hat, ein. „Denn keiner von uns lebt sich selbst, und
keiner stirbt sich selbst. Denn sei es daß wir leben, wir leben
dem Herrn; sei es daß wir sterben wir sterben dem Herrn.
Sei es nun daß wir leben, sei es daß wir sterben, wir sind
des Herrn. Denn hierzu ist Christus gestorben und wieder
lebendig geworden, auf daß er herrsche sowohl über Tote als
über Lebendige" (Rö 14, 7. 8).
Ach, wie wenig beachten wir oft diese Wahrheit! Wie leichtfertig wandeln wir oft unsere eigenen Wege, ohne daran zu
denken, wie sehr wir das Herz Dessen betrüben, Der uns
um einen so hohen Preis erkauft hat. Wie schwach ist in uns
das Bewußtsein, daß unsere Leiber Tempel des Heiligen Geistes sind! Hat Er doch durch den Heiligen Geist selbst von
unserem Leibe Besitz genommen, um darin zu wohnen. „Wisset ihr nicht, daß euer Leib der Tempel des Heiligen Geistes
ist, der in euch wohnt, den ihr von Gott habt, und daß ihr
nicht euer selbst seid? Denn ihr seid um einen Preis erkauft
worden; verherrlichet nun Gott in eurem Leibe" (1. Kor 6,19.
20). Dieselben Worte wendet der Apostel an, wenn er uns
erinnern will, daß wir nicht der Menschen Knechte seien.
„Ihr seid um einen Preis erkauft, werdet nicht der Menschen
Sklaven" (1. Kor 7, 23). Wir gehören weder uns selbst an,
um unseren Willen zu tun, noch gehören wir den Menschen,
um deren Sklaven zu sein. Wohl gibt es viele von den Seinigen, die Knechte anderer in dieser Welt sind; und nach
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der Vorschrift des Wortes Gottes sollen sie ihren leiblichen
Herren mit aller Unterwürfigkeit, als dem Herrn selbst, dienen. Natürlich ist von einem solchen Verhältnis hier nicht
die Rede. Aber es gibt eine andere Seite, wo ein Knecht seiner Herrschaft, oder im allgemeinen ein Christ anderen Menschen gegenüber menschengefällig sein kann, wo sein Dienst
nur aus Ruhmsucht und Eitelkeit vor den Augen der Menschen ausgeübt wird — also nichts als Augendienerei ist —
und wobei man so weit gehen kann, daß man in den Dingen
unterwürfig ist, die dem Herrn mißfallen und seinen Namen
entehren. In einem solchen Zustand hat man vergessen, daß
weder der eigene Wille, noch der Wille des Menschen, sondern nur der Wille des Herrn die einzige Triebfeder unseres
Tuns sein darf. Es ist in der Tat die höchste Zierde des
Christen, den Willen Gottes zu erkennen und ihm unterwürfig zu sein; und in dieser Hinsicht werden wir ermahnt, zu
prüfen, welches der wohlgefällige Wille Gottes sei (Rö 12,1).
Gewiß sind wir berufen, bei unserem Wandel Rücksicht auf
die Menschen zu nehmen, und vor allem auf die Brüder, ihnen zu gefallen zum Guten, zur Erbauung (Rö 15, 2), nicht
das Unsere zu suchen, sondern was des anderen ist (1. Kor
10, 24), und alles zu erwägen, was „eine Tugend ist oder eine
Lob gibt" (Phil 4, 8), aber die Verherrlichung des Namens
Gottes, und nicht unsere eigene Verherrlichung muß die einzige Triebfeder unseres Tuns und Handelns sein. In diesem
allen hat unser Herr uns ein Vorbild hinterlassen. Er, der
Schöpfer aller Dinge, nahm den Platz eines gehorsamen Knechtes auf dieser Erde ein. Wie abhängig von dem Willen des Vaters nahm Er Seinen Lauf, indem Er nicht Seinen Willen tat,
sondern den Willen Dessen, Der Ihn gesandt hatte (Joh 5,
30)! Von diesem Pfade einer vollzähligen Unterwürfigkeit
wich Er nicht um Haaresbreite ab.
Der Wille des Vaters war, daß Er Sein Leben für Seine
Feinde hingeben sollte. Wie versuchungsreich, wie dornenvoll,
wie demütigend, wie schmerzlich und mit wieviel Verleugnung verbunden war der Weg, der zu diesem Ziel führte! Er
rchtete Sein Angesicht nach Jerusalem im vollen Bewußtsein
dessen, was dort auf Ihn wartete; und weder die List Satans,
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noch die Bosheit der Menschen, noch die Schwachheit Seiner
Jünger, noch das Kreuz mit seinen Schrecken und der Stunde
der Finsternis — nichts war imstande, Seinen Lauf zu hemmen. Er war gekommen, den Willen des Vaters zu tun und
gehorsam zu sein bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz;
und er konnte sagen: „Darum liebt mich der Vater, weil
ich mein Leben lasse . . . Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen" (Joh 10). Den Pfad solcher Leiden,
deren Größe wir nicht ermessen können, wandelte Er völlig
dem Willen Seines Vaters unterworfen bis ans Ende. Hätte
Er auch nur einen Augenblick Sein Joch und Seine Last abgeschüttelt, so wäre das ewige Heil unserer Seele unmöglich
geworden. Aber gepriesen sei Sein heiliger Name! Er hemmte Seine Schritte nicht, Er erreichte das Ziel Seines dornenvollen Pfades, nahm willig den Kelch aus der Hand Seines
Vaters und harrte aus unter der Machtentfaltung Satans und
unter dem Zorn Gottes, bis Er ausrufen konnte: „Es ist vollbracht"!
Wieviel leichter ist doch unser Weg! Wenn Er, der erniedrigte Heiland, der Stärkung der Engel bedurfte, so ist Er, das
verherrlichte Haupt der Seinigen, jetzt Selbst unsere Stärke
und unsere Kraft. Er, Der in eigener Person die Bitterkeiten
und Schwierigkeiten dieses Lebens durchgemacht und sie daher
kennengelernt hat, trägt jetzt für uns das innigste Mitgefühl
in Seinem Herzen und leitet uns mit Seiner mächtigen Hand.
Er läßt die Versuchungen einen solchen Ausgang finden, daß
wir sie ertragen können; und während E r einem bis dahin
unbesiegbaren Feind gegenüber stehen mußte, haben wir es
mit Feinden zu tun, die schon besiegt worden sind durch die
Kraft, die in uns ist, d. i. die Kraft Christi.
Doch kehren wir zurück zu der Wahrheit, daß wir Sein erworbenes Eigentum sind. Ja, Ihm allein gehören wir an, und
„er ist für alle gestorben, auf daß die, welche leben, nicht
mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben
ist und ist auferweckt worden" (2. Kor 5, 15). Wie lohnend
ist es, sich mit Selbstverleugnung dem Herrn zu übergeben,
dem Fleisch, der Natur keine Rechte mehr einzuräumen,
willenlos auf den Wegen Gottes zu wandeln, sich dem alten
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Menschen nach für gekreuzigt und tot zu halten und als ein
neuer göttlicher Mensch zu. wandeln, und zwar zur Verherrlichung Dessen, der uns mit Seinem Blut erkauft hat! Wahrlich, in dem Herrn Jesus ist uns kein geringes Muster vor
Augen gestellt. Er hat uns ganz erworben, und ganz sollte
unser Leben Ihm gewidmet sein.
Geliebte Brüder! Wenn wir unserem eigenen Willen folgen
und unsere eigenen Wege gehen, dann zeigen wir, daß das
Bewußtsein, daß wir nicht mehr uns selbst angehören, nicht
in unseren Seelen lebendig ist. Wie gesegnet wäre es, mit
ganzem Herzen diesen Boden zu betreten, wo unser eigener
Wille durchaus keine Geltung hat und wo nur ein Beweggrund für unseren Wandel Platz findet, nämlich den Willen
Dessen zu tun, Der uns für Sich erworben hat. Wir wissen
sehr wohl, daß wir von Natur zu allem Guten unfähig sind
und daß unser eigener Wille, der Wille unseres Fleisches,
stets irreführen wird. Laßt uns daher nicht leichtfertig vorangehen, laßt uns nicht den Plänen und Meinungen unseres
trügerischen Herzens folgen, ohne stillzustehen und zu untersuchen, ob der Weg, den wir einschlagen, dem Willen des
Herrn wohlgefällig ist!
Möchte der Herr uns in Seiner Gnade das Verständnis geben, daß es nur einen einzigen gesegneten Platz auf dieser
Erde für uns gibt, nämlich Seinen Willen zu erkennen und
zu tun. Dieser Pfad schließt das Fleisch völlig aus.
„Wir sehen aber Jesum"
Es ist sehr gesegnet, stets die geeigneten Gedanken und Gefühle in bezug auf die göttlichen Dinge zu haben, aber die
Frage ist: Wie erlangen und wie bewahren wir sie? Wie wir
wissen, ist der gesetzliche Geist dazu außerstande; er „gebiert
zur Knechtschaft". Das Gesetz macht niemanden glücklich,
denn selbst in dem Fall, daß wir es vollkommen halten können, hätten wir doch nur unsere Pflicht getan; wenn wir es
aber im Geringsten übertreten, sind wir der Strafe verfallen.
Eine Seele, die mit ihren Gefühlen beschäftigt ist, befindet
sich in einer noch übleren Lage, denn sie steht unter der
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Herrschaft ihrer Gefühle, und diese schlagen oft eine verwerfliche Richtung ein, da sie dem Wechsel unterworfen
sind.
Aber wie anders ist es, wenn das Herz durch das Werk
Christi in der Gegenwart Gottes in Freiheit gesetzt ist! Es ist
dann wirklich frei und steht über der Herrschaft seiner Gefühle; es kostet zum ersten Mal die Süßigkeit eines vollkommenen Friedens, sowie die Freude, die unaussprechlich und
voll von Herrlichkeit ist. Wenn wir Christus als den Auferstandenen im Himmel anerkennen und unser Auge unverrückt auf Ihm gerichtet ist, dann werden wir Gedanken und
Gefühle haben, die Seiner Stellung droben entsprechen; und
diese Gedanken und Gefühle werden in dem Maße beständig
sein, als das Anschauen Seines Angesichtes von unerer Seite
nicht unterbrochen oder vernachlässigt wird. Dann werden
wir sowohl die himmlischen als auch die irdischen Dinge so
beurteilen, wie Christus Selbst sie beurteilt. Wenn das Auge
einfältig ist, wird alles in seinem wahren Licht gesehen.
„Jetzt aber", sagt der Apostel", sehen wir ihm noch nicht
alles unterworfen. Wir sehen aber Jesum, der ein wenig unter die Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigt war,
mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt" (Hebr 2, 8. 9).
Hier stellt der Apostel uns zweierlei vor Augen: das was wir
sehen und das was wir nicht sehen. Wir schauen zur Erde
und sehen dort noch nicht alles Christo unterworfen; wir
blicken gen Himmel und sehen Ihn dort in Macht und Herrlichkeit. Aber in der Erkenntnis und dem Genuß Christi, des
Auferstandenen, betrachtet der Glaube den Schauplatz auf
der Erde stets in seinem Verhältnis zu Dem, Der droben ist.
Wenn wir in der unmittelbaren Nähe Jesu sind, dann schärft
Er unser Auge. Dann betrachten wir Menschen und Dinge
als für Ihn bestimmt. Nur in dieser Weise beurteilen wir die
irdischen Dinge richtig. Christus befindet Sich nicht auf den
glänzendsten Schauplätzen der Erde; dort sieht Ihn das Auge
nicht. Ich sehe um mich her das geschäftige, emsige Treiben
der Menschen, die sich ihrer neuen Erfindungen und Entdeckungen rühmen und sich den Vergnügungen der Welt in
die Arme stürzen; aber alles ist eitel und nichtig. Man mag die
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Herrlichkeiten aller Nationen, Sprachen und Völker an einem
Punkt vereinigen, so daß das Auge sie mit einem Mal überschauen kann, aber was ist das alles, wenn wir nicht Jesus
darin erblicken? Die blendendsten Erscheinungen verblassen
für das Auge des Glaubens, denn der Gedanke an die Abwesenheit des Herrn dämpft den größten Glanz.
Aber ach, es ist nicht immer so. Es geschieht leider oft, daß
Christen sich mit ihrem Herzen soweit von Christus entfernt
haben, daß sie gänzlich fortgerissen werden von den Beschäftigungen dieses Lebens und daß einige von ihnen sogar
teilnehmen an den armseligen, nichtigen, mit Flitterwerk gezierten Schaugeprängen der Eitelkeit dieser Welt. Was könnte beklagenswerter sein? Sie haben vergessen, daß alles diesseits der Auferstehung den tief eingegrabenen Stempe l
d e s Tode s trägt. Ein so trauriges Betragen beweist sicher, daß das Herz sich, schon längst von Christus entfernt
hat und vielleicht von Sünden verunreinigt ist. Denn ein solcher Zustand tritt nicht plötzlich ein, sondern diesen Höhepunkt eines schlechten Wandels erreicht man Schritt für
Schritt; und die erste geringste Untreue ist der erste Schritt
in dieser Richtung.
Selbst der natürliche Mensch wird anerkennen müssen, daß
all dieser Glanz menschlicher Eitelkeit und alles, wonach das
Herz trachtet, nicht imstande ist, ihm ein dauerndes Glück
zu verschaffen und die fortdauernde Unruhe seiner Seele zu
stillen. Aber nach dem Urteil des Glaubens ist alles, worin
Christus nicht zu finden ist, eitel und leer; und es ist doch
offenbar, daß in allen Herrlichkeiten dieser Welt nirgends
Seine Hand zu entdecken ist. Denn dies alles ist Ihm noch
nicht unterworfen und zeigt daher noch nicht den geringsten
Widerschein Seiner Herrlichkeit. Wir sollten daher bei allem,
was uns anziehen will, die Frage erheben: Wem ist es unterworfen, und von wessen Herrlichkeit ist es der Widerschein?
Der Glaube wird dann immer die Antwort bereit haben: Was
nicht vom Vater ist, ist von der Welt, und was nicht von
Christus ist, ist von Satan, und was nicht vom Geist ist, das
ist vom Fleisch. „Jetzt aber sehen wir ihm noch nicht alles
unterworfen".
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Wir brauchen nur noch „ein Kleines" zu warten, und der „zukünftige Erdkreis" wird dem Sohn des Menschen unterworfen sein. Unter dem Ausdruck „zukünftiger Erdkreis" ist
nicht, wie im allgemeinen angenommen wird, der Himmel
und die Hölle zu verstehen, sondern vielmehr die zukünftige
Periode in dieser Welt, oder das tausendjährige Reich. Wir
können nicht von einem „zukünftigen" Himmel und einer
„zukünftigen" Hölle sprechen, weil beides jetz t schon besteht. Aber wir wissen alle, daß das tausendjährige Reich —
jene Zeit, in der Christus über die Himmel und die Erde, die
in Ihm als unter einem Haupt zusammengefaßt sein werden,
herrschen wird — zukünftig ist. Dann wird es ganz am
Platze sein, daß der Gläubige sich an der Welt in all ihrer
Herrlichkeit erfreut und mit der ganzen Wonne seines Herzens ihre Segnungen genießt. Dann wird der Name des Herrn
auf der ganzen Erde herrlich, und Seine Majestät über die
Himmel gesetzt sein (Ps. 8). Bis dahin aber muß er die Welt
als Pilger und Fremdling durchschreiten. Unser Bürgerrecht
ist im Himmel; wir können nicht Bürger des Himmels und
zu gleicher Zeit Bürger der Erde sein. Ehemals waren wir
Bürger dieser Welt, jetzt aber sind wir Bürger des Himmels
und sollen solange unsere Füße diese Welt durchschreiten,
als solche wandeln. Wir gehören nicht mehr der alten Welt
an, aus welcher uns der Herr auserwählt hat, sondern sind
Bürger der neuen Welt, in d<e Er uns bringen will. Welch
ein Zeugnis hat uns der Heilige Geist von den wandernden
Erzvätern bewahrt, von denen wir lesen: „Und wenn sie an
jenes (Vaterland) gedacht hätten, von welchem sie ausgegangen waren, so hätten sie Zeit gehabt zurückzukehren. Jetzt
aber trachten sie nach einem besseren, das ist himmlischen.
Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott genannt zu
werden, denn er hat ihnen eine Stadt bereitet" (Hebr 11, 15.
16). Welch ein herrliches Zeugnis geben uns diese Pilger!
Glückselig der Gläubige, wenn der Herr Sich des Platzes
nicht schämt, den der Gläubige in der Welt — oder vielmehr
außer ihr — einnimmt!
Richten wir jetzt unsere Blicke auf den zweiten Gegenstand
unserer Betrachtung, nämlich auf das wa s wi r sehen .
47
„Wir sehen aber Jesum". Das ist wichtiger als das zukünftige
tausendjährige Reich.
Er, der unsere Sünden auf dem Kreuze trug, Der um unsertwillen ein wenig unter die Engel erniedrigt wurde, ist mit
Herrlichkeit und Ehre gekrönt auf dem Throne. Was könnte
anziehender sein für das Herz, das in dieser Welt nichts findet, was Wert genug besäße, um sich damit zu beschäftigen?
Könnte ein deutlicherer Beweis geliefert werden für die
Wahrheit, daß unsere Sünden für ewig weggenommen sind?
Das sollte für uns die vollständige Antwort auf jede Frage,
die vollkommene Ruhe des Herzens und die lebendige Triebfeder und Quelle unserer Freude und Anbetung sein. Der
erste Schimmer von Jesu, des mit Ehre und Herrlichkeit gekrönten Herrn und Heilandes, sollte genügen, um das Herz
für immer von einer Welt zu trennen, die Ihn verworfen und
gekreuzigt hat, und es praktisch innig mit dem zu vereinigen, was droben im Himmel ist. Der schwächste Strahl, der
von dieser Herrlichkeit ausgeht, ist geeignet, die Gedanken
und Gefühle des Herzens zu verändern und sie auf Den hinzulenken, Der droben ist. Alles was der Liebe würdig ist, ist
droben — alles was uns anzieht, befindet sich droben. Die
Beschäftigung mit diesen Dingen ist das einzige Mittel und
der einzige Weg zu einer himmlischen Gesinnung. Unser
geistlicher Zustand hängt ganz davon ab, ob wir „Jesus . . .
mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt" sehen.
Freilich gibt es vieles, sehr vieles auf der Erde, was wir lieben
und hochschätzen, und vielleicht mögen viele zarte Bande
und Verhältnisse da sein, die wir pflegen und unterhalten.
Aber vergessen wir nicht, daß wir alles im Licht des auferstandenen Jesus zu beurteilen haben. Jeder Gegenstand, der
mich anzieht, sollte stets die Frage in mir hervorrufen: Geziemen sich solche Neigungen mir, dem mit Jesus Verbundenen? Ach, leider gibt es bei den meisten Gläubigen nichts,
was weniger verwirklicht wird, als unser Auferste -
hungsleben .
Stets sollte das lebendige Bewußtsein in unseren Herzen
wohnen, daß, als Christus starb, auch wir in Ihm gestorben
sind und daß wir durch Seinen Tod die alte Welt verlassen
48
haben. „Ich bin mit Christo gekreuzigt", sagt der Apostel;
„nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2,
20). Aber ebenso sollte uns der Gedanke begleiten, daß
wir in Christo wieder auferstanden und in der Macht des
Auferstehungslebens in die neue Schöpfung eingetreten sind.
„Gott aber . . . hat uns mit dem Christus lebendig gemacht
. . . und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den
himmlischen örtern in Christo Jesu" (Eph 2, 4-6). Wir sind
also, wie uns gesagt wird, „in Christo Jesu"; und wenn wir
in Ihm sind, so müssen wir auch sein wo Er ist. Das natürliche Herz ist unfähig, in das Verständnis solcher Wahrheiten
e
;
nzudringen, aber der Glaube findet darin kleine Schwierigkeit. Der Glaube betrachtet die Dinge stets so wie Gott sie
betrachtet.
Was sehen wir, wenn wir unsere Blicke auf den mit Ehre und
Herrlichkeit gekrönten Jesus richten? Gar vieles; wir sehen
dort unseren Platz und unser Bild in Ihm. Wie einfach und
doch von welcher Tragweite ist das. Hier ist der Platz, an dem
der Glaube die ihm eigentümliche Macht und Tätigkeit entfaltet. Christus ist der göttliche Ausdruck, die vollkommene
Erklärung der Stellung jedes Christen in der Gegenwart
Gottes. Welch eine herrliche Wahrheit ist das, und welche
Macht übt sie aus, wenn sie mit einem geistlich gesinnten
Herzen aufgenommen und in Gemeinschaft mit dem Herrn
genossen wird! Je mehr wir Ihn anschauen, desto fester und
dauernder richtet sich der Blick auf Ihn, und desto mehr tragen unsere Gedanken und Gefühle einen himmlischen Ausdruck zur Schau. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht
die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt
in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch
den Herrn, den Geist" (2. Kor 3, 18). Das ist der einzige
Weg zu einer geistlichen Gesinnung, der einzige Pfad zu
wahrer Glückseligkeit, der einzige Grund einer dem Himmelsbürger geziemenden Anbetung und die einzige Quelle
einer fortdauernden Freude im Herrn.
Hier ist der Ruhepunkt für jede niedergebeugte Seele. Darum
laßt uns inmitten des Bösen, das uns umgibt und das uns
laut bezeugt, daß dem Herrn Jesus noch nicht alles unter49
worfen ist, unverwandt unsere Blicke auf Den richten, Der
einst ein wenig unter die Engel erniedrigt war, jetzt aber mit
Herrlichkeit und Ehre gekrönt auf dem Thron zur Rechten
der Majestät in der Höhe sitzt. Dort droben bei Ihm ist alles
in Ordnung. Und welch eine wunderbare köstliche Wahrheit,
daß es mit Ihm nicht anders ist als mit uns, obwohl wir noch
nicht in Wirklichkeit die glückselige Stätte unserer Heimat
droben erreicht haben. Aber „wie er ist, so sind auch wir in
dieser Welt". Sein Titel ist der unsrige. Wenn wir unverwandt unsere Blicke auf Ihn gerichtet haben, dann schreitet
der Fuß sicher über die dornenreichen Pfade dieser Wüste.
Dann gibt es kein Schwanken, kein Straucheln; für den Glauben ist der Weg stets gebahnt, und alle Dornen sind niedergetreten, alle Tiefen ausgefüllt, alle Klippen weggeräumt.
Darum, wie oft auch unser Auge durch das Umherspähen
nach unwürdigen Gegenständen unser Herz verleitet haben
mag, so laßt uns doch von jetzt an unsere Blicke unverwandt
auf das freundliche Angesicht Jesu richten, und unser Herz
wird mit Freude, Trost und Kraft erfüllt sein. Es bleibt eine
unumstößliche Wahrheit, daß der Gegenstand, der das Auge
fesselt, immer seinen Einfluß auf das Herz ausüben wird.
Ist der Gegenstand unseres Blickes nicht würdig, dann wird
der kämpfende Arm entkräftet, der pilgernde Fuß gelähmt
und das Zeugnis ohne Wirkung bleiben.
„Wie er ist, so sind auch wir in diese Welt". Wie klar bezeichnet dieser Ausdruck unsere Stellung! Und dieses Wort
bleibt Wahrheit immer und ewiglich, denn es ist das Wort
Gottes. Könnte unsere ewige und lebendige Vereinigung mit
Christus deutlicher ausgedrückt werden? Gewiß nicht. Der
Heilige Geist Selbst versichert uns, daß, gerade so wie Christus ist inmitten der Herrlichkeit und der Segnungen des
Himmels, auch wir sind in den Augen Gottes, obgleich wir
noch in großer Schwachheit durch eine Welt pilgern, in der
Sünde, Tod und Gericht noch nicht aufgehoben sind. Wie
reich ist doch die Gnade! Und alles ist das Werk Dessen,
Der ein wenig unter die Engel erniedrigt, nun aber mit Ehre
und Herrlichkeit gekrönt worden ist. Wie ermutigend sind
daher die Worte des Apostels, wenn er unbekümmert um
50
das was ihn in dieser Welt des Verfalls umgibt, die Worte
ausruft: „Wir sehen aber Jesum, der ein wenig unter die
Engel erniedrigt war wegen des Leides des Todes, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt"! Ja, wir sehen Jesus, und in Ihm
unseren Platz und unser Bild. Lassen wir, geliebte Brüder,
uns doch nicht dieser vom Himmel herabströmenden Segnung
berauben, wie schwach wir uns auch in uns selbst fühlen,
und wie vielfachen Versuchungen wir auch ausgesetzt sein
mögen!
O möchten wir doch stets mit Ruhe, mit Zuversicht, mit
Ausharren und einem glücklichen Herzen unseren geliebten
mit Ehre und Herrlichkeit gekrönten Herrn anschauen! Möchten wir uns doch auch daran erinnern, daß wir, wenn wir Ihn
in Seiner Herrlichkeit und Schönheit schauen, in gewissem
Sinne uns selbst sehen"! Wie der Himmlische (ist) so auch
die Himmlischen (1. Kor 15, 48). Die beiden Stellen, bei
denen wir verweilt haben, sind in der Tat geeignet und dazu
bestimmt, unsere Seele zu. stärken und mit Dank und Anbetung zu erfüllen. Christus ist Herrlichkeit für das Auge, und
das Wort Christi für das Herz. Hätte der auf dem Meere
wandelnde Petrus sein Auge auf die Person Christi, und sein
Herz auf das Wort Christi: „Komm!" gerichtet, so würde
er im Sturm so sicher über die Wellen geschritten sein, wie
der Herr Jesus Selbst.
Was ist ein Bund?
Ein Bund ist eine Feststellung der Beziehungen Gottes zur
Erde. Er enthält die von Gott bestimmten Bedingungen, unter denen der Mensch mit Gott leben kann. Gott machte
mit Israel einen Bund; aber genau ausgedrückt gibt es einen
alten und einen neuen Bund zwischen Gott und Seinem Volk
Israel. Der alte Bund wurde auf Sinai gestiftet. Auch der neue
Bund ist mit den beiden Häusern Israels aufgerichtet. Das
Evangelium dagegen ist kein Bund, sondern die Offenbarung
des Heiles Gottes. Es verkündigt die große Errettung. Die
Gläubigen sind daher nicht, wie sie mitunter bezeichnet wer51
den, ein Bundesvolk. Sie bilden weder den alten noch den
neuen Bund. Sie erfreuen sich zwar in Wirklichkeit aller wesentlichen Vorteile und Segnungen des neuen Bundes, dessen
Grundlage von Gott ist, aber sie genießen diese Vorteile im
Geiste und nicht nach dem Buchstaben. Der neue Bund wird
förmlich mit Israel errichtet werden, und zwar im tausendjährigen Reich.
Vernunft und Offenbarung
In dem Bewußtsein des Ernstes der gegenwärtigen Zeit und
im Blick auf die Gefahr, die der Pfad des Christen auf allen
Seiten zeigt, legen wir unseren Lesern die unendliche Bedeutung des Wortes Gottes ans Herz und ermahnen sie, sich
in allen Dingen seiner heiligen Autorität zu unterwerfen.
Durch allerlei Schriften ist Satan bemüht, die Grundlagen
unseres allerheiligsten Glaubens zu erschüttern und dem
Unglauben, der augenscheinlich bald die ganze zivilisierte
Welt verfinstern wird, die Wege zu bahnen; und es ist sicher
ein entsetzlicher Gedanke, daß selbst Lehrer und Prediger in
der Christenheit oft am stärksten bemüht sind, gottlose
Hände an die Pfeiler zu legen, auf denen das Christentum
ruht. Möge der Herr Sich ihrer erbarmen und ihnen die
Augen öffnen, um ihre Torheit und Sünde zu erkennen und
ihre Zuflucht zu nehmen zu dem kostbaren Blut, das von
aller Sünde reinigt.
Man sät ein Unkraut, das bald schrecklich wuchern wird. Man
bemüht sich unaufhörlich, alles Göttliche und Heilige auf die
Waagschale der irrenden und blinden menschlichen Vernunft
zu legen, die Offenbarung in den Staub herabzuziehen, die
Vernunft zu erheben und, mit einem Wort, Gott und Sein
Wort auszuschließen. Ja, geliebter Leser, die Anstrengungen
des Feindes gehen dahin, Gott auszuschließen und die Offenbarung Gottes beiseite zu setzen, und je mehr ihm dieses
gelingt, desto mehr ist er imstande, die Menschen nach seinem Willen zu leiten.
52
Wir bekennen, daß wir vor diesen Erscheinungen zittern und
uns fragen, wie dies alles enden wird. Soll man auf Sein
Wort nicht achten, weil es über das Verständnis der menschlichen Vernunft hinausgeht? Gott sei gepriesen, daß Er das,
was den Klugen und Weisen verborgen ist, den Unmündigen
geoffenbart hat, und daß das Kreuz Christi zwar der Vernunft eine Torheit, aber uns, die wir glauben, eine Gotteskraft ist.
Möge der Herr die Seinigen in diesen schrecklichen, gefährlichen Zeiten bewahren! Möge Er unsere Herzen den Ernst
des gegenwärtigen Augenblicks fühlen und erkennen lassen,
und uns eine völlige Unterwürfigkeit unter Sein kostbares
Blut schenken! Dann, und nur dann werden wir vor jedem
Einfluß des Feindes bewahrt bleiben. Dann werden wir nicht
auf die Spöttelei des Zweiflers und auf die Beweise des Ungläubigen achten. Dann werden wir wissen, woher solche Dinge kommen und wohin sie führen. Christus wird unser gesegnetes Teil, Sein Wort unseres Fuße Leuchte, Sein Geist unser
Führer, und Seine Wiederkunft die Hoffnung unserer Herzen
sein.
Es ist in der Tat einer der höchsten Beweise menschlicher
Anmaßung, das Wort Gottes der Vernunft des Menschen unterbreiten zu wollen. Wer gab die Vernunft, und wer gab
die Offenbarung? Ist nicht Gott die Quelle von beiden? Die
menschliche Vernunft hat die Bestimmung, sich in ihrer Tätigkeit durch die göttliche Offenbarung gefangennehmen und
leiten zu lassen. Hat sie es getan? Nein, die Sünde hat den
Menschen nicht nur unglücklich gemacht, sondern ihn auch
verblendet und des Lichtes beraubt, um geistliche Dinge
geistlich beurteilen zu können. Es bleibt eine unerschütterliche Wahrheit, daß „der natürliche Mensch nicht annimmt,
was des Geistes Gottes ist; denn es ist ihm eine Torheit und
er kann es nicht erkennen". Ist es daher nicht ein Zeichen
großer Anmaßung, die durch die Sünde verderbte und von
Satan ganz und gar beeinflußte Vernunft als Richterin dessen
anzuerkennen, was Gott in Seinem Wort geoffenbart hat?
Begreift die Vernunft die Schöpfung? Keineswegs. „Durch
den Glauben verstehen wir, daß die Welten durch Gottes
53
Wort bereitet sind, so daß das was man sieht, nicht aus Erscheinendem geworden ist" (Hebr 11, 3). Die menschliche
Vernunft, vom Unglauben geleitet, kann nur sagen: „Das
nehme ich nicht an!" aber sie kann nicht mit überzeugender
Gewißheit sagen: „Die Sache verhält sich so oder so!" Sie
kann nur die Wahrheit leugnen, aber nichts an ihre Stelle
setzen. — Begreift sie die Erlösung? Keineswegs. Nur der
Glaube erkennt in Jesus, dem Gekreuzigten, das wahre Opferlamm. Die Vernunft kann nur dieses Werk leugnen, aber
nichts an seine Stelle setzen, was dem Herzen Ruhe und Friede geben kann. Wie armselig ist die menschliche Vernunft,
und wie töricht der Mensch, der unter Hintansetzung der
göttlichen Offenbarung dem was die Vernunft über göttliche
Dinge sagt, vertraut!
Möge der Herr Sich unser erbarmen und uns fähig machen,
Seine Offenbarung zu verstehen und Seinem Wort unter
allen Umständen unterwürfig zu sein!
Die Berufung der Braut
(1. Mose 24)
In Abraham, dem Empfänger der den Erzvätern gegebenen
Verheißungen Gottes, finden wir die Grundprinzipien des
Gläubigen. Als Abraham seinen Sohn opfert und wieder
empfängt, gibt er uns das Vorbild der Auferstehung Jesu,
Der wie Isaak Erbe aller Güter Seines Vaters ist. Rebekka
ist als Vorbild der Versammlung berufen, die Braut des auferstandenen Isaak zu werden. Später haben wir in Jakob die
vorbildliche Geschichte des jüdischen Volkes.
In Sara stellt uns Gott den Grundsatz der Verbindung des
Menschen mit der unvermischten Gnade ohne Gesetz vor
Augen, während Hagar als ein Bild des dazwischentretenden
Gesetzes eingeführt wird. Isaak, im Gleichnis aus den Toten
auferstanden, zeigt uns Christus als das Haupt, Der Sein
Werk vollbracht hat und Sich in der Stellung befindet, in der
Er alle Ergebnisse der göttlichen Ratschlüsse offenbaren kann.
In dem vorliegenden Kapitel sehen wir, wie Abraham seinen
54
Knecht Elieser aussendet, um für Isaak eine Braut zu suchen — ein deutliches Vorbild auf den Heiligen Geist, Der
vom Vater ausgesandt ist, um für Jesus die Versammlung,
„die Braut, das Weib des Lammes", zu suchen. Nicht Isaak
holt sich eine Frau, wie auch Christus nicht noch einmal auf
die Erde kommen wird, um Sich eine Versammlung zu erwählen. Rebekka muß ihre Heimat verlassen und in das Land
der Verheißung kommen. Dieses Kapitel zeigt uns also die
Wirksamkeit des Heiligen Geistes und die Art und Weise,
wie eine Seele unter seine Leitung kommt und unter ihr geleitet wird. Beides werden wir in Elieser und Rebekka finden.
„Und Abraham war alt, wohlbetagt, und Jehova hatte Abraham gesegnet in allem. Und Abraham sprach zu seinem
Knechte, dem ältesten seines Hauses, der alles verwaltete,
was er hatte: Lege doch deine Hand unter meine Hüfte, und
ich werde dich schwören lassen bei Jehova, dem Gott des
Himmels und dem Gott der Erde, daß du meinem Sohne nicht
ein Weib nehmen wirst von den Töchtern der Kanaaniter,
in deren Mitte ich wohne, sondern in mein Land und zu, meiner Verwandtschaft sollst du gehen und ein Weib nehmen
meinem Sohne Isaak" (Verse 1-4).
Wir sehen hier in Elieser den Verwalter aller Güter seines
Herrn; aber nicht er, sondern der Sohn ist der Erbe. In gleicher Weise verfügt der Heilige Geist über alles; 6r nimmt
die Dinge Christi und teilt sie uns, d. i. der Versammlung
mit (Joh 16, 13-16).
„Und der Knecht sprach: Vielleicht wird das Weib mir nicht
in dieses Land folgen wollen; soll ich dann deinen Sohn in
das Land zurückbringen, aus welchem du weggezogen bist?
Da sprach Abraham zu ihm: Hüte dich, daß du meinen Sohn
nicht dorthin zurückbringest!" (V. 5-6).
Unmöglich kann irgendeine Verbindung zwischen Christus
und der Welt bestehen. Isaak holte Rebekka nicht; sie muß
kommen, und zu diesem Zweck gibt Abraham dem Knecht
seine Befehle. Anstatt weitere Fragen zu stellen, macht sich
der Diener bereit und begibt sich auf den Weg nach Mesopotamien, nach der Stadt Nahors, ohne weitere Befehle emp55
fangen zu haben (V. 10 ff). Ebenso müssen auch wir uns
vor allem durch das Wort Gottes leiten lassen. Der natürliche
Verstand kann sich bis auf einen gewissen Punkt ein Urteil
bilden, aber auf diese Weise entfernt die Seele sich aus der
Gegenwart Gottes, selbst wenn wir Dinge tun, die nach Seinem Willen sind. Wenn wir anfangen zu überlegen, kommt
Unschlüssigkeit; wir beraten uns mit Fleisch und Blut. Das
erste was wir zu tun haben ist, uns in die Gegenwar t
Gotte s zu stellen. Woanders ist weder Weisheit noch
Kraft. Wenn wir aber auf diesem Segenspfad wandeln, dann
empfangen wir von Gott die nötige Einsicht. Das beweist
uns die Reise des Knechtes Abrahams.
Elieser betet: „Jehova, Gott meines Herrn Abraham" (V. 12)!
Das ist bemerkenswert. Er sagt nicht: „Mein Gott!" Die Verheißungen waren dem Abraham gegeben, und Gott hatte
Sich als der Gott Abrahams geoffenbart. Der Knecht zeigt sich
hier in gänzlicher Abhängigkeit; wir finden ihn auf dem Wege der Verheißungen als einen, der sich nicht erhebt, sondern
gemäß den Ratschlüssen Gottes in völliger Abhängigkeit
handelnd, nur da seinen Wanderstab ruhen läßt, wo Gott die
Segnungen verordnet hatte; denn die Verheißungen waren
Abraham gegeben worden. — Für uns ist jede Segnung in
Christo, dort finden wir Antwort auf unsere Bitten. Daher
wünschen wir nicht anderswo etwas zu erlangen als da wo
Gott Seine Segnungen verordnet hat, das heißt nuj auf dem
Wege des Glaubensgehorsams.
Elieser wendet sich an den Gott Abrahams seines Herrn, und
bittet Ihn, an seinem Herrn Dankbarkeit zu üben. Er sagt:
„Jehova, Gott meines Herrn Abraham, laß es mir doch
heute begegnen, und erweise Güte an meinem Herrn Abraham! Siehe, ich stehe bei der Wasserquelle, und die Töchter
der Leute der Stadt kommen heraus, um Wasser zu. schöpfen;
möge es nun geschehen, daß das Mädchen, zu dem ich sagen
werde: Neige doch deinen Krug, daß ich trinke, und welches
sagen wird: Trinke, und auch die Kamele will ich tränken,
diejenige sei, welche du für deinen Knecht, für Isaak, bestimmt hast; und daran werde ich erkennen, daß du. Güte an
meinem Herrn erwiesen hast" (V. 12-14).
56
Elieser läßt Gott handeln, und er will sehen, was Er tut. Ein
herrliches Beispiel für uns! Gott will handeln, und wir können zusehen.
„Und es geschah, er hatte noch nicht ausgeredet, siehe, da
kam Rebekka heraus, die dem Bethuel geboren worden, dem
Sohne der Milka, des Weibes Nahors, des Bruders Abrahams,
mit ihrem Kruge auf ihrer Schulter. Und das Mädchen war
sehr schön von Ansehen, eine Jungfrau, und kein Mann hatte
sie erkannt; und sie stieg zur Quelle hinab und füllte ihren
Krug und stieg wieder herauf. Und der Knecht lief ihr entgegen und sprach: Laß mich doch ein wenig Wasser aus deinem
Kruge schlürfen. Und sie sprach: Trinke, mein Herr. Und
eilends ließ sie ihren Krug auf ihre Hand hernieder und gab
ihm zu trinken. Und als sie ihm genug zu trinken gegeben
hatte, sprach sie: Ich will auch für deine Kamele schöpfen,
bis sie genug getrunken haben. Und sie eilte und goß ihren
Krug aus in die Tränke und lief abermals zum Brunnen, um
zu schöpfen; und sie schöpfte für alle seine Kamele. Und der
Mann sah ihr staunend zu und schwieg" (V. 15-21).
Woher kam es, daß Elieser, nachdem sein Gebet eine solche
Antwort erhalten hatte, schwieg und nicht alsbald sein Vorhaben ausführte? Die Ursache ist für uns alle höchst bemerkenswert. Wie immer die Hand Gottes sich offenbaren mag,
so gibt es doch im Worte Gottes eine ausdrückliche Regel,
auf die der Christ immer achten soll und die er auf Grund
der Schwachheit, das was Gott ist zu unterscheiden, nicht
vernachlässigen darf. Der Glaube sieht auf die Macht Gottes,
aber er beurteilt alle Dinge nach dem Wort Gottes, denn
Gott kann nicht anders als Seinem Worte gemäß handeln,
und der Knecht, der mit Ihm in Gemeinschaft steht, muß dieselben Pfade einschlagen. Wenn auch Zeichen vorhanden sein
mögen, darf er doch in nicht s entscheiden, bevor der
Wille Gottes nach Seinem Wort ins Licht getreten ist. Er muß
sagen können: „Dies ist wirklich Got t gemäß" .
„Und es geschah, als die Kamele genug getrunken hatten, da
nahm der Mann einen goldenen Ring, ein halber Sekel sein
Gewicht, und zwei Spangen für ihre Arme, zehn Sekel Gold
ihr Gewicht; und er sprach: Wessen Tochter bist du? sage
57
mir's doch an. Ist im Hause deines Vaters Raum für uns zu
herbergen? Und sie sprach zu ihm: Ich bin die Tachter Bethuels, des Sohnes der Milka, den sie dem Nahor geboren hat.
Und sie sprach zu ihm: Sowohl Stroh als auch Futter ist bei
uns in Menge, auch Raum zu herbergen. Da verneigte sich
der Mann und warf sich nieder vor Jehova" (V. 22-26).
Gott hatte dem Wunsch Abrahams völlig entsprochen, und
Elieser ist überzeugt, daß er erhört worden ist. Ehe er aber
weitergeht, ja, ehe er die Schwelle des Hauses überschreitet,
beugt er sich zur Erde nieder und betet an; denn er erkennt,
daß Gott in dieser Sache gewirkt hat. Er sagt: „Gepriesen
sei Jehova, der Gott meines Herrn Abraham, der von seiner
Güte und seiner Wahrheit nicht abgelassen hat gegen meinen
Herrn! Mich hat Jehova geleitet auf den Weg zum Hause
der Brüder meines Herrn" (V. 27).
Das gleiche sehen wir bei Daniel. Er betet mit seinen Gefährten, und nachdem er die Offenbarung des Traumes empfangen
hat, geht er nicht sogleich zum König, wie dieser es befohlen
hatte, sondern preist zuerst Gott für die Offenbarung des
Traumes, die der König wissen wollte. So ist es immer, wenn
wir dem Herrn den Ihm gebührenden Platz in unseren Herzen eingeräumt haben. Wir fühlen dann, daß Er es ist, Der
wirkt, und wir danken Ihm.
„Und das Mädchen lief und berichtete die Dinge dem
Hause ihrer Mutter. Und Rebekka hatte einen Bruder; sein
Name war Laban; und Laban lief zu dem Manne hinaus,
zur Quelle. Und es geschah, als er den Ring sah und die
Spangen an den Armen seiner Schwester, und als er die
Worte seiner Schwester Rebekka hörte, welche sagte: Also
hat der Mann zu mir geredet, da kam er zu dem Manne; und
siehe, er stand bei den Kamelen, an der Quelle. Und er
sprach: Komm herein, Gesegneter Jehovas! warum stehst du
draußen? denn ich habe das Haus aufgeräumt, und Raum ist
für die Kamele" (V. 28-31).
Nachdem der Knecht Abrahams alle Umstände seiner Reise
bis zu dem Augenblick seiner Ankunft mitteilte, erkennen
Laban und Bethuel, daß die Sache von Jehova ausgegangen
58
ist, und sie sind gezwungen zu sagen: „Wir können dir nichts
sagen, weder Böses noch Gutes" (V. 50). So wird es immer
sein. Wenn wir in den Umständen unseres christlichen Lebens
in völliger Abhängigkeit von Gott handeln, wird Er unseren
Weg ebnen, und auf Grund dieser Abhängigkeit von Ihm, in
der wir leben, wird Er sogar unsere Feinde beschwichtigen.
„Ich habe Jehova stets vor mich gestellt; weil er zu meiner
Rechten ist, werde ich nicht wanken" (Ps 16, 8). Wenn ich
etwas von Gott erbeten habe, dann handle ich mit Zuversicht
in der Überzeugung, daß ich mich auf dem Wege Seines Willens befinde. Ich bin glücklich und zufrieden. Begegne ich
einer Schwierigkeit, so hält sie mich nicht auf. Sie ist nur ein
Hindernis, das der Glaube besiegen muß. Fehlt mir aber diese
Gewißheit, dann bin ich unentschieden und weiß nicht, was
ich tun soll. Dies kann eine Prüfung für meinen Glauben sein
oder auch eine Mahnung, das was ich gerade tun will, zu
unterlassen. Ich bin unschlüssig; selbst beim Vollbringen des
Willens Gottes bin ich ungewiß, ob es der Wille Gottes ist,
und wie könnte ich dabei glücklich sein? Bevor ich daher zu
handeln beginne, muß ich die Sicherheit haben, daß ich den
Willen Gottes tue.
Bemerken wir noch im Vorübergehen, daß Gott alles nach
den Wünschen Eliesers geschehen ließ. Das wird auch selbstverständlich bei allen der Fall sein, die ihre Freude im Herrn
finden. Alle Räder der Vorsehung Gottes bewegen sich auf
dem Wege Seines Willens, den ich zu tun versuche. Durch
das Wort gibt mir der Heilige Geist den Willen Gottes zu
erkennen, und das ist alles, was ich brauche. Gott läßt alle
Dinge zur Erfüllung Seines Willens mitwirken. Wenn wir
durch göttliches Verständnis geleitet dem Willen Gottes gemäß wandeln, dann hilft Er uns in der Erfüllung Seines Willens und Seiner Absichten. Wir brauchen dieses geistliche Unterscheidungsvermögen und ein beständiges Zunehmen in
aller Weisheit und geistlichem Verständnis. „Wenn nun dein
Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib licht sein". Vielleicht
weiß ich nicht, wohin mich mein Weg führen wird, aber ich
betrete diesen Weg, auf dem ich berufen bin zu wandeln und
überlasse Gott das Übrige. So machte es der Knecht Abra59
hams. Als er den Willen Gottes erkannt hatte, überschritt er
die Schwelle des Hauses.
„Und der Mann kam in das Haus; . . . und es wurde ihm zu
essen vorgesetzt; aber er sprach: Ich will nicht essen, bis ich
meine Worte geredet habe. Und er sprach: Rede" (V. 32. 33)'.
Welche Charakterfestigkeit finden wir bei diesem Diener!
Wie ganz anders ist es bei einem unentschlossenen Menschen! Ein solcher berät sich bald mit dem einen, bald mit
dem anderen, um zu wissen, wie er handeln soll. Und wenn
er den Wunsch hat, seinen eigenen Willen zu tun, dann wird
er diejenigen, die ebenso wenig Glauben haben wie er, um
Rat fragen. Paulus ging nicht mit Fleisch und Blut zu Rate
(Gal 1, 15ff). Er wußte, daß Christus ihn berufen hatte und
ging vorwärts. Von seinem Auftrag erfüllt, nimmt Elieser
die ihm vorgesetzte Speise nicht an. Er tut, was ihm aufgetragen worden ist. Eines der Geheimnisse im Leben eines
Christen ist, sobald er den Willen Gottes erkennt, den erhaltenen Auftrag auszuführen und dabei keinen Aufschub
zu dulden, selbst wenn es sich um die Befriedigung seiner
leiblichen Bedürfnisse handelt. Das ist die Wirkung und zugleich der Beweis der Wirksamkeit des Heiligen Geistes.
Elieser will sich seines Auftrages entledigen.
Und worum handelte es sich? Um das Interesse und die
Ehre Abrahams, seines Herrn. Abraham hatte ihm die Angelegenheiten seines Sohnes Isaak anvertraut. Ebenso hat Gott
u n s hier die Verherrlichung Seines Sohnes Jesus anvertraut, und durch den Heiligen Geist, Der uns gegeben worden ist, beschäftigen wir uns mit dieser Verherrlichung, d. h.
wenn gemäß der Stellung, in die Gott uns versetzt hat, das
Auge einfältig und geistliches Verständnis vorhanden ist.
Wenn es so ist, wird sich bei uns keine Unschlüssigkeit, kein
Schwanken zeigen. Wenn wir uns an unerem Platz befinden,
dann handeln wir frei und mit freudigem Herzen. Wenn ich
mich mit meinen Annehmlichkeiten, mit meinen Interessen,
mit meiner Familie, kurz, mit dem was mich betrifft, beschäftige, dann gehe ich mit Fleisch und Blut zu Rate und
werde tausenderlei Dinge entdecken, die einem schnellen Ge60
horsam im Wege stehen. Wenn ich hingegen nach den Interessen Christi frage, ist die Sache bald entschieden. Wenn ich
an irgendetwas anderes denke, was es auch sein möge, dann
ist mein Herz sicher nicht mit der Verherrlichung Christi beschäftigt, und ich habe kein Vertrauen zu Dem, Der mich in
diese Stellung gesetzt hat.
Elieser denkt immer an Abraham, der alles seinen Händen
übergeben hatte. Seine Gedanken nehmen dieselbe Richtung
wenn er mit Rebekka von den Vorrechten und den Reichtümern im Hause seines Herrn spricht. Wenn unsere Herzen
mit dem Heiligen Geist erfüllt sind, dann wird es auch bei
uns so sein. Es ist sehr wichtig und notwendig, daß wir uns
immer daran erinnern, daß Gott uns die Verherrlichung Jesu
anvertraut hat. Wie können wir das tun? Er wirkt in uns,
und wir sollen Ihn ungehindert wirken lassen. Es ist Sein
Wille, Sich in uns durch die Gegenwart des Heiligen Geistes
zu verherrlichen. Wir sehen dies bei den Knechten, denen
fünf und zehn Talente anvertraut worden waren. Elieser sagt
mit Bestimmtheit: „Ich will nicht essen, bis ich meine Worte
geredet habe". Er ist so sehr mit der Ehre seines Herrn beschäftigt, daß er sich weigert, irgendetwas zu sich zu nehmen, ehe er sich seines Auftrages entledigt hat. Das ist die
richtige Art, den Willen Gottes zu erfüllen. Elieser teilt Laban
alles mit und erzählt ihm, wie Jehova ihn geleitet hat. Alles
geschieht ohne vernünftelnde Überlegung. Er ist der Weisung
Gottes gefolgt und überläßt Gott den Ausgang der Sache.
„Da antworteten Laban und Bethuel und sprachen: Von Jehova ist diese Sache ausgegangen" (V. 50).
Wenn wir, anstatt unsere Zeit mit allen möglichen Überlegungen zu verlieren, einfacher und gehorsamer wären und
die Dinge so darstellten, wie der Heilige Geist sie uns mitteilt, dann wäre das Ergebnis gewiß ein besseres. Aber leider
stellen wir oft unsere menschliche Weisheit an die Stelle der
Gebote Gottes. Die ganz einfach ausgesprochenen Worte haben meistens die größte Wirkung. Petrus sagt im Auftrag
Gottes zu den Juden: „Den Urheber des Lebens aber habt ihr
getötet" (Apg 3)! Welche Wirkung hatten diese einfachen
Worte!
61
Wenn wir die Dinge annehmen wie Gott sie sieht, und sie
den Menschen in ungeschminkten Worten darstellen, dann
begleitet der Heilige Geist dieses Zeugnis, und die Gewissen
werden erreicht. Wenn wir uns in solcher Einfachheit mit den
Dingen Gottes beschäftigen, dann werden wir mit einem jeden sprechen in Übereinstimmung mit dem Zustand, in dem
er sich vor Gott befindet. Erkenne ich in dem, mit dem ich
mich unterhalte, einen Verlorenen, dann wird es von Nutzen
sein, wenn ich ihm dies in der einfachsten Weise sage; und
meine im Geiste der Sanftmut ausgesprochenen Worte werden
sicher von dem Segen des Herrn begleitet sein.
„Und sie aßen und tranken, er und die Männer, die bei ihm
waren, und übernachteten. Und des Morgens standen sie auf,
und er sprach: Entlasset mich zu meinem Herrn! Da sprachen
ihr Bruder und ihre Mutter: Laß das Mädchen einige Tage
oder zehn bei uns bleiben, danach magst du ziehen. Er aber
sprach zu ihnen: Haltet mich nicht auf, da Jehova Glück gegeben hat zu meiner Reise; entlasset mich, daß ich zu meinem
Herrn ziehe" (V. 54-56)!
Wir sehen, daß Elieser zur Abreise drängt; er muß diese
Angelegenheit schnell zum Abschluß zu bringen, um Rebekka
dem Sohne seines Herrn zuzuführen. Sobald sein Auftrag
vollendet ist, sagt er daher: „Haltet mich nicht auf!" Er kümmert sich nicht um das Haus Labans; er schenkt der Bitte
des Bruders keine Aufmerksamkeit; die Interessen des Hauses seines Herrn gehen ihm über alles. Die Liebe zu seinem
Herrn läßt ihn in allem auf dessen Befehl achten. Wie häufig
fehlen wir in diesem Punkt! Wir schonen das Fleisch und
vernachlässigen das, was wir Gott schuldig sind. Im Grunde
wollen wir uns selbst schonen, da wir fürchten, anderen nicht
zu gefallen. Und doch haben wir so oft gesehen, wie Gott
solche segnet, die mit Einfachheit und ohne Furcht die Wahrheit verkündigen.
„Und sie sprachen: Laßt uns das Mädchen rufen und ihren
Mund befragen. Und sie riefen Rebekka und sprachen zu
ihr: Willst du mit diesem Manne gehen? Und sie antwortete:
Ich will gehen" (V. 57. 58).
62
Hier gibt es kein Zögern. Welch ein herrliches Bild von der
Braut des Lammes! Auch sie sagt durch die Wirksamkeit des
Heiligen Geistes: „Ich will gehen!" Sie entschließt sich sofort
in der entschiedensten Weise und verläßt alles. „Ich will gehen!" sagt sie. Prüfen wir hier die Lage Rebekkas. Sie besaß
weder das Haus Labans noch dasjenige Isaaks. So ist es auch
mit uns Christen. Wir besitzen weder die Erde, auf der wir
uns befinden, noch den Himmel, wohin wir unterwegs sind.
Rebekka hat alles verlassen und gesagt: „Ich will gehen!"
Unterwegs beschäftigt Elieser, das Vorbild des Heiligen Geistes, Rebekka mit dem was im Hause des Vaters Isaaks ist.
Welch eine köstliche Unterhaltung für die Seele, die durch
den Anblick dieser Dinge ermuntert werden muß, um die
Mühen und Schwierigkeiten des Weges ertragen zu können,
und deren Gedanken nicht zum Vaterhaus oder zum eben
verlassenen Land zurückschweifen sollen! Rebekka reist wie
wir durch die Wüste; und Elieser, der treue Knecht und
Begleiter, bemüht sich, sie zu trösten, mit ihr von den kostbaren Dingen im Vaterhause Isaaks zu reden und tief in
ihren Sinn einzuprägen, wie groß und mächtig der Vater ist,
der alles seinem Sohne zum Besitztum gegeben hat (V. 36).
Wie bereits erwähnt, ist dieser Knecht für uns ein Vorbild
des Heiligen Geistes, des Trösters, Der uns auf der Reise
durch diese Wüste mit Kleinodien beschenkt und uns Mitteilungen macht über alles was für die, welche die Braut
Christi sind, im Vaterhaus vorhanden ist. Er gibt uns Zeugnis
von Jesus; Er nimmt das was Christi ist und verkündet es
uns. Er ist es, Der uns in die ganze Wahrheit leitet und uns
alles lehrt, während wir die Wüste dieser Welt durchreisen.
Hätte Rebekka gezögert, wäre ihr Herz mit Erinnerungen an
das soeben verlassene Land erfüllt gewesen, dann wäre sie
unglücklich gewesen bei dem Gedanken, daß sie jetzt weder
das Haus Bethuels, ihres Vaters, noch das Haus Isaaks, ihres
Bräutigams besaß. Da sie alles verlassen hatte und weder
das eine noch das andere besaß, wäre ihr in der Wüste so
vereinsamtes Herz in einer unerträglichen Lage gewesen,
wenn sie sich mit dem Zurückgelassenen beschäftigt hätte.
Aber sie hat alles aufgegeben, und indem sie sich mit Elieser
63
unterhält, beschäftigt sie sich mit dem, was wahre Anziehungskraft auf ihr Herz hat, und sie steht weit höher als
die Dinge, die sie für immer verlassen hat. Von Frieden erfüllt und getrost zieht sie weiter, der Wohnung ihres Bräutigams entgegen.
Der Christ, der nicht geistlich sondern weltförmig ist, hat ein
trauriges Los. Er kann nicht glücklich sein, wenn er die Weit
sucht. Der Weltmensch hat wenigstens etwas; er kostet die
schnell dahineilenden Vergnügungen und findet, wie verabscheungswürdig sie auch sein mögen und wie viele neue unbefriedigte Begierden sie auch wecken mögen, einen flüchtigen
Genuß darin, während der Christ sich unbehaglich und unglücklich darin fühlt, weil Er ein durch den Heiligen Geist
beschwertes Gewissen hat. Wie könnte er glücklich sein, wenn
er sein Vergnügen in den Dingen der Erde sucht, sein Herz
vom Herrn abwendet und aufhört, Ihm zu folgen! Er kann
sein Gewissen, das ihn anklagt, nicht beruhigen, und weil er
den Mahnungen des Heiligen Geistes kein Gehör geschenkt
hat und Wege des Fleisches gegangen ist, gibt es für ihn keine Freude. Die geistlichen Dinge, die sein Glück hätten ausmachen sollen, treten gleichsam wie die Kläger gegen ihn auf,
sobald er mit ihnen in Berührung kommt. Doch — Gott sei
gepriesen! — wir sind unter der Gnade Dessen, Der uns
berufen hat und Der uns, wenn wir geirrt haben, um Seines
Namens willen wieder auf die ebene Bahn zurückführt. Wenn
wir gesündigt haben, so haben wir einen Sachwalter bei dem
Vater, Der für uns bittet; und Gott, Der treu ist, hilft uns
wieder zurecht, wenn wir uns an Ihn wenden. „Und was
wirst du für deinen großen Namen tun" (Jos 7, 9)? Zudem
ist die Herrlichkeit Gottes an unserer Wiederherstellung interessiert, und da ist Gnade. Ja, wir haben einen Heiland,
Der für uns beim Vater bittet, und Der Sich bemüht, uns zu
dem Gott aller Gnade zurückzuführen, Der das in uns angefangene Werk vollführen wird bis auf den Tag Jesu Christi,
in dem Er alles tut, was zu unserem Heil nötig ist.
Elieser führt Rebekka zu ihrem Bräutigam, und ebenso führt
uns der Heilige Geist bis ans Ende, bis ans Ziel! Das erste
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was Rebekka erblickt ist Isaak, und Isaak führt seine Frau
in das Zelt seiner Mutter. Rebekka, im Besitz ihres Bräutigams, kümmert sich um nichts anderes. Sie denkt jetzt nicht
mehr an die ihr gehörenden Kleinodien und Schätze, sondern
an den Bräutigam selbst. Es war nicht das Wichigste, die
Braut den Reichtümern zuzuführen, sondern dem Bräutigam.
Wenden wir nun das vorliegende Bild auf uns an, so sehen
wir, wie Gott uns durch den Heiligen Geist in dieser Welt
gesucht hat. Er hat uns gefunden; Er will, daß wir nicht zögern, Ihm zu folgen, nachdem wir gesagt haben: „Ich will
gehen", und Er bringt uns in die Gegenwart Jesu.. Der Heilige
Geist begleitet uns auf dem Wege, um unsere Stütze und
unser Tröster zu sein, um zu unserer Ermunterung mit uns
von den Segnungen und der Herrlichkeit, die unser Teil sein
werden, zu reden, und um uns einzuführen in die Gegenwart
Jesu, unseres himmlischen Bräutigams. Bald werden wir bei
Ihm sein und von Ihm ins Vaterhaus geführt werden.
Die Art und Weise der Wirksamkeit des Heiligen Geistes
kann aus mancherlei Gründen ganz verschieden sein, aber
die Wirksamkeit Seiner Macht ist in der Tat vorhanden. Der
wesentliche Grundsatz unserer Berufung muß sich stets darin
zeigen, daß wir uns mit Entschiedenheit entschließen, uns
durch den Heiligen Geist führen zu lassen, und daß wir ohne
Zögern vorangehen, weil wir wissen, daß wir unter dieser
Leitung das ersehnte Ziel erreichen und „also allezeit bei dem
Herrn sein werden".
Möge der Herr in Seiner Gnade uns allen diese Entschiedenheit schenken, der Leitung des Heiligen Geistes mit willigem
Herzen zu folgen!
Die Auferstehung Jesu,
ein Heilmittel für alle Übel
Gott begegnet allen Bedürfnissen der Seele, wie tief und
mannigfaltig sie auch sein mögen, durch den Tod und die
Auferstehung Jesu Christi. Wenn bezüglich der Sünden Fragen auftauchen und die Seele beunruhigen, dann ist die Auf65
erstehung der herrliche Beweis, daß die Sünde völlig weggetan ist. Im gleichen Augenblick, in dem ich Jesus zur Rechten
Gottes sehe, erblicke ich auch das Ende der Sünde, denn ich
weiß, daß Er nicht dort sein könnte, wenn nicht eine völlige
Sühnung der Sünden stattgefunden hätte. Er wurde unserer
Sünden wegen hingegeben. Er nahm als Stellvertreter unseren Platz ein, belud Sich mit unseren Sünden und stieg unter
ihrem Gewicht ins Grab hinab. Anbetungswürdige Liebe!
Aber Gott hat Ihn von den Toten auferweckt, und durch
diese Tatsache drückte Er das Siegel Seiner Anerkennung
auf das vollbrachte Erlösungswerk. Daher lesen wir: „(Er ist)
unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden". Wenn es
sich um die Sünde handelt, begegnet die Auferstehung also
dem Bedürfnis der Seele.
Doch das ist nicht alles. Die Auferstehung Jesu ist auch ein
erprobtes Heilmittel für alle Übel des Lebens, wenn wir den
versuchungsreichen, mühevollen Pfad des christlichen Zeugnisses betreten haben. Das wird uns deutlich in Joh 20 vor
Augen gestellt. In früher Morgenstunde begibt Maria Magdalena sich zum Grabe des Herrn. Wie wir bei Markus in
demselben Bericht lesen, war sie nicht nur traurig über den
Verlust ihres gnadenreichen Freundes, sondern auch sehr bekümmert wegen der Schwierigkeit, den Stein von der Öffnung der Gruft wegzuwälzen. Da beseitigte die Auferstehung
plötzlich alle ihre Traue r und Bekümmertheit .
Dieses herrliche Ereignis füllte die Leere ihres Herzens aus
und hob die Last von ihrer Schulter, die sie nicht länger tragen konnte. Sie fand den Stein vom Grabe gewälzt, und sie
fand sogar den geliebten Herrn Selbst, Den der Tod eine
Zeitlang ihrem Auge entzogen hatte. Solche mächtigen Dinge
konnte die Auferstehung für eine armselige, trauernde Frau
bewirken.
Verhält es sich mit uns nicht ebenso? Sind unsere Herzen
nicht schon gebrochen und erschüttert worden durch die strenge, rauhe Hand des Todes? Hat sein kalter Hauch nicht schon
den Strom unserer Zuneigungen erstarren lassen? Wo finden
wir das Heilmittel? In der Auferstehung; dieser große Wiederhersteller der nicht nur erschlafften, sondern gänzlich
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ruinierten Natur, füllt jede Leere aus, überbrückt alle Risse
und heilt alle Übel. Wenn das Gewissen durch das Bewußtsein der Sünde aufgerüttelt ist, dann bringt die Auferstehung
es durch die Versicherung zur Ruhe, daß das Werk des Bürgen völlig anerkannt und angenommen ist. Wenn das Herz
durch Trauer niedergebeugt ist und der Tod ihm eine schwere
Wunde geschlagen hat, dann legt die Auferstehung einen
Verband an, lindert den Schmerz und verbindet die Wunde
dadurch, daß sie hinweist auf das Auferstehen und die Vereinigung mit denen, die im Herrn entschlafen und uns vorangegangen sind. Sie ruft uns die tröstenden Worte zu: „Wir
wollen aber nicht, Brüder, daß ihr, was die Entschlafenen
betrifft, unkundig seid, auf daß ihr euch nicht betrübet wie
auch die übrigen, die keine Hoffnung haben. Denn wenn wir
glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird
auch Gott die durch Jesum Entschlafenen mit ihm bringen"
(1. Thess 4, 13. 14). Man sagt gewöhnlich, daß die Zeit allmählich die Wunden des Herzens heilt, die der Tod geschlagen hat; aber ein geistliches Gemüt kann nie die Zeit mit
ihren traurigen Veränderungen als ein Ersatzmittel für die
Auferstehung und ihre unendlichen Freuden betrachten. Das
arme Kind dieser Welt mag vielleicht in den wechselnden
Umständen dieses Lebens etwas finden, um damit die vom
Tod verursachte Lücke ausfüllen zu können, aber nicht der
Christ. Für ihn ist die Auferstehung das große Ziel, auf das
seine Gedanken gerichtet sind, als das einzige Mittel, das alle
seine Verluste zurückerstattet und alle seine Übel heilt.
Ebenso verhält es sich auch im Blick auf die Schwierigkeiten
und die auf die gegenwärtigen Umstände zurückgehenden
Drangsale. Auch in bezug auf sie ist die Auferstehung das
einzige Heilmittel. Wenn wir das nicht erkennen, müssen wir
uns von Tag zu Tag abmühen, die Lasten zu tragen und
uns unter den Mühsalen des gegenwärtigen trübseligen
Schauplatzes zu beugen. Wir mögen geneigt sein, mit der
trauernden Maria die Worte auszurufen: „Wer wälzt uns den
Stein von der Tür der Gruft?" Aber die Antwort lautet stets:
„Der auferstandene Jesus". Klammere dich fest an die Auferstehung, und du wirst merken, daß du über dem Einfluß
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jeder Bürde und Beschwerde stehst. Damit ist nicht gesagt,
daß es für den Christen keine Last zu tragen gibt; im Gegenteil werfen die Umstände immer neue Lasten auf unsere
Schultern, aber diese Lasten werden uns nicht in den Staub
drücken, weil unsere Füße auf dem unbeweglichen Felsen
der gesegneten Wahrheit ruhen, daß unser Haupt von den
Toten auferstanden ist und sich zur Rechten der Majestät in
der Höhe gesetzt hat, und daß auch unser Platz droben
bei Ihm ist. Der Glaube führt die Seele stets aufwärts in
die heilige Ruhe göttlicher Gegenwart, er macht uns fähig,
unsere Bürden auf den Herrn zu werfen, da Er uns die Verheißung gegeben hat, daß Er sie für uns tragen will. Wie
oft schaudern wir zurück bei dem Gedanken an irgendeine
Trübsal, die wie eine Wolke am Horizont in der Ferne erscheint; und dennoch, wenn sie uns erreicht, finden wir „den
Stein vor der Gruft weggewälzt". Der auferstandene Jesus
hat ihn durch Seine Macht beseitigt. Er hat die finstere
Wolke weggetrieben und den ganzen Schauplatz mit dem
Licht Seines freundlichen Angesichts erfüllt. Maria Magdalena hatte sich dem Grabe mit der Befürchtung genähert,
einen großen Stein zwischen sich und dem Herrn, den sie
liebt, zu finden, aber stattdessen fand sie den auferstandenen
Jesus zwischen sich und der gefürchteten Schwierigkeit. Sie
war gekommen, um einen Leichnam mit ihren Spezereien zu
salben, aber als sie ankam, sah sie sich gesegnet und glücklich gemacht durch den auferstandenen Erretter. Das ist der
Weg Gottes, das ist die Macht und der Wert der Auferstehung. Sünden, Kümmernisse, Bürden — alles ist verschwunden, sobald wir eingetreten sind in die Gegenwart eines lebendigen Herrn. Was richtete Johannes wieder auf, als er auf
der Insel Patmos wie tot zu Boden stürzte? War es nicht die
Auferstehung? Die Hand des lebendigen Jesus ruhte auf
ihm, die Hand Dessen, Der sagte: „Fürchte dich nicht! Ich
bin der Erste und der Letzte und der Lebendige, und ich war
tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit"
(Offb 1, 17. 18). Das ist es, was ihn wieder auf die Füße
bringt. Die Gemeinschaft mit Ihm, Der Sein Leben der
schrecklichen Gewalt des Todes entrissen hat, beseitigt alle
Befürchtungen und verleiht der Seele göttliche Kraft.
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Auch bei den mit anwesenden Jüngern Petrus und Johannes
zeigt sich ein Beweis von der Macht der Auferstehung. Bei
ihnen bemerkt man in diesem Augenblick weit weniger die
Trauer über den Verlust ihres Herrn und Meisters als bei
Maria. Auch scheinen sie wegen des großen Steines vor der
Gruft keine Befürchtungen zu haben. Aber augenscheinlich
werden sie durch alles, was ihren Blicken am Grabe begegnet,
in Verlegenheit gebracht. Die leinenen Tücher, das an einem
Orte besonders zusammengelegte Schweißtuch — das alias
erscheint ihnen unerklärlich. Ihre Verlegenheit hat ihren
Grund darin, daß „sie .. . die Schrift noch nicht (kannten),
daß er aus den Toten auferstehen müßte". Nur die Tatsache
der Auferstehung konnte dieses Rätsel lösen. Wäre die Auferstehung für sie ein bekanntes Ereignis gewesen, dann wären sie bezüglich der zurückgelassenen Grabtücher keinen
Augenblick in Ungewißheit gewesen; ohne Zweifel hätten sie
gewußt, daß der Zerstörer des Todes Sein mächtiges Werk
vollbracht und die Spuren Seines Sieges hinter Sich zurückgelassen hatte. Das war die Bedeutung der Szene am Grabe;
wenigstens konnte man diese Lehre daraus ziehen. Der Herr
Jesus hatte mit Ruhe und Umsicht diesen Kampf bestanden.
Er hatte keine Hast und keine Bestürzung an den Tag gelegt.
Er hatte Sich Zeit genommen, das Grab zu ordnen und die
Grabtücher an ihren bestimmten Platz zu legen. Er hatte gezeigt, daß es von Seiner Seite keiner besonderen Anstrengung
bedurfte, um die Macht des Todes zu beseitigen. Petrus und
Johannes wußten jedoch dies alles nicht, und daher kehrten
sie wieder nach Hause zurück. Die Stärke der Zuneigung im
Herzen der Maria erlaubte ihr nicht, ihnen zu folgen; die Liebe übte einen mächtigeren Einfluß als die Erkenntnis. Obwohl
ihr Herz zu brechen drohte, verließ sie das Grab doch nicht.
Sie wollte lieber weinen und wehklagen in der Nähe des
Ortes, an den der Herr gelegt worden war, als an irgend
einen anderen Ort zu gehen. Aber die Auferstehung brachte
alles in Ordnung. Sie füllte die Leere in dem gebrochenen
Herzen der armen Frau aus und gab Licht über das, was den
beiden Jüngern Petrus und Johannes unerklärlich war. Sie
trocknete die Tränen der Weinenden und machte der Bestür69
zung der Jünger ein Ende. Mit einem Wort, die Auferstehung
Jesu ist ein Universalmittel für alle Übel, und nichts als
Glaube ist nötig, um Gebrauch davon zu machen.
In Vers 19 finden wir eine neue Darstellung des Grundsatzes,
den wir betrachten. Wir lesen hier die Worte: „Als es nun
Abend war an jenem Tage, dem ersten der Woche, und die
Türen, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen waren, kam Jesus und stand in der Mitte und
spricht zu ihnen: Friede euch! Und als er dies gesagt hatte,
zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich
die Jünger, als sie den Herrn sahen".
Die verschlossene Tür gibt hier unzweideutig Kunde von der
Furcht der Jünger. Sie fürchteten sich vor den Juden. Und wo
war das Heilmittel für diese Furcht? Nur in der Gemeinschaft mit ihrem auferstandenen Herrn. Und Er — gepriesen
sei Sein Name! — versäumte es nicht, ihnen dieses Heilmittel zu bringen. Er erschien unerwartet und trotz der verschlossenen Tür in ihrer Mitte und sprach Seinen Segen über
sie aus. Wie tröstend, wie ermutigend klingen Seine Worte:
„Friede euch!" Ja, sie hatten Ursache, diesen Frieden in ihre
Herzen dringen zu lassen, nicht weil die verschlossene Tür
ihnen Sicherheit und Schutz darbot, sondern einfach, weil
Jesus auferstanden war. Wer konnte ihnen schaden, nachdem
der mächtige Überwinder des Todes und der Hölle in ihre
Mitte getreten war?
Welch einen unaussprechlichen Wert birgt das Wörtchen:
„Friede euch" — jenes Wort, dessen Sich ein solch mächtiger
Herr und zwar in einer solchen Zeit bediente! Der Friede,
der aus dem Umgang mit dem auferstandenen Sohne Gottes
entspringt, kann weder durch die Veränderungen noch durch
die Stürme dieser Welt weggerafft werden; es ist der Friede
des inneren Heiligtums, der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt. Warum sind wir zu gewissen Zeiten oft so
sehr beunruhigt durch den Zustand der uns umringenden
Dinge? Warum nehmen wir unsere Zuflucht so oft — wenn
auch nicht gerade zu einer verschlossenen Tür — zu irgendeinem menschlichen Hilfsmittel? Die Ursache liegt nahe. Wir
richten unsere Blicke nicht unverwandt auf Ihn, Der da ist
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„der Erste und der Letzte und der Lebendige, und der tot
war und siehe, er lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit", — darum
zeigt sich bei uns ein so ungewisses, furchtsames Schwanken.
Wenn wir uns an den starken Arm Dessen klammern, Dem
alle Macht im Himmel und auf Erden übergeben ist, wenn
wir verwirklichten, daß unser Teil in Ihm, ja, daß Er Selbst
unser Teil ist, dann würden wir nicht so sehr von den Umständen dieser armen Welt berührt werden. Gewiß würden
die Anschauungen mancher Christen in bezug auf Politik,
Handel und Ackerbau, kurz, auf alle Dinge, die mit dieser
Erde in Verbindung stehen, sich ändern, wenn das Bewußtsein ihrer Stellung lebendiger bei ihnen wäre und sie sich
mehr der Worte erinnerten: „Wir sind gestorben, und unser
Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott" (Kol 3). Man
sagt gewöhnlich, daß wir, solange wir uns auf der Erde befinden, ein Interesse an den Umständen, den Aussichten,
den Vorgängen und den Erwartungen dieser Erde haben
müßten. Aber welche Bedeutung haben dann die Worte
des Paulus: „Unser Bürgertum ist in den Himmeln" (Phil
3)? Sind wir denn von dieser Welt? Paßt eine irdische Gesinnung für die Bürger des Himmels, für diejenigen, die mit
Christus gestorben und auferstanden sind? Keineswegs. Alles
was in uns (ich rede von Gläubigen) irgendeine Verwandtschaft mit dieser Erde haben könnte, alles was als Natur bezeichnet werden kann, ist in Christus mitgestorben und sollte
stets als tot betrachtet werden. Unser Leben ist im Himmel,
wo wir uns schon jetzt im Geist und der Stellung nach befinden. Allerdings sollten wir, wenn wir uns als irdische Menschen betrachten, auch mit irdischen Dingen beschäftigt sein;
betrachten wir uns aber als himmlische Menschen, dann sollten auch himmlische Dinge uns beschäftigen, d. h. bei allem
was wir auf dieser Erde zu tun haben, sollte uns eine himmlische Gesinnung leiten. „Wenn ihr nun mit dem Christus
auferweckt worden seid, so suchet was droben ist, wo der
Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet auf das
was drobe n ist, nich t auf das was auf der Erd e
ist" (Kol 3). Das ist sehr einfach. Wir werden ermahnt, das
zu tun, was „droben" ist, und zwar deshalb, weil wir „mit
dem Christus auferweckt" sind. Der Unterschied zwischen
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Abraham in seinen Tagen und einem Gläubigen in der heutigen Zeit besteht darin, daß Abraham von der Erde zum
Himmel ging, während der Gläubige — im Geist und durch
den Glauben — vom Himmel auf die Erde gekommen ist.
Abraham war ein Pilger auf der Erde, weil er ein himmlisches Land suchte , während der Gläubige in unseren
Tagen ein Pilger ist, weil er ein himmlisches Vaterland er -
reich t hat . Darum sollte der Christ sich immer als jemand betrachten, der vom Himmel gekommen ist, um eine
Zeitlang auf dem Schauplatz der Leiden und Mühen einherzuschreiten. Das würde seinem Charakter und Wandel ein
himmlisches Gepräge geben. Der Herr gebe, dal? es so bei
allen sei, die den Namen Jesu anrufen.
Bemerken wir nun noch zum Schluß, daß der Herr Jesus
Seine armen Jünger dadurch von ihrer Furcht befreite, daß Er
in ihre Mitte trat und Sich in ihren Umständen zu. ihnen gesellte. Es handelte sich hier nicht so sehr um eine wirkliche
Befreiung von dem was ihre Furcht verursachte, als vielmehr
darum, daß Er ihre Seelen durch die Gemeinschaft mit Ihm
Selbst über die Umstände erhob. Sie vergaßen die Bosheit
der Juden, sie vergaßen ihre Furcht, sie vergaßen alles, weil
ihre Seelen mit ihrem auferstandenen Herrn beschäftigt waren. Das ist oft die Art des Herrn, daß Er die Seinigen in
der Trübsal läßt, und darin mit ihnen Gemeinschaft hat.
Paulus, der treue Apostel des Herrn, wünschte von dem Dorn
im Fleische befreit zu werden, aber die göttliche Antwort
lautete: „Meine Gnade genügt dir". Es ist sicher eine weit
größere Barmherzigkeit, die Gnade und Gegenwart Jesu inmitten der Trübsal zu besitzen als davon befreit zu werden.
Der Herr erlaubte es, daß Sadrach, Mesach und Abednego in
den Feuerofen geworfen wurden, aber nachdem die Tat vollbracht war, kam Er hernieder und wandelte mit ihnen in den
Flammen. Das war seinerzeit weit gnadenreicher, und für die
drei Männer weit ehrenvoller, als wenn Er zu ihren Gunsten
ins Mittel getreten wäre, ehe sie in den Ofen geworfen wurden.
Möge es der lebendige Wunsch unserer Herzen sein, während wir diese versuchungsreiche Wüste durchwandern, uns
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stets in der Nähe des auferstandenen Heilandes zu befinden; dann werden wir Frieden haben, wenn auch der Feuerofen der Trübsal oder der Sturm der Verfolgung unser Teil
ist. Sei es der Verlust einer teueren Person, die Last auf der
Schulter, die für den Geist unerklärlichen Rätsel, die Furcht
oder der Unglaube des Herzens — alles findet Heilung in
der Gegenwart Dessen, Der von den Toten auferstanden ist.
Das Gesetz der Freiheit
„Wer nicht sein Kreuz aufnimmt und mir nachfolgt, ist meiner
nicht würdig". — „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als
mich, ist meiner nicht würdig". — „Wer sein Leben findet,
wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden". — „Ihr nun sollt vollkommen sein,
wie euer himmlischer Vater vollkommen ist".
Diese und ähnliche Worte des Herrn bezeichnen uns die
Hauptgrundsätze des christlichen Wandels: Selbstverleugnung
und Übergabe an Gott. Bevor wir aber fähig sind diese
Grundsätze auszuführen, muß eine vollkommene Veränderung unseres Zustandes stattfinden. Wir waren von Natur
Untertanen des Fürsten der Finsternis, Knechte der Sünde,
Sklaven unserer Lüste und Begierden. Von Gott getrennt
wandelten wir nach dem Gutdünken unserer eigenen Herzen.
Wir waren nicht mehr frei, um tun zu können, was wir wollten, denn die Sünde beherrschte uns ganz. Wir waren unabhängig von Gott, aber abhängig von der Sünde. Doch um
Gott dienen und Ihm das Leben weihen zu können, müssen
wir frei sein, nicht frei oder unabhängig von Gott — denn
gerade das ist Sklaverei — sondern frei von der Sünde und
der Macht Satans. Der Sohn Gottes aber hat uns freigemacht.
Er zerbrach die Fesseln der Sünde und beseitigte die Macht
Satans über uns. Durch Ihn sind wir von der Sünde freigemacht und Diener der Gerechtigkeit geworden (Rö 6, 18).
Nun sind wir frei, Gott dienen zu. können, nichts steht uns
mehr im Wege. Was uns hinderte, ist weggetan. Wir sind
jetzt abhängig von Gott, Diener der Gerechtigkeit. Freiwillig
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weihen wir Ihm unser Leben, freiwillig verleugnen wir uns
selbst. Durch Christus besitzen wir das Leben, das will was
Gott will, denn das Leben ist aus Gott. Wenn wir nun die
Worte Jesu oder die Ermahnungen der Apostel lesen, finden
wir sie in Übereinstimmung mit dem Leben, was wir besitzen.
Alles was darin ausgedrückt wird, ist eins mit unserem
Wunsch und Willen. Es ist das Gesetz der Freiheit (Jak 1,15).
Ebenso wie ein Kind gern das Gebot seines Vaters ausführt,
wenn dies mit dem Willen des Kindes übereinstimmt, so gehorcht der Christ freudig dem Gebot Gottes, weil dies der
Ausdruck seines inneren Verlangens ist. Wir sind von Herzen gehorsam geworden dem Bilde der Lehre, welchem wir
übergeben worden sind (Rö 6, 17). Wenn unsere Herzen diesen Grundsatz erfaßt haben, können wir mit Paulus ausrufen: „Aber was irgend mir Gewinn war, das habe ich um
Christi willen für Verlust geachtet; ja, wahrlich, ich achte
auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu meines Herrn, um dessentwillen ich alles
eingebüßt habe und es für Dreck achte" (Phil 3, 7. 8.). Das
ist die Sprache einer freiwilligen Hingabe, und auf diesem
Wege fühlt sich das Herz glücklich. Wenn man nach dem
Gesetz der Freiheit wandelt, kostet die Selbstverleugnung
nicht viel Mühe. Folgende Erzählung mag uns dazu den Beweis liefern:
Die Tränen einer jungen Sklavin, die gerade verkauft werden
sollte, erregten die Aufmerksamkeit eines Herrn. Während
sie bei jedem Hammerschlag des Sklavenverkäufers erbebte,
schienen ihre Leidensgefährten, die auch verkauft werden sollten, sich das nicht sehr zu Herzen zu nehmen. Der freundliche
Mann näherte sich ihr, um zu, fragen, warum si e allei n
s o trauri g sei, und er vernahm, daß die anderen bereits
an derartige Dinge gewöhnt waren, ja, sich sogar freuten,
einen anderen Herrn zu bekommen, während sie mit großer
Sorgfalt von einem guten Herrn auferzogen worden war und
darum bei dem Gedanken an den ihr noch unbekannten Herrn
mit Furcht und Zittern erfüllt war.
„Wieviel kostet sie?" fragte der Fremde. Der Preis wurde
genannt, es war eine bedeutende Summe; aber nach kurzem
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Nachdenken zahlte er sie. Aber auf dem Angesicht der Sklavin zeigte sich nicht eher die Freude, als bis sie aus dem
Munde des Käufers vernahm, daß sie frei sei. Sie war als
Sklavin geboren und wußte anfangs nicht, was Freiheit war.
Ihre Tränen rannen auf den unterschriebenen Freibrief, den
ihr der Befreier vorzeigte, und sie blickte ihn furchtsam an.
Schließlich, während er sich anschickte fortzugehen, erklärte
er ihr noch, was sie jetzt alles tun könne. Aber erst, als er
sich entfernt hatte, begann sie ihre Freiheit zu verstehen.
Das erste, was sie sagte, war: „Ich werde ihm folgen und
ihm mein Leben lang dienen". Und auf jede Einwendung
antwortete sie: „Er kaufte mich los! Er kaufte mich los! Er
kaufte mich los!"
Wenn Fremde, die das Haus dieses Herrn besuchten, die
liebreichen und treuen Dienste dieses glücklichen Mädchens
gewahrten und sie fragten, warum sie sich stets so eifrig in
freiwilligem Dienst erwiese, dann war sie sofort mit der
Antwort zur Hand: „Er kaufte mich los!"
Wenn der Jünger des Herrn in diesem Geist wandelt, ist das
Joch Christi sanft und Seine Last leicht.
Demut
1. Vor Gott demütig, oder vor Gott gedemütigt zu. sein,
sind zwei verschiedene Dinge. Ich bin gedemütigt vor Gott,
weil ich nicht demütig gewesen bin. Ich werde gedemütigt
wegen meiner Sünde. Wenn ich demütig gewesen wäre, hätte
ich durch die Gnade Kraft gehabt, die Ausbrüche der Sünde
zu verhindern. Denn „Gott widersteht den Hochmütigen, den
Demütigen aber gibt er Gnade".
2. Der einzige Ort der Demut ist die Gegenwart Gottes.
Verlasse ich diesen Ort, dann bin ich in Gefahr, mich zu erheben. Manche meinen, es sei gefährlich, zu oft auf der Höhe
dieser glücklichen Gemeinschaft mit Gott zu sein. Aber ich
bin sicher, daß wir nicht in Gefahr sind, wenn wir uns auf
dieser Höhe befinden, sondern erst, wenn wir wieder herab75
steigen. Denn wenn wir die Höhe verlassen, denken wir so
gerne daran, daß wir droben gewesen sind, und das ist gefährlich. Hier zeigt sich der Hochmut in seinem Keim. Solange Paulus im dritten Himmel war, brauchte er sicher
keinen Dorn im Fleisch. Erst als er herniedergestiegen war,
begann für ihn die Gefahr, sich über das Maß zu erheben, bei dem Gedanken, daß er an einem Orte gewesen war,
den außer ihm noch niemand gesehen hatte.
3. Meiner Meinung nach ist es sicher keine wahre Demut,
wenn wir schlecht über uns selbst denken. Die wahre Demut
besteht nicht darin, daß wir so oder so von uns denken, sondern darin, daß wir gar nicht an uns denken; und dies zu
erreichen, ist in der Tat keine leichte Aufgabe. Bei uns heißt
es meistens: Ja, ich, ich; und es bedarf großer Gnade, um
dieses Ich aus dem Bereich unserer Gedanken zu streichen.
4. Was für unergründliche Herzen haben wir! „Ich, Jehova,
prüfe das Herz!" Wer außer Gott kann es erkennen? Alle
die vorgeben, daß sie ihre Herzen untersuchen, und dabei
ruhig ihre bösen Wege fortsetzen, kennen sicher nicht das
Verborgene ihrer Herzen, noch sind sie wahrhaftig demütig.
Die Folge ist, daß sie immer die Neigung zeigen, vo n sic h
selbs t z u sprechen , und ihr Hochmut findet gerade
darin seine Nahrung, daß sie immer mehr davon reden, wie
schlecht sie sind.
Möge der Herr uns Licht geben über uns selbst, damit wir
nicht das als Demut betrachten, was in Wahrheit Hochmut
und Verblendung ist!
Gesetz und Gnade
„Das Gesetz wurde durch Moses gegeben; die Gnade und
die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden". Die Vermengung von Gesetz und Gnade ist ein Übel, an dem viele
Christen unserer Tage leiden, und sie beweist, wie wenig
man den Charakter des Gesetzes und die Tragweite der
Gnade kennt.
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Das Gesetz stellt Forderungen an den Menschen, reicht ihm
aber keine Kraft, diesen Forderungen nachkommen zu können. Das Evangelium der Gnade fordert nichts, sondern gibt
alles, was der Mensch braucht, um in den Wegen Gottes
wandeln zu können. Das Gesetz wendet sich an den gefallenen Menschen und zeigt, wie er sein sollte, aber nicht ist,
und es kündigt den Tod, das Gericht und die Verdammnis
als notwendige Folge der Übertretung an. Die Gnade bietet
dem gefallenen Menschen eine vollkommene Versöhnung in
dem Blute Jesu, versetzt ihn in eine neue Stellung, zeigt ihm
in Christus den Wandel eines himmlischen Menschen und
leitet ihn durch eine Welt voller Mühsal zu den Pforten der
himmlischen Herrlichkeit. Das Gesetz sagt: „Tue dies, und du
wirst leben!" — und diese Worte stellen klar den hoffnungslosen Zustand des Menschen ins Licht. Denn hier soll der für
tot betrachtete Mensch wirken, um das Leben zu gewinnen,
während die Gnade sagt: „Lebe und du wirst tun!" Erst
wenn der in Sünden tote Mensch lebendig gemacht ist, besitzt er die Fähigkeit, das Gute wirken und nach dem Willen
Gottes leben zu können. Alle Werke vor dem Glauben an
das vollkommene Opfer Christi sind tote Werke; die Werke
nach dem Glauben sind die natürlichen Früchte dieses Glaubens. Wer das Gesetz übertritt, zeigt seine Unfähigkeit, in
den Wegen Gottes wandeln zu können ; wer die Gnade
verschmäht, zeigt offenbare Abneigung, in den Wegen Gottes
wandeln zu wollen . Das Gesetz zeigt dem Sünder von
ferne den in Wolken und Dunkel verhüllten Gott, den unerbittlichen gerechten Richter, Dem zu nahen augenblicklich
der Tod zur Folge haben mußte. Die Gnade führt den
Verlorenen aus der Grube des Verderbens in die nächste
Nähe eines barmherzigen Gottes, Dessen Gerechtigkeit in
dem Opfer Seines vielgeliebten Sohnes eine völlige Befriedigung gefunden hat. Das Gesetz enthält die unlösbaren Fesseln
der Sünde, deren Sklave der Mensch ist, sowie das Ende des
Sünders: die Hölle und die Verdammnis. Die Gnade offenbart in dem auf Golgatha vollbrachten Versöhnungswerk die
mächtige Hand einer ewigen Befreiung, sowie die lebendige
Hoffnung des Befreiten: den Himmel und die Herrlichkeit.
Das Gesetz ist eine unvollkommene Offenbarung dessen,
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was Gott ist und dessen, was der Mensch ist; die Gnade aber
stellt den Charakter Gottes und den Zustand des Mensdien
ins klarste Licht.
Gesetz und Gnade zu vermengen ist daher ebenso wenig
möglich wie den Tod mit dem Leben zu verschmelzen.
Balak, Bileam und Israel
(4. Mose 22-24)
Es ist sehr interessant, den besonderen Charakter dieser
Prophezeiung ins Auge zu, fassen. Jehova nimmt, ohne daß
Israel es ahnt, gegen den Feind Partei für Sein Volk. Nicht
wie in anderen Propehzeiungen finden wir hier einen Ruf
an das Gewissen des Volkes, begleitet von Verheißungen, die
den Glauben des Überrestes inmitten seiner Widersacher
aufrechterhalten sollen. Wie schon gesagt, ahnte das Volk
nichts von dieser Weissagung. Vielleicht murrte es um dieselbe Zeit in seinen Zelten gegen die Führung Jehovas. Gegen
den Willen Balaks und Bileams erklärt Gott hier Seine eigenen Gedanken und macht dadurch die Macht des Feindes zunichte. Wiewohl nun freilich diese Weissagung im buchstäblichen Sinn das Volk Israel zum Gegenstand hat, stellt sie im
weiteren Sinn doch auch uns unser ganzes Teil vor Augen:
unsere Absonderung, unsere Rechtfertigung und unsere
Schönheit in den Augen Gottes, und in dem kommenden
„Stern aus Jakob" die Krone der Herrlichkeit, Christus Selbst
in Herrlichkeit.
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Israel hat sich in den Gefilden Moabs gelagert; nur der Jordan ist noch zwischen ihm und dem Lande seiner Ruhe. Aber
hatten die Israeliten ein Recht hineinzugehen? Wenn der
Feind sie nicht durch Gewalt hindern kann, wird er versuchen, sie unter den Fluch zu bringen. Balak läßt Bileam holen. Die große Frage in dieser ernsten Szene ist: Kann es
Satan gelingen, das Volk Gottes so zu verfluchen, daß ihm
der Eintritt in das verheißene Land zur Unmöglichkeit wird?
Es handelt sich hier nicht um die Befreiung und um das
Frohlocken darüber beim Beginn ihrer Laufbahn, sondern
hier handelt es sich um die letzten Schritte auf diesem Weg,
nachdem trotz ihrer Erkenntnis Jehovas ihre Untreue offenbar
geworden ist. Kann der Feind unter solchen Umständen den
Eintritt verwehren? Keineswegs. Freilich mußte Mose in derselben Ebene entrüstet über das Verhalten gegen Gott, die
Worte ausrufen: „Ein verkehrtes und verdrehtes Geschlecht!"
und in der Tat waren die Kinder Israel, wir wir wissen, ein
trotziges und halsstarriges Volk. Aber was sagt Gott durch
den Mund des sich sträubenden, geldgierigen Bileam? Seine
Worte sind: „E r erblick t kein e Ungerechtig -
kei t i n Jako b un d sieh t kei n Unrech t i n
Israe l ! " Welch ein Zeugnis! Welch eine wunderbare
Gnade! Welch eine Vollkommenheit in den Taten Gottes!
Gott sieht den wahren Zustand. Er täuscht Sich nicht. Er redet die Wahrheit gemäß Seiner vollkommenen, unendlichen
Weisheit; Er kann keine Ungerechtigkeit in Seinem erlösten
Volk erblicken. Wie könnte Er die Ungerechtigkeit auch dulden in denen, die im Blut des Lammes gewaschen sind? Wohl
beobachtet und richtet Er alles in Seinen Wegen mit dem
Volk, aber gegen den Kläger macht Er nur Seine Gerechtigkeit geltend, während Er in betreff der Seinen nach Seinem
Gnadenratschluß nur auf das Lösegeld blickt, das Er gab und
dadurch die Sünde des Volkes tilgte. Daher ist der Mund des
Verklägers zu, dem Bekenntnis gezwungen, daß keine Sünde
mehr da sei und der Feind keine Gewalt gegen Jakob habe.
O wie tröstlich und segensreich ist es für uns zu sehen, wie
Gott nach Seinen Gedanken handelt und urteilt! Vom Anfang
bis zum Ende war Er in Seinen Gedanken für uns beschäftigt
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und vollbrachte das was notwendig war, um alle Seine vollkommenen Eigenschaften mit der ewigen Gerechtigkeit zu
versöhnen. Der Glaube ergreift diese Gedanken und vertraut
darauf; daraus entspringt Freude und Frieden. Während die
Gegenwart Gottes alles richtet, was der göttlichen Heiligkeit
nicht entspricht, handelt und urteilt Gott allen Feinden zum
Trotz nach Seinen eigenen Gedanken.
Bileam verriet einen bedauernswerten Charakter. Während
er gezwungen gewesen war, aus der Ferne den Segen Gottes
auf Seinem Volk zu erblicken, eilte er danach in dessen Nähe
und war, von seinem eigenen Herzen und Willen geleitet, mit
einem anderen Wege des Verderbens beschäftigt, den er ging,
um womöglich die Kinder Israel ihres Segens zu berauben,
weil er dachte, daß der gerechte Gott ein sündhaftes Volk
nicht segnen könne. Eine größere Bosheit kann man sich
nicht leicht denken. Wir wollen nun einiges in bezug auf
Bileams vorbildlichen Charakter erwähnen, indem wir der
Geschichte folgen.
Balak suchte ihn auf. Bileam gibt vor, Jehova fragen zu
müssen, sei es aus unwillkürlicher Furcht, oder um den Eindruck zu erwecken, daß es ihm sehr wichtig sei, im Namen
Jehovas zu handeln. Und wirklich tritt Jehova auf den Schauplatz und erscheint Bileam zum ersten Mal. Er nimmt Sich
Seines Volkes an und hält die ungerechte Seele Bileams gegen
dessen Willen in Seiner Hand, denn Bileam erkennt den Sinn
Gottes nicht im geringsten. Gott sagt: „Du sollst nicht mit
ihnen gehen, . . . denn es ist gesegnet", und Bileam ruft den
Boten Balaks zu: „Jehova hat sich geweigert, mir zu gestatten,
mit euch zu gehen". Wie gern wäre er ihrem Wunsch nachgekommen! Er verlangte nach den Schätzen Balaks; nur die
Angst vor Jehova hielt ihn zurück. Er, der weit davon entfernt ist, sich der Segnungen des Volkes und der Fülle der
Gnade zu erinnern, ahnt nichts von dem, was das gnadenreiche, segenspendende Herz Jehovas mit Wonne erfüllt.
Sobald sich die Versuchung wiederholt, sagt er mit erheuchelter Gottesfurcht, er dürfe das Wort Jehovas, seines Gottes, nicht umgehen; aber zugleich beredet er die Boten Balaks,
noch ein wenig zu bleiben und zu hören, was Jehova ferner
85
zu ihm sagen werde. Warum wolte er noch Näheres wissen
im Hinblick auf die Aufforderung, das Volk zu verflu -
chen , das, wie Gott ihm gesagt hatte, gesegne t war?
Er verriet nicht die geringste Übereinstimmung mit den Gedanken, die das Herz Gottes bezüglich des Volkes beschäftigten; nur die Furcht vor den Folgen seines Weges hemmte
seine Schritte. Wie hätte er auch sonst nur einen einzigen
Augenblick dem Gedanken Raum geben können, ein von
Gott gesegnetes Volk zu verfluchen?
Dennoch bedient Gott Sich seiner zu einem herrlichen Zeugnis für Sein Volk, obwohl Er zugleich die verkehrten Wege
des Propheten verurteilt. Bileams Wege waren verkehrt;
seine Dummheit war, wie Gott ihm zeigte, größer als die der
Eselin, auf der er ritt. Dennoch läßt Jehova ihn weitergehen.
Daß Gott ihm auf dem Wege entgegentrat dient nur dazu,
Bileam durch Furcht zu zwingen, getreulich auszusprechen, was
Gott ihm zu reden geben würde. Es ist deutlich, daß Bileam
Zauberei (Kap 24,1) mit dem Bekenntnis des Namens Jehovas
vermengt hatte, und daß er auf diesem Wege ein Werkzeug
Satans geworden war, und zwar unter dem Deckmantel der
Leitung durch den Namen Jehovas. Gott wird einmal alle
Macht des Feindes aufhören lassen; und hier beschränkt Er
sie aus Liebe zu Seinem Volk und zwingt Bileam, das auszusprechen, was Er geredet haben will.
Endlich hat Bileam mit seinen Begleitern die Höhe des Berges
erreicht. Er schaut von oben auf Israel herab, und seine Lippen öffnen sich zu einer bemerkenswerten Weissagung. Diese
läßt sich in vier Teile zerlegen. Wie bereits gesagt, bezieht
sie sich im engeren Sinn auf Israel, ist aber hinsichtlich ihres
Prinzips auch auf die Versammlung anwendbar. Der erste
Teil handelt von der Absonderung von der Welt. „Siehe, ein
Volk, das abgesondert wohnt und unter die Nationen nicht
gerechnet wird". Der zweite Teil erklärt, daß die Berufungen
Gottes unbereubar sind. Gott hat die Kinder Israel gesegnet,
und wird Er dies nicht bestätigen? Sie sind gerechtfertigt und
wird Er dies nicht bestätigen? Sie sind gerechtfertigt und
ohne Tadel vor Gott. Er hatte sie aus Ägypten geführt. Das
Volke hatte „die Stärke des Büffels", und der ihm nachstellende Feind konnte nichts gegen es beginnen. Als Bileam nun
86
sieht, daß Gott nur zu segnen geneigt ist, unterwirft er sich
Seiner Macht und geht nicht mehr auf Wahrsagerei aus; und
der Geist Gottes kommt über ihn. Da die Rechtfertigung des
Volkes jetzt offenbar ist, kann der Geist Gottes Sich zu Bileam bekennen, anstatt Sein Zeugnis nur auf die Gedanken
Gottes zu beschränken. Bileam schaut Israel von oben; im
Lichte Gottes sieht er das Volk auch nach Dessen Gedanken,
denn das Auge des Propheten ist geöffnet. Dies ist der dritte
Teil, und es ist bemerkenswert, daß er das Volk weder im
Besitz Kanaans noch in seinen festen Wohnungen erblickt.
Bileam richtet sein Angesicht geradewegs zur Wüste und
sieht die Kinder Israel, wie sie nach ihren Stämmen gelagert
sind. Dort erblickt sie der Geist Gottes und schildert die Sicherheit und Ordnung des Volkes in den Augen Gottes. Sie
waren mit dem Wasser des Lebens versehen und standen wie
Zelte, die Jehova aufgerichtet hatte. Deshalb werden sie unter den Nationen berühmt sein und eine Quelle der Kraft
und der Freude sein. Sie trinken aus der Fülle Gottes und
schöpfen noch für andere reichlich daraus. Gott hatte sie aus
Ägypten gebracht; sie waren Sein Werk, deshalb mußte Seine Macht mit ihnen sein gegen ihre Feinde. Mit einem Wort,
er erblickt ihre Schönheit und ihre Macht. Dann redet er
schließlich — und das ist der vierte Teil — von dem Kommen des Herrn, des Sternes aus Jakob, Der die Herrlichkeit
des Volkes krönen wird; nur daß Er für Israel zum Gericht
erscheint, während die Versammung ihn erwartet, um durch
Ihn in Seine Herrlichkeit aufgenommen und zur Hochzeit des
Lammes geführt zu werden.
Kurz, wir finden, wie bereits angedeutet, in dieser Weissagung:
1. Die Absonderun g des Volkes von der Welt,
2. seine Rechtfertigung ,
3. seine Schönhei t und Ordnung , und
4. die Ankunf t Christi .
Alles was hier von Israel gesagt wird, kann auf die Versammlung angewandt werden.
Es ist von großer Wichtigkeit, zuweilen die Versammlung
von oben zu betrachten, die, obwohl sie noch in der Wüste
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ist, im Lichte Gottes eine vollkommene Schönheit besitzt, und
in den Augen Gottes eine unschätzbare Perle ist. Welch
ein Murren und Klagen, welche Gleichgültigkeit, welche
fleischlichen Gedanken würde man inmitten des Lagers
wahrgenommen haben! Doch von oben betrachtet war alles
schön für den, der mit den Augen Gottes nach unten schaute. Der Apostel ruft den Galatern zu: „Ich fürchte um euch",
und kurz nachher: „Ich habe Vertrauen zu euch im Herrn".
Er sah mit Trauer auf den Wandel der damaligen Christen
und im Vertrauen auf die Treue Gottes fand er Trost.
Wir müssen den Schritten Jesu folgen, damit wir Seine Gedanken der Gnade verstehen, durch die Er die Schönheit der
Versammlung durch alles hindurch im Auge behält. Sind
unsere Augen nur mit den Schäden der Glieder der Versammlung beschäftigt, dann werden wir entweder ganz entmutigt oder wir begnügen uns mit dem Übel. Im Lichte Gottes werden diese beiden Zustände mit einem Male beseitigt.
Wir sind dann mit den Gedanken und Ratschlüssen Gottes in
Übereinstimmung, und anstatt uns im Blick auf die Mängel
und Gebrechen um uns her entmutigen zu lassen, arbeiten wir
im Vertrauen auf die Güte und Treue des Herrn mit freudigem Geist in unserer Berufung und sind eifrig zu jedem
guten Werk.
Der Herr als Richter
(Offenbarung 1, 12-18)
Das erste Bedürfnis eines erwachten Gewissens ist, jemanden
zu finden, der für das was die Seele beunruhigt und zu Boden drückt, Heilung und Befreiung bringt; und dieselbe
Gnade, die das Gewissen erreichte, ist wirksam und tätig,
um das Auge des niedergebeugten und zerknirschten Sünders
auf die durch Jesus vollbrachte Erlösung zu lenken. Welch
eine Fülle von Freude, Ruhe und Erquickung erwacht in seinem Herzen, wenn durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes der Glaube ihn in die rettenden Arme Jesu führt, Der
durch Sein Opfer eine ewige Erlösung erfunden hat! Er kann
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dann mit Dank und Anbetung in die Worte einstimmen:
„O Glück unaussprechlich! Gott zürnet nicht mehr,
Den feindlichen Sünder begnadigte Er".
Ja, ein Blick auf das Kreuz, auf das vollkommene Werk
Christi verscheucht alle finsteren Schatten aus der Seele. Der
verlorene Sünder klammert sich an den Fels der Errettung,
und Tod und Gericht sind vorübergegangen und schrecken
nicht mehr. Er sieht, daß Jesus den Lohn der Sünde getragen
hat, den Zorn Gottes gestillt, Seine Gerechtigkeit befriedigt,
die Macht und die Schrecken des Todes vernichtet und die
Flammen der Hölle ausgelöscht hat. Obwohl sein Fuß nun
den dornenvollen Pfad des Kreuzes betreten hat und er
außerhalb des Lagers die Schmach Christi, die Schwierigkeiten
der Wüste, sowie als Streiter in Kanaan die feurigen Pfeile
Satans zu, gewärtigen hat, zieht er seine Straße dennoch von
Kraft zu Kraft, weil Christus, Der seine Sünden trug, nun
auch als treuer Freund, als guter Hirte an seiner Seite ist
und ihn nicht nur nicht verläßt oder versäumt, sondern auch
so völlig in die Umstände und Schwierigkeiten der Seinigen
eintritt, als ob es Seine eigenen wären. Glückseliges Vorrecht!
Der Herr Jesus hat uns mit Sich vereinigt, hat in Liebe und
Güte alle unsere Sorgen auf Sich genommen und trägt uns
mit einer Geduld und Barmherzigkeit, die jedes Verständnis
übersteigt, so daß wir anbetend singen können:
„Du hast uns lieb! Das ist genug,
Uns ewiglich zu freuen".
Wir sollten jedoch nie aus den Augen verlieren, daß Er der
Heilige ist und Sich in allen Seinen Wegen mit uns stets als
solcher offenbart. Mit Ihm zu wandeln heißt die Sünde ausschließen. Er ist durch den Heiligen Geist stets bemüht, uns
in der Heiligkeit wachsen zu lassen. Er züchtigt uns, damit
wir Seiner Heiligkeit teilhaftig werden. Dennoch hält Er uns
in Seiner Hand, und Sein eigener Mund hat uns versichert,
daß niemand uns aus Seiner und des Vaters Hand rauben
kann. Nicht unsere, sondern Seine Treue ist der einzige
Grund, wenn wir bis jetzt nicht von Ihm gewichen sind und
den Weg des Friedens nicht verlassen haben. Kein Feind kann
uns von Seiner Liebe scheiden, welche List und Bosheit er auch
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anwenden mag. Denn wessen Kraft könnte größer sein als
die Kraft Dessen, Der in das Haus des Starken eingedrungen
ist, ihn gebunden und beraubt hat? Und wessen Liebe könnte
die Liebe Dessen erreichen, Der für Gottlose und Sünder,
für Seine eigenen Feinde das Leben in den Tod gab? In dieser Wüste voller Versuchungen, Schwierigkeiten und Gefahren erfüllt Er unser Herz mit Frieden und Freude, und macht
uns fähig, die Dinge dieser Welt auszuschlagen und nach jenen unsichtbaren Dingen zu trachten, die droben sind. Er
führt uns zu grünen Auen und erquickt uns an stillen Wassern. Er selbst ist während unserer Pilgerreise unsere Speise
und unser Trank, unser Brot vom Himmel und der wasserreiche Fels. Er wird um Seines Namens willen nicht müde
werden, uns bis ans Ziel unseres Weges in Liebe zu begleiten, mit Geduld zu tragen, mit Kraft zu stützen und uns
mit allem zu versorgen, was wir nach Leib und Seele brauchen. Wir werden nicht einen einzigen Augenblick Ursache
haben, sagen zu müssen: „Er hat uns versäumt!" Nie wird
Seine Liebe erkalten, nie Seine Treue wanken, nie Seine
Kraft erlahmen. O glückliches Volk! Gesegneter Pfad! Mag
die Wüste auch öde, dürre und leer sein und nichts bieten,
was das Herz befriedigen könnte, so bleibt doch die unerschütterliche Wahrheit:
„Sein reicher Segen fließt verborgen,
Und nimmer geh' ich kärglich aus".
Ja, in der Tat, wir haben Ursache, uns mächtig zu freuen,
weil wir in allem was uns begegnet, sagen dürfen: „Es ist
der Herr!" Freude und Leid, Sonnenschein und Sturm, alles
empfangen wir aus Seiner Hand, und alles muß denen, die
Gott lieben, zum Guten mitwirken. Und dennoch, wenn wir
nur in diesem Leben Hoffnung auf Christus hätten, und
wenn nicht die Auferstehung des Herrn uns die Pforten einer
glänzenden, ungetrübten Zukunft erschlossen hätte, dann
wären wir wirklich, wie der Apostel sagt, „die elendesten
von allen Menschen". Doch wir sind nicht nur Gefäße Seines
Erbarmens, sondern auch Gegenstände Seiner Liebe, einer
Liebe, die nicht ruht, bis wir dort sind, wo Er ist, in Seiner
Freude und Seiner Herrlichkeit. Wir sind auf dem Wege zu
90
Ihm; und noch einmal wird Er den Thron des Vaters verlassen, um uns, Seine mit Blut Erkauften, hinaufzunehmen, damit wir Ihm gleich seien und Ihn sehen wir Er ist. Er kennt
uns jetzt durch und durch, und nichts in und an uns ist Ihm
verborgen, während unsere Erkenntnis nur Stückwerk ist,
aber wir eilen dem wunderbaren Augenblick entgegen, wo
wir Sein Bild tragen und Ihn völlig erkennen werden, wo
alles Stückwerk weggetan und jedes Herz Ihn nach einer
vollkommenen Erkenntnis Seiner Wege und Ratschlüsse würdigen, ehren und preisen wird. Dann berührt der Fuß nicht
mehr den Boden einer öden, dürren Wüste, in der Sünde,
Kummer und Tränen ihre Heimat haben. Dann durchschreitet er eine Stätte, wo nicht der leiseste Zweifel über Seine
unendliche Liebe die Freude trüben und das Lob und die
Anbetung hemmen kann, sondern wo die Seele im Vollgenuß
Seiner Liebe ihre überschwengliche Freude vollkommen zum
Ausdruck bringen kann. Satan, die Welt, das Fleisch, diese
unermüdlichen, wenn auch überwundenen Feinde des Pilgers,
können dort nie eindringen, wo die Liebe uns eine ewige
Ruhestätte bereitet hat. Dort werden wir ruhen am Herzen
unseres teuren Herrn, Der uns für Sich erkauft und uns nach
hartem Kampf den Sieg gegeben hat. Welch eine Hoffnung!
Welch eine Zukunft!
Aber alles was ich bis jetzt gesagt habe, bezieht sich nur auf
das was der Herr fü r un s getan hat, was Er f ü r un s
tut, und was Er fü r un s tun wird; und es ist gewiß von
unschätzbarem Wert, unsere Seelen an den Strahlen dieser
unendlichen Liebe zu erwärmen. Aber wenn wir uns mit dem
Erkennen dieser allerdings äußerst köstlichen Dinge begnügten und damit die Geschichte des Erlösungswerkes gleichsam
als abgeschlossen betrachteten, dann würde das Allerköstlichste für uns ein vergrabener Schatz bleiben. Wenn wir sagen: „Wir sind erkauft, um ein ewiges Glück im Himmel zu
genießen", so ist das ohne Zweifel eine unumstößliche Wahrheit. Aber ist es die ganz e Wahrheit? Liegt in diesen
Worten nicht ein reiches Maß von Selbstsucht und Eigenliebe? Ganz sicher. Ich habe nur von m i r geredet und
mei n Glück, mein e Freude und mein e Ruhe als die
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Triebfeder alles dessen bezeichnet, was der Herr Jesus getan
hat. Hat Er mich denn nicht auch fü r Sic h erkauft? Allerdings; und das sollte immer den ersten Platz in meinen
Gedanken einnehmen. Er hat mich erkauft, um mich fü r
Sic h zu besitzen für Zeit und Ewigkeit. Dieses Bewußtsein
löst mich von mir selbst, löst meine Gedanken von meinem
Ich und lenkt mein Auge auf die gesegnete Person Dessen,
Dem ich alles verdanke und Dessen Eigentum ich bin. Dann
erkenne ich es als meine Aufgabe, Ihn, Der so erniedrigt,
so verachtet und gehaßt wurde, zu verherrlichen auf dem
Schauplatz, auf dem Er so sehr verunehrt wurde. Dann ist es
meine größte Freude, zu wissen, daß der von der Welt Verworfene zu Seiner Zeit von jedem Geschöpf im Himmel und
auf der Erde anerkannt, geehrt und verherrlicht werden wird,
und „daß in dem Namen Jesu jedes Knie sich beugen (wird),
der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede
Zunge bekennen (wird), daß Jesus Christus Herr ist, zur
Verherrlichung Gottes, des Vaters".
In Offenbarung 1, 12-18 erblickt Johannes Ihn als Den, Dem
der Vater alle Gewalt gegeben hat, als den Richter der Erde.
„Seine Augen wie eine Feuerflamme" — welcher Feind könnte Seinen Blick ertragen? „Seine Füße gleich glänzendem
Kupfer, als glühten sie im Ofen, und Seine Stimme wie das
Rauschen vieler Wasser" — wer könnte Ihm widerstehen?
„Und aus seinem Munde ging hervor ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht war, wie die Sonne
leuchtet in ihrer Kraft" — wer könnte Seiner Macht trotzen?
Selbst Johannes sagt: „Als ich ihn sah, fiel ich zu Boden wie
tot". — Wie völlig verändert wird am Tage des Gerichts die
Gestalt Dessen sein, Der einst in Knechtsgestalt, „sanftmütig
und von Herzen demütig", durch eine Welt schritt, deren
Bewohner die Finsternis mehr liebten als das Licht, weil ihre
Werke böse waren! Doch — o unaussprechliche Gnade! —
weder Johannes noch irgendein Gläubiger wird den Herrn als
Richter erblicken, um zu sterben. Der Herr legte Seine Rechte
auf Seinen Jünger und rief ihm die ermutigenden Worte zu:
„Fürchte dich nicht!" Die Seinigen, die durch Sein Blut von
allem befreit sind, was dem Gericht anheimfallen muß, haben
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nichts zu befürchten. Sie werden „nicht gerichtet, sondern
(sind) vom Tode in das Leben hinübergegangen". Er, Dem
der Vater das ganze Gericht gegeben hat, auf daß alle den
Sohn ehren, wie sie den Vater ehren (Joh 5), ist den Seinigen
am Kreuz begegnet. Sein Tod ist ihr Tod, Sein Gericht ihr
Gericht. Gott hat Ihn, Der Sünde nicht kannte, für sie zur
Sünde gemacht, auf daß sie Gottes Gerechtigkeit würden in
Ihm (2. Kor 5, 21). „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet
worden, damit wir Freimütigkeit haben an dem Tage des Gerichts, daß, gleichwie er ist, auch wir sind in dieser Welt"
(1. Joh 4, 17). Wie könnten wir etwas fürchten, da die unendliche Gnade uns dem Richter gleichförmig gemacht hat?
Wir sind Sein Werk, — kann Er Sein eigenes Werk richten?
„Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der
Lebendige, und ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von
Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und
des Hades". Ach, wie viele werden bei der Erscheinung
des Richters den Tod finden. Welchen Schrecken wird Seine
Stimme, wie das Rauschen vieler Wasser, unter Seine Feinde
bringen. Die Worte des Herrn: „Ich war tot, und siehe, ich
bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit" zeigen dem Johannes
und allen Jüngern des Herrn das Mittel ihrer ewigen Errettung von Tod und Gericht, aber auch, daß Er kommen wird,
um die Welt, in der Er Seinen Tod gefunden hat, zur Rechenschaft zu ziehen. Nur Er, in Dessen Hand die Schlüssel
des Todes und des Hades sind, hat dazu die Macht und das
Recht. Er hat die Macht zu töten, und nichts kann Seinem
Arm widerstehen. Wo werden alle Seine Feinde bleiben, wenn
Er sagen kann: „Ich bin . . . der Letzte, . . . und ich bin
lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit ?" Alle werden zum
Schemel Seiner Füße gelegt werden; Er wird sie weiden mit
eiserner Rute. Wenn das Echo dieser Schreckensszene auf
der Erde erschallt, dann wird der Mund der Spötter für immer verschlossen bleiben, und Töne ewigen Wehs und ununterbrochener Drangsal und schauerliche Ausbrüche der Verzweiflung werden die Räume der Erde durchhallen. Ach, der
Mensch, der heute noch hohnlächelnd und geringschätzend
auf jeden herabschaut, der den Namen Jesu bekennt, wird
93
dann im Gefühl seiner völligen Nichtigkeit mit Zerknirschung
vor der Majestät Dessen sich niederbeugen, Dessen Gnade
und Liebe er einst verworfen hat, und wird zitternd vor dem
Zorn des Lammes sich in den Höhlen und Felsen zu verbergen
suchen mit dem Ausruf: „Fallet auf uns und verberget uns
vor dem Angesicht dessen, der auf dem Throne sitzt, und
vor dem Zorne des Lammes!"
Freilich sollte der Gedanke an den Richterstuhl Christi bei
uns dieselben Gefühle und denselben Eifer erwecken wie dies
bei dem Apostel Paulus der Fall war. „Da wir nun den
Schrecken des Herrn kennen", sagt er, „so überreden wir die
Menschen". Aber dies ist nicht der Zweck, den ich mit diesen
Zeilen verfolge. Was ich vorzustellen wünsche, ist die Verherrlichung des Herrn. Er ist verworfen worden; Er wird
verherrlicht werden. Seine Erniedrigung war so tief, daß nie
ein Mensch Ihm darin gleichgekommen ist. Die Liebe, die
einen solchen Pfad wandelt, übersteigt alle menschlichen Vorstellungen. Niemand hat je gefühlt, und niemand vermag zu
fühlen, was der Herr, der Gerechte, gefühlt hat inmitten der
Sünder, deren Ungerechtigkeit soweit ging, daß sie selbst
beim Kreuz nicht die geringste Spur von Mitleid zeigten.
(Ich rede hier nicht von dem, was Er von seiten Gottes zu
erdulden hatte, als Er mit unseren Sünden beladen und zur
Sünde gemacht wurde.) Ebenso tief, wie Er herabstieg und
Sich erniedrigte, und ebenso tief, wie Seine Schmach und
Verachtung war, so hoch ist jetzt Seine Erhöhung als Mensch,
Seine Herrlichkeit und Majestät. Einmal wird Er von allen
Geschöpfen völlig als der Herr der Herren anerkannt werden.
Jetzt begegnen wir noch Seinen Hassern und Verächtern, aber
dann nur solchen, die Ihm freiwillig oder gezwungen unterworfen sein werden. Jetzt gibt es eine unzählige Menge von
solchen, die Ihn nicht kennen, aber in jener Zeit wird es
niemand geben, dem der Herr unbekannt ist. Jetzt verachtet
man Ihn noch wie vor neunzehnhundert Jahren, aber dann
wird der verwegenste Spötter nur mit Zittern Seinen heiligen
Namen über die Lippen bringen. Jedes Knie wird sich vor
Ihm beugen, jede Zunge wird Ihn als den Herrn bekennen.
Ich will hier nicht davon reden, daß wir mit Ihm verherrlicht
werden, sondern ich möchte nur die Aufmerksamkeit des
94
Lesers auf den Gedanken lenken, daß unser geliebter Herr
einmal den Platz einnehmen wird, der Ihm gebührt. Welche
Geduld ist doch bei Ihm! Wie lange wartet Er, bevor er diesen Platz einnimmt! Wie lange erträgt Er die Bösen! Wahrlich, Er ist anbetungswürdig in allen Seinen Wegen. Welch
eine Freude wird es für uns sein, Ihn verherrlicht zu seinen!
Wie ganz anders werden die Menschen sich dann gegen Ihn
verhalten. Wie gesegnet, wenn Er den ersten Platz auf dieser
Erde einnehmen und über Sein Volk Israel, das Ihn kennen,
Ihn lieben und Ihm dienen wird, und über die ganze, Ihm
dann unterworfene Erde Sein Szepter schwingen wird! Satan,
der jetzt der Fürst dieser Welt ist, wird dann vom Schauplatz
seiner Tätigkeit verbannt sein, und Jesus, der Erste und der
Letzte, wird herrschen und Ehre empfangen. Nur Sein Wort,
Sein Wille wird Geltung haben. Wenn wir Ihn lieben, und
je mehr wir Ihn lieben, desto mehr werden wir uns freuen,
daß unsere Geschichte nicht mit unserer Entrückung zum
Abschluß kommt, sondern daß wir dann die Verherrlichung
Dessen sehen werden, Der würdig ist, von der ganzen Schöpfung gepriesen zu werden.
„Und jedes Geschöpf, das in dem Himmel und auf der Erde
und unter der Erde und auf dem Meere ist, und alles, was
in ihnen ist, hörte ich sagen: Dem der auf dem Throne sitzt,
und dem Lamme die Segnung und die Ehre und die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Und die
vier lebendigen Wesen sprachen: Amen! Und die Ältesten
fielen nieder und beteten an" (Offb 5, 13. 14).
Der christliche Wandel
(Epheser 4 und 5)
Im vierten und fünften Kapitel des Epheserbriefes finden wir
die Grundlagen des christlichen Wandels, die Höhe der ihn
bestimmenden Grundsätze und seine sittliche Größe in beachtenswerter Weise vor Augen gestellt. Hierauf möchte ich
die Aufmerksamkeit des Lesers richten.
95
Nachdem der Apostel die christliche Lehre über unsere Verbindung mit dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, — diese Verbindung ist auf diese beiden Namen gegründet — und die Lehre über das Verhältnis der Versammlung zu Christus eingehend beleuchtet und entwickelt hat, beginnt er in Kapitel 4 seine Ermahnungen über den Wandel der
Christen. Sie sollten nicht wie die Nationen in Eitelkeit
ihres Sinnes wandeln, denn ein solcher Wandel gehörte zu
ihrem früheren Zustand gänzlicher Entfremdung von Gott.
Sie hatten den Christus nicht also gelernt, wenn sie anders in
Ihm über die Wahrheit belehrt worden waren, daß sie den
alten Menschen abgelegt und den neuen angezogen hatten,
der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit
und Heiligkeit. Denn die Wahrheit in Jesus ist nicht, daß wir
den alten Menschen ausziehen, sondern daß wir ihn als mit
Christus Auferstandene ausgezogen und den neuen angezogen haben .
Das ist die erste Grundlage des christlichen Wandels. Wir
haben den neuen Menschen angezogen, und sein Wesen besteht darin, nach Gott geschaffen zu sein. Es ist nicht die
Rede von einem Nichtvorhandensein der Sünde, also von
einem Zustand, in dem Adam sich vor dem Fall befand. Der
neue Mensch ist nach Gottes eigenen Gedanken über Gut
und Böse geschaffen. Welch ein unermeßliches Vorrecht! Der
neue, aus Gott geborene Mensch ist seiner Natur nach der
Widerschein der Natur Gottes Selbst. Deshalb sagt der Apostel Johannes: „Er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist". Auch im Brief an die Kolosser finden wir in einer
ähnlichen Stelle wie im Epheserbrief die Worte: „(Der neue
Mensch,) der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bilde
dessen, der ihn erschaffen hat". Zur Ausübung des christlichen Wandels ist also eine Natur erforderlich, die von Gott
kommt und als der Ausdruck und Widerschein dessen geschaffen ist, was er in Gerechtigkeit und wahrhaftiger Heiligkeit ist. Die^e Natur nun, dieses Leben, ist im Besitz jedes
wahrhaft Gläubigen.
Die zweite Grundlage ist die Gegenwart des Heiligen Geistes.
„Betrübet nicht den Heiligen Geist Gottes, durch welchen ihr
96
versiegelt worden seid auf den Tag der Erlösung" (V. 30).
Gott Selbst wohnt durch Seinen Geist in uns, und bei uns
soll nichts geschehen, was eines solchen Geistes, der Gegenwart Gottes Selbst, unwürdig ist. Unser Wandel soll das
offenbaren, was unseren Gott charakterisiert, denn Sein Geist
wirkt in uns. Deshalb finden wir hier auch die Liebe, nicht
nur Gerechtigkeit und Heiligkeit. Wir vergeben einander, wie
Gott uns um Christi willen vergeben hat (V. 32). Weil Christus hinaufgestiegen und also die Gerechtigkeit Gottes befriedigt ist und wir selbst durch das Blut Christi vollkommen
gereinigt sind, ist der Heilige Geist herabgekommen und hat
die Leiber der Gläubigen zu Seinem Tempel gemacht. Das ist
das Siegel Gottes, das Er ihnen aufgedrückt hat, das Pfand
ihrer völligen Erlösung und ihres Anteils an dem Erbe in
Herrlichkeit.
Wie wir sehen, gibt uns das vierte Kapitel des Ephe serbrief es
die Unterweisung, daß der Wandel des Christen eine Offenbarung der göttlichen Natur und der Wege Gottes in Gnade
mit uns sein sollte. Das fünfte Kapitel belehrt uns über andere Punkte. Wer war der vollkommene Ausdruck dieser
göttlichen Natur im Menschen auf der Erde? Es ist klar, daß
es der Herr Jesus Selbst war, das Bild des unsichtbaren Gottes. In Ihm haben wir daher auch das Muster und Vorbild
eines wahrhaft christlichen Wandels, das wir nachahmen
sollen. Im Blick darauf möchte ich die Aufmerksamkeit der
Leser auf dies lehrreiche Kapitel lenken.
„Seid nun Nachahmer Gottes!" Ist das nicht Grund genug,
von der sittlichen Größe und Erhabenheit des christlichen
Wandels zu sprechen? „Seid . . . Nachahmer Gottes!" Als
solche, die Seiner Natur teilhaftig und die Wohnung Seines
Geistes geworden sind, sind wir berufen, Ihn in den Grundsätzen Seines Tuns nachzuahmen. Wie bereits bemerkt, ist
Christus darin das vollkommenste Beispiel, denn der Heilige
Geist fügt hinzu: „Und wandelt in Liebe, gleichwie auch der
Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat
als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch". Hierdurch wird den Grundsätzen des
christlichen Wandels ein sehr kostbares Element beigefügt.
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Die Liebe hat hier nicht den Charakter der göttlichen Liebe,,
die bereit ist, zu vergeben, wenn ihr eine Kränkung widerfährt, weil sie über das Böse erhaben ist, so wie Gott die
Sünde gegen Ihn um Christi willen vergibt. Hier handelt es
sich um eine völlige Hingabe an Gott. Es ist nicht mehr das
Gesetz, das gebietet: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst";
auch handelt es sich nicht darum Gott von ganzem Herzen
zu lieben, wobei vorausgesetzt ist, daß das Böse nicht mehr
existiert; sondern es ist eine Hingabe, die das Böse als eine
Notwendigkeit voraussetzt zur Ausübung dieser Liebe, da es
die Gelegenheit dazu bietet. Man gibt sich für andere hin.
Der Mensch braucht nun einen Beweggrund, einen Gegenstand der Liebe; und damit diese Liebe vollkommen ist, müssen Beweggrund und Gegenstand vollkommen sein. Wenn
man sich für einen Menschen aufopfert, so kann das aus
einem edlen Beweggrund geschehen, aber wenn der Gegenstand unvollkommen ist, dann erhebt die Liebe sich nicht und
kann sich nicht über ihren Gegenstand erheben. Beides findet
sich bei Christus. Er hat Sich für uns bedürftige Wesen, Gegenstände Seiner erbarmenden Liebe, hingegeben, aber Er
hat Sich Gott, dem unendlich vollkommenen Wesen, dargebracht und so einen vollkommenen Gegenstand Seiner Liebe
erlangt, was nicht der Fall gewesen wäre, wenn Er Sich nur
für uns hingegeben hätte.
So sollen wir in unserem Wandel immer bereit sein/ für unsere Brüder uns aufzuopfern und uns mit Selbstverleugnung
zu dem Dienst für sie weihen. Das kann jedoch nur geschehen, wenn wir uns selbst Christo darbringen, Dem wir als
rechtmäßig erworbenes Eigentum angehören. So ist also die
Regel unseres Betragens und unseres Wandels keine andere
als die, die wir bei Gott Selbst finden, während Christus in
Seinem Leben hier auf Erden unser Vorbild ist, damit wir
zu der Liebe, dem Bande der Vollkommenheit, die Bruderliebe
hinzufügen. Von uns wird nicht gesagt, daß wir die Liebe
sind, denn dies ist nur das Vorrecht Gottes. Er ist die Liebe,
und Er liebt uns ohne irgendwelchen Beweggrund; Er liebt
uns um deswillen, was Er Selbst ist. Dies könnte bei einem
Geschöpf nicht der Fall sein. Wir ahmen Ihn nach, wenn uns
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Unrecht geschieht. Die Liebe aber, die aus sich selbst und
ohne jeden Beweggrund sich zu anderen hinneigt, gehört
Gott allein an.
Das Licht ist eine für sich bestehende Eigenschaft — die
Reinheit, die auch alles offenbar macht. Es ist der zweite
Name, den Gott Sich gibt, um auszudrücken, was Er ist. So
war auch Christus auf der Erde das Licht der Welt. Wir waren in Finsternis, jetzt sind wir Licht in dem Herrn. So finden
wir auch im Brief an die Philipper das, was in jeder Beziehung
von Christus gesagt werden konnte, auf uns angewandt,
wenn der Apostel sagt: „Tadellos und lauter . . . unbescholtene Kinder Gottes, inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts, unter welchem ihr scheint wie Lichter in der
Welt, darstellend das Wort des Lebens". Insofern wir Christus als Leben in uns haben, haben wir Anteil an dieser
neuen Natur. Reinheit der Beweggründe und Gedanken gemäß der göttlichen Natur und das, was den wahren Charakter der uns umgebenden Welt offenbar macht, kennzeichnen
diese neue Natur. Wir sind Licht in dem Herrn. So sind die
beiden und einzigen Namen, die Gott Sich gibt, um auszudrücken, was Er ist, nämlich Lich t und Liebe , der
Ausdruck dessen, was der Christ in seinem Wandel sein
soll. Ja, er ist Licht in dem Herrn. —
Kurze Gedanken
(Philipper 3)
Im dritten Kapitel des Philipperbriefes haben wir in Christus
den verherrlichten Menschen im Himmel. Das Auge des Apostels ist von Ihm erfüllt. Hierin liegt die wahre Kraft und
die wahre Energie zum Wirken.
Wir brauchen nichts als die Beseitigung des Ichs.
Wenn der Glaube wirksam ist, trüben keine Umstände das
Herz.
Es ist kein Opfer, diejenigen Dinge aufzugeben, die wir für
Dreck zu achten gelernt haben, und es ist nicht schwer, etwas
aufzugeben, wenn das Auge auf Christus gerichtet ist. Die
99
Schwierigkeit aber ist, daß das Auge auf Christus gelichtet
bleibt.
Denke ich nur an Christus, wenn ich in der Rennbahn laufe,
dann werfe ich den Mantel als hinderlich ab.
Wir sollten an das Selbstgericht denken und auf unsere
völlige Gleichförmigkeit mit Christus achten.
Das Ziel der Ermahnung ist einfach das, was Christus ist.
Der Mensch hat immer in gleicher Weise und bald gefehlt,
wenn auch Besseres eingeführt wurde. Der Mensch fiel im
Paradies. — Der Mensch machte das goldene Kalb. — Der
Mensch kreuzigte Christus, und alle Menschen suchen das
Ihrige, nicht das, was Christi Jesu ist. Sehe ich den ersten
Menschen in Verderbtheit und Niedergang, so sehe ich den
zweiten Menschen in Vollkommenheit und Herrlichkeit.
Sehe ich das Gesetz gebrochen, dann sehe ich das Werk des
Gesetzes im Herzen geschrieben.
Sehe ich die Kirche auf der Erde im Verfall, so sehe ich die
Kirche im Himmel in vollkommenem Glanz und in vollendeter Schönheit.
Nichts kann die Kette zerreißen, die der Glaube zwischen uns
und der Macht Gottes bildet. Der Glaube spricht: „Wenn
Gott für uns ist, wer wider uns?"
Das Licht leuchtet am hellsten in dunkler Nacht. So sollte es
mit unserem Glauben sein, wenn alles ringsum dunkel ist.
Christi Pfad von der Herrlichkeit bis zu uns herab war eine
fortgesetzte Erniedrigung, bis zum Tod am Kreuz. Wo war
auf diesem Pfade das Ich? Nirgends. Und nun sagt der Heilige Geist durch Paulus: „Dies e Gesinnun g sei in
euch". — In dem Maße, wie das eigene Ich vergessen wird,
ist Gott da. — In Christus fand das Ich nirgends eine Stätte;
in uns muß der Tod des eigenen Ichs stattfinden. Wo kein
Gericht dieses Ichs in der Kraft des Heiligen Geistes stattfindet, da ist es sicher wirksam.
Christi Pfad war ein göttlicher, indem Er in der Gnade und
Liebe Gottes durch diese Welt ging.
100
Christus gleich zu sein, das ist der göttliche Pfad, den ich zu
wandeln habe.
Nichts vermag die Allgenugsamkeit Christi zu schmälern,
mögen auch die Umstände sein wie sie wollen.
Christus konnte in dieser Welt keinen Platz einnehmen. Was
ist dein Wunsch? Ein Platz in dieser Welt, oder Christi Platz?
Lukas 12, 32 beginnt mit der Ankündigung einer Zeit, in
der alles offenbar gemacht werden wird.
So seid denn recht offenbar vor Gott!
Der Herr nennt den einen Narren, der sich Schätze sammelt in dieser Welt. Ach, wie groß ist die Menge solcher
Narren in der Welt!
Alles was wir in dieser Welt finden ist Betrug und Torheit.
Inwiefern lieben es unsere Herzen, daß alles ins Licht gebracht werde? Wenn wir davor zurückschrecken, so liefert
dies den Beweis, daß wir in unseren Gewissen nicht rein
sind; unser Gewissen hat es noch nicht ins Licht gebracht.
Wir brauchen fortwährend das Licht der Heiligen Schrift, um
an die wirksame Kraft der Erlösung zu glauben.
I c h bi n verpflichte t z u glauben , daß Christus
„durch ein Opfer auf immerdar vollkommen gemacht hat, die
geheiligt werden".
Der Glaube vertraut Gott in allem.
Wir müssen wissen, daß Christus, Der der Richter sein wird,
zuerst der Heiland ist.
„Ich will euch ein Reich geben", sagt Er, -— So gebt nun für
Christus alles auf!
Die Wiederkunft des Herrn, um die Seinigen zu Sich zu nehmen, ist den Gläubigen als ihre wahre und eigentliche Hoffnung gegeben. Die Hoffnung ist nicht die Entkleidung (der
Tod), sondern die Überkleidung.
Wir sollen die Lenden umgürtet haben und wachen, — das
ist kein Ausruhen.
101
Das Passahlamm und das Rote Meer
(2. Mose 12 und 14)
Bei den Befreiungen des Volkes Gottes finden wir stets, daß
Gott die Welt durch Gerichte heimsucht. Er legt Zeugnis
gegen sie ab, und Sein strafender Arm kennt dann keine
Schonung. Das Gesetz macht einen Unterschied zwischen
den Menschen je nach ihren verschiedenen Handlungen, aber
der Heilige Geist überführt die Welt von der Sünde, weil sie
nicht an Den glaubt, Den Gott gesandt hat. Das Evangelium
beginnt damit, sich mit einer Welt zu beschäftigen, die bereits verurteilt und verdammt ist. Gott hat das menschliche
Herz auf jede Weise geprüft, und das Evangelium setzt voraus, daß die Probezeit vorüber und die ganze Welt verloren
ist. Freilich wünscht die Seele oft, sich selbst zu überzeugen,
wie groß ihre eigene Kraft sei, aber auf diesem Wege macht
sie nur die Erfahrung, daß sie keine Kraft besitzt. Selbst der
Gläubige sucht noch oft sich seiner eigenen Kraft vor Gott
zu rühmen, doch dadurch verunehrt er Jesus und leugnet den
wahren Zustand seiner Natur, den Gott gerichtet hat.
In Ägypten genügte es Gott, Sein Gericht durch die Vertilgung aller Erstgeburt zu offenbaren. Pharao wollte nicht
glauben, daß das Volk Israel in die Wüste wandern und
Gott dienen würde. Deshalb wirkte Gott Wunder und ließ
allerlei Plagen über Ägypten kommen, um das Herz Pharaos
zu brechen und bei ihm eine Anerkennung Seiner Rechte zu
erzwingen, und dennoch blieb alles ohne Erfolg. Pharao
beugte sich nicht, sondern verhärtete sein Herz immer mehr,
bis Gott ihn vollends verhärtete und ihn schließlich zur Warnung aller Menschen als ein Denkmal des Gerichts hinstellte.
Wie in den Tagen Noahs und Lots wird auch jetzt die Welt
vor dem herannahenden Gericht gewarnt. Nahe ist die Offenbarung des Herrn Jesus vom Himmel, wenn Er erscheinen
wird „mit den Engeln seiner Macht in flammendem Feuer,
wenn er Vergeltung gibt denen, die Gott nicht kennen und
denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus
nicht gehorchen" (2. Thess 1, 8). Inzwischen verlangt Gott
eine völlige Unterwerfung unter Seinen geoffenbarten Willen.
102
Er will, daß die Welt Jesus anerkennt, und alle, die nicht
wollen, werden bei dem kommenden Gericht dazu gezwungen, und zwar zu ihrer eigenen Schande und ewigem Leid.
Gott stellte Seinen Sohn in Niedrigkeit dar, um die Welt zu
erretten; aber alles ist umsonst, wenn sie sich nicht vor Jesus
beugt, denn dies allein ist es, was Gott fordert und hochschätzt. An den Sohn zu glauben, bedeutet ewiges Leben und
Heil; Ihn zu verwerfen, bedeutet Gericht. Gott verlangt eine
völlige Übergabe des Herzens an den Heiland der Sünder —
eine Übergabe an Seine eigene Gnade in Ihm. Hierdurch wird
das Herz und alles umgewandelt, aber jede Frage hinsichtlich
guter Werke beiseitegesetzt. Es dreht sich alles um den
einen Punkt: ob wir Jesus annehmen oder verwerfen. Gott
sieht über alles andere hinweg. Zachäus konnte von ihm reden, was er zu tun gewohnt war, aber darum handelte es sich
nicht. Der Herr Jesus sagt: „Heute ist diesem Hause Heil
widerfahren". Sobald Jesus aufgenommen ist, kehrt Leben
ein. Wer Ihn verschmäht, den trifft dereinst die Rache, weil
er sich nicht vor Ihm gebeugt hat.
Welch ein Glück für den armen, überführten Sünder, daß er
nicht gezwungen ist, in sich selbst etwas zu suchen, womit
er vor Gott erscheinen muß! Wenn das Herz geöffnet ist,
dann ist Christus die Gnade, die Herrlichkeit und die Vollkommenheit, die Gott fordert, und die sittliche Wirkung wird
sicher bald folgen. Jetzt redet das Wort noch von der sicheren
Erscheinung des Gerichts. Satan hat im praktischen Sinn
Besitz von der Welt genommen, aber Gott hält Seine Rechte
aufrecht. Die Ungläubigen werden vom Feind betrogen und
befinden sich ganz in seiner Macht. Satan tut, was in seinen
Kräften steht, um der Welt vorzuspiegeln, sie könne frei und
glücklich einhergehen, weil sie gut und rechtschaffen genug
sei, aber Gott hält Seine Rechte aufrecht. Die Welt will dem
Evangelium unseres Herrn nicht gehorchen und hofft dennoch, dem Gericht entfliehen zu können. Auch benutzt Satan
alles, dessen Gott Sich zum Segnen bedienen will, für seine
Zwecke. Die Unbekehrten in der Christenheit liefern uns
dafür die Beweise. Ihr natürliches Gewissen schämt sich dessen, was die Heiden tun. Gerade dies benutzt Satan, um ihnen
103
vorzuspiegeln, daß sie vor Gott treten könnten und Ihn anbeten dürften, weil bei ihnen nicht solche in die Augen fallenden bösen Dinge geschehen, wie bei den Heiden. Aber
Gott behauptet Seine Rechte. Nichts ist gültig, wenn nicht
Jesus im Glauben angenommen wird.
In Jesus wird dem Gewissen alles dargestellt, was in Gott
und was in dem Menschen ist. In Ihm erblicken wir die Heiligkeit Gottes, aber nicht um zu verdammen, sondern in vollkommener Gnade. Gott verlangt nur eine völlige Hingabe
an Seinen Sohn. Jesus weist niemand zurück. Er ist Gott und
Gott will in aller Güte das Herz an Sich ziehen; Er ist Mensch
geworden, um Sich dem Menschen in aller Niedrigkeit darzustellen und jeden aufzunehmen, der zu Ihm kommt, denn das
ist der Wille Dessen, Der Ihn gesandt hat. Wenn Jesus verworfen wird, dann ist das der endgültige Beweis, daß das
Herz Gott nicht will, in welcher Weise Er Sich auch offenbaren möge; es ist ein unwiderlegbares Zeugnis des Hochmuts und der Verhärtung des menschlichen Herzens, das
nicht vor dem Gott bestehen kann, Der Sich in Liebe geoffenbart hat. Der Stolz schämt sich Dessen, Der am Kreuze
hing, die Eitelkeit kann nicht einem Jesus nachfolgen, Der
verschmäht und verworfen wurde. Gott sucht auch uns auf
diese Weise zu prüfen, obwohl wir es nicht lieben. Der
Mensch soll bekennen, daß er ein Sünder ist, er soll sein Gewissen unterwerfen und seinen Willen aufgeben; aber er will
nicht. Es ist die Freude Gottes, dem Verlorenen zu begegnen,
aber der menschlichen Natur ist äußerst zuwider, sich in ihrem
Elend finden zu lassen. Nur die Gnade kann sie dazu, fähig
machen. Aber aus diesem Grunde haßt sie die Gnade mehr
als das Gesetz; sie kann es nicht ertragen, ganz blosgestellt
zu werden. Aber nur dann kann Gott in Wahrheit segnen
und die Seele erretten, wenn das Herz erforscht ist. Gott handelt Seine m Willen gemäß und nicht nach unseren Gedanken. Wenn der Mensch nicht an Jesus glaubt, muß Gott
Sich ihm im Gericht offenbaren.
Ägypten mußte geschlagen werden. Jene aber, die sich Gott
unterwarfen und dem Blut des Lammes vertrauten, waren in
völliger Sicherheit. Israel war von dem kommenden Gericht
104
überzeugt, und so sollte es auch stets bei den Gläubigen sein,
daß sie die Wege Gottes betrachten, wenn Er die Welt nach
Gerechtigkeit richten wird. Wenn aber Gott das Gericht offenbar^ dann gibt Er auch Mitleid und Wege, um diesem zu
entfliehen. Die Seele, in der die Furcht Gottes eine Stätte gefunden hat, hält sich an Seinem Wort. — Zwischen Gott und
Israel erhob sich eine wichtige Frage. Konnte Israel bestehen,
wenn Er zum Gericht kam? Die Ägypter waren Sünder und
ohne jeden Zweifel dem Gericht verfallen, aber was konnte
das Los der Kinder Israel sein? Wo waren ihre Sünden? Gott
allein wußte einen Ausweg. Er befahl Mose, daß sie alle von
dem Blut des Lammes nehmen und es an die beiden Türpfosten und an die Oberschwelle streichen sollten. „Und das
Blut soll euch zum Zeichen sein an den Häusern, worin ihr
seid; und sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorübergehen; und es wird keine Plage zum Verderben unter euch
sein, wenn ich das Land Ägypten schlage". — Natürlich muß
das dem menschlichen Verstand als Torheit erscheinen, aber
der einfache Glaube ehrt das Wort Gottes und handelt
demgemäß. Der Engel Jehovas durchzog das Land und
wenn er dem rechtschaffensten Israeliten begegnet wäre,
der nicht nach dem Gebot Gottes die Türpfosten mit Blut
bestrichen hätte, dann hatte er in dessen Haus eintreten
und töten müssen. Denn Gott richtete die Sünde durch dieses
Zeichen, und die Sünde macht alles gleich. Wo das Blut nicht
war, da stand die Sünde in ihrer ganzen Häßlichkeit noch ungesühnt und ungerichtet vor Gott.
So finden wir auch jetzt entweder Christus und das Heil,
oder keinen Christus und kein Heil. „Wer an den Sohn
glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem Sohne nicht glaubt,
wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt
auf ihm". Für diejenigen, die sich innerhalb der mit Blut
besprengten Türen befanden, war die größte Sicherheit,
während Jehova das Gericht an den Ägyptern durch Seinen
Engel vollziehen ließ. Gott läßt Sich nicht betrügen, wie auch
das Gericht ausfallen mag. Beachten wir wohl, es heißt nicht:
„Wenn ih r das Blut seht", sondern: „Sehe ic h das Blut".
Viele Seelen ruhen oft, wenn auch nicht auf ihrer eigenen
105
Gerechtigkeit, so doch auf den Gefühlen, mit denen sie das
Blut betrachten. So köstlich es jedoch ist, den Wert dieses
Blutes zu kennen und seine tiefe Bedeutung im Herzen zu
tragen, so ist dies doch nicht der Grund des Friedens. Der
Friede ist ganz und gar davon abhängig, wie Gott das Blut
betrachtet; Er allein kann es in seinem vollkommenen Wert
schätzen, und nach Seinen Gedanken sind dadurch alle
Sünden getilgt. Er ist es, dem die Sünde ein Greuel und
Dessen Zorn ihretwegen erregt ist, und Er sieht jetzt die
Kraft dieses Blutes, das von aller Sünde reinigt. Es könnte
nun die Frage aufgeworfen werden: „Muß ich denn nicht an
den Wert dieses Blutes glauben?" Auf jeden Fall. Aber du
glaubst daran, wenn du siehst, daß Gott es für sündentilgend hält. Du darfst seinen Wert nicht nach dem Maß deiner
Gefühle beurteilen. Der Glaube richtet sich einfach nach den
Gedanken Gottes.
Gott sieht das Blut, und das ist hinreichend. In diesem Glauben ist das Gewissen befriedigt, und wir entgehen dem zukünftigen Zorn, weil Gott den Wert dieses Blutes kennt,
nicht aber, weil wir die ganze Häßlichkeit der Sünde und
die Kostbarkeit des Blutes des Lammes erkennen. Gott schätzt
das Blut Seines Sohnes ebenso hoch, wie Er die Sünde in uns
haßt und verabscheut. Dies fühlen und erkennen wir am
tiefsten, wenn wir uns diese Wahrheit durch den Glauben
zu eigen machen und darauf ruhen. Der Glaube erfaßt das
über die Sünde angekündigte Gericht und fühlt, wie unbedingt notwendig es ist, daß Gott das Blut des Lammes so
hoch schätzt und auf diesem Wege die Erlösung bewirkt. Dies
ist die erste große und wichtige Frage — eine Frage, die
zwischen einem heiligen Gott und einem sündigen Geschlecht
entschieden werden muß. Gott tritt als Richter auf, aber das
von Sünden reinigende Blut der Erlösung versperrt Ihm den
Weg, hält den zum Richten gehobenen Arm zurück und
schützt den Sünder vollkommen. Das Blut, dessen Wert
Gott so hoch schätzt, sichert vor den Schrecken des Gerichts.
Während Gott die Ägypter schonungslos heimsuchte, verzehrten die Kinder Israel das geschlachtete Lamm in Ruhe
106
und Sicherheit, denn nach dem Befehl Jehovas sollten sie
in derselben Nacht das am Feuer gebratene Fleisch und
ungesäuertes Brot mit bitteren Kräutern essen. Aber warum mit bitteren Kräutern? Es war ein Vorbild davon,
was der Sünder im Augenblick seiner Errettung in seinem
Herzen fühlt. Wir fühlen die Bitterkeit und Häßlichkeit der
Sünde umso tiefer, je mehr wir Christus kennen und von
Seiner Reinheit genießen. Aber dennoch war Gott mit ihnen,
und der leiseste Zweifel an dem Worte Gottes in bezug auf
ihre Befreiung wäre Sünde gewesen. Es ist Sünde, daran zu
zweifeln, daß das Blut des Sohnes Gottes von aller Sünde
reinigt. Gott hat es gesagt, und der Zweifler macht Gott
zum Lügner.
Die Kinder Israel waren zwar noch in Ägypten, aber nachdem
sie das Lamm mit den bitteren Kräutern der Reue verzehrt
hatten, begannen sie, ihre Reise nach Kanaan anzutreten, und
Gott war mit ihnen. Sie hatten ihre Lenden umgürtet, hatten
Schuhe an ihren Füßen und Stäbe in ihren Händen. Wie klar
bezeichnet dieses Vorbild unsere Stellung in dieser Welt, die
für uns nichts weiter ist als die leere Grabstätte Jesu. Israel
trat seine Pilgerreise an, nachdem die Frage der Sünde vor
Gott vollkommen geregelt war, und diese Pilger hatten das
volle Bewußtsein, daß sie selbst inmitten der Gerichte Gottes
ganz in Sicherheit waren. Wenn Gott Sich einer Seele offenbart, kann sie selbstverständlich nicht eher Frieden finden, als
bis sie Seine Gnade ebenso klar erkennt wie Sein Urteil über
die Sünde. Der Christ weiß, daß sein Gericht auf Christus
gefallen ist; er fängt an, sich der Gerechtigkeit Gottes zu
unterwerfen, — einer Gerechtigkeit, die unsere Natur und
deren Handlungen in ihren Wurzeln und Zweigen völlig
verdammt, uns aber zugleich auf Den hinweist, Der das Gericht an unserer Statt getragen hat.
Hast du dich Jesus unterworfen? Es ist der Wille Gottes, daß
du es tust. Er verlangt weder Werke noch Opfer, Er zeigt
dir, was du bist, was Jesus getan hat und was Er ist.
Der größte Sünder wird von Ihm in vollkommener Gnade
angenommen. „Siehe, jetzt ist die wohlangenehme Zeit;
107
siehe, jetzt ist der Tag des Heils!" — Als Israel auszog,
überschritt die Wut des Feindes alle Grenzen. Pharao spannte
alle Wagen Ägyptens an und jagte mit Rossen und Reitern
und seinem ganzen Heer dem auswandernden Volk nach.
Noch nie waren die Kinder Israel so niedergeschlagen und
traurig gewesen als am Abend ihrer Befreiung. Nachdem die
zwischen Gott und ihnen liegende Sünde beseitigt worden
war, handelte es sich nur noch um die Frage zwischen Gott
und dem Feind. Hätten sie dies verstanden, dann wären sie
ruhig gewesen.
„Und Mose sprach zu dem Volke: Fürchtet euch nicht! stehet
und sehet die Rettung Jehovas, die er euch heute schaffen
wird; denn die Ägypter, die ihr heute sehet, die werdet ihr
hinfort nicht mehr sehen ewiglich. Jehova wird für euch
streiten, und ihr werdet stille sein . . . Und die Kinder Israel
gingen mitten in das Meer hinein auf dem Trockenen, und
die Wasser waren ihnen eine Mauer zur Rechten und zur
Linken .. . So rettete Jehova Israel an selbigem Tage aus
der Hand der Ägypter, und Israel sah die Ägypter tot am
Ufer des Meeres. Und Israel sah die große Macht, die Jehova
an den Ägyptern betätigt hatte; und das Volk fürchtete Jehova, und sie glaubten an Jehova und an Mose, seinen
Knecht" (2. Mo 14, 13. 29-31).
Es ist nötig, einen Unterschied zu machen zwischen dem Gericht an der Erstgeburt und dem Gericht, das im Roten Meer
stattfand. Das zweite war eine Folge des ersten, das allein
den Pharao schon von seiner späteren Verfolgung hätte abschrecken sollen. Das Blut, das das Volk vor dem Gericht
Gottes schützte, hat in gewissem Sinn eine weit tiefere Bedeutung als das Rote Meer, obwohl auch hier ein Gericht
vollzogen wurde, und das hier stattfindende Ereignis eine
herrliche Offenbarung der erhabenen Macht Gottes war, Der
mit dem Hauch Seines Mundes den Feind vernichtete. Er befreite Sein Volk durch ein verheerendes Gericht. Aber das
Blut des Lammes bezeichnet das sittliche Gericht Gottes und
die völlige Befriedigung Seines ganzen Wesens. Das einmal
von Seiten Gottes als Mittel zur Befreiung vom Gericht aner108
kannte Blut hinderte Ihn in Seiner Heiligkeit, Gerechtigkeit
und Wahrheit, jene anzurühren, die unter dem Schutz dieses
Blutes standen. Seine unendliche Liebe hatte ein passendes
Mittel gefunden, um Seine Gerechtigkeit nach allen Seiten
hin völlig zu, befriedigen. Und beim Anblick des Blutes, das
allem entsprach, was die Vollkommenheit Seines Wesens
forderte, ging Er mit Seiner Gerechtigkeit und Wahrheit
vorüber, ohne irgendwelche Ansprüche geltend zu machen.
Dennoch aber sehen wir Gott selbst im Vorübergehen als
den Richter. Und aus diesem Grund ist der Friede ungewiß
und schwankend, so lange die Seele auf diesem Grund stehen
bleibt. Ihr Weg ist noch in Ägypten, wenn sie auch ohne
Zweifel wahrhaft bekehrt ist, denn Gott trägt für sie noch
den Charakter als Richter und der Feind ist noch in der
Nähe. Die Seele muß durch das Rote Meer gehen und mithin
Ägpyten, d. h. die Welt, verlassen. Am Roten Meer handelt
Gott mit Macht der Absicht Seiner Liebe gemäß. Dort wird
der Feind, der dem ausziehenden Volk auf dem Fuße folgt,
ohne Rettung vernichtet. Dies wird einmal eine herrliche Erfüllung in den Tagen der großen Drangsal finden, wenn das
Volk, das — wenigstens für das Auge Gottes — durch das
Blut geschützt ist, vor seinem Bedränger, dem Antichristen,
auf der Flucht ist.
Als sittliches Vorbild stellt uns das Rote Meer den Tod und
die Auferstehung Christi und Seines Volkes mit Ihm vor
Augen. Gott ist dort bemüht, die Seinigen aus dem Tode zu
bringen, in den Er sie mit Christus versetzt hatte, und zugleich entzieht Er sie der Gefahr, von dem Feind, der sie verfolgt, eingeholt zu werden. Schon jetzt haben wir durch den
Glauben Teil an Jesu. Durch Sein am Kreuz vergossenes
Blut sind wir vor dem kommenden Gericht geschützt, und
durch Seine Macht von der Gewalt Satans, des Fürsten dieser
Welt, befreit. Zuerst schirmte uns das Blut vor dem Gericht,
und dann befreite uns die Macht Gottes von der ganzen
Macht und den Anfechtungen des Feindes, der uns bis aufs
äußerste verfolgte.
Die Welt, die denselben Weg einschlagen will, wird von den
Wogen des Meeres verschlungen. Welch eine ernste War109
nung! Alle/
die sich Christen nennen, haben sich ihrem Bekenntnis nach auf den Boden des kommenden Gerichts gestellt und damit die Notwendigkeit einer Rechtfertigung anerkannt, ohne irgendwie die Tragweite ihres Bekenntnisses
und der Gedanken Gottes zu erkennen. Der Gläubige geht
durchs Rote Meer, d. h. durch die Schrecken, des Gerichts, in
und mit Jesus, weil er sich getrennt von Ihm hoffnungslos
verloren sieht. Der nur bekennende Christ geht wie jeder
Ungläubige diesen Weg in eigener Kraft, und das was dem
Gläubigen zur Rettung und Befreiung dient, gereicht ihm zum
Untergang und Verderben. Israel maß das Hindernis, das
das Rote Meer ihm entgegenstellte, an seiner eigenen Ohnmacht und hielt daher seine Rettung für unmöglich. So erschrickt stets das erwachte Gewissen vor Tod und dem Gericht. Aber Christus ist gestorben und hat für uns das Gericht auf Sich genommen, so daß wir völlig von dem befreit
sind, was an und für sich mit Recht ein Gegenstand des
Schreckens für uns war. Der Weltmensch hingegen faßt diese
Wahrheit mit eigener Kraft auf, als ob keine Gefahr vorhanden sei; in falscher Sicherheit geht er auf seinem Weg weiter und eilt in das ewige Verderben.
Welch ein Glück für den Gläubigen! Tod und Gericht, frü -
h e r ein Gegenstand der Furcht, sind jetz t für ihn ein
Gegenstand der Freude. Jetzt, da er den gesegneten Erfolg
des Todes Christi in der Hand Gottes erblickt, ist seine
Furcht in Freude verwandelt. „Aus dem Fresser kam Fraß,
und aus dem Starken kam Süßigkeit" (Ri 14, 14). Ja, Honig
ist aus dem Leibe des toten Löwen gekommen. Die Auferstehung Christi ist das sichere, ewig gültige Zeugnis, daß das
Gericht für den Gläubigen vorüber ist, das aber für die Welt
unaufhaltsam herannahen wird. Christus ist auferstanden;
und so gewiß wie wir durch Ihn gerechtfertigt sind, wird die
Welt durch Ihn gerichtet werden. O möchten doch alle sich
warnen lassen, die an ihrem Herzen noch nicht die erlösende
Kraft des Blutes erfahren haben!
110
Die Vorsorge Gottes
für die Bedürfnisse des Menschen
Das dritte Buch Mose zeigt uns deutlich, mit welcher Sorgfalt
Gott an die Bedürfnisse der Menschen gedacht hat. Wir finden dort ein Opfer, einen Priester und eine Stätte der Anbetung. Alles was der Mensch nötig hat, um Gott nahen zu
können, ist vorhanden, aber alles ist von Gott angeordnet
und durch das Gesetz festgelegt. Nichts fehlte, nichts blieb
für die fruchtbare Einbildungskraft des Menschen übrig, was
sie durch kluge Einrichtungen hätte ergänzen müssen. „Und
Aaron und seine Söhne taten alles was Jehova durch Mose
geboten hatte" (3. Mo 8, 36). Ohne das Wort Jehovas konnte
weder der Priester noch das Volk einen Schritt auf dem
rechten Wege tun. So ist es immer. In dieser finsteren Welt
gibt es nicht einen einzigen Lichtstrahl außer dem hellen
Schein, den das Wort Gottes hervorstrahlen läßt. „Dein Wort
ist Leuchte meinem Fuße und Licht für meinen Pfad" (Ps 119,
105). Es ist in der Tat ein wahres Glück, wenn die Kinder
Gottes dieses Wort so ehren, daß sie sich in allen Dingen
dadurch leiten lassen. In bezug auf unsere Anbetung brauchen wir jetz t ebenso sehr die Leitung und Führung des
Herrn wie es damal s bei den Israeliten der Fall war. „Es
kommt die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter
den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch
der Vater sucht solche als seine Anbeter" (Joh 4, 23). Die Anbetung muß in der Weihe des Geistes und nach der Wahrheit
Gottes stattfinden. Aber Gott sei gepriesen! wir besitzen
alles in der Person und dem Werke unseres Herrn Jesus. In
Ihm haben wir sowohl das Opfer und den Priester als auch
das Recht, um ins Heiligtum eintreten zu können. O möchte
doch stets das Bewußtsein uns beleben, daß Er der Grund,
das Wesen und der liebliche Weihrauch unserer Anbetung
ist!
Laßt uns diese drei bereits erwähnten Punkte etwas näher
beleuchten.
1. Zunächst müssen wir daran denken, daß da s Opfe r
d i e Grundlag e de r Anbetun g ist. Eine Gott
111
wohlgefällige Anbetung muß ein Gott wohlgefälliges Opfer
zur festen Grundlage haben. Der in sich selbst schuldige und
unreine Mensch braucht ein Opfer, um von seiner Schuld
befreit, von seinen Befleckungen gereinigt und für die heilige
Gegenwart Gottes passend gemacht zu werden. „Ohne Blutvergießung ist keine Vergebung" (Hebr 9, 22). Ohne Vergebung und ohne ein Bewußtsei n der Vergebung kann
keine glückliche Anbetung, kein Lob des Herzens und keine
Danksagung stattfinden. Der Gang zu einem sogenannten „Anbetungsort" und die Anbetung Gottes selbst sind
zwei ganz verschiedene Dinge. Gott ist heilig, und der
Mensch, der Ihm naht, muß für Seine heilige Gegenwart
passend gemacht sein. Bei jener ernsten Gelegenheit, als die
Söhne Aarons Nadab und Abihu fremdes Feuer vor Jehova
gebracht hatten, hören wir die feierlichen Worte: „Und Mose
sprach zu Aaron: Dies ist es, was Jehova geredet hat, indem
er sprach: In denen, die mir nahen, will ich geheiligt, und
vor dem ganzen Volke will ich verherrlicht werden" (3. Mo
10, 3). Nur Jehova konnte die Schritte dessen leiten, der sich
Ihm nahte. Dies ist der erhabene Gegenstand, den das dritte
Buch Mose ausführlich behandelt.
Nur auf der Grundlage eines dargebrachten und angenehmen
Opfers konnten die Kinder Israel als das anbetende Volk
Gottes betrachtet werden, und ebenso sind jetz t die an
Christus Glaubenden auf Grund eines dargebrachten und angenehmen Opfers zu Anbetern gemacht worden. (Man lese
aufmerksam 3. Mo 16 und Hebr 9, 10.) Die Gläubigen der
jetzigen Zeit haben betreffs des Opfers, des Priesters und
des Ortes der Anbetung den Platz Israels eingenommen,
jedoch in einer weit höheren Ordnung. Der Gegenstand zwischen beiden ist groß/ und er wird in der Heiligen Schrift —
namentlich im Hebräerbrief — klar ans Licht gestellt. Die
jüdischen Opfer erreichten nie das Gewissen des Darbringers,
und der jüdische Priester konnte nie zu ihm sagen: „Du bist
rein!" Die Gaben und Schlachtopfer, die unter dem Gesetz
dargebracht wurden, konnten, wie der Apostel sagt, „dem
Gewissen nach den nicht vollkommen machen . . . , der den
Gottesdienst übte" (Hebr 9, 9). Das Gewissen ist sozusagen
112
der Widerschein des Opfers; es konnte nicht vollkommen
sein, da das Opfer nicht vollkommen war. „Denn unmöglich
kann Blut von Stieren und Böcken Sünden hinwegnehmen"
(Hebr 10, 4). Die israelitische Anbetung stand also in Verbindung mit ungenügenden Opfern, mit beschwerlichen Gebräuchen und mit einem ungereinigten Gewissen, mit Dingen
also, die in dem Anbeter einen Geist der Knechtschaft und
der Furcht erzeugten.
Aber welch einen Gegensatz zu all diesem bildet das ein
für allemal geschehene und angenommene Opfer des Leibes
Jesu Christi! „Jetzt . . . ist er . . . geoffenbart worden zur
Abschaffung der Sünde durch sein Opfer" (Hebr 9, 26). Alles
ist vollbracht. „Nachdem er durch sich selbst die Reinigung
der Sünden bewirkt, (hat er) sich gesetzt . . . zur Rechten
der Majestät in der Höhe" (Hebr 1, 3). Wenn der Anbeter
auf der Grundlage dieses Opfers vor Gott tritt, findet er,
daß es hier für ihn nichts anderes zu tun gibt, als daß er
als Priester sein Lob erhebt zu Dem „der (uns) berufen hat
aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht". Selbst
Christus hat nichts mehr bezüglich unserer Rechtfertigung
und unserer Annahme zu tun. „Denn mit einem Opfer hat
er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden"
(Hebr 10, 14). Der Israelit war in Verbindung mit seinem
Opfer nur de r For m nac h rein, und zwar gleichsam
nur für den Augenblick, aber der Christ ist kraft des Opfers
Christi i n Wirklichkei t rein, und zwar für immer
und ewig. Wie süß ist das Wort: „Auf immerdar"! Es ist
das allgemeine Vorrecht aller Gläubigen, als Anbeter Gottes
„durch das ein für allemal geschehene Opfer des Leibes
Jesu Christi" vollkommen gemacht zu sein. Diese äußerst
wichtige Tatsache ist in den Zeugnissen der Heiligen Schrift
in ihrer ganzen Fülle und in der klarsten Weise ans Licht
gestellt. Denn die einmal gereinigten Anbeter sollen „kei n
Gewisse n meh r vo n Sünde n haben " (Hebr
10, 2). „Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von
aller Sünde" (1. Joh 1, 7). „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken" (Hebr 10, 17). Durch
das fü r un s vollbrachte Werk Christi sind alle unsere
113
Sünden weggetan. Wir wissen jetzt durch den Glauben an
das Wort Gottes, daß sie alle vergeben und vergessen sind.
Aus diesem Grund können wir Gott nahen und in Seine heilige Gegenwart treten mit der glückseligen Gewißheit, daß
Gott weder eine Sünde noch einen Flecken auf uns sieht.
Unser großer Hoherpriester hat, nachdem Er uns durch das
Blut Seines Kreuzes von allen Sünden gereinigt hat, zu uns
gesagt: „Ihr seid ganz rein" (Vgl. Joh 13)! Indem wir Seinen
Worten glauben, ist das Bewußtsein von Schuld hingweggetan; wir haben „kei n Gewisse n meh r vo n Sün -
den" .
Wir müssen jedoch wohl verstehen, daß diese tiefe und kostbare Wahrheit nicht etwa die Bedeutung hat, als ob wir kein
Bewußtsei n mehr von Sünden hätten. Weit davon entfernt; im Gegenteil wissen wir, daß wir aus Mangel an
Wachsamkeit und durch einen nachlässigen Wandel ein
schlechtes Gewissen bekommen können, und daß wir uns wie
der Apostel üben sollen, „allezeit ein Gewissen ohne Anstoß
zu haben vor Gott und den Menschen" (Apg 24, 16). Jene
Schriftstelle will nur sagen, daß Christus durch das eine vollkommene vollbrachte Opfer Seiner Selbst alle unsere Sünden
mit Wurzel und Zweig weggenommen hat. Und wenn wir
durch die Gnade geleitet worden sind, diese köstliche Wahrheit zu erkennen und zu glauben, wie können dann noch
Sünden auf dem Gewissen sein? Christus hat sie alle getragen und weggenommen. Das kostbare Blut unseres einmal
dargebrachten und angenommenen Opfers hat uns von jedem
Makel und jedem Flecken der Sünde gereinigt. Es kann das
tiefste Gefühl über die in uns wohnende Sünde und über
die vielen Sünden und Vergehungen unseres täglichen Lebens bei uns vorhanden sein, — ein Gefühl, das uns stets
zwingen sollte, mit einem reumütigen Bekenntnis vor Gott zu
treten — so bleibt doch das lebendige Bewußtsein, daß Christus für unsere Sünden gestorben ist und sie alle so völlig
weggenommen hat, daß keine von ihnen uns je zur Last gelegt werden kann. Das ist in der Tat eine höchst bewundernswürdige Wahrheit, deren Fülle für das Verständnis des Anbeters unumgänglich ist. Wie könnten wir in der Gegenwart
114
Gottes stehen, wo alles rein und vollkommen ist, wenn wir
nicht so rein wären, wie Er uns haben will? Wir müssen so
rein sein, daß nicht wir und nicht andere Menschen, sondern
daß der unendlich heilige Gott mit uns zufrieden ist und Sein
alles durchdringendes Auge nicht einen Flecken, nicht eine
Spur von Sünde an uns entdeckt. Wir sagen nicht: „Wir haben keine Sünde!" denn dann betrögen wir uns selbst und
die Wahrheit wäre nicht in uns (1. Joh 1, 8); aber wir dürfen
im Vertrauen auf das Wort Gottes sagen: „Gott hat vergeben, Gott hat zugedeckt" Gott hat gereinigt, Gott rechtfertigt,
Gott sieht keine Sünde mehr, weil Er das Blut sieht, das uns
reinigt von aller Sünde". Und gepriesen sei Gott! alle, die an
Jesus glauben und in Seinem auf Golgatha vollbrachten Erlösungswerk Ruhe gefunden haben, haben Vergebung der
Sünden und sind gerechtfertigt. Sie besitzen ewiges Leben,
Gerechtigkeit und Frieden, weil sie in Jesus sind. Der erste
Notschrei um Erbarmen, der von den Lippen eines von seiner Schuld überzeugten Sünders kommt, findet eine genügende Antwort in dem Blut des Opfers. Dieses Blut dringt ein
in die tiefste Tiefe seiner Bedürfnisse, es erhebt ihn zu den
höchsten Höhen der Himmel, und befähigt ihn, dort ein
glückseliger Anbeter in der unmittelbaren Gegenwart des
Thrones Gottes zu sein. „Denn es hat ja Christus einmal für
Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß
er uns zu Gott führe" (1. Petr 3, 18). „Denn wenn das Blut
von Böcken und Stieren und die Asche einer jungen Kuh, auf
die Unreinen gesprengt, zur Reinigkeit des Fleisches heiligt,
wieviel mehr wird das Blut des Christus, der durch den
ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat,
euer Gewissen reinigen von toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen" (Hebr 9, 13. 14)! Ja, das Opfer ist vollkommen, darum ist auch seine Wirkung auf die Gewissen
vollkommen.
2. Weiter finden wir in der reichen Vorsorge der Gnade
Gottes de n Herr n Jesu s Christu s al s unse -
r e n große n Hohenprieste r i n de r Gegen -
war t Gotte s fü r uns . Dort steht Er für uns im
Dienst. „Wir haben einen solchen Hohenpriester, der sich
115
gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den
Himmeln, ein Diener des Heiligtums und der wahrhaftigen
Hütte, welche der Herr errichtet hat, nicht der Mensch" (Hebr
8, 1. 2.). Nachdem Er das Erlösungswerk vollendet hat, hat
Er Sich für immerdar zur Rechten Gottes gesetzt. Aaron wird
stets in einer stehenden Stellung dargestellt. Sein Werk war
nie zu Ende. Er stan d „täglich da, den Dienst verrichtend
und oft dieselben Schlachtopfer darbringend, welche niemals
Sünden hinwegnehmen können. Er aber, nachdem er ein
Schlachtopfer für Sünden dargebracht, hat sich auf immerdar
gesetzt zur Rechten Gottes" (Hebr 10, 11. 12). Sobald das
Gesetz über das Opfern gegeben worden war, wurde das
Priestertum eingesetzt. Die Heiligen finden jetzt beides in
Christus. Er ist unser Opfer und unser Priester. Einmal erschien Er am Kreuze fü r uns ; jetzt erscheint Er im Himmel fü r uns , und bald wird Er mi t un s in Herrlichkeit erscheinen. Die Erkenntnis dessen, was Er am Kreuz
vollbracht hat und was Er jetzt im Heiligtum droben tut,
nährt in unseren Herzen die Hoffnung Seiner baldigen Wiederkehr und leitet uns, auf Seine Erscheinung in Herrlichkeit
zu warten.
Im Neuen Testament lesen wir nur von zwei Priesterarten,
nämlich von Christus als dem großen Hohenpriester im Himmel, und von dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen
auf der Erde. „Auch ihr selbst, als lebende Steine, werdet
aufgebaut, ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um
darzubringen geistliche Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich
durch Jesum Christum" (1. Petr 2, 5). Und wiederum: „Dem,
der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in
seinem Blut, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu
Priestern seinem Gott und Vater" (Offb 1, 5. 6). Diese Stellen zeigen klar die allgemeine Stellung aller Gläubigen als
Priester von Gott. Das Neue Testament spricht an keiner
Stelle vor einer besonderen Klasse oder von einzelnen dazu
verordneten Personen, die im Unterschied zu anderen Christen den Dienst eines Priesters zu versehen haben. Christus
ist der große Priester über das Haus Gottes, und kraft der
Verbindung mit Ihm sind alle Gläubigen Priester und genie116
ßen das Vorrecht, als gereinigte Anbeter in das Allerheiligste
eintreten zu dürfen. Selbst die Apostel nahmen nie den Platz
von Priestern ein, als ob sie sich von dem geringsten Kinde
Gottes in irgendeiner Weise unterschieden. Sie mochten ihre
Vorrechte viel besser als viele andere kennen und sich mehr
daran erfreuen, aber obgleich ihre Gaben und Berufungen
hinsichtlich des Dienstes am Wort sich von anderen unterschieden, so standen sie doch als Anbeter mit allen auf demselben Boden und beteten mit ihnen gemeinsam zu Gott
durch Jesus Christus, den großen Priester Seines ganzen Volkes.
In dem priesterlichen Dienst unseres hochgelobten Herrn gibt
es viele Punkte von besonderem Interesse, jedoch wollten wir
nur bei zweien davon einen Augenblick verweilen.
Der erste Punkt ist, daß unser großer Hoherpriester uns im
Heiligtum droben vertritt. Welch ein erhabener Repräsentant
ist Er! Er ist der geliebte Sohn Gottes, der verherrlichte
Mensch, dessen Name über alle Namen ist. „Denn der Christus ist nicht eingegangen in das mit Händen gemachte Heiligtum, ein Gegenbild des wahrhaftigen, sondern in den Himmel selbst, um jetzt vor dem Angesicht Gottes für uns zu
erscheinen" (Hebr 9, 24). Welch ein würdiger Platz. In wie
naher Verbindung stehen wir mit Gott! O möchten unsere
Herzen es doch höher schätzen! Wenn Aaron vor Jehova erschien in seinen herrlichen und schönen Gewändern, so vertrat er die Kinder Israel. Ihre Namen waren auf seinem
schönen Brustschilde in kostbare Steine eingegraben. Welch
ein gesegnetes Vorbild unseres wirklichen und ewigen Platzes in dem Herzen Christi, Der nicht wie Aaron nur ein -
m a l jährlich , sondern beständi g fü r uns in der
Gegenwart Gottes erscheint. Der Name jedes Gläubigen ist
beständig vor dem Auge Gottes und zwar in der ganzen
Herrlichkeit und Schönheit Christi, Seines vielgeliebten Sohnes. Wir stehen dort in Seiner Gerechtigkeit, besitzen Sein
Leben, genießen Seinen Frieden, sind erfüllt mit Seiner Freude und bestrahlt von Seiner Herrlichkeit. Obwohl wir aus
uns selbst kein Anrecht und kein Vorrecht besitzen, haben
wir doch alles in Ihm. Er nimmt dort unsere Stelle ein. Ge117
priesen sei Sein Name! Nur Seiner beständigen Fürbitte im
Himmel verdanken es die Heiligen auf der Erde, daß sie auf
ihrer Wüstenreise Hilfe und Unterstützung finden und zugleich als Anbeter innerhalb des Vorhangs in all dem lieblichen Wohlgeruch Seiner eigenen göttlichen Vortrefflichkeit
aufrechterhalten werden. Weder ihre Unwissenheit noch ihr
geringer Genuß dieser Dinge verändert oder entkräftet diese
ihre gesegnete, herrliche und ewige Stellung, „indem er immerdar lebt, um sich für sie zu verwenden" (Hebr 7, 25).
Der zweite Punkt ist, daß Er als unser großer Hoherpriester
die Gaben und Opfer Seines anbetenden Volkes vor Gott
darbringt. Unter dem Gesetz brachte der Anbeter dem Priester seine Opfergabe, und durch den Priester wurde das Opfer zu Gott auf Seinem eigenen Altar dargebracht. Alles wurde dem Worte Jehovas gemäß durch den Priester angeordnet.
Wie vollkommen ist dies jetzt alles für den Anbeter durch
den großen Priester im Himmel geschehen! Unsere Gebete,
unsere Danksagung, unser Lobgesang, alles geht durch Seine
Hände, bevor es den Thron Gottes erreicht. Welch eine wunderbare Gnade ist dies, wenn wir daran denken, daß so vieles, was vom Fleische ist, sich mit dem, was vom Geiste ist,
vermengt! Aber der Herr Jesus weiß mit göttlicher Weisheit
alles Böse auszuscheiden und vom Guten zu. trennen. Das
was vom Fleisch ist, muß als Holz, Stroh oder Stoppel verworfen und vernichtet werden, während das was vom Geiste
ist, aufbewahrt und in dem Wert und dem lieblichen Duft
Seines vollkommenen Opfers vor Gott gebracht wird. „Durch
ihn laßt uns nun Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen,
das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen"
(Hebr 13, 15). Die dem Paulus erwiesene Güte der Philipper
war „ein duftender Wohlgeruch, ein angenehmes Opfer, Gott
wohlgefällig" (Phil 4, 18). Daher die Wichtigkeit der Ermahnung : „Und alles, was immer ihr tut, im Wort oder im Werk,
alles tut im Namen des Herrn Jesus, danksagend Gott, dem
Vater, durch ihn" (Kol 3, 17).
3. Schließlich finden wir, daß di e einzig e Anbe -
tungsstätt e de s Christe n innerhal b de s
Vorhang s ist. Außerhalb des Lagers hat er seinen Platz
118
als Zeuge, innerhalb des Vorhangs seinen Platz als Anbeter.
In beiden Stellungen ist Christus mit ihm. „Deshalb laßt uns
zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach
tragend" (Hebr 13, 13). „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit
haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu
usw." (Hebr 10, 19). Es ist sehr segensreich, diese beiden
Stellungen in Gemeinschaft mit Christus Selbst zu kennen.
Die Kirche hat keinen göttlich-geweihten Anbetungsplatz auf
der Erde. Unser Platz ist im Himmel kraft des Opfers und
des dort für uns bestehenden Priestertums. Was immer der
Charakter des Gebäudes sein mag, in dem die Christen sich
im Namen des Herrn Jesus versammeln, ihre wahre und
einzige Anbetungsstätte ist doch stets im himmlischen Heiligtum. Durch den Glauben an das Wort Gottes und durch
die Kraft des Heiligen Geistes beten sie Ihn an in der „wahrhaftigen Hütte, welche der Herr errichtet hat, nicht der
Mensch".
Israel hatte ein „weltliches Heiligtum", und folglich war auch
der Charakter ihrer Anbetung weltlich und lieferte den Beweis, „daß der Weg zum Heiligtum noch nicht geoffenbart
ist, solange die vordere Hütte noch Bestand hat" (Hebr 9, 8).
Aber der Weg ist durch das Blut Jesu geöffnet worden. Derselbe Schlag, der das Haupt des Lammes traf, zerriß auch den
Vorhang von oben bis unten. Der Weg ins Allerheiligste ist
geebnet, und Christus ist mit den durch Blut gewaschenen
Seinigen ohne Vorhang in die unmittelbare Gegenwart Gottes eingetreten. Dort gibt es nicht wie unter dem Gesetz einen
Vorhof und einen Tempel für die Anbetung der Priester. Diese Unterschiede sind in der Kirche des lebendigen Gottes unbekannt. Überall ist jetzt eine priesterliche Anbetung im
Tempel. Alle stehen gleich nahe, alle haben gleiche Freiheit,
alle sind gleich angenehm, um der Gegenwart und Fürbitte
des großen Hohenpriesters Seines Volkes willen. Dasselbe
kostbare Blut, das uns von aller Sünde reinigt, hat uns als
Kinder und als anbetende Priester in die Nähe Gottes gebracht. Und wenn wir wirklich die wunderbare Wirkung und
Kraft dieses Blutes in den himmlischen örtern kennen, dann
werden wir uns dort zu Hause fühlen und glücklich sein in
119
der Freiheit und Würde der Sohnschaft und in der innigen
Vertraulichkeit eines ein für allemal gereinigten Anbeters im
Allerheiligsten.
O möchten unsere Herzen sich stets der reichen Vorsorge der
Gnade Gottes für alle unsere Bedürfnisse erinnern! Möchten
sie nie das Blut am Gnadenthron, den Diener im Heiligtum
und unseren heiligen, himmlischen und ewigen Anbetungsplatz aus dem Auge verlieren!
Hast Du Frieden gefunden?
„Hast Du Frieden gefunden?" Das ist eine Frage, die in unseren Tagen nicht selten an den einen oder anderen gerichtet
wird, und es mag auch nicht selten der Fall sein, daß viele
diese Frage nicht richtig auffassen und darum keine passende
Antwort zu geben wissen. Sie betrachten den „Frieden" als
ein gewisses Gefühl der Ruhe im Gemüt, und da sie dieses
Gefühl in sich nicht entdecken, kommen sie zu dem Schluß,
daß sie noch keinen Frieden gefunden haben, daß sie überhaupt keine Christen seien und durchaus „weder Teil noch
Los an dieser Sache" haben. — Andere sind der Meinung,
daß sie, einmal im Besitz des Friedens, nie wieder die inneren Wirkungen des Bösen zu beklagen hätten. Sie bilden sich
ein, daß der wahre, im Evangelium angekündigte Friede und
die innewohnende Sünde zwei einander ausschließende Dinge
seien; und da sie sich leider schmerzlich bewußt sind, daß
das Böse noch in ihnen wohnt, schließen sie daraus, daß sie
den Genuß des Friedens zu erwarten haben. Diese falschen
Vorstellungen darüber, was der Friede ist, sind Ursache der
verschiedensten Beunruhigungen.
Zunächst muß mit allem Nachdruck und in der bestimmtesten
Weise hervorgehoben werden, daß der Friede des Evangeliums nicht ein bloßes Gefühl der Gemütsruhe ist. Nein, dieser
Friede hat einen weit festeren Grund. Er bezeichnet einen
Zustand, in den der Gläubige durch das am Kreuz vollbrachte
Versöhnungswerk Christi eingeführt worden ist. Das zeigt
uns deutlich die folgende Schriftstelle: „Da wir nun gerecht120
fertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit
Gott durch unseren Herrn Jesus Christus" (Rö 5,1). Ist dies
ein bloßes Gefühl im Gemüt? Keineswegs. Es ist ein gesegneter Zustand, in den die Seele durch den Tod und die Auferstehung Christi eingeführt worden ist. Ohne Zweifel wird sich
ein Herz glücklich fühlen in dem einfältigen Glauben an jene
große Wahrheit, daß all e Sünden vergeben sind und daß
die Seele so völlig gerechtfertigt ist, wie Christus es vermag — ja so gerechtfertigt wie Christus Selbst. Aber der
Apostel sagt nicht: „Da wir nun gerechtfertigt sind aus Glauben, so haben wir das Gefühl des Friedens in unserem Gemüt"! Das wäre nicht der Fall. Unsere Gefühle sind schwankend und veränderlich wie der Wind. Der Friede aber, von
dem diese Stelle spricht, ist so fest wie der Thron Gottes
selbst. Und was bedeuten die Worte: „Frieden verkündigend
durch Jesum Christum" (Apg 10, 36)? Ist das die Verkündigung eines bestimmten Gefühls im Gemüt? Gewiß nicht.
Vielmehr ist es die glorreiche Friedensankündigung zwischen
Gott und dem Menschen, gegründet auf das vollbrachte Werk
Christi, Der, nachdem Er Frieden gemacht hat durch das
Blut Seines Kreuzes, Selbst unser Friede in der Gegenwart
Gottes ist. Es wäre daher ein großer Irrtum, wenn man voraussetzen wollte, daß der in dieser Schriftstelle erwähnte
Friede nichts anderes sei als eine behagliche Gemütsruhe.
Hier ist nicht die Rede von einem Gefühl des Friedens, sondern von einem Frieden, zu dem Gott Selbst den Grund gelegt hat. Das ist ein großer Unterschied. Wir dürfen unsere
Gefühle über einen Gegenstand nicht mit dem Gegenstand
selbst verwechseln, und ebensowenig eine vollendete Tatsache mit der Wirkung, die diese auf uns hat, wenn wir sie
erkannt haben.
Wir wollen zur Erläuterung ein Beispiel nehmen. Wenn nach
einem längeren Krieg zwischen zwei Ländern der Friede
proklamiert würde, wäre das ein bloßes Gefühl im Gemüt
von Angehörigen der beiden Länder? Weit mehr; es wäre
ein bestimmter Zustand, in den diese beiden Nationen durch
Unterzeichnung eines Friedensvertrages treten würden. Ohne
Zweifel würde jeder, der diese Proklamation vernimmt und
121
ihr Glauben schenkt, jenes behagliche Gefühl genießen, das
eine solche Friedensverkündigung erzeugen kann. Aber wer
sieht nicht den Unterschied zwischen solchen Gefühlen und
der Tatsache, durch die sie erzeugt werden?
Ein anderes Beispiel. Wenn für die Loskaufung eines Sklaven
eine bestimmte Summe verwendet und seine Befreiung bewirkt
wird, ist dann diese Tatsache ein bloßes Gefühl in dem Gemüt dieses Sklaven? Weit mehr; es ist ein bestimmter Zustand, in den der Sklave durch die Loskaufung eintritt. Sicher
wird er, wenn diese Nachricht sein Ohr erreicht und er sie
glaubt, das glückliche Gefühl der Freiheit genießen. Er wird
nicht länger seine Ketten und die Peitschenhiebe seines grausamen Aufsehers fühlen. Aber besteht nicht ein Unterschied
zwischen einem Gefühl der Freiheit und der Grundlage, auf
der das Gefühl ruht?
Ich gebe zu, daß dies nur menschliche und daher unvollkommene Erklärungen des göttlichen Gedankens sind, mit dem
wir uns hier beschäftigen, aber doch stellen sie den Unterschied zwischen einem Gefühl und einem Zustand, zwischen
einer Tatsache und deren Ergebnis klar heraus. Im Evangelium sehe ich eine göttliche Wahrheit, die göttliche Wirkungen
erzeugt, wenn sie in göttlicher Weise aufgenommen wird. Ein
armer verurteilter Rebell, ein Sklave, ein Feind, empfängt aus
Gnaden Vergebung, Freiheit und Versöhnung von Gott durch
das kostbare Opfer am Kreuz. Wird ein solcher nicht glückliche Gefühle haben? Gewiß. Aber diese Gefühle dürfen nie
als die gesegnete Wahrheit selbst, aus der diese Gefühle
entspringen, betrachtet werden. Der Friede ist eine göttliche,
unabhängige, unwiderrufliche Wirklichkeit, gegründet auf das
Blut Christi, verkündigt mit der Autorität des Wortes Gottes
und empfangen aus Glauben durch die Kraft des Heiligen
Geistes.
Würde ich nun bei der Frage: „Hast Du Frieden"? in mich
hineinblicken und nach dem was ich hier finde, antworten
müssen? Nein. — Was müßte ich dann tun? Ich würde sagen: „Ja, Gott sei Dank! ich habe Frieden, und zwar einen
so vollkommenen Frieden, wie Christus ihn machen und Gott
ihn geben kann". Nichts kann mir diesen meinen Frieden
122
stören, weil Gott ihn mir verkündigt hat „durch Jesum Chrisrum, dieser ist aller Herr". Wenn eine solche Störung möglich wäre, dann wäre Christus nicht „aller Herr", und der
Gedanke, daß Er durch irgendetwas übertroffen werden könnte, wäre Gotteslästerung. Meine Gefühle können leicht gestört werden, aber niemals kann der von Gott gelegte Grund
erschüttert werden.
Wie töricht ist es, wenn jemand, der diese innerlichen Gefühle der Ruhe nicht bei sich entdeckt, daraus den Schluß
zieht, er sei kein Christ! Weder die Schrift noch die christlichen Erfahrungen liefern für eine solche Vorstellung einen
Grund. Solche Zweifel sind sicher nicht zu rechtfertigen; sie
zeigen, wie wenig das Herz befestigt ist, und sie entehren
ebenso den Herrn wie sie die Ruhe des Gemüts stören. Sie
entspringen in den meisten Fällen aus der falschen Vorstellung, die man über die Art des Friedens hat, und daraus,
daß man sich selbst ansieht, statt den Blick auf Christus
zu richten, und daß man untersucht, wie man zu Gott steht,
anstatt zu betrachten, wie Gott zu einem steht. Aber was
auch die Quelle dieser Zweifel sein mag, wir sollen sie verurteilen und verwerfen wie jeden anderen bösen Gedanken,
der in unserem Herzen auftaucht.
Aber wenn es überhaupt verwerflich ist, an Gottes Wort zu
zweifeln und der Furcht Raum zu geben, obwohl Christus
Frieden gemacht hat, so ist es noch weit verwerflicher, unser
persönliches Teil in Christo in Frage zu stellen, weil wir uns
nicht so glücklich fühlen, wie wir sein möchten oder sollten.
Dadurch öffnen wir Satan Tür und Tor. Zweifle ich an meinem natürlichen Dasein, weil ich an Kopfweh leide? Gewiß
nicht. Und warum zweifle ich dann an meinem geistlichen
Dasein, meinem Leben in Christo, wenn mein Herz nicht so
glücklich ist wie ich möchte? Warum gehen so viele Christen
von Furcht und Zweifeln erfüllt durchs Leben? Sie müssen
lernen, von sich wegzusehen und ihren Blick auf Christus
zu richten. Wohl können wir unseren verlorenen Zustand
nicht tief genug erkennen — und je mehr dies der Fall ist,
desto höher schätzen wir das Werk Christi — ; wir können
hinsichtlich unseres Wandels nicht wachsam genug sein und
123
es nicht tief genug fühlen, wenn wir uns vergessen haben;
aber je mehr wir unsere Schwachheit sehen, desto näher
drängen wir uns an die gesegnete Person unseres Herrn,
Dessen Händen uns niemand zu entreißen vermag.
Zum Schluß noch ein Wort für diejenigen, die den Genuß
eines sicheren Friedens unvereinbar mit der in uns wohnenden Sünde finden. Sicher ist eine solche Meinung ein großer
Irrtum und muß Dunkelheit und Trübsinn in der Seele erzeugen. Auch der „fortgeschrittenste" Christ kennt die in
ihm wohnende Sünde. „In mir wohnt nichts Gutes", sagt
Paulus, und: „Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben,
so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in
uns", sagt Johannes (1. Joh 1, 8). Gott kennt das Schlechteste
in uns, aber dennoch liebt Er uns und hat Vorsorge getroffen,
daß das Böse in uns unseren Frieden nicht im geringsten
stört. Wenn wir dem Bösen in uns gestatten, zu wirken und
sich zu zeigen, dann wird der Genuß unseres Friedens allerdings sicher unterbrochen, so daß wir genötigt werden, vor
Gott im Bekenntnis und im Selbstgericht zu erscheinen. Der
Heilige Geist, Der in uns wohnt, kann nicht einen einzigen
Gedanken des erlaubten Bösen gutheißen. Alles muß gerichtet werden. Aber der Kampf wird fortdauern. „Das Fleisch
gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch"
(Gal 5, 17). Dieser Streit wird im Gläubigen nie aufhören,
bis der Leib der Verwesung ins Grab sinkt. Wenn daher die
in uns wohnende Sünde unseren Frieden stören könnte, würde
kein Glied der Familie Gottes während eines einzigen Augenblicks im Genuß des Friedens sein. Doch Gott sei Dank, daß
es nicht so ist! Unser Friede ruht nicht auf einem sündlosen
Fleisch, sondern auf einem vollkommenen Opfer, so wie er
auch nicht auf unseren schwachen und schwankenden Gefühlen ruht, sondern allein auf dem vollbrachten Werk Christi,
auf dem unwandelbaren Wort Gottes und auf dem untrüglichen Zeugnis des Heiligen Geistes. Möchten wir dies nie
vergessen!
124
Josia und seine Zeit
2. Chronika 34 und 35
Viele Jahrhunderte sind vergangen, seit der König Josia lebte
und regierte, aber seine Geschichte ist voll von Belehrung,
die nie ihre Frische und ihren Ernst verliert. Der Zeitpunkt
seiner Thronbesteigung war besonders düster und schwierig.
Die immer größer gewordene Verderbnis hatte ihren Höhepunkt erreicht, und das lange in göttlicher Geduld und
Langmut zurückgehaltene Gericht stand im Begriff, mit
schrecklicher Strenge über die Stadt Davids hereinzubrechen.
Auf Hiskias herrliche Regierung war ein langer und furchtbarer Zeitraum von 55 Jahren unter der Herrschaft seines
Sohnes Manasse gefolgt. Bei ihm konnte die Zucht Buße und
Besserung bewirken, aber kaum hatte er das Szepter aus der
Hand gelegt, als sein gottloser und unbußfertiger Sohn Amon
tat, „was böse war in den Augen Jehovas, wie sein Vater
Manasse getan hatte; und Amon opferte allen geschnitzten
Bildern, welche sein Vater Manasse gemacht hatte, und diente
ihnen. Und er demütigte sich nicht vor Jehova, wie sein Vater
Manasse sich gedemütigt hatte; sondern er, Amon, häufte die
Schuld. Und seine Knechte machten eine Verschwörung wider
ihn und töteten ihn in seinem Hause . . . Und das Volk des
Landes machte Josia, seinen Sohn, zum König an seiner Statt"
(2. Chro 33, 22-25).
So befand sich also Josia, ein Kind von acht Jahren, auf dem
Throne Davids, und zwar umgeben von dem angehäuften
Übel und den Verirrungen seines Vaters und Großvaters,
ja selbst von den Formen des Verderbens, das von keiner
geringeren Person als Salomo selbst eingeführt worden war.
Wenn der Leser für einen Augenblick 2. Kö 23 nachschlagen
will, wird er ein auffallendes Gemälde von dem Zustand der
Dinge zu Beginn der Geschichte Josias finden. Dort sehen
wir Götzenpriester, „welche die Könige von Juda eingesetzt
hatten, und die auf den Höhen, in den Städten von Juda und
in der Umgebung von Jerusalem geräuchert hatten; und die,
welche dem Baal, der Sonne und dem Monde und dem Tierkreise und dem ganzen Heere des Himmels räucherten".
125
Erwäge dies, mein Leser! Bedenke, daß Judas Könige Priester
einführten, um dem Baal zu räuchern, und erinnere dich zugleich, daß jeder dieser Könige die Verpflichtung hatte, „sich
eine Abschrift dieses Gesetzes in ein Buch (zu) schreiben,
. . . Und es soll bei ihm sein, und er soll alle Tage seines
Lebens darin lesen, auf daß er Jehova, seinen Gott, fürchten
lerne, um zu beobachten alle Worte dieses Gesetzes und diese
Satzungen, sie zu tun" (5. Mo 17, 18. 19). Aber es waren
ferner auch Rosse da, „welche die Könige von Juda der Sonne gesetzt hatten am Eingang des Hauses Jehovas", und Wagen der Sonne, ferner Höhen, „welche Salomo, der König von
Israel, der Astoreth, dem Scheusal der Zidonier, und Kamos,
dem Scheusal Moabs, und Milkom, dem Scheusal der Kinder
Ammon, gebaut hatte" (2. Kö 23, 11. 13).
Alles dies ist sehr ernst, und es ist wert, daß der christliche
Leser darüber nachdenkt. Wir sollten nicht darüber hinweggehen wie über ein bloßes Bruchstück der alten Geschichte,
oder als läsen wir die geschichtlichen Berichte von Babylon,
Persien, Griechenland oder Rom. Es verwundert uns nicht,
daß die Könige dieser Reiche dem Baal räucherten, Götzenpriester einsetzten und das Heer des Himmels anbeteten.
Aber wenn wir die Könige von Juda, die Söhne und Nachfolger Davids, die Kinder Abrahams, denen das Gesetzbuch
Gottes zugänglich war und die die Pflicht hatten, dieses Buch
zum Gegenstand ihres gründlichen und ständigen Forschens
zu machen, — wenn wir solche Männer unter die Macht des
finsteren und herabwürdigenden Aberglaubens sinken sehen, dann ist das auch für uns eine Warnung, die wir nicht
ungestraft abweisen können. Wir sollten uns dabei stets erinnern, daß alle diese Dinge zu unserer Belehrung geschrieben
sind. Wenn auch gesagt werden kann, daß wir nicht in
die Lage kommen, dem Baal zu räuchern oder das Heer des
Himmels anzubeten, so dürfen wir doch versichert sein, daß
wir nötig haben, die Ermahnungen und Warnungen zu beachten, die der Heilige Geist in der Geschichte des Volkes Israel
an uns richtet. „Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als
Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist"
126
1. Kor 10,11). Obwohl diese Worte des inspirierten Schreibers unmittelbar auf die Geschichte Israels in der Wüste Bezug
haben, mögen sie dennoch ihre Anwendung auf die ganze
Geschichte dieses Volkes finden und von Anfang bis Ende
ein geschichtlicher Schatz voll tiefster Belehrung sein.
Aber als was müssen wir alle diese großen und schrecklichen
Übel ansehen, in die Salomo und seine Nachfolger gezogen
wurden? Was war ihr Ursprung? Vernachlässigun g
d e s Worte s Gottes . Das war die Quelle alles Unheils und aller Sorge. Möchte die ganze Kirche sich das merken! Die Vernachlässigung der Heiligen Schrift war die entsetzliche Quelle aller jener Verirrungen und Verderbnisse, die
die Blätter der Geschichte Israels beflecken und um derentwillen Jehova in Seiner Regierung oft so schwere Zucht ausüben mußte. „Was das Tun des Menschen anlangt, so habe
ich mich durch das Wort deiner Lippen bewahrt vor den
Wegen des Gewalttätigen" (Ps 17, 4). „Weil du von Kind
auf die heiligen Schriften kennst, die vermögend sind, dich
weise zu machen zur Seligkeit durch den Glauben, der in
Christo Jesu ist. Alle Schrift ist von Gott eingegeben und
nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur
Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf daß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt"
(2. Tim 3, 15-17). Bei diesen beiden angeführten Stellen
haben wir das Wort Gottes in seiner zwiefältigen Kraft dargestellt: es bewahrt uns nicht nur vollkommen vor allem
Bösen, sondern es bereitet uns auch zu allem Guten vollkommen zu; es bewahrt uns vor den Wegen des Gewalttätigen und leitet uns in den Wegen Gottes.
Wie wichtig ist daher das fleißige, ernste und andächtige
Forschen in der Heiligen Schrift! Mit welch einem Ernst wird
dies dem alten Volke Gottes eingeprägt! Wie oft dringen
die Worte an sein Ohr: „Und nun, Israel, höre auf die Satzungen und auf die Rechte, die ich euch lehre zu tun, auf
daß ihr lebet und hineinkommet und das Land in Besitz
nehmet, welches Jehova, der Gott eurer Väter, euch gibt. Ihr
sollt nichts hinzutun zu dem Worte, das ich euch gebiete, und
sollt nichts davon tun, damit ihr beobachtet die Gebote Jeho127
vas, eures Gottes, die ich euch gebiete. Eure Augen haben
gesehen, was Jehova wegen des Baal Peor getan hat; denn
alle Männer, welche dem Baal Peor nachgegangen sind, hat
Jehova, dein Gott, aus deiner Mitte vertilgt; ihr aber, die ihr
Jehova, eurem Gott, anhinget, seid heute alle am Leben. Siehe, ich habe euch Satzungen und Rechte gelehrt, so wie Jehova, mein Gott, mir geboten hat, damit ihr also tuet inmitten
des Landes, wohin ihr kommet, um es in Besitz zu nehmen.
Und so beobachtet und tut sie! denn das wird eure Weisheit
und euer Verstand sein vor den Augen der Völker, welche
alle diese Satzungen hören und sagen werden: Diese große
Nation ist ein wahrhaft weises und verständiges Volk. Denn
welche große Nation gibt es, die Götter hätte, welche ihr so
nahe wären, wie Jehova, unser Gott, in allem, worin wir zu
ihm rufen? Und welche große Nation gibt es, die so gerechte
Satzungen und Rechte hätte, wie dieses ganze Gesetz, das ich
euch heute vorlege? Nur hüte dich und hüte deine Seele
sehr, daß du die Dinge nicht vergessest, die deine Augen gesehen haben, und daß sie nicht aus deinem Herzen weichen
alle Tage deines Lebens! und tue sie kund deinen Kindern
und deinen Kindeskindern" (5. Mo 4, 1-9).
Man beachte wohl, daß „Weisheit und Verstand" einfach
darin besteht, die Gebote Gottes wohl im Herzen zu bewahren! Dies sollte die Grundlage der sittlichen Größe Israels
angesichts der sie umgebenden Völker sein. Das war keine
Lehre der Schulen Ägyptens oder der Chaldäer, sondern die
Kenntnis des Wortes Gottes und das Aufmerken darauf, der
Geist des unbedingten Gehorsams in allen Dingen unter die
heiligen Gebote und Satzungen Jehovas, ihres Gottes. Das
war Israels Weisheit, das ihre wahre Größe, das ihr unüberwindliches Bollwerk gegen jeden Feind und ihre sittliche Sicherheit gegen jedes Volk.
Und ist in der Gegenwart nicht dasselbe heilsam für das
Volk Gottes? Ist nicht der Gehorsam gegen das Wort Gottes
unsere Weisheit, unser Schirm und der Grund aller wahren
sittlichen Größe? Ganz gewiß. Unsere Weisheit ist zu ge -
horchen . Die gehorsame Seele ist weise, sicher, glücklich
und fruchtbringend. Wie es einst war, so ist es heute. Wenn
128
wir die Geschichte Davids und seiner Nachfolger erforschen,
so werden wir ohne Ausnahme finden, daß diejenigen, die
den Geboten Gottes gehorchten, sicher, glücklich, wohlhabend
und einflußreich waren. Und so wird es immer sein. Der
Gehorsam wird stets seine köstlichen duftenden Früchte tragen, wenn auch diese Früchte nie der Beweggrund zum Gehorsam sein dürfen.
Nun ist es klar, daß wir, um dem Worte Gottes gehorsam
zu sein, mit ihm bekannt sein müssen, und daß, um diese
Bekanntschaft zu erlangen, unbedingt ein sorgfältiges Forschen nötig ist. Wie sollen wir nun darin forschen? Mit dem
ernsten Verlangen, den Inhalt des Wortes zu verstehen, mit
einer tiefen Ehrfurcht vor seiner Autorität und mit der aufrichtigen Absicht, seinen Vorschriften — koste es was es
wolle — zu gehorchen. Wenn wir die Gnade haben, auch nur
in geringem Maße in dieser Weise zu forschen, so werden
wir ein Wachsen und Zunehmen in Erkenntnis und Weisheit
erwarten dürfen.
Aber welch ein schreckliches Maß von Unwissenheit über das
Wort Gottes zeigt sich in der Christenheit! Wir sind von
diesem Gefühl tief durchdrungen, und es ist der Hauptzweck
dieser Zeilen, in der Seele des Lesers ein lebhaftes Verlangen
nach einer näheren Bekanntschaft mit Gottes heiligem Wort
und eine völlige Unterwerfung seines ganzen Wesens unter
dieses vollkommene Panier hervorzurufen. Wir entledigen uns
dieser heiligen Pflicht gegenüber den Seelen unserer Leser
und gegenüber der Wahrheit Gottes in dem Bewußtsein der
Wichtigkeit dieses Gegenstandes. Die Macht der Finsternis
ist verbreitet, dem Feinde ist es im schrecklichen Umfange
gelungen, die Herzen in verschiedene Formen von Irrtum und
Bösem zu verstricken, Staub in die Augen der Kinder Gottes
zu streuen und die Sinne der Menschen zu verblenden. Zwar
haben wir keine Astaroth, Kamos und Milkoms, aber wir
haben Formen ohne Kraft und entschiedenen Unglauben.
Wir haben nicht zu eifern gegen das Räuchern für Baal und
gegen die Anbetung des Heeres des Himmels, aber wir haben weit Verlockenderes und Gefährlicheres. Wir haben das
Formwesen mit seinen sinnberauschenden und anziehenden
129
Gebräuchen und Zeremonien; wir haben die Rationalisten
mit ihren gelehrt erscheinenden Argumenten, und wir haben
so viele Arten von Geistersehern, die sich eines Verkehrs
mit den Geistern von Verstorbenen rühmen.
Es ist schmerzlich, die Bemühungen zu bemerken, die von
verschiedenen Seiten geschehen, um auf die Massen zu. wirken
und sie zusammenzuhalten. Dem nachdenkenden Christen ist
es klar, daß alle, die derartige Anstrengungen machen, einen
sehr traurigen Mangel an Glauben an die Macht des Wortes
Gottes und des Kreuzes Christi zeigen; und es ist sicher die
stetige Anstrengung Satans, die Seelen in Unwissenheit
über göttliche Offenbarungen zu halten und ihnen die Herrlichkeit des Kreuzes und der Person Christi zu verbergen.
Zu diesem Zweck bedient er sich des Formwesens, des Unglaubens und des Geistersehens in unseren Tagen ebenso wie
er sich in den Tagen Josias der Astaroth, Kamos und Milkoms bediente. „Nichts Neues unter der Sonne". Der Teufel
hat immer die Wahrheit Gottes gehaßt, und er wird daher
kein Mittel ungenutzt lassen, um auf das Herz des Menschen
zu wirken. Daher hat er für den einen Formen und Zeremonien, für den anderen Vernunftschlüsse; und wenn beides
den Menschen nicht mehr befriedigt, greift er zu einem noch
berauschenderen Mittel, nämlich zu dem Verkehr und der
Gemeinschaft mit den Geistern der Verstorbenen, um durch
alle diese Dinge die Seelen von der Heiligen Schrift und dem
Herrn abzuhalten, Der darin geoffenbart wird.
Es ist in der Tat erschütternd, an alles dies zu denken und
dabei die Schläfrigkeit und Gleichgültigkeit derer zu sehen,
die bekennen, die Wahrheit zu besitzen. Es ist hier nicht der
Ort, zu untersuchen, was diesen schläfrigen Zustand mancher
Bekenner fördert. Aber wir wünschen durch die Gnade Gottes, sie völlig daraus aufgeweckt zu sehen; deshalb lenken
wir ihre Aufmerksamkeit auf diese verschiedenen Einflüsse
und auf den einzigen göttlichen Schutz gegen sie. Wir denken
mit wehmütigem Ernst an unsere heranwachsenden Kinder,
die sich in einer solchen Atmosphäre, wie die uns umgebende, bewegen müssen, die immer dunkler und dunkler wird.
Wir möchten auf der Seite der Christen mehr Ernst sehen
und die Herzen der Jugend mit der kostbaren und seelener130
rettenden Kenntnis des Wortes Gottes versehen. Das Kind
Josia und das Kind Timotheus sollten uns zu größerem Fleiß
in der Unterweisung junger Seelen anspornen, sowohl im
Schoß der Familie als auch in den Sonntagsschulen oder auf
welchem Wege wir sie auch erreichen können. Es wird uns
nichts nützen, unsere Arme übereinander zu legen und zu
sagen: „Wenn es für Gott Zeit ist, werden unsere Kinder
belehrt werden und bis dahin sind unsere Bemühungen vergeblich". Das ist ein trauriger Fehler. „Gott .. . ist denen,
die ihn suchen, ein Belohner" (Hebr 11). Er segnet unsere
mit Gebet begleiteten Bemühungen, unsere Kinder zu unterweisen. Und wer könnte den Segen schätzen, der damit verbunden ist, daß man früh den rechten Weg geführt worden
ist, daß der Charakter unter heiligen Einflüssen gebildet und
das Herz mit dem was wahr, rein und lieblich ist, erfüllt worden ist? Wer möchte andererseits die traurigen Folgen schildern, wenn wir erlauben, daß unsere Kinder in Unwissenheit
über göttliche Dinge aufwachsen? Wohin wird eine befleckte
Einbildungskraft, ein von Eitelkeit, Torheit und Falschheit erfülltes Herz führen, das von Kindheit an mit Anblicken
der traurigsten Versunkenheit vertraut ist? Wir gestehen,
daß Christen eine schwere und schreckliche Verantwortung
auf sich laden, wenn sie dem Feind gestatten, die Herzen der
Kinder gerade in der Zeit einzunehmen, wenn sie noch bildsam und empfänglich sind.
Zwar darf die belebende Macht des Heiligen Geistes dabei
nicht fehlen; auch Kinder von Christen müssen wie alle anderen von neuem geboren werden. Aber hebt diese Tatsache
unsere Verantwortung über unsere Kinder auf? Lähmt sie
unsere Anstrengungen oder hindert sie unsere Bemühungen?
Keineswegs. Wir sind aus jedem göttlichen und menschlichen
Grund berufen, unsere teueren Kleinen vor jedem bösen
Einfluß zu schützen und sie in dem, was heilig und gut ist,
zu erziehen. Nicht nur bezüglich unserer eigenen Kinder
sollten wir so handeln, sondern auch im Hinblick auf die
Tausende um uns her, die Schafen gleichen, die keinen Hirten haben und deren jedes sagen kann: „Niemand kümmert
sich um meine Seele".
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Möchten diese Bemerkungen vom Geist Gottes benutzt werden, um mächtig auf die Herzen aller derer zu wirken, die sie
lesen, damit auf diese Weise ein wirkliches Erwachen zu
einem Bewußtsein unserer hohen und heiligen Verantwortung für die Seelen um uns her bewirkt würde und sie aufgerüttelt würden aus der schrecklichen Erstarrung und Kälte,
über die wir alle zu trauern haben.
Die Betrachtung der Geschichte Josias und seiner Zeit zeigt
uns zu unserer Belehrung den Wer t und die Autoritä t
d e s Worte s Gottes . Diese Unterweisung ist von der
größten Bedeutung für jedes Alter, für jede Zeit, für jede
Lage, für den einzelnen Christen und für die ganze Versammlung Gottes. Jedem Herzen sollte die oberste Autoriät
der Heiligen Schrift tief eingeprägt sein. Sie ist der einzige
Schutz gegen die vielen Formen des Irrtums und des Bösen,
die allerwärts überhandnehmen. Menschliche Schriften haben
ohne Zweifel ihren Wert, aber als Autorität sind sie völlig
wertlos. Daran müssen wir uns immer wieder erinnern. Das
menschliche Herz hat eine starke Neigung, sich auf menschliche Autorität zu stützen. So konnte es geschehen, daß Millionen in der bekennenden Kirche der Heiligen Schrift beraubt werden konnten, weil sie in der Täuschung lebten und
starben, daß sie das Wort Gottes ohne eine menschliche
Autorität nicht verstehen könnten. Das bedeutet aber in
Wirklichkeit, das Wort Gottes beiseitewerfen. Wenn dieses
Wort ohne die Autoriät des Menschen nutzlos ist, dann erklären wir, daß es überhaupt das Wort Gottes nicht ist. Man
sagt damit mit anderen Woren, daß Gottes Wort nicht ausreichend sei, wenn nicht etwas vom Menschen Herrührendes
die Gewißheit verleihe, daß Gott es sei, Der da spricht.
Das ist ein sehr gefährlicher Irrtum, und seine Wurzel liegt
viel tiefer im Herzen als viele von uns meinen. Oft, wenn wir
Stellen aus dem Worte Gottes anführen, wird uns gesagt:
„Woher wissen Sie, daß dies Gottes Wort ist"? — Was bedeutet eine solche Frage? Man will damit offenkundig die
Bedeutung des Wortes Gottes zunichtemachen. Das Herz, das
eine solche Frage erhebt, hat sicher kein Bedürfnis, vom Worte
Gottes geleitet zu werden. Der Wille ist dabei im Spiel. Hier332
in liegt das tiefe Geheimnis. Es ist das Bewußtsein, daß das
Wort etwas verurteilt, was das Herz festhalten und wertschätzen will, und deshalb bemüht man sich, das Wort Gottes ganz beiseitezulegen.
Aber wie können wir wissen, daß das Buch, das die Bibel
genannt wird, das Wort Gottes ist? Darauf antworten wir,
daß es seine eigene Beglaubigung bei sich führt. Auf jeder
Seite, in jedem Vers und in jeder Zeile führt es diesen Beweis. Zwar kann nur durch die Belehrung des Heiligen Geistes, des Verfassers dieses Buches, dieses Zeugnis erwogen
und seine Beglaubigung recht erkannt werden. Aber wir benötigen zur Beglaubigung dieses Buches Gottes nicht das
Siegel eines Menschen; und wenn wir uns nach einem solchen
Siegel umsehen, befinden wir uns hinsichtlich der göttlichen
Offenbarung auf dem Boden des Unglaubens. Wenn Gott
nicht direkt zum Herzen sprechen kann, wenn Er nicht die
Gewißheit geben kann, daß Er Selbst es ist, der spricht, wo
sind wir dann? Wohin sollen wir uns dann wenden? Wenn
Gott Selbst Sich nicht hörbar und erkennbar machen kann,
vermag es der Mensch dann besser? Kann uns die Stimme
des Menschen mehr Gewißheit geben als Gott? Benötigen
wir die Autorität der Kirche, die Beschlüsse der Konzilien,
die Ansicht der Kirchenväter und die Meinung der Gelehrten, um eine Gewißheit zu erlangen, die Gott nicht geben
könnte? Wenn es so ist, stehen wir völlig hilflos da, und
befinden uns in so tiefer Finsternis, als ob Gott gar nicht
gesprochen hätte. Wenn Gott nicht geredet hat, sind wir natürlich ganz im Finstern; wenn Er aber geredet hat, wir
aber Seine Stimme ohne die Autoriät oder Beglaubigung der
Menschen nicht verstehen können, wo ist dann der Unterschied? Es ist klar, daß wenn Gott in Seiner großen Gnade
uns eine Offenbarung gegeben hat, diese in sich selbst hinreichend sein muß und daß andererseits jede Offenbarung,
die in sich selbst nicht hinreichend ist, unmöglich göttlichen
Ursprungs sein kann. Ist es nicht ebenso klar, daß, wenn wir
nicht dem Worte Gottes aus dem einfachen Grunde, weil es
Gottes Wort ist, glauben können, wir auch keinen sicheren
Grund dafür haben, wenn der Mensch sich anmaßt, sein beglaubigendes Siegel hinzufügen?
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Man möge uns jedoch nicht mißverstehen. Wir bestehen nur
darauf, daß die göttliche Offenbarung völlig ausreichend und
über alle menschlichen alten, mittelalterlichen und neueren
Schriften erhaben ist. Wir schätzen menschliche Schriften,
gesunde Beurteilungen, tiefe und gründliche Gelehrsamkeit,
das Licht wahrer Wissenschaft und Philosophie, das Zeugnis
frommer Reisender, die versucht haben, über den Text der
Schrift Licht zu geben, wir schätzen alle jene Schriften, die
uns die Schätze des biblischen Altertums öffnen, —• kurz, wir
schätzen alles, was uns beim Erforschen der Heiligen Schrift
unterstützt, aber nach all diesem kehren wir mit desto stärkerem Nachdruck zu unserer Behauptung zurück, daß das
Wort Gottes vollkommen hinreichend und die oberste Autorität ist. Dieses Wort muß auf seine eigentliche göttliche
Autorität, ja, ohne irgendeine menschliche Empfehlung aufgenommen werden, sonst ist es für uns nicht das Wort Gottes. Wir glauben, daß Gott Selbst unseren Seelen die Gewißheit geben kann, daß die Heilige Schrift wirklich Sein
eigenes Wort ist. Wenn Er diese Gewißheit nicht gibt, dann
kann es auch kein Mensch, und wenn Er es tut, dann bedürfen wir keines Menschen. Der inspirierte Apostel schreibt
seinem Sohn Timotheus: „Du aber bleibe in dem, was du
gelernt hast und wovon du völlig überzeugt bist, da du
weißt, von wem du gelernt hast, und weil du von Kind auf
die heiligen Schriften kennst, die vermögend sind, dich weise
zu machen zur Seligkeit durch den Glauben, der in Christo
Jesu ist" (2. Tim 3, 14. 15).
Wie wußte Timotheus, daß die Heilige Schrift Gottes Wort
war? — Er wußte es durch die göttliche Offenbarung. Er
wußte, von W e m er gelernt hatte, — hierin lag das Geheimnis. Es war ein lebendiges Band zwischen seiner Seele und
Gott, und er erkannte in der Schrift die wahre Stimme Gottes. So muß es immer sein. Es genügt nicht, nur im Verstand
durch menschliche Beweise, menschliches Zeugnis und menschliche Empfehlungen überzeugt zu sein, daß die Bibel Gottes
Wort ist, sondern wir müssen durch göttliche Unterweisung
seine Kraft an Herz und Gewissen kennenlernen. Wenn dies
der Fall ist, dann benötigen wir ebenso wenig menschliche
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Beweise für die Göttlichkeit des Buches, wie wir am Mittag
eine Lampe brauchen, um zu beweisen, daß die Sonne scheint.
Wir werden glauben, was Gott sagt, weil Er es sagt, und
nicht weil ein Mensch es bestätigt oder weil wir es fühlen.
„Abraham glaubte Gott und es wurde ihm zur Gerechtigkeit
gerechnet". Er hielt es nicht für nötig, zu den Chaldäern oder
Ägyptern zu gehen, um von ihnen zu erfahren, ob das, was
er gehört hatte in Wirklichkeit Gottes Wort sei. Er wußte,
W e m er geglaubt hatte, und das gab ihm eine heilige Gewißheit. Er konnte auf alle Fragen sagen: „Gott hat durch
Sein Wort ein Band zwischen meiner Seele und Ihm Selbst
hergestellt, das keine Macht der Erde oder der Hölle zerreißen kann"! — Das ist der wahre Grund für jeden Gläubigen,
für Mann, Frau und Kind, in jedem Alter und in allen Umständen. Das war der Grund für Abraham und Josia, für
Jakob und Theophilus, für Paulus und Timotheus, und es
muß auch der Grund sein für den Schreiber und Leser dieser
Zeilen, denn sonst werden wir niemals gegen die steigende
Flut des Unglaubens standhalten können, die gerade die
Grundlagen hinwegschwemmt, auf denen Tausende von Bekennern ruhen.
Wir dürfen jedoch wohl fragen: Kann ein nur allgemeines
Bekenntnis, ein ererbter Glaube, ein durch Erziehung erlangtes Glaubensbekenntnis die Seele aufrechterhalten vor einer
kühnen Zweifelsucht, die alles mit dem Verstand begreifen
will und nichts glaubt? Unmöglich! Wir müssen vor dem
Zweifler, dem Rationalisten und dem Ungläubigen stehen
und mit der Ruhe und Würde eines von Gott gewirkten
Glaubens sagen können: „Ic h weiß , we m ic h ge -
glaub t habe! " Dann werden uns solche Menschen und
ihre Schriften wie Mücken im Sonnenschein erscheinen und
nicht imstande sein, unseren Seelen die himmlischen Strahlen
der Offenbarung unseres Vaters zu verbergen. Gott hat geredet, und Seine Stimme erreicht das Herz. Sie macht sich
hörbar über dem Lärm und der Verwirrung dieser Welt und
über dem Zanken und Disputieren der bekennenden Christen.
Sie gibt Ruhe und Frieden, Kraft und Beharrlichkeit dem
glaubenden Herzen. Die Meinungen der Menschen können
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wechseln, irren und verwirren, sie befähigen uns nicht, unseren Weg durch die Irrgänge der menschlichen Systeme der
Theologie zu finden, aber die Stimme Gottes redet in der
Heiligen Schrift, sie redet zum Herzen, sie redet zu mir .
Das ist Leben und Frieden, das ist alles, was ich brauche.
Menschliche Schriften können nur nach ihrem wahren Wert
geschätzt werden, wenn ich sehe, daß ich alles, was ich brauche, in der immer fließenden Quelle der göttlichen Inspiration, in dem unvergleichlich köstlichen Buch meines Gottes
besitze.
Wenden wir uns nun zu Josia zurück, und wir werden sehen,
wie alles was wir soeben betrachtet haben, seine Erläuterung
in dem Leben und in der Zeit dieses Mannes findet.
„Acht Jahre war Josia alt, als er König wurde" (2. Chron
34, 1). Dies liefert uns eine Geschichte des Zustandes und
der Wege des Volkes Gottes. Josias Vater war nach einer
zweijährigen schlechten Regierung in seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr von seinen eigenen Knechten ermordet
worden. Solche Dinge hätten nicht vorkommen sollen. Sie
waren die traurige Frucht der Torheit und der Sünde, die
demütigen Beweise des Abfalls Judas von Jehova. Aber Gott
war über allem, und obwohl wir nicht erwarten würden, ein
achtjähriges Kind auf dem Throne Davids zu sehen, konnte
doch dieses Kind seine sicheren Hilfsquellen in dem Gott
seiner Väter finden, so daß, wie in allen anderen Fällen, so
auch in diesem Falle, „wo die Sünde überströmend geworden,
die Gnade noch überschwenglicher geworden ist". Gerade die
Jugend und Unerfahrenheit Josias liefert eine Gelegenheit für
die Entfaltung deT göttlichen Gnade und für das Hervortreten
des Wertes und der Macht des Wortes Gottes. Dieser fromme Knabe befand sich in einer besonders schwierigen und
versuchungsreichen Stellung. Er war umgeben von Irrtum
in den verschiedensten, lange eingebürgerten Formen, aber
„er tat was recht war in den Augen Jehovas; und er wandelte
auf den Wegen seines Vaters David und wich nicht zur Rechten noch zur Linken. Und im achten Jahre seiner Regierung,
als er noch ein Knabe war, fing er an, den Gott seines Vaters
David zu suchen; und im zwölften Jahre fing er an, Juda
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und Jerusalem von den Höhen und den Ascherim und den
geschnitzten Bildern zu reinigen" (V. 2. 3).
Das war ein guter Anfang. Es ist etwas Großes, das Herz,
wenn es noch zart ist, mit der Furcht des Herrn erfüllt zu
sehen. Dadurch wird es von einem Heer von bösen Dingen
und Irrtümern bewahrt. „Die Furcht Jehovas ist der Weisheit
Anfang". Diese Weisheit lehrte den frommen Jüngling erkennen, was „Recht ist", und ließ ihn anfangen mit beharrlicher Zielstrebigkeit. Es liegt eine große Kraft und ein großer Wert in dem Ausdruck: „Er tat, was recht war i n de n
Auge n Jehovas" . Es war nicht das, was in seinen
eigenen Augen oder in den Augen seines Volkes oder in den
Augen seiner Vorfahren recht war, sondern einfach, was in
den Augen Gottes recht war. Das ist der unerschütterliche
Grund jeder richtigen Handlung. Ehe die Furcht des Herrn
ihren wahren Platz im Herzen eingenommen hat, kann nichts
recht, nichts weise, nichts heilig sein. Wie könnte es auch
möglich sein, wenn in der Tat die Furcht Gottes der Weisheit
Anfan g ist? Wir können vieles durch die Furcht vor Menschen, durch die Macht der Gewohnheit und durch den uns
umgebenden Einfluß tun, aber nie können wir das tun, was
wirklich in den Augen Gottes recht ist, wenn nicht unsere
Herzen dahin gebracht sind, die Furcht Seines heiligen Namens zu verstehen. Das ist der große Grundsatz. Diese
Furcht gibt Ernst, Eifer und Aufrichtigkeit und verleiht seltene und bewundernswürdige Eigenschaften. Sie ist ein wirksamer Schutz gegen Leichtfertigkeit und Eitelkeit. Ein Mann,
der gewohnheitsmäßig in der Furcht Gottes wandelt, ist immer emst und aufrichtig, immer frei von Tändelei und Ziererei, vor; Anmaßung und Auflehnung. Das Leben hat für ihn
einen Zweck, das Herz einen Gegenstand: und dies verleiht
dem ganzen Wandel und Charakter seine Richtung.
Aber wir lesen ferner von Josia, daß „er wandelte auf den
Wegen seines Vaters David und wic h nich t zu r
Rechte n noc h zu r Linken" . Welch ein Zeugnis
des Heiligen Geistes für den jungen König! Wie kostbar ist
ein solches Urteil zu allen Zeiten, besonders aber zu einer
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Zeit der Schlaffheit und des Verderbens, der falschen Freisinnigke't und der unechten Liebe, wie in der heutigen Zeit!
Ein solches Zeugnis verleiht dem Herzen großen Frieden. Ein
schwankender Mensch hat diesen Frieden nicht, er wird hin
und her geworfen. „Ein wankelmütiger Mann (ist) unstet in
allen seinen Wegen". Er bemüht sich, jedem zu gefallen und
gefällt schließlich niemandem. Ein entschiedener, aufrichtiger
Mann fühlt, daß er nur Einem zu gefallen hat. Das verleiht
dem Leben Einheit und Festigkeit. Es ist ein unendlicher
Trost, ganz mit Menschengefälligkeit und Augendienerei gebrochen zu haben und fähig zu sein, das Auge allein auf
den Herrn gerichtet zu halten und mit Ihm durch gute und
böse Gerüchte voranzugehen. Wir können freilich mißverstanden und verkannt werden, aber das ist wahrlich etwas
Geringes. Unsere Hauptaufgabe ist, in dem von Gott vorgezeichneten Pfade zu wandeln und weder „zur Rechten noch
zur Linken" abzuweichen. Wir sind überzeugt, daß feste
Entschiedenheit gegenwärtig für den Diener Christi das einzige ist, was ihn aufrechterhalten kann, denn sobald uns der
Feind wankend findet, wird er jeden Kunstgriff anwenden,
um uns völlig von dem ebenen und schmalen Weg wegzutreiben. Möchte der Geist Gottes mächtiger in unseren Herzen wirken und uns mehr befähigen zu sagen: „Befestigt ist
mein Herz, o Gott, befestigt ist mein Herz! Ich will singen
und Psalmen singen".
Wir wollen nun weiter das große Werk betrachten, zu dessen Ausführung Josia berufen war. Aber bevor wir damit
beginnen, müssen wir den Leser bitten, besonders auf die
bereits erwähnten Worte zu. achten: „Im achten Jahre seiner
Regierung, als er noch ein Knabe war, fing er an, de n Got t
seine s Vater s Davi d z u suchen" . Wir können
versichert sein, daß hierin das wahre Fundament des ganzen,
so großen Dienstes Josias lag. Er fing an, Gott zu suchen.
Möchten dies alle unsere jungen Christen erwägen! Wir
fürchten, daß Hunderte durch vorzeitiges Eilen Schiffbruch
erlitten haben. Sie waren mit ihrem Herzen beschäftigt und
darin verwickelt, noch ehe das Herz wahrhaft in der Furcht
und Liebe Gottes befestigt war. Das ist in der Tat ein sehr
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ernster Fehler, in den schon viele verfallen sind. Wir dürfen
n'cht aus dem Auge verlieren, daß Gott diejenigen, die Er in
der Öffentlichkeit gebraucht, im Geheimen erzieht, und daß
alle Seine bevorzugten Diener mehr mit ihrem Herrn als mit
ihrem Werk beschäftigt gewesen sind. Wir unterschätzen das
Werk keineswegs, aber wir finden, daß alle diejenigen, die
besonders von Gott anerkannt waren und eine lange und
ununterbrochene Laufbahn des Dienstes und des christlichen
Zeugnisses hatten, mit einer viel gründlicheren, ernsten Herzensarbeit im Verborgenen der Gegenwart Gottes begonnen
haben. Andererseits haben wir bemerkt, daß jemand, der
vorzeitig in das öffentliche Werk geeilt war und angefangen
hatte zu lehren, ehe er zu lernen begonnen hatte, schnell
zusammengebrochen und zurückgegangen ist.
Es ist gut, dies zu beachten. Gottes Pflanzen sind tief gewurzelt und wachsen oft langsam. Josia fing an, „Gott zu su -
chen" . Die vier Jahre, ehe er seine öffentliche Wirksamkeit begann, bildeten ein solides Fundament von echter persönlicher Frömmigkeit, auf dem der Oberbau des tätigen
Dienstes errichtet werden konnte. Das war sehr nötig, denn
er hatte ein großes Werk zu tun. Höhen und Ascherim, geschnitzte und gegossene Bilder nahmen allerwärts überhand
und erforderten ein großes Maß an Treue und Entschiedenheit zu ihrer Bekämpfung. Wo war dies zu finden? In der
göttlichen Schatzkammer, und nur dort allein. Josia war nur
ein Knabe, und viele von denen, die den falschen Gottesdienst eingeführt hatten, waren Männer von Alter und Erfahrung. Aber er begann Jehova zu suchen. Er fand seine
Hifsquellen bei dem Gott seines Vaters David. Er begab sich
selbst zur Urquelle aller Weisheit und Macht und umgürtete
sich dort mit Kraft für das vor ihm liegende Werk.
Wir wiederholen, daß dieser erste Schritt sehr nötig, ja, unerläßlich war. Der aufgehäufte Schmutz von Jahrhunderten
und Generationen lag vor seinen Füßen. Unter seinen Vorgängern hatte einer um den anderen den Haufen vergrößert,
und trotz der in den Tagen Hiskias bewirkten Reformation
wollte es doch scheinen, als ob alles noch einmal geschehen
müsse. Man höre, wie schrecklich das Böse und die Verir139
rungen waren, die uns in der Schrift überliefert sind: „Im
zwölften Jahre fing er an, Juda und Jerusalem von den Höhen und den Ascherim und den geschnitzten und gegossenen
Bildern zu reinigen. Und man riß die Altäre der Baalim vor
ihm nieder; und die Sonnensäulen, welche oben auf denselben waren, hieb er um; und die Ascherim und die geschnitzten und die gegossenen Bilder zerschlug und zermalmte er, und streute sie auf die Gräber derer, welche ihnen
geopfert hatten; und die Gebeine der Priester verbrannte er
auf ihren Altären. Und so reinigte er Juda und Jerusalem.
Und in den Städten von Manasse und Ephraim und Simeon,
und bis nach Naphtali hin, in ihren Trümmern ringsum, riß
er die Altäre nieder; und die Ascherim und die geschnitzten
Bilder zertrümmerte er, indem er sie zermalmte ; und
alle Sonnensäulen hieb er um i m ganze n Land e Is -
rael . Und er kehrte nach Jerusalem zurück" (Verse 3-8).
In 2. Kö finden wir ein noch viel ausführlicheres Verzeichnis
der Greuel, mit denen dieser ergebene Diener Gottes zu
kämpfen hatte. Wir wollen jedoch nichts weiter daraus anführen, denn das bereits Erwähnte genügt, um uns zu zeigen,
wie sehr sich selbst das Volk Gottes verirren kann, wenn es
sich einmal auch nur im geringsten Maße von der Autorität
der Heiligen Schrift abwendet. Wir fühlen, daß es eine ganz
besondere Unterweisung ist, die uns die höchst interessante Geschichte dieses besten der Könige von Juda liefert.
Es ist in der Tat eine ernste Unterweisung. Von dem Augenblick, da jemand um Haaresbreite von der Schrift abweicht,
lassen sich die großen Fehltritte, die er begehen kann, nicht
ausdenken. Wir mögen erstaunt sein, daß ein Mann wie Salomo dahin kommen konnte, der Astoreth, der Gottheit der
Zidonier, dem Milkom, dem Greuel der Ammoniter, und
dem Kamos, dem Greuel der Moabiter, nachzuwandeln und
ihnen Stätten zu errichten. Aber wenn wir bedenken, daß er
zuerst gegen das Wort Jehovas Frauen aus den Nationen
nahm, so kann es uns nicht befremden, daß er auch in den
größeren Irrtum fiel, deren Gottesdienst anzunehmen.
Ja, mein christlicher Leser, laßt uns nicht aus den Augen verlieren, daß alle diese Verfehlungen, diese ganze Verderbtheit
140
und Verwirrung, diese Schmach und Entehrung ihren Ursprung
in der Vernachlässigung des Wortes Gottes hatten. Das ist
eine ernste Tatsache, die beachtet werden muß. Es war immer die besondere Absicht Satans, das Volk Gottes von der
Schrift abzulenken. Zu diesem Zweck benutzte er alles: die
Überlieferung, die sogenannte Kirche, die Zweckmäßigkeit,
die menschliche Vernunft, die öffentliche Meinung, den Ruf,
den Charakter, den Einfluß und die Stellung eines Menschen.
Alles dies gebraucht er, um Herzen und Gewissen von dem
wahrhaft göttlichen Wahlspruch: „Es steht geschrieben!" abzulenken. Die ungeheure Menge der Irrtümer, die der junge
fromme König zu zermalmen vermochte, hatte seinen Ursprung in der Vernachlässigung des göttlichen Buches. Es
kümmerte Josia wenig, daß alle diese Dinge sich des Alters
sowie der Autorität der Väter des jüdischen Volkes rühmen
konnten, und er war auch ebenso wenig durch den Gedanken
bewegt, diese Altäre und Höhen, diese Ascherim und Bilder
als Beweise der Weitherzigkeit und Freisinnigkeit gegenüber
der Beschränktheit, Frömmelei und Unduldsamkeit zu betrachten und in ihnen die Spender des Fortschrittes zu. sehen,
die nicht in die engen Grenzen jüdischer Vorurteile eingeschlossen sein sollten, sondern durch die weite Welt reisen
und alles in den Kreis der Liebe und der Brüderschaft einschließen konnten. Nichts beeinflußte ihn. Alles, was nicht
in dem „So spricht der Herr!" seine Grundlage hatte, das
zermalmte er.
Die verschiedenen Abschnitte im Leben Josias sind scharf
bezeichnet. „Im achten Jahre seiner Regierung, . . . fing er
an, den Gott seines Vaters David zu suchen". — „Im zwölften
Jahre fing er an, Juda und Jerusalem von den Höhen usw.
. . . zu reinigen". — „Und im achtzehnten Jahre seiner Regierung, während er das Land und das Haus reinigte, sandte
er Schaphan, den Sohn Azaljas, und Maaseja, den Obersten
der Stadt, und Joach, den Sohn Joachas', den Geschichtschreiber, um das Haus Haus Jehovas, seines Gottes, auszubessern".
Aus diesem allem können wir nun jenen Fortschritt wahrnehmen, der immer auf eine wirkliche Herzensabsicht, dem
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Herrn zu dienen, folgt. „Der Pfad der Gerechten ist wie das
glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe". Solch ein Pfad war der Weg Josias, und so kann
auch der Pfad des Lesers sein, wenn er denselben Herzensentschluß hat. Es spielt keine Rolle, wie die Umstände beschaffen sind. Wir können von den feindseligsten Einflüssen
umgeben ein, wie es Josia in seiner Zeit war, aber ein Herz
voll Hingabe, ein ernstlicher Wille und Entschlossenheit werden uns durch die Gnade über alles erheben und uns befähigen, von Stufe zu Stufe auf dem Pfad der Jüngerschaft
vorwärtszukommen.
Wenn wir die ersten zwölf Kapitel des Buches Jeremia durchgehen, können wir uns eine Vorstellung von dem Zustand in
den Tagen Josias machen. Dort lesen wir: „Ich werde meine
Gerichte über sie sprechen wegen all ihrer Bosheit, daß sie
mich verlassen und anderen Göttern geräuchert und vor den
Werken ihrer Hände sich niedergebeugt haben. Du aber gürte
deine Lenden und mache dich auf, und rede zu ihnen alles
was ich dir gebieten werde; verzage nicht vor ihnen, damit
ich dich nicht vor ihnen verzagt mache". — „Darum werde
ich weiter mit euch rechten, spricht Jehova; und mit euren
Kindeskindern werde ich rechten. Denn gehet hinüber zu den
Inseln der Kittäer und sehet, und sendet nach Kedar und
merket auf; und sehet, ob dergleichen geschehen ist! Hat irgend eine Nation die Götter vertauscht? Und doch sind sie
nicht Götter; aber mein Volk hat seine Herrlichkeit vertauscht
gegen das was nichts nützt". — So finden wir auch zu Beginn des dritten Kapitels ein schreckliches Bild gebraucht, um
den bösen Wandel des abtrünnigen Israel und des verstockten Juda darzustellen, und im vierten Kapitel lesen wir die
Worte: „Dein Weg und deine Handlungen haben dir solches
bewirkt; dies ist deine Bosheit; ja, es ist bitter, ja, es dringt
bis an dein Herz. Meine Eingeweide, meine Eingeweide! Mir
ist angst! Die Wände meines Herzens! Es tobt in mir mein
Herz! Ich kann nicht schweigen! Denn du, meine Seele, hörst
den Schall der Posaune, Kriegsgeschrei: Zerstörung über Zerstörung wird ausgerufen. Denn das ganze Land ist verwüstet; plötzlich sind meine Zelte zerstört, meine Zeltbehänge
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in einem Augenblick. Wie lange soll ich das Panier sehen,
den Schall der Posaune hören? — Denn mein Volk ist närrisch, mich kennen sie nicht; törichte Kinder sind sie und
unverständig. Weise sind sie, Böses zu tun; aber Gutes zu
tun verstehen sie nicht. — Ich schaue die Erde an, und siehe,
sie ist wüst und leer; und den Himmel, und sein Licht ist
nicht da. Ich schaue die Berge an, und siehe, sie beben; und
alle Hügel schwanken. Ich schaue, und siehe, kein Mensch
ist da, der Karmel ist eine Wüste; und alle seine Städte sind
niedergerissen vor Jehova, vor der Glut seines Zornes".
Welch eine lebendige Sprache! Für den Blick des Propheten
ist der ganze Schauplatz in den ursprünglichen chaotischen
Zustand und die Finsternis zurückgefallen. Nichts konnte
trüber sein als der hier geschilderte Anblick. Alle diese Kapitel müssen sorgfältig betrachtet werden, wenn wir ein richtiges Urteil über die Zeit Josias erhalten wollen. Es war offenkundig eine Zeit tiefsitzender und allgemein verbreiteter
Verderbnisse jeder Art. Hohe und Niedrige, Reiche und Arme, Gelehrte und Ungelehrte, Propheten, Priester und Volk,
alle stellten ein abschreckendes Bild von Falschheit, Betrug
und herzloser Bosheit dar, das nur von einer inspirierten
Feder treu dargestellt werden konnte.
Warum verweilen wir hierbei? Warum führen wir Beweise
an von dem sittlichen Zustand Israels und Judas in den Tagen des Königs Josia? Hauptsächlich, um zu zeigen, daß wir
persönlich dem Herrn dienen können, wenn nur das Herz
die Absicht hat, es zu tun; denn in den dunkelsten Zeiten
strahlt das Licht treuer Hingebung am hellsten, es sticht von
der Dunkelheit ringsumher umso mehr ab. Gerade die Umstände, die Gleichgültigkeit und Untreue als Vorwand für
die Nachgiebigkeit, dem Strome zu folgen, gebrauchen wollen, liefern einem ergebenen Herzen einen Grund, sich dagegen zu stemmen. Wenn Josia um sich schaut, was sah
er? Verrat, Betrug, Verderbtheit und Gewalttat. So war
der Zustand der öffentlichen Moral. Und wie stand es
um die Religion? Verkehrtes und Böses in jeder nur denkbaren Form. Einiges davon stammte aus sehr alter Zeit.
Es wurde von Salomo eingeführt, und selbst Hiskia hatte
143
es bestehen lassen. Der Grund dazu wurde schon in der
glänzenden Regierung des weisesten und reichsten Königs
von Israel gelegt, und der frömmste und der ergebenste unter
den Vorfahren Josias hatte es bestehen lassen, wo er es vorfand.
Wer war denn Josia, daß er sich anmaßte, so ehrwürdige
Einrichtungen umzustoßen? Welches Recht hatte er, der noch
so junge, unerfahrene Mann, sich in Widerspruch zu setzen
mit Männern, die ihn an Weisheit, Einsicht und reifem Urteil
weit übertrafen? Warum ließ er die Dinge nicht, wie er sie
fand? Warum erlaubte er dem Strome nicht, ruhig in dem
Bett weiterzufließen, das ihm seit Generationen gegeben
worden war? Eingriffe sind gewagt; es ist ein großes Wagnis, allen Vorurteilen entgegenzutreten. Diese und tausend
ähnliche Fragen hätten das Herz Josias bewegen können, aber
die Antwort war einfach, klar und entschieden. Es war nicht
das Urteil Josias gegenüber dem Urteil seiner Vorfahren,
sondern das Urteil Gottes gegen alles. Das ist ein sehr
wichtiger Grundsatz für jedes Kind Gottes und für jeden
Diener Christi. Ohne ihn können wir uns nie dem Strome
des Bösen, der um uns herfließt, entgegenstellen. Dieser
Grundsatz hielt Luther aufrecht in dem harten Kampf, den
er mit der ganzen Christenheit zu führen hatte. Auch er
mußte, wie Josia, die Axt an die Wurzel alter Vorurteile
legen und gerade an der Grundlage der Meinungen und
Lehren rütteln, die seit mehr als tausend Jahren allgemeine
Geltung in der Kirche hatten. Wie konnte das geschehen?
Etwa dadurch, daß man das Urteil Martin Luthers gegen das
Urteil der Päpste und Kardinäle, der Konzilien, Bischöfe und
Lehrer stellte? Gewiß nicht; das hätte die Reformation sicher
nicht herbeigeführt. Es war nicht Luther gegen die Christenheit, sondern die Heilige Schrift gegen den Irrtum.
Möchten wir das wohl bedenken! Dies ist für unsere Zeit
eine ebenso wichtige Lektion wie für die Tage Luthers und
Josias. Wir fordern die Oberherrschaft der Heiligen Schrift,
die oberste Autorität des Wortes Gottes, die unumschränkte
Herrschaft der göttlichen Offenbarung, ehrfurchtsvoll von
der Kirche Gottes in ihrer ganzen Ausdehnung anerkannt.
144
Wir sind überzeugt, daß man allerorts und durch alle Mittel fleißig bestrebt ist, die Autorität des Wortes zu untergraben und seinen Einfluß auf das menschliche Gewissen
zu schwächen. Und weil wir dies fühlen, suchen wir immer
wieder den Ruf einer ernsten Warnung zu erheben und nach
unserer Fähigkeit hervorzuheben, wie wichtig es ist, sich in
allen Dingen der inspirierten Schrift zu unterwerfen, der
Stimme Gottes in der Schrift. Es ist notwendig, daß wir in
allen Dingen unbedingt von der Autorität der Schrift begleitet werden. — nicht von der Auslegung der Schrift durch
sterbliche Männer, sondern von der Schrift selbst. Es ist notwendig, daß wir der Lehre des Wortes Gottes zu allen Zeiten
und in jeder Lage den ersten und letzten Platz einräumen.
Dies finden wir in sehr lebendiger Weise dargestellt im Leben und in den Zeiten Josias, und besonders in den Vorgängen des achtzehnten Jahres seiner Regierung, auf die wir jetzt
die Aufmerksamkeit des Lesers richten wollen. Dies Jahr war
eines der denkwürdigsten, nicht nur in der Geschichte Josias,
sondern auch in den Annalen Israels. Es zeichnete sich durch
zwei große Tatsachen aus: die Entdeckung des Gesetzbuches
und die Feier des Passah. Wunderbare Ereignisse! Ereignisse,
die ihren Eindruck auf diesem sehr wichtigen Zeitabschnitt
hinterlassen haben und ihn in bezug auf die Belehrung für
das Volk Gottes zu allen Zeiten überaus fruchtbar gemacht
haben.
Es ist erwähnenswert, daß die Entdeckung des Gesetzbuches
gerade in der Zeit gemacht wurde, als die reformatorischen
Maßnahmen Josias ihren Fortgang nahmen. Dies liefert
einen der Tausende von Beweisen des großen praktischen
Grundsatzes, daß „jedem, der da hat, wird gegeben werden,
und er wird Überfluß haben". — Und: „Wenn jemand seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob
sie aus Gott ist".
„Im achtzehnten Jahre seiner Regierung, während er das
Land und das Haus reinigte, sandte er Schaphan, den Sohn
Azaljas, und Masseja, den Obersten der Stadt, und Joach,
den Sohn Joachas', den Geschichtsschreiber um das Haus
Jehovas, seines Gottes, auszubessern. Und sie kamen zu
145
Hilkija, dem Hohenpriester, und gaben das Geld, welches
in das Haus Gottes gebracht worden war . . . Und als sie
das Geld herausnahmen, welches in das Haus Jehovas gebracht worden war, fand der Priester Hilkija das Buch des
Gesetzes Jehovas durch Mose. Da hob Hilkija an und sprach
zu Schaphan, dem Schreiber: Ich habe das Buch des Gesetzes
im Hause Jehovas gefunden. Und Hilkija gab das Buch Schaphan. Und Schaphan brachte das Buch zu dem König; Und
Schaphan las darin vor dem König. Und es geschah, als der
König die Worte des Gesetzes hörte, da zerriß er seine Kleider" (2. Chron 34, 8-19).
Hier haben wir ein zartes Gewissen, das sich unter die Wirkung des Wortes Gottes beugt. Das war ein besonderer Zug
im Charakter Josias. Er war in der Tat ein Mann mit einem
demütigen und zerschlagenen Geist, der bei dem Wort Gottes
zitterte. Möchten wir alle mehr davon kennen! Es ist ein
sehr beachtenswerter Zug des christlichen Charakters. Wir
haben sicher nötig, das Gewicht, die Autorität und den Ernst
der Schrift weit tiefer zu fühlen. Josia hatte in seinem Herzen keine Frage über die Echtheit und Glaubwürdigkeit der
Worte, die Schaphan ihm vorgelesen hatte. Wir lesen nicht,
daß er gesagt hat: „Wie kann ich wissen, daß dies das Wort
Gottes ist"? Nein, er zitterte davor. Er beugte sich vor ihm.
Er wurde dadurch niedergeschlagen. Er zerriß seine Kleider.
Er maßte sich nicht an, über das Wort Gottes zu Gericht zu
sitzen, sondern er ließ zu, daß das Wort Gottes ihn richtete,
wie es geziemend und recht war.
So sollte es stets sein. Wenn der Mensch die Schrift beurteilen kann, dann ist die Schrift keineswegs das Wort Gottes.
Aber wenn die Schrift in Wahrheit Gottes Wort ist, dann
muß sie den Menschen beurteilen. Und das tut sie. Die
Schrift ist das Wort Gottes und beurteilt den Menschen
gründlich. Sie legt die Wurzeln seiner Natur bloß, sie
schließt die Grundlagen seines sittlichen Wandels auf, sie
hält ihm den einzigen wahren Spiegel vor, in dem er sich in
seiner wirklichen Gestalt sehen kann. Das ist der Grund,
warum der Mensch die Schrift nicht liebt, sie nicht ertragen
kann, sie beiseite setzen will, seine Freude darin findet, sie
146
mit Geringschätzung zu betrachten, und es wagt, über sie
zu Gericht zu sitzen. Er macht es nicht so mit anderen Büchern. Aber das ist erklärlich. Denn die Schrift beurteilt ihn,
richtet seine Wege, seine Lüste. Daher kommt die Feindschaft des natürlichen Herzens gegen dies so kostbare und
wunderbare Buch, das, wie wir bereits bemerkt haben, für
jedes göttlich zubereitete Herz seine eigene Beglaubigung
bei sich führt. Es ist eine Macht in der Schrift, die alles vor
ihr niederdrücken muß. Alles muß sich früher oder später
vor ihr beugen. „Denn das Wort Gottes ist lebendig und
wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und
durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl
der Gelenke als auch des Markes, und ein Beurteiler der
Gedanken und Gesinnungen des Herzens; und kein Geschöpf
ist vor ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor
den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben" (Hebr 4,
12. 13).
Josia fand, daß es gerade so sein müsse. Das Wort Gottes
durchbohrte ihn durch und durch. „Und es geschah, als der
König die Worte des Gesetzes hörte, da zerriß er seine Kleider. Und der König gebot Hilkija und Achikam, dem Sohne
Schaphans, und Abdon, dem Sohne Michas, und Schaphan,
dem Schreiber, und Asaja, dem Knechte des Königs, und
sprach: Gehet hin, befraget Jehova für mich und für die Übriggebliebenen in Israel und in Juda wegen der Worte des
aufgefundenen Buches. Denn groß ist der Grimm Jehovas,
der sich über uns ergossen hat, darum daß unsere Väter das
Wort Jehovas nicht beachtet haben, um nach allem zu tun,
was in diesem Buche geschrieben steht" (V. 19-21). — Welch
ein auffallender Gegensatz zwischen Josia, der mit betrübtem Herzen, erwachtem Gewissen und zerrissenen Kleidern
sich unter die gewaltige Wirkung des Wortes Gottes niederbeugte, und unseren Zweiflern und Ungläubigen, die mit erschreckender Kühnheit es wagen, über dasselbe Wort zu Gericht zu sitzen. O daß die Menschen doch beizeiten weise sein
und ihre Herzen und Gewissen in ehrfurditsvoller Unterwerfung unter das Wort des lebendigen Gottes bringen möchten,
ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt, an dem
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sie unter Weinen, Wehklagen und Zähneknirschen genötigt
sein werden, sich unter das Wort Gottes zu beugen!
Das Wort Gottes wird immer bestehen bleiben, und es hilft
dem Menschen nicht, sich ihm zu widersetzen oder durch
seine überlegenen und zweifelnden Spekulationen Irrtümer
und Widersprüche darin ausfindig machen zu wollen. „In
Ewigkeit, Jehova, steht dein Wort fest in den Himmeln". —
„Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte
aber sollen nicht vergehen". — „Das Wort des Herrn bleibt
in Ewigkeit". — Was kann es daher dem Menschen nützen,
dem Worte Gottes zu widerstehen? Er kann nichts gewinnen; aber ach, wie vieles kann er verlieren! Wenn ein Mensch
die Unechtheit der Bibel beweisen könnte, was hätte er dabei
gewonnen? Aber wenn sie doch wahr ist, was verliert er?
Welch eine ernste Wahrheit! Möchte ihr Ernst doch von
jedem gefühlt werden, dessen Herz unter dem Einfluß von
Schlußfolgerungen oder ungläubiger Einwendungen steht!
Fahren wir jedoch in unserer Geschichte fort.
„Da gingen Hilkija und diejenigen, welche der König entboten hatte, zu der Prophetin Hulda, dem Weibe Schallums,
des Sohnes Tokhaths, des Sohnes Hasras, des Hüters der
Kleider; sie wohnte aber zu Jerusalem im zweiten Stadtteile;
und sie redeten auf diese Weise zu ihr" (V. 22). — Beim
Beginn unserer Betrachtung bemerkten wir die Tatsache, daß
als Kennzeichen des Zustandes im Volk Gottes ein achtjähriges Kind auf dem Thron Davids saß. Hier stehen wir vor
der Tatsache, daß der prophetische Dienst von einer Frau
ausgeübt wird. Sicher soll damit etwas gesagt werden. Der
Zustand des Volkes hatte einen Tiefpunkt erreicht, aber die
Gnade Gottes war unerschöpflich und überströmend, und
Josia war so völlig gebrochen, daß er bereit war, die Mitteilung des Herzens Gottes anzunehmen, durch welchen Mund
sie auch zu ihm gelangen mochte. Das ist in der Tat beachtenswert. Nach Ansicht der Natur mag es für den König Judas sehr demütigend gewesen sein, zu den Ratschlägen einer
Frau seine Zuflucht nehmen zu müssen. Aber damals war
diese Frau die Verwalterin der Geheimnisse des Herzens
Gottes, und dies war völlig genug für einen zerschlagenen
148
und betrübten Geist. Er hatte bis dahin den Beweis abgelegt,
daß sein größtes Verlangen darin bestand, den Willen Gottes
zu erkennen und zu tun; und daher bekümmerte es ihn
nicht, durch welches Mittel dieser Wille an sein Ohr drang.
Er war bereit zu hören, und zu gehorchen.
Hierin liegt zu allen Zeiten das wahre Geheimnis einer göttlichen Leitung. „Er leitet die Sanftmütigen im Recht, und
lehrt die Sanftmütigen seinen Weg" (Ps 25, 9). Wäre diese
gesegnete Gesinnung der Demut mehr unter uns vorhanden,
dann würde weniger Verwirrung und Widerspruch, weniger
Streit und Hader um Worte sein, die keinen Nutzen schaffen. Wenn wir alle demütig wären, würden wir alle göttlich
geleitet und göttlich belehrt werden, eines Sinnes zu sein,
ein und dasselbe zu reden und die Zersplitterungen und gegenseitigen Anfeindungen entschieden zu vermeiden.
Welch eine deutliche Antwort empfängt der demütige und
betrübte König aus dem Mund der Prophetin Hulda — sowohl für sein Volk als auch für sich selbst. „Und sie sprach
zu ihnen: So spricht Jehova, der Gott Israels: Saget dem
Manne, der euch zu mir gesandt hat: So spricht Jehova:
Siehe, ich will Unglück bringen über diesen Ort und über
seine Bewohner: alle die Flüche, welche in dem Buche geschrieben sind, das man vor dem König von Juda gelesen
hat. Darum daß sie mich verlassen und anderen Göttern geräuchert haben, um mich zu reizen mit all den Machwerken
ihrer Hände, so hat sich mein Grimm über diesen Ort ergossen, und er wird nicht erlöschen" (V. 23-25). Dies alles
war nur die feierliche Wiederholung dessen, was das offene
und aufmerksame Ohr des Königs schon gehört hatte, aber
es kam mit Gewalt, Nachdruck und Gewicht, frisch und als
eine direkt und persönlich an ihn gerichtete Mitteilung. Es
kam verstärkt und gesteigert durch den ernsten Ausspruch:
„Saget dem Manne, der euch zu mir gesandt hat".
Aber hier fand sich noch mehr. Auch eine Gnadenbotschaft,
die Josia selbst betraf, war noch vorhanden. „Zu dem König
von Juda aber, der euch gesandt hat, um Jehova zu befragen, zu ihm sollt ihr also sprechen: So spricht Jehova, der
Gott Israels: Die Worte anlangend, die du gehört hast, —
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weil dein Herz weich geworden, und du dich vor Gott gedemütigt hast, als du seine Worte über diesen Ort und über
seine Bewohner hörtest, und dich vor mir gedemütigt und
deine Kleider zerrissen und vor mir geweint hast, so habe ich
es auch gehört, spricht Jehova. Siehe, ich werde dich zu. deinen Vätern versammeln, und du wirst zu deinen Gräbern
versammelt werden in Frieden; und deine Augen sollen all
das Unglück nicht ansehen, das ich über diesen Ort und über
seine Bewohner bringen werde. Und sie brachten dem König
Antwort" (V. 26-28).
Dies alles ist voll Belehrung und Ermutigung für uns in
diesen dunklen und bösen Tagen. Wir lernen hier den Wert
einer tiefen persönlichen Betrübnis des Herzens nach göttlicher Wertschätzung kennen. Josia hätte den Fall als hoffnungslos betrachten und denken können, daß nichts den gewaltigen Strom des Zornes und des Gerichts, der über die
Stadt Jerusalem und das Land Israel herabstürzen würde,
aufhalten könnte, daß jede Anstrengung, ihn aufzuhalten,
sich als vollkommen nutzlos erweisen würde, daß es der
Vorsatz Gottes sei, das Gericht auszuführen, — kurz, daß er
nur dabeizustehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen habe. Aber Josia urteilte nicht so. Er beugte sich vor dem göttlichen Zeugnis. Er demütigte sich, zerriß seine Kleider und
weinte. Gott nahm Kenntnis davon. Josias Bußetränen waren
köstlich für Jehova, und obwohl das schreckliche Gericht seinen Lauf nehmen mußte, so entkam doch der Bußfertige.
Und nicht nur entkam er selbst, sondern er wurde in der
Hand Jehovas zu einem gesegneten Werkzeug, um auch andere zu retten. Er überließ sich nicht dem Einfluß eines gefährlichen Verhängnis-Glaubens, sondern er warf sich mit
gebrochenem Geist und zerknirschtem Herzen vor Gott, indem
er seine eigene Sünde und die Sünde des Volkes bekannte.
Und als er von seiner eigenen Rettung überzeugt war, suchte
er auch die Rettung seiner Brüder zu bewirken. Das ist eine
herrliche Belehrung für das Herz.
Es ist sehr anziehend und belehrend, die Handlungen Josias
zu betrachten, als sein Herz und Gewissen unter den mächtigen Einfluß des Wortes Gottes gebracht waren. Er beugte
150
nicht nur sich selbst unter dieses Wort, sondern versuchte
auch andere dahin zu bringen. Das wird immer der Fall
sein, wenn das Werk echt ist. Es ist unmöglich, daß jemand
das Gewicht und die Erhabenheit der Wahrheit fühlt, ohne
sich zugleich auch angeregt zu fühlen, andere unter ihre
Wirkung zu bringen. Allerdings kann ein Teil der Wahrheit
vom Verstand, oberflächlich und in einer nur spekulativen,
eingebildeten Weise festgehalten werden, aber dies wird keine
praktische Wirkung haben. Es sagt dem Herzen und Gewissen nichts, es berührt nicht das Leben und den Charakter.
Wenn aber die Wahrheit nicht unsere eigenen Seelen berührt
hat, wird es, wenn wir sie darstellen wollen, keinen Einfluß
auf andere ausüben. Zwar ist Gott unumschränkt, und Er
kann Sein Wort gebrauchen, selbst wenn es von jemand vorgetragen wird, der nie wirklich seinen Einfluß gefühlt hat,
aber wir dürfen versichert sein, daß wir die Wahrheit selbst
tief fühlen müssen, wenn wir in anderen ein tiefes Gefühl
davon hervorbringen wollen.
Nehmen wir als Beispiel irgendeine Wahrheit, z. B. die vom
Kommen des Herrn. Wie kann jemand seine Zuhörer durch
ihre Darstellung einnehmen? Ohne Zweifel doch nur dann,
wenn er selbst tief von ihr eingenommen ist. Wenn das Herz
unter der Gewalt des ernsten Wortes „Der Herr ist nahe"!
steht, wenn diese Wahrheit in ihrem ganzen Ernst angesichts
der Welt verwirklicht und von den einzelnen Gläubigen wie
von der insgesamt in ihrer süßen Anziehungskraft gefühlt
wird, dann wird sie sicher in einer Weise geoffenbart werden,
die imstande ist, die Herzen der Zuhörer zu berühren. Es
mag eine sehr klare und kunstvolle Darstellung der Lehre
von der zweiten Ankunft des Herrn und aller damit zusammenhängenden Wahrheiten sein, aber wenn sie kalt und
herzlos ist, wird sie ohne Eindruck bei den Zuhörern bleiben.
Um zum Herzen des Hörenden zu reden, muß das Herz des
Sprechenden fühlen.
Wir wollen indes durchaus nicht sagen, daß die Art der Darstellung der Wahrheit an und für sich eine Seele bekehren
kann. Selbst die Tränen eines Predigers können nicht lebendig machen. Sein tiefster Ernst kann keine Wiedergeburt
151
bewirken. Es ist „nicht durch Macht und nicht durch Kraft,
sondern durch meinen Geist, spricht Jehova". Nur durch die
mächtige Wirkung des Wortes und des Geistes Gottes kann
eine Seele wiedergeboren werden. Das ist eine unumstößliche
Wahrheit. Aber wir sind ebenso fest überzeugt, daß Gott
eine ernste Predigt segnet, und daß Seelen durch sie in Bewegung gebracht werden. Wir brauchen daher mehr Ernst,
mehr Tiefe des Gefühls, mehr Innigkeit, mehr herzliches
Erbarmen, um im Blick auf das Gericht Gottes über den unbußfertigen Sünder über die Seelen der Menschen zu weinen, und vor allem brauchen wir ein lebendigeres Gefühl
über den Wert einer unsterblichen Seele in den Augen Gottes.
Ja, wir sind überzeugt, daß ernstes, treues Predigen eines
der besonderen Bedürfnisse unserer Zeit ist. Es gibt hier und
da etliche, die — Gott sei Dank — zu fühlen scheinen, daß
sie vor ihren Zuhörern als Kanäle zur Mitteilung zwischen
Gott und ihren Mitmenschen stehen und sich dem Werk des
Herrn, der Errettung und Segnung der Seelen mit Aufrichtigkeit widmen. Die große Arbeit des Evangelisten ist, die Seele
mit Christus zusammenzubringen; die Arbeit des Lehrers
und Hirten aber erstreckt sich dahin, daß die Seele mit Christus in Gemeinschaft bleibt. Es ist sehr gesegnet und wahr,
daß durch die Enthüllung der Wahrheit — mögen die Menschen sie hören oder nicht — Gott verherrlicht und Jesus
Christus hoch erhoben wird. Aber wenn der Arbeiter des
Herrn keine Erfolge sieht, wird er damit zufrieden sein?
Nein, er wird ohne Ergebnisse ebenso wenig vorangehen
wollen, wie ein Weingärtner jahraus jahrein ohne eine Ernte
arbeiten möchte. Unsere Sache ist es, im Gebet für die Seelen
zu ringen, alle unsere Energie auf das Werk zu richten und
zu arbeiten, als ob die ganze Sache auf uns liege, obwohl wir
ja wissen, daß wir gar nichts tun können, und daß unsere
Worte sich wie Morgennebel erweisen, wenn sie nicht vom
Herrn der Versammlungen wie ein Nagel an einem bestimmten Ort befestigt werden. Wir sind überzeugt, daß in der
göttlichen Ordnung der ernste Arbeiter die Frucht seiner
Arbeit haben muß, und daß er in seinem von Gott bezeichneten Wirkungskreis früher oder später diese Frucht ernten
wird.
152
Zu diesen Gedanken kamen wir durch die Betrachtung der
interessanten Szene im Leben Josias/
die uns am Schluß
von 2. Chron 34 vorgestellt wird. Es wird uns nützlich sein,
noch ein wenig dabei zu verweilen. Josia war ein durchaus
ernster Mann. Er fühlte die Macht der Wahrheit in seiner
eigenen Seele, und er begnügte sich nicht eher, als bis er das
Volk um sich versammelt hatte, damit das ihm zuteilgewordene Licht auch auf sie scheinen möge. Er wollte und konnte
nicht bei der Tatsache stehen bleiben, daß er im Frieden zu
seinen Vätern versammelt werden sollte, ohne jenes Böse
zu sehen, das sich in Kürze über Jerusalem und über das
Land ergießen würde. Nein, er dachte an andere, er fühlte
für das Volk, das ihn umgab; und insoweit seine persönliche
Errettung auf seine wahre Buße und Demütigung unter die
mächtige Hand Gottes gegründet war, suchte er durch die
Wirksamkeit des Wortes, das so mächtig in seinem Herzen
gewirkt hatte, auch andere zu ähnlicher Buße und Demütigung zu führen.
„Und der König stand auf seinem Standorte und machte den
Bund vor Jehova, Jehova nachzuwandeln und seine Gebote
und seine Zeugnisse und seine Satzungen zu beobachten
mit seinem ganzen Herzen und mit seiner ganzen Seele, um
die Worte des Bundes zu tun, welche in diesem Buche geschrieben sind. Und er ließ alle in den Bund treten, welche
sich in Jerusalem und in Benjamin befanden. Und die Bewohner von Jerusalem taten nach dem Bunde Gottes, des
Gottes ihrer Väter. Und Josia tat alle Greuel hinweg aus
allen Ländern, welche den Kindern Israel gehörten; und er
hielt alle an, die sich in Israel befanden, Jehova, ihrem Gott
zu dienen. Alle seine Tage wichen sie nicht ab von Jehova,
dem Gott ihrer Väter" (V. 31-33).
Welch eine herrliche Unterweisung finden wir hier für uns!
Was uns aber vor allem bei dieser Betrachtung auffällt, ist
die Tatsache, daß Josia seine Verantwortung für alle um ihn
her fühlte. Er stellte sein Licht nicht unter einen Scheffel,
sondern ließ es zum Nutzen anderer leuchten. Dies alles ist
umso auffallender, als die große praktische Wahrheit von der
Einheit aller Gläubigen in einem Leibe dem jungen König
153
nicht bekannt war, da Gott sie noch nicht geoffenbart hatte.
Die Lehre: „Ein Leib und ein Geist" trat erst lange nach den
Zeiten Josias ans Licht, und zwar wie wir wissen, erst nachdem Christus, das auferstandene Haupt, Seinen Sitz zur
Rechten der Majestät in der Höhe eingenommen hatte. Aber
obwohl diese Wahrheit noch in Gott verborgen war, zeigte
sich doch hier die Einheit des Volkes Israel, und diese Einheit
wurde stets von den Gläubigen jener Tage anerkannt welches
der äußere Zustand des Volkes auch sein mochte. Die zwölf
Brote auf dem Schaubrottisch im Heiligtum waren das göttliche Vorbild der vollkommenen Einheit, wenn auch zugleich
der vollkommenen Unterscheidung der zwölf Stämme (3. Mo
24). Jeder Schriftforscher und jeder Freund der Wege Gottes
sollte sich stets dessen bewußt sein. Während der düsteren
und stillen Nachtwachen strahlten die sieben Lampen des goldenen Leuchters ihr Licht auf die zwölf Brote, die von der
Hand des Hohenpriesters nach dem Gebot auf den reinen
Tisch gelegt wurden. Hier sehen wir also die unauflösliche
Einheit der zwölf Stämme Israels in der lebendigsten Weise
dargestellt, eine Wahrheit, die Gott geoffenbart und aufrechterhalten hatte, und die der Glaube Seines Volkes stets anerkannt hatte und darum auch demgemäß handelte.
Gestützt auf diese Wahrheit handelte Elia, der Tisbiter, als
er auf dem Berge Karmel einen Altar aus zwölf Steinen nach
der Zahl der zwölf Stämme der Söhne Jakobs baute, zu welchem das Wort Jehovas kam und sprach: „Israel soll dein
Name sein" (1. Kö 18)! Auf dieselbe Wahrheit achtete Hiskia, als er befahl, daß das Brand- und Sündopfer für ganz
Israel geschehen sollte (2. Chron 29, 24). Paulus nahm zu
seiner Zeit Bezug auf diese kostbare Wahrheit, als er vor
dem König Agrippa stand und „unser zwölfstämmiges Volk,
unablässig Nacht und Tag Gott dienend", erwähnte (Apg
26, 7).
Wenn nun einer dieser Glaubensmänner gefragt worden
wäre: „Wo sind die zwölf Stämme"? — hätte er eine Antwort geben, hätte er sie ausfindig machen können? Gewiß,
aber nicht sichtbar, nicht für das Auge des Menschen, denn
das Volk war getrennt, seine Einheit war gebrochen. In den
154
Tagen Elias und Hiskias gab es zehn und zwei Stämme, und
in den Tagen des Paulus waren die zehn Stämme zerstreut
und nur ein- Überrest der zwei Stämme fand sich im Lande.
Was nun? Wurde die Wahrheit Gottes durch Israels äußere
Lage zunichtegemacht? Weit gefehlt! „Unser zwölf stämmiges
Volk" darf nie aufgegeben werden. Die Einheit des Volkes
ist für den Glauben eine große Wirklichkeit. Sie ist in diesem
Augenblick so wahr wie damals, als josua die zwölf Steine
zu Gilgal aufrichtete. Das Wort unseres Gottes wird immer
bestehen. Nicht ein Strichlein von dem, was er geredet hat,
wird je vergehen. Wechsel und Verfall mag die Geschichte
menschlicher Angelegenheiten kennzeichnen, Tod und Verwüstung mögen wie ein austrocknender Wind über den schönsten Samen der Erde hinweggehen, aber Jehova wird jedes
Seiner Worte wahrmachen, und Israels zwölf Stämme werden sich noch einmal des verheißenen Landes erfreuen in
seiner ganzen Länge, Breite und Fülle. Keine Macht der Erde
oder der Hölle wird diese gesegnete Erfüllung verhindern
können. Warum? — Weil der Mund Jehovas geredet hat.
Es ist von großer Bedeutung, sich über diese Wahrheit im
klaren zu sein. Nicht nur wegen ihrer besonderen Beziehung
auf Israel und das Land Kanaan, sondern vor allem, weil
Gott es ist, Der Israel als ein Ganzes bezeichnet. Es gibt eine
leichtfertige Art und Weise, mit dem Wort Gottes umzugehen, die sowohl Ihn entehrt, als auch uns schadet. Stellen,
die besonders ausschließlich Jerusalem und Israel angehen,
werden auf die Verbreitung des Evangeliums und die Ausdehnung der Christlichen Kirche angewendet. Das ist gelinde
gesagt eine unverantwortliche Freiheit gegenüber der heiligen Offenbarung. Unser Gott kann gewiß sagen, was Er
meint, und ganz gewiß meint Er, was Er sagt. Wenn Er daher
von Israel und Jerusalem spricht, so meint Er nicht die Kirche; und wenn Er von der Kirche spricht, so meint Er nicht
Israel und Jerusalem. Wenn wir uns erlauben, leichtfertig
und sorglos hinsichtlich eines Teiles der Schriften zu sein,
dann werden wir es auch hinsichtlich jedes anderen sein, und
auf diese Weise wird unser Gefühl von der Autorität der
Schrift mehr und mehr untergraben.
155
Doch wir wollen zu Josia zurückkehren und sehen, wie er
nach seinem Maß den großen Grundsatz anerkannte, bei dem
wir stehengeblieben sind. Er machte in der Tat keine Ausnahme von der allgemeinen Regel, sondern trat in die Fußstapfen aller gottesfürchtigen Könige von Juda, die stets auf
die Einheit des Volkes Israel blickten und nie zugaben, daß
ihre Gedanken, ihre Sympathien und ihre Handlungen von
einem engeren Rahmen als dem des zwölfstämmigen Volkes
begrenzt wurden. Die zwölf Brote auf dem Schaubrottisch
waren stets vor Gottes Augen und den Augen des Glaubens.
Auch war dies keine bloße Anschauung, kein leeres Dogma,
kein toter Buchstabe, sondern es war in jedem Falle eine
große, praktische und einflußreiche Wahrheit. „Josia tat alle
Greuel hinweg aus allen Ländern, welche den Kindern Israel
gehörten". Das war eine Tat, die in Übereinstimmung war
mit seinem Vorfahren Hiskia, der einst befohlen hatte, daß
das Brandopfer und Sündopfer für ganz Israel dargebracht
werden sollte.
Und nun, mein christlicher Leser, achte auf die Anwendung
von all diesem auf unsere eigenen Seelen in der heutigen
Zeit. Glaubst du auf die göttliche Autorität hin von Herzen
an die Einheit des Leibes Christi? Glaubst du, daß sich hier
auf dieser Erde ein solcher Leib befindet, und zwar durch
den Heiligen Geist mit seinem göttlichen, lebendigen Haupt
im Himmel vereinigt? Glaubst du diese göttliche, in der Heiligen Schrift mitgeteilte Wahrheit? Mit einem Worte: Hältst
du fest an der unauflöslichen Einheit der Versammlung Gottes, als an einer Grundwahrheit des Neuen Testaments? Frage nicht: „Wo ist sie zu sehen"? Dies ist eine Frage, die der
Unglaube stets stellen muß, weil sein Auge auf die zahllosen
Sekten und Parte'en der Christenheit gerichtet ist, während
der Glaube hinblickt auf den unvergänglichen Ausspruch:
„Da ist ein Leib und ein Geist". Achte auf die Worte: „Da
ist" und nicht: „Da war" oder: „Da wird sein". Auch lesen
wir nicht, daß so etwas im Himmel besteht, sondern „da ist
ein Leib und ein Geist" jetzt auf dieser Erde. Kann diese
Wahrheit durch den Zustand in der bekennenden Kirche angetastet werden? Hat Gottes Wort aufgehört, wahr zu sein,
156
weil der Mensch aufgehört hat, treu zu sein? Wagt jemand
zu behaupten, die Einheit des Leibes sei nur eine Wahrheit
für die apostolische Zeit gewesen und habe keine Anwendung mehr auf die Gegenwart, weil ihre Verwirklichung
fehle? Hüte dich, mein teurer Leser, dein Herz einer solchen
ungläubigen Gesinnung zu öffnen! Du kannst versichert
sein, daß sie die Frucht wirklichen Unglaubens in bezug auf
das Wort Gottes ist. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der
Schein gegen diese Wahrheit ist. Aber baut der Glaube auf
das, was das Auge sieht? Baute Elia auf das Sichtbare, als er
seinen Altar nach der Zahl der zwölf Stämme aus zwölf
Steinen aufrichtete? Baute der König Hiskia auf das Sichtbare, als er jenes schöne Gebot erließ, daß das Brandopfer
und das Sündopfer für ganz Israel gebracht werden sollte?
Baute Josia auf das Sichtbare, als er seine reformatorischen
Bestrebungen in allen Ländern, die den Kindern Israel gehörten, durchsetzte? Keineswegs. Sie alle bauten auf das
wahre Wort des Gottes Israels. Dieses Wort war wahr,
mochten Israels Stämme nun zerstreut oder vereinigt sein.
Wenn die Wahrheit Gottes durch äußeren Schein oder durch
die Wirksamkeit der Menschen angetastet werden kann, wo
befinden wir uns dann? Und was haben wir zu glauben?
Es ist eine Tatsache, daß es in der ganzen göttlichen Offenbarung kaum eine Wahrheit gibt, der wir mit ruhigem Vertrauen unsere Seele übergeben können, wenn wir zugeben,
daß etwas durch den äußeren Anschein angetastet werden
kann.
Nein, mein Leser, der einzige Grund, auf dem unser Glaube
ruhen kann, ist der eine ewige Ausspruch: „Es steht geschrieben"! Gibst du das zu? Beugt sich deine Seele darunter? Glaubst du nicht, daß dies ein ganz lebendiger Grundsatz ist? Wir sind der Meinung, daß du ihn als Christ anerkennen mußt. Nun denn, e s steh t geschrieben :
„Da ist ein Leib und ein Geist" (Eph 4). Das offenbart uns
die Schrift ebenso klar wie das Wort: „Wir sind gerechtfertigt worden aus Glauben", oder wie jede andere Wahrheit.
Wird die rettende Gnmdlehre von der Rechtfertigung aus
Glauben durch äußeren Anschein erschüttert? Haben wir
157
diese kostbare Wahrheit in Frage zu stellen, weil so wenig
Verwirklichung ihrer reinigenden Kraft in dem Leben der
Gläubigen zu finden ist? Wer möchte einen so verderblichen
Grundsatz aufstellen? Welch einen vollständigen Umsturz
aller Grundlagen unseres Glaubens würde das bewirken! Wir
glauben, weil es im Wort geschrieben steht, nicht, weil es in
der Welt verwirklicht wird. Allerdings sollte es verwirklicht
werden, und es ist unsere Sünde und Schande, daß es nicht
geschieht. Auf dieses werden wir später noch zurückkommen, aber wir müssen auf dem eigentlichen Grund des Glaubens beharren, d. h. auf dem Boden der göttlichen Offenbarung. Wenn dies klar geschehen und völlig anerkannt ist,
findet es seine Anwendung ebenso sicher auf die Einheit des
Glaubens wie auf die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben.
Es ist von größter Wichtigkeit, auf diesem Vorsatz zu beharren, weil dies der einzige Grund ist, auf den unser Glaube
bezüglich jeder im Worte Gottes geoffenbarten Lehre sich
stützen kann. Auf diese Weise glauben wir alle die erhabenen Wahrheiten des Christenglaubens. Wir wissen nichts und
können nichts Geistliches, Himmlisches und Göttliches glauben, wenn wir es nicht im Worte Gottes geoffenbart finden.
Woher weiß ich, daß ich ein Sünder bin? Weil die Schrift
erklärt hat, daß wir alle gesündigt haben. Ohne Zweifel fühle
ich, daß ich ein Sünder bin, aber ich glaube es nicht, weil ich
es fühle, sondern ich fühle es, weil ich es glaube; und ich
glaube es, weil Gott es gesagt hat. Der Glaube ruht auf göttlicher Offenbarung, nicht auf menschlichen Gefühlen oder
Schlußfolgerungen. „Es steht geschrieben" — das ist völlig
ausreichend für den Glauben. Nichts weniger genügt, und
nichts mehr ist notwendig. Gott spricht es und der Gläubige
glaubt es; er glaubt einfach, weil Gott spricht. Er beurteilt
das Wort Gottes nicht nach dem äußeren Anschein, sondern
er beurteilt den äußeren Anschein nach dem Worte Gottes.
So ist es mit allen Hauptwahrheiten des Christentums, sei es
die Lehre von der Dreieinheit, der Gottheit unseres Herrn
Jesus Christus, Seines Versöhnungswerkes, Seines Priestertums, Seiner Wiederkunft, oder die Lehre von dem Sünden158
fall des Menschen, von der Rechtfertigung, dem künftigen
Gericht, der ewigen Verdammnis. Wir glauben diese erhabenen und ernsten Wahrheiten nicht auf Grund des Gefühls,
sondern einfach auf Grund der göttlichen Offenbarung.
Wenn nun gefragt wird, auf welchem Grund unser Glaube
an die Lehre von der Einheit des Leibes ruht, so weisen wir
auf denselben Grund hin, auf dem unser Glaube an die
Lehre von der Dreieinheit, der Gottheit Christi und der
Versöhnung ruht. Wir glauben diese Wahrheit, weil sie an
mehreren Stellen des Neuen Testaments geoffenbart ist. So
z. B. im 12. Kapitel des ersten Korintherbriefes, wo wir lesen: „Denn gleichwie der Leib einer ist und viele Glieder hat,
alle Glieder des Leibes aber, obgleich viele, ein Leib sind:
also auch der Christus, denn auch in einem Geiste sind wir
alle zu einem Leibe getauft worden, es seien Juden oder
Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind alle mit
einem Geiste getränkt worden". Ferner: „Gott hat den Leib
zusammengefügt, indem er dem Mangelhafteren reichlichere
Ehre gegeben hat, auf daß keine Spaltung in dem Leibe sei
. . . Ihr aber seid Christi Leib und Glieder insonderheit".
Hier haben wir die vollkommene und unauflösliche Einheit
der Kirche genau dargestellt, und zwar durch dieselbe Autorität wie jede andere Wahrheit, die wir alle glauben, so daß
ebenso viel Grund vorhanden ist, die Gottheit Christi in
Frage zu stellen, wie die Einheit des Leibes zu beanstanden.
Das eine ist so wahr wie das andere, und beides ist göttlich
wahr, weil es göttlich geoffenbart ist. Wir glauben, daß Jesus Christus Gott über alles ist, gepriesen in Ewigkeit, weil
die Schrift es uns sagt, und wir glauben, daß ei n Lei b
besteht, ebenfalls weil die Schrift es uns sagt. Wir schalten
im ersten Fall nicht unseren Verstand ein, sondern glauben
und beugen uns, und wir sollen auch im anderen Fall nicht
unseren Verstand einschalten, sondern glauben und uns beugen". „Da ist ei n Leib und ei n Geist".
Beachten wir nun aber, daß diese Einheit des Leibes nicht ein
abstrakter Gegenstand, eine nutzlose Ansicht oder ein kraftloser Glaubenssatz ist. Es ist eine praktische, wesentliche, einflußreiche Wahrheit, in deren Licht wir zu wandeln berufen
159
sind und nach der wir uns und alles um uns her zu richten
haben. So war es bei den Gläubigen in Israel. Die Einheit des
Volkes war ihnen etwas Wesentliches, und nicht nur eine
Lehre, die man nach Belieben annehmen oder verwerfen
kann. Es war eine erhabene, wichtige, kraftvolle Wahrheit.
In den Gedanken Gottes war das Volk eins, und wenn diese
Einheit nicht verwirklicht wurde, dann hatten die Gläubigen
nur den Platz des Selbstgerichts, des zerschlagenen und betrübten Herzens einzunehmen. Wir sehen dies bei Hiskia,
Josia, Daniel, Esra und Nehemia. Es fiel diesen Gläubigen
nicht ein, die Wahrheit von der Einheit Israels aufzugeben,
weil Israel im Festhalten daran gefehlt hatte. Sie maßen die
Wahrheit Gottes nicht an den Handlungen der Menschen,
sondern sie beurteilten die Taten der Menschen und sich
selbst an Hand der Wahrheit Gottes. Das war der einzig
richtige Weg. Wenn die verwirklichte Einheit Israels durch
die Sünde und Torheit des Menschen zerstört war, dann bekannten die wahrhaftigen Glieder des Volkes Gottes die
Sünde und trugen Leid darüber; sie bekannten sie als ihre
eigene Sünde und blickten auf Gott. Zudem aber fühlten
sie ihre Verantwortung, nach der Wahrheit Gottes zu handeln, was auch der äußere Zustand sein mochte.
Wir wiederholen, daß dieses die Bedeutung des aus zwölf
Steinen errichteten Altars Elias war, angesichts der vierhundert und fünfzig falschen Propheten der Isebel und trotz der
Trennung des Volkes nach menschlicher Anschauung (1. Kö
18). Das war auch die Bedeutung der Briefe, die Hiskia an
das ganze Volk Israel sandte, um sie einzuladen, „um Jehova, dem Gott Israels, Passah zu feiern in Jerusalem". Nichts
ist rührender als der Inhalt dieser Briefe. „K inde r Isra -
e 1 ! kehret um zu Jehova, dem Gott Abrahams, Isaaks und
Israels; so wird er umkehren zu den Entronnenen, die euch
aus der Hand der Könige von Assyrien übriggeblieben sind.
Und seid nicht wie eure Väter und wie eure Brüder, die
treulos gehandelt haben gegen Jehova, den Gott ihrer Väter,
so daß er sie der Verwüstung hingegeben hat, wie ihr sehet.
N u n verhärte t eure n Nacke n nicht , wie eure
Väter; gebe t Jehov a die Hand und kommet zu seinem
160
Heiligtum, das e r geheilig t ha t au f ewig , und
dienet Jehova, eurem Gott, damit die Glut seines Zornes sich
von euch wende. Denn wen n ih r z u Jehov a um -
kehret , s o werde n eur e Brüde r un d eur e
Kinde r Barmherzigkei t finde n vor denen, die
sie gefangen weggeführt haben, und in dieses Land zurückkehren. Denn gnädig und barmherzig ist Jehova, euer Gott,
und er wird das Angesicht nicht von euch abwenden, wenn ihr
zu ihm umkehret" (2. Chron 30, 6-9).
Hier handelt der Glaube gemäß der großen, ewigen, unveränderlichen Wahrheit der Einheit des Volkes Israel. Das Volk
war nach dem Vorsatz Gottes eins, und Hiskia blickte, wie
es der Glaube immer tut, auf das Volk von diesem göttlichen
Gesichtspunkt aus, und er handelte dementsprechend. „Und
die Läufer zogen von Stadt zu Stadt durch das Land Ephraim und Manasse, und bis nach Sebulon; aber man verlachte
und verspottete sie". Wie traurig, und dennoch haben wir
nichts anderes zu erwarten. Es ist sicher, daß die Handlungen
des Glaubens den Spott und die Verachtung derer herausfordern, die nicht auf dem Standpunkt der Gedanken Gottes
stehen. Ohne Zweifel betrachteten die Männer von Ephraim
und Manasse die Botschaft Hiskias als Anmaßung oder eitle
Schwärmerei. Vielleicht war die große Wahrheit, die mit solcher Kraft auf seine Seele wirkte, seinen Charakter formte
und sein Verhalten regelte, nach ihrer Ansicht eine Fabel,
eine wertlose Lehre, ein Rest aus der Vergangenheit, eine
Einrichtung früherer Zeiten, die auf die Gegenwart keine
Anwendung fände. Aber der Glaube wird immer durch die
Gedanken der Menschen in Tätigkeit gesetzt, und darum
fuhr Hiskia mit seinem Werk fort, und Gott bekannte Sich
zu ihm und segnete ihn. Es mochte wohl ein Grund zum
Spott sein, als man sah, daß einige Männer von Äser und
Manasse und von Sebulon sich demütigten und nach Jerusalem kamen". Aber Hiskia und alle, die sich so unter die
mächtige Hand Gottes demütigten, ernteten eine reiche Segensernte, während die Spötter und Verächter in der Unfruchtbarkeit und Erstarrung gelassen wurden, in die ihr
eigener Unglaube sie versetzt hatte. Man achte auf die Kraft
161
der Worte Hiskias: „Wenn ihr zu Jehova umkehret, so werden eure Brüder und eure Kinder Barmherzigkeit finden vor
denen, die sie gefangen weggeführt haben". — Wie nahe
kommt dies der Wahrheit des Neuen Testaments! Wir sind
Glieder voneinander, und das Verhalten eines Gliedes berührt
alle übrigen. Der Unglaube fragt, wie dies möglich sei, und
wie das Verhalten des einen auf entfernt wohnende andere
Einfluß haben könne. Aber wie einst in Israel, so ist es jetzt
in der Versammlung Gottes. Siehe den Fall Achans in Josua
7. Dort sündigt ein Mann, während die ganze Versammlung,
wie uns das Wort sagt, nichts von dem Vorgang wußte; und
dennoch lesen wir: „Und die Kinder Israel begingen Untreue
an dem Verbannten" und: „Israel hat gesündigt". Wie war
dies möglich? Einfach, weil das Volk eins war, und Gott in
seiner Mitte wohnte. Das war offenbar der Grund einer doppelten Verantwortung, gegen Gott und gegen die Versammlung als Ganzes und gegen jedes Glied insbesondere. Kein
Glied dieses Volkes konnte diese hohe und heilige Verantwortung der Versammlung von sich abschütteln. Ein in Dan
wohnender Mann hätte fragen können, inwiefern sein Verhalten eine in Beerseba lebende Person berühren könnte.
Dennoch war es so, und der Grund dafür lag in der ewigen
Wahrheit der unauflöslichen Einheit Israels und des Wohnens
Jehovas in der Mitte Seiner erlösten Versammlung (siehe 2.
Mo 15, 2 und die vielen Stellen, die von dem Wohnen Jehovas in der Mitte Israels reden).
Wir wollen indes bei den zahllosen Schriftstellen, die von
der Gegenwart Gottes in der Versammlung Israels, von Seiner Wohnung in ihrer Mitte reden, nicht länger verweilen.
Wir lenken nur die Aufmerksamkeit des Lesers auf die
wichtige Tatsache, daß die Reihe dieser Schriftstellen mit
2. Mo 15 beginnt. Als Israel als ein völlig erlöstes Volk auf
der kanaanitischen Seite des Roten Meeres stand, war es erst
fähig zu sagen: „Meine Stärke und mein Gesang ist Jah,
denn er ist mir zur Rettung geworden; dieser ist mein Gott,
und ich will ihm eine Wohnung machen". Die Erlösung
*) Siehe die Anmerkung zn 2. Mo 15, 2 in der Elberfelder Übersetzung.
162
bildete den Grund für das Wohnen Gottes unter Seinem
Volke und sicherte ihre vollkommene Einheit. Daher konnte
kein einziges Glied dieser Versammlung sich als einen einzelnen, unabhängigen Teil betrachten. Jeder war berufen,
sich als einen Teil des Ganzen zu betrachten und sein Verhalten mit Rücksicht auf alle, die wie er einen solchen Teil
bildeten, passend einzurichten.
Wie hätte die Vernunft eine solche Wahrheit fassen können,
die ganz außerhalb des Bereichs aller menschlichen Erkenntnis lag! Nur der Glaube konnte sie annehmen und danach
handeln. Der Gläubige in Israel erkannte sie und handelte
danach. Warum sandte Hiskia Briefe an ganz Israel? Warum
befahl er, ohne sich um den Spott des Unglaubens zu kümmern, daß das Brand- und Sündopfer für ganz Israel dargebracht werde? Warum dehnte Josia seine reformatorischen
Bestrebungen über alle Länder der Kinder Israel aus? Weil
diese Männer Gottes die göttliche Wahrheit von der Einheit
Israels anerkannten und sie nicht darum unbeachtet ließen,
weil sie so wenig verwirklicht war. „Das Volk wird allein
wohnen", und „ich, Jehova, will unter den Kindern Israels
wohnen". — Diese Wahrheit leuchtet wie kostbare Edelsteine
vom himmlischen Glanz aus den Blättern des Alten Testaments, und wir finden immer, daß je mehr jemand in der
Nähe Gottes, in der Nähe der lebendigen und immer strömenden Quelle lebte, er auch in die Gedanken, Ratschlüsse,
Gefühle und Absichten Gottes einging, sie kennenlernte und
das auszuführen versuchte, was Gott von Seinem Volke gesagt hatte, wie untreu dieses sich auch gegen Ihn erweisen
mochte.
Erkennst du, mein Leser, in der Einheit des israelitischen
Volkes nicht das Vorbild einer höheren Einheit in dem
einen Leibe, von dem Christus das Haupt ist? Wir setzen es
voraus. Wir hoffen von Herzen, daß dein ganzes sittliches
Wesen sich in ehrfurchtsvoller Unterwerfung unter die mächtige Wahrheit beugen möchte: „Da ist ein Leib". Du wirst
allerdings erstaunt sein, daß sich in der bekennenden Kirche
nirgends ein Ausdruck dieser Einheit zeigt. Du siehst die
Christen zertreut und getrennt, du siehst unzählige Sekten
163
und Parteien, ja, du siehst vielleicht sogar unter denen, die
bekennen, die Wahrheit von der Einheit des Leibes zu
glauben nicht das wahre Bild dieser Einheit. Sicher ist
alles dies sehr verwirrend für jemand, der es vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet. Dennoch aber steht der
Grund Gottes unbeweglich fest. Seine Wahrheit ist unzerstörbar. Und wenn wir mit Bewunderung auf ein vergangenes
Zeitalter blicken, das die Einheit Israels zu einer Zeit, in der
das menschliche Auge keine Spur dieser Einheit entdeckte,
glaubte und bekannte, warum sollten wir nicht die höhere
Einheit des einen Leibes von Herzen glauben und verwirklichen? „Da ist ei n Leib und e i n Geist" — darin liegt
das Fundament unserer Verantwortung gegeneinander und
gegen Gott. Wollen wir diese Einheit aufgeben, weil die
Christen zerstreut und getrennt sind? Gott verhüte es. Sie
ist so wahr und kostbar wie eh und je, und sie sollte verwirklicht werden und einen Einfluß ausüben. Wir haben
nach der Wahrheit Gottes zu handeln, ohne auf das Sichtbare
Rücksicht zu nehmen. Wir sollen nicht wie viele sagen: „Es
ist unmöglich, die Wahrheit Gottes in dem uns umgebenden
Verfall auszuführen; diese Einheit mag eine Sache der Vergangenheit gewesen sein, sie mag in der Zukunft ausgeführt
werden können, aber unmöglich kann sie eine Sache der
Gegenwart sein und angesichts der vielen Sekten und Parteien aufrechterhalten werden. Jetzt bleibt für den einzelnen
nichts übrig, als für sich selbst auf den Herrn zu blicken und
seinen persönlichen Wirkungskreis nach den Eingebungen
seines Gewissens und Urteils einzurichten".
Das ist im Wesentlichen die Sprache von Hunderten unter
dem Volke Gottes, und wie ihre Sprache ist, so ist ihr Verhalten. Aber diese Sprache verrät den Unglauben an jene große
Hauptwahrheit von der Einheit des Leibes Christi. Wir haben
sicher ebenso viel Recht, die kostbare Lehre von der Gottheit
Christi, Seiner vollkommenen Menschheit, oder Seines stellvertretenden Opfers zu verwerfen, wie die Wahrheit von der
vollkommenen Einheit Seines Leibes in Frage zu stellen; denn
alle diese Wahrheiten ruhen auf dem Grund der ewigen, in
der Heiligen Schrift dargestellten Wahrheit Gottes. Dürfen
164
wir irgendeine Wahrheit göttlicher Offenbarung beiseitesetzen? Dürfen wir einer von ihnen ihre Anwendung versagen?
Sind wir nicht vielmehr verpflichtet, jede Wahrheit anzunehmen und unsere Seelen ihrer Macht zu unterwerfen? Es ist
äußerst gefährlich, auch nur für einen Augenblick der Meinung Raum zu geben, irgendeine Wahrheit Gottes beiseitesetzen zu dürfen, unter dem Vorwand, daß sie nicht verwirklicht werden könne. Die Heilige Schrift hat sie geoffenbart; das ist genug, und wir haben zu glauben und
zu gehorchen. Wir sind verpflichtet, jede Wahrheit um jeden
Preis festzuhalten, aus Gehorsam, den wir Christus, dem
Haupt schulden, praktisch gegen alles zu zeugen, was gegen
die Wahrheit der unauflöslichen Einheit der Versammlung
Gottes ist, und ernstlich und beständig eine treue Verwirklichung dieser Einheit zu suchen.. Geschieht dies mit einem
demütigen Herzen, dann wird der Herr uns auf diesem Pfade
aufrechterhalten, wie groß auch die Schwierigkeiten sein
mögen. Sicher gibt es auf diesem Wege ernste Schwierigkeiten, mit denen wir in eigener Kraft nicht kämpfen können. Schon die Mahnung: „euch befleißigend, die Einheit des
Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens", erinnert
uns an diese Schwierigkeiten; aber die Gnade unseres Herrn
Jesus Christus reicht für alle Anforderungen völlig aus, die
an uns gestellt werden können, wenn wir nach dieser kostbaren Wahrheit zu handeln suchen.
Wenn wir den gegenwärtigen Zustand der bekennenden Kirche betrachten, dann können wir zwei sehr verschiedene
Klassen unterscheiden. In der einen befinden sich diejenigen,
die die Einheit auf falschen Grundlagen suchen, in der anderen
diejenigen, die sie auf dem im Neuen Testament niedergelegten Grund suchen. Die letztere Einheit ist geistlich lebendig, göttlich, und steht in entscheidendem Gegensatz zu allen
Formen der Einheit, die der Mensch auf nationalem, kirchlichem, zeremoniellem oder dogmatischem Wege versucht hat.
Kirche Gottes ist kein nationales, kirchliches oder politisches
System. Sie ist ein durch die Gegenwart des Heiligen Geistes
für ihr Haupt im Himmel gereinigter Leib. So war es und so
ist es. „Da ist ei n Leib und e i n Geist". Das bleibt unver165
änderlich wahr. Diese Wahrheit zu schwächen und zu verwirren, ist ein Werk des Feindes, und wir sind verpflichtet,
dagegen Zeugnis abzulegen. Der Versuch, die Christen auf
einem anderen Grund als dem der Einheit des Leibes zu vereinigen, ist ein Handeln gegen den uns geoffenbarten Willen
Gottes. Es mag sehr anziehend, sehr wünschenswert, sehr
vernünftig und sehr zweckmäßig erscheinen, aber es ist Gott
zuwider, und das sollte uns genügen, Gottes Wort spricht
nur von der Einheit des Leibes und von der Einheit des
Geistes. Es erkennt keine andere Einheit an, daher sollen auch
wir es nicht tun.
Obwohl die Versammlung Gottes aus vielen Gliedern besteht, ist sie eins; sie bildet ein e Körperschaft. Alle Glieder haben doppelte Verantwortung; sie sind dem Haupt verantwortlich. Diese Verantwortung beiseitezuschieben, ist unmöglich. Die Menschen mögen sie leugnen, sie mögen ihre
persönlichen Rechte behaupten und nach ihrer eigenen Vernunft, nach ihrem eigenen Urteil und Willen handeln, aber
sie können sich nicht der Verantwortung entziehen, die sich
auf die Tatsache des einen zusammengehörenden Leibes
gründet. Sie haben es mit dem Haupt im Himmel und mit
den Gliedern auf der Erde zu tun. Sie befinden sich in dieser
doppelten Beziehung und sind ihr durch den Heiligen Geist
einverleibt worden. Hier gibt es keine Unabhängigkeit: Christen können sich nicht als bloße Personen, als vereinzelt
stehende Wesen betrachten. „Wir sind Glieder voneinander". Das ist ebenso wahr wie wir aus Glauben gerechtfertigt sind. Allerdings stehen wir in einem Sinne als Personen
da: wir sind Einzelwesen im Hinblick auf unsere Buße, unseren Glauben, unsere Rechtfertigung, unseren Wandel mit
Gott, unseren Dienst und unsere Belohnung für den treuen
Dienst; denn jeder einzelne wird einen weißen Stein mit
einem neuen Namen darauf erhalten, der nur ihm allein bekannt ist. Dies alles ist wahr, aber es berührt in keiner Weise
die andere große praktische Wahrheit unserer Vereinigung
mit dem Haupte droben und mit den Gliedern auf der Erde.
Beachten wir hier jedoch zwei ganz verschiedene Punkte der
Wahrheit, die aus zwei verschiedenen Titeln unseres hoch166
gelobten Herrn hervorgehen. Er ist das Haupt, und Er ist der
Herr. Er ist das Haupt Seines Leibes, der Versammlung, und
Er ist aller Herr, der Herr jedes einzelnen. Wenn wir nun an
Christus als den Herrn denken, werden wir an unsere persönliche Verantwortung gegen Ihn erinnert, und zwar in
dem ganzen Umfang des Dienstes, zu dem Er uns in Seiner
Autorität gnädig berufen hat. Unsere Ehrfurcht gebührt Ihm
in allen Dingen. Alle unsere Handlungen, alle unsere Ermahnungen müssen unter den gebietenden Einfluß des gewichtigen, leider oft leichtfertig ausgesprochenen Wortes: Sode r
Her r will " gestellt werden. Zudem hat niemand das
Recht, sich zwischen das Gewissen eines Dieners und das
Gebot seines Herrn zu werfen. Dies alles ist göttlich wahr
und von großer Bedeutung. Die Herrschaft Christi ist eine
Wahrheit, deren Wert unmöglich überschätzt werden kann.
— Aber wir dürfen nicht vergessen, daß Christus sowohl das
Haup t als der Her r ist. Er ist sowohl das Haupt Seines
Leibes als der Herr der einzelnen Personen. Diese Dinge
dürfen nicht vermengt werden. Wir dürfen die Wahrheit
von der Herrschaft Christi nicht auf eine solche Art festhalten, daß sie mit der Wahrheit von Seinem Titel als Haupt
vermengt wird. Wenn wir nur an Christus als den Herrn,
und an uns als Ihm persönlich verantwortlich denken, dann
werden unsere Gedanken nicht auf Seine Stellung als Haupt
gerichtet sein, und wir verlieren unsere Verantwortung gegen
jedes Glied, dessen Haupt Er ist, aus dem Auge. Wir müssen
sehr dagegen wachen. Wir dürfen uns nicht als einzelne, unabhängige Wesen betrachten; wenn wir an Christus als
Haupt denken, dann müssen unsere Gedanken alle Seine
Glieder umfassen, und dies öffnet uns einen weiten Kreis
praktischer Wahrheit. Wir haben heilige Pflichten gegenüber
unseren Mit-Gliedern zu erfüllen, sowie auch gegenüber
unserem Herrn und Meister. Sicher wird niemand, der in
Gemeinschaft mit Christus wandelt, die Beziehung zu jedem
Gliede Seines Leibes je aus den Augen verlieren, sondern
stets daran denken, daß sein Wandel und seine Wege einen
Einfluß auf die Christen ausüben werden. Es ist ein wunderbares, aber göttlich wahres Geheimnis: „Wenn ei n Glied
167
leidet, so leiden all e Glieder mit" (1. Kor 12, 26). Man
kann den Leib Christi nicht zu einer örtlich begrenzten Sache
herabwürdigen. Der Leib ist einer, und wir sind berufen,
dies praktisch auf jede mögliche Weise festzuhalten, und ein
entschiedenes Zeugnis gegen alles abzulegen, was die Verantwortung der vollkommenen Einheit des Leibes beeinträchtigen könnte. Der Feind sucht die Christen auf einem
falschen Boden zu vereinigen und sie um einen falschen
Mittelpunkt zu versammeln. Der einzige Schutz gegen diese
Gefahr ist der göttlich gewirkte Glaube an die große Grundwahrheit der Einheit des Leibes Christi.
Es besteht also wirklich e i n Leib auf der Erde, der durch
den eine n Geist gebildet und mit dem lebendigen Haupt
im Himmel vereinigt ist. Diese Wahrheit kann nicht geleugnet werden. Viele Christen mögen der Meinung sein, daß
diese Einheit angesichts des gegenwärtigen Zustandes nicht
verwirklicht werden könne, aber dennoch bleibt es eine göttlich festgesetzte Wahrheit, daß e i n Leib da ist; und für
uns gibt es nur die Frage: „Wie werden wir persönlich von
dieser Wahrheit berührt"? Wir können ebenso wenig die
hiermit verbundene Verantwortung abschütteln wie die Wahrheit selbst beiseitesetzen. Als Glieder dieses einen Leibes
sind wir sowohl mit dem Haupt im Himmel als auch mit
den Gliedern auf der Erde in eine Beziehung getreten, und
wie jedes andere, hat auch dieses Verhältnis seine Vorrechte
und seine Verantwortung.
Es handelt sich hier jedoch nicht um eine Vereinigung mit
einer besonderen Gruppe von Christen, sondern mit dem
ganzen Leibe Christi auf der Erde. Jedenfalls sollte jede
Gruppe von Christen, wo sie sich auch versammeln mögen,
mir eine örtliche Verwirklichung des ganzen Leibes sein. Man
sollte sich auf Grund des Wortes Gottes und durch die Macht
des Heiligen Geistes immer in einer Weise versammeln, daß
alle Glieder Christi, die in Wahrheit und Heiligkeit wandeln,
mit einem glücklichen Herzen dort Platz nehmen können.
Ist eine Versammlung nicht in dieser Weise versammelt und
geordnet, dann befindet sie sich überhaupt nicht auf dem
Boden der Einheit des Leibes. Wir sollten immer so zusam168
menkommen, daß alle Glieder des Leibes einfach als solche
sich mit uns niedersetzen und jede Gabe, die das Haupt der
Versammlung ihnen gegeben hat, ausüben können. Der Leib
ist einer. Seine Glieder sind auf der ganzen Erde zerstreut.
Entfernung ist nichts, örtlichkeit ist nichts. Man mag in
Berlin, in Paris, in London oder in Neuseeland wohnen, die
Sache ändert sich dadurch nicht. Ein Glied des Leibes an
einem Ort ist überall ein Glied des Leibes, denn es gibt nur
eine n Leib und eine n Geist. Der Geis t bildet den
Leib und verbindet die Glieder mit dem Haupt und miteinander.
Das ist die in 1. Kor 12, 14, in Eph 2, 4 und in Rö 12, 5
beschriebene göttliche Ordnung. Wir können das Neue
Testament nicht untersuchen, ohne diese gesegnete Wahrheit
zu finden. Wir erblicken in verschiedenen Orten und Städten
Heilige, die durch den Heiligen Geist im Namen unseres
Herrn Jesus Christus versammelt sind, z. B. in Rom, Korinth,
Ephesus, Philippi, Kolossä und Thessalonich. Das waren nicht
unabhängige, vereinzelte, selbständige Versammlungen, sondern Teile des einen Leibes, so daß ein Glied der Versammlung an einem Orte zugleich ein Glied der Versammlung überall war. Freilich handelte jede einzelne Versammlung, da sie
sich unter einem Herrn befand und durch den einen Geist
geleitet wurde, in allen örtlichen Angelegenheiten selbständig, wie z. B. bei der Aufnahme in die Gemeinschaft, oder
beim Ausschluß des Bösen aus ihrer Mitte, oder bei der
Fürsorge für die Bedürfnisse der Armen oder dergleichen;
aber wir können versichert sein, daß der Beschluß irgendeiner Versammlung von allen übrigen Versammlungen anerkannt wurde, mochte es sich um eine Aufnahme oder um
einen Ausscbluß handeln. Im anderen Fall wäre es eine
Leugnung der Einheit des Leibes gewesen. Wir haben keinen
Grund, anzunehmen, daß die Versammlung zu Korinth mit
irgendeiner anderen Versammlung vorher über den Ausschluß
des „Bösen" (1. Kor 5) verhandelt und beraten habe, aber
wir sind überzeugt, daß dieser Ausschluß von jeder Versammlung auf der Erde anerkannt und respektiert wurde.
Wenn nicht, so wäre die Einheit des Leibes Christi praktisch
geleugnet worden.
169
Wir glauben, daß dies eine bestimmte, in den neutestamentlichen Schriften dargestellte Lehre ist, die jeder einfältige,
aufrichtige Forscher der Heiligen Schrift entdecken muß. Daß
die Kirche in der Verwirklichung dieser kostbaren Wahrheit
gefehlt hat, und wir alle Schuld an diesem Fehltritt tragen,
ist leider wahr. Der Gedanke daran sollte uns tief vor
Gott demütigen. Niemand kann einen Stein auf den anderen werfen, denn wir sind alle in dieser Sache schuldig.
Wir glauben, daß dies eine sehr eindringliche Mahnung an
das ganze Volk Gottes ist, sich tief zu demütigen wegen
unseres traurigen Abweichens von einer im Worte Gottes
so klar dargestellten Wahrheit.
So war es bei dem frommen, ergebenen König Josia, dessen
Leben und Zeiten diese Gedankenreihe hervorgerufen haben.
Er fand das Gesetzbuch und entdeckte darin den traurigen
Zustand um ihn her. Wie handelte er nun? Begnügte er sich
mit dem Ausruf: „Der Fall ist hoffnungslos; das Volk hat
sich zu weit entfernt; der Verfall ist da; es hat keinen Sinn,
daran zu denken, sich nach der göttlichen Vorschrift zu richten, darum müssen wir die Dinge so lassen und tun was
sich tun läßt"? — Nein, das war nicht die Sprache und Handelsweise Josias, sondern er demütigte sich vor Gott und
forderte die anderen auf, dasselbe zu tun. Dann aber suchte
er auch die Wahrheit Gottes zu verwirklichen; und die Folge
davon war, daß „kein solches Passah in Israel gefeiert worden (war) wie dieses, seit den Tagen Samuels, des Propheten;
und alle Könige von Israel hatten kein Passah gefeiert wie
dasjenige, welches Josia feierte" (2. Chron 35, 18).
Das war das Ergebeis der gläubigen Unterwerfung aus Ehrfurcht unter das Wort Gottes. So wird es immer sein, denn
„Gott ist denen, die ihn suchen, ein Belohner". Wie handelte
der Überrest, der von Babylon in den Tagen Esras und Nehemias zurückkehrte? Sie richteten den Altar Gottes auf, sie
bauten den Tempel und besserten die Mauern- Jerusalems
aus. Mit einem Wort, sie beschäftigten sich mit der wahren
Anbetung des Gottes Israels und mit dem großen Mittelund Sammlungspunkt Seines Volkes. Es war das, was der
Glaube, ohne sich um die Umstände zu kümmern, immer
170
tut. Hätte der Überrest auf die Umstände geblickt, dann
wäre er unfähig gewesen, zu handeln. Er war ein armes, verachtetes Häuflein unter der Herrschaft der unbeschnittenen
Heiden. Er war von allen Seiten von aktiven Feinden umgeben, die, angestachelt vom Feind Gottes, vom Feind der
Stadt und des Volkes Gottes, nichts unversucht ließen, ihn
bei seinem gesegneten Werk zu behindern, indem sie spottend ausriefen: „Was machen die ohnmächtigen Juden? Wird
man es ihnen zulassen? werden sie opfern? werden sie an
d
;
esem Tage vollenden? werden sie die Steine aus dem
Schutthaufen wieder beleben, da sie doch verbrannt sind"? —
Auch hatten sie nicht nur mit äußeren Feinden zu kämpfen,
sondern es war auch innere Schwäche da, denn „Juda sprach:
Die Kraft der Lastträger sinkt, und des Schuttes ist viel, und
so vermögen wir nicht mehr an der Mauer zu bauen". —
Alles dies war sehr niederbeugend. Wie anders war es in
den glänzenden und herrlichen Tagen Salomos! Seine Lastträger waren zahlreich und stark, und kein Schutt bedeckte
die großen und kostbaren Steine, aus denen er das Haus
Gottes baute, auch gab es keinen Feind, der sein Werk verspottete. Aber das läßt uns bei Esra und Nehemia Züge entdecken, die in den Tagen Salomos nicht gefunden wurden.
Gerade ihre Schwachheit, die Schutthaufen, die stolzen und
schmähenden Feinde, — alles dies wirkte zusammen, um
ihrem Werk einen eigentümlichen Glanz von Herrlichkeit zu
verleihen. Sie bauten und es gelang ihnen; Gott wurde verherrlicht, und Er sprach zu ihnen die lieblichen Worte: „Die
letzte Herrlichkeit dieses Hauses wird größer sein als die
erste, spricht Jehova der Heerscharen; und an diesem Orte
will ich Frieden geben, spricht Jehova der Heerscharen" (Hag
2, 9).
Die Bücher Esra, Nehemia, Haggai und Sacharja sind in Bezug
auf den erwähnten Gegenstand voll von der gesegnetsten Belehrung, des Trostes und der Ermutigung in einer Zeit wie der
gegenwärtigen. Es gibt heute vielleicht manche, die geneigt
sind, über einen Gegenstand wie die Einheit des Leibes zu
lächeln. Es ist das Spötteln des Unglaubens. Satan haßt
die Lehre dieser Einheit, wie er jede andere Lehre der
171
göttlichen Offenbarung haßt. Er wird jedes Bestreben zur
Verwirklichung dieser Wahrheit zu verhindern suchen, wie
er den Wiederaufbau Jerusalems in den Tagen Nehemias
zu verhindern suchte. Aber laßt uns nicht entmutigt werden.
Es genügt, daß wir im Worte Gottes die kostbare Wahrheit
von dem einen Leibe finden. Bringen wir dieses Licht, damit
es den gegenwärtigen Zustand der bekennenden Kirche beleuchte! Was wird es unseren Augen offenbaren? Es wird
uns vor unserem Gott in den Staub beugen wegen unserer
Wege, aber zugleich wird es unsere Herzen erheben zur Betrachtung des göttlichen Standpunktes. Es ist unmöglich, daß
jemand die Wahrheit von der Einheit des Leibes in seiner
Seele aufnehmen und mit etwas, das der praktischen Anerkennung dieser Wahrheit nicht entspricht, zufrieden sein
kann. Allerdings muß er sich gegen den Widerstand des
Volkes rüsten. Er wird hier einen Sanballat und dort einen
Rechum finden, aber der Glaube wird überwinden.
Im Worte Gottes finden unsere Seelen eine hinreichende
Ermutigung. Wenn wir kurz vo r de r Gefangen -
schaf t auf Josia sehen, was erblicken wir? Einen Mann,
der einfach das Wort zu seinem Führer nimmt, sich selbst
und alles in dessen Licht betrachtet, alles, was ihm widerspricht, verwirft und mit ernstem Herzensvorsatz auszuführen sucht, was er darin geschrieben findet. Und was war
das Ergebnis? Das gesegnetste Passah, das je seit den Tagen
Samuels gefeiert worden war.
Wenn wir dann währen d de r Gefangenschaf t
auf Daniel blicken, was sehen wir? Einen Mann, der einfach
nach der Wahrheit Gottes handelt und im Gebet sein Angesicht nach Jerusalem richtet, obwohl er als Folge dieses Gebets
den Tod zu gewärtigen hat. Was war das Ergebnis? Ein herrliches Zeugnis für den Gott Israels und die Vernichtung der
Feinde Daniels.
Wenn wir schließlich nac h der' Gefangenschaf t
auf den Überrest schauen, was sehen wir? Männer, die angesichts niederdrückender Schwierigkeiten die Stadt wieder
aufbauen, die der Mittelpunkt Gottes auf der Erde war und
sein wird. Und was war das Ergebnis? Die fröhliche Feier
172
des Laubhüttenfestes, wie es seit den Tagen Josuas, des
Sohnes Nuns, nicht gefeiert -worden war.
Was bewirkte in diesen Fällen der Blick jener Männer auf
die Umstände? Denken wir z. B. an Daniel. Warum öffnete
er sein Fenster gegen Jerusalem? Warum schaute er nach
einer zerstörten Stadt? Warum widmete er seine Aufmerksamkeit einem Ort, der nur an die Sünde und Schande Israels erinnerte? Wäre es nicht besser gewesen, den Namen
Jerusalems in Vergessenheit geraten zu lassen? Die Antwort
Daniels ist leicht zu erraten. Die Menschen mochten über ihn
lächeln und ihn für einen Träumer oder Schwärmer halten. Er
wußte, was er tat. Sein Herz war mit dem Mittelpunkt Gottes, der Stadt Davids, dem großen Versammlungspunkt der
zwölf Stämme Israels beschäftigt. Sollte er Gottes Wahrheit
um äußerer Umstände willen aufgeben? Keineswegs. Unmöglich konnte er einen Standpunkt einnehmen, der auch
nur um Haaresbreite niedriger war. Er konnte weinen, beten,
fasten und seine Seele vor Gott demütigen, aber nie konnte
er einen niederen Standpunkt einnehmen. Sollte er die Gedanken Gottes fahren lassen, weil Israel sich untreu erwiesen hatte? Unmöglich. Er kannte besseres als dieses. Sein
Auge ruhte auf der ewigen Wahrheit Gottes, und deshalb
wehte das göttliche Panier in unendlicher Herrlichkeit über
seinem Haupte, obwohl er wegen seiner und seines Volkes
Sünde im Staube lag.
Ebenso, mein teurer christlicher Leser, sind wir berufen, den
Blick des Glaubens auf die unvergängliche Wahrheit des
einen Leibes zu richten und sie in unserem schwachen Maße
zu verwirklichen. Wir haben nicht zu fragen: „Wie kann das
geschehen"? Der Glaube hat nie eine solche Frage in der
Gegenwart göttlicher Offenbarung. Er glaubt und handelt.
Wir dürfen die Wahrheit Gottes nicht unter dem Vorwand
aufgeben, daß wir sie nicht verwirklichen können. Die Wahrheit ist geoffenbart, und wir sind berufen, uns unter sie zu
beugen. Wir sind nicht berufen, die Einheit des Leibes zu
bilden . Dies tun zu. wollen, wäre ein Mißverständnis. Die
Einheit besteht schon. Sie ist das Ergebnis der Gegenwart
des Heiligen Geistes in dem Leibe, und wir haben sie anzuerkennen und in ihrem Licht zu wandeln. Dies wird unserem
173
Wandel eine große Sicherheit geben. Es ist immer wichtig,
einen besonderen Gegenstand vor dem Herzen zu haben und
in unmittelbarer Beziehung zu ihm zu handeln. Denken wir
an Paulus, diesen ergebenen Arbeiter. Was war sein Ziel?
Wofür arbeitete er? Er selbst gibt die Antwort durch die
Worte: „Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch und
ergänze in meinem Fleische, was noch rückständig ist von
den Drangsalen des Christus für seinen Leib, das ist die
Versammlung, deren Diener ich geworden bin nach der Verwaltung Gottes, die mir in Bezug auf euch gegeben ist, um
das Wort Gottes zu vollenden: das Geheimnis, welches von
den Zeitaltern und von den Geschlechtern her verborgen war,
jetzt aber seinen Heiligen geoffenbart worden ist, denen Gott
kundtun wollte, welches der Reichtum der Herrlichkeit dieses
Geheimnisses sei unter den Nationen, welches ist Christus
in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit; den wir verkündigen
indem wir jeden Menschen ermahnen und jeden Menschen
lehren in aller Weisheit, auf daß wir jeden Menschen vollkommen in Christo darstellen; wozu ich mich auch bemühe,
indem ich kämpfend ringe gemäß seiner Wirksamkeit, die
in mir wirkt in Kraft" (Kol 1, 24-29).
Das war viel mehr als bloße Bekehrung der Seelen, wie
kostbar dies auch ist. Paulus predigte das Evangelium mit
einem direkten Blick auf den Leib Christi, und das ist das
Vorbild für alle Evangelisten. Auch wir sollten bei der Predigt des Evangeliums stets die Einverleibung der Seelen in
den einen Leib durch den einen Geist vor Augen haben. Wir
sollten nicht verschiedene Kirchen, sondern nur den einen
Le'b kennen, weil wir im Neuen Testament nichts anderes
finden. Jemand mag zur Bekehrung von Hunderten gebraucht
werden (was gewiß ein sehr kostbares Werk ist), aber wenn
er nicht die Einheit des Leibes kennt, muß er wegen ihres
weiteren Loses in Ungewißheit sein. Dies ist für be'de Teile
sehr wichtig — für ihn selbst, wie für sie, und auch für das
Zeugnis für Christus.
Es ist indes wunderbar, daß gerade am Schluß der Gesch'chte Israels ein so glänzender Augenblick, wie Israel ihn
kaum je gekannt hatte, erschien. Was lehrt uns dies? Es. lehrt
174
uns, daß es offenbar das Vorrecht gläubiger Seelen ist, in den
dunkelsten Zeiten nach dem Grundsatz Gottes zu handeln
und göttliche Segnungen zu genießen. Das ist eine wichtige
Tatsache für alle Zeiten, besonders wichtig aber in der heutigen Zeit. Wenn Josia durch den Geist und die Grundsätze
unserer Tage beeinflußt worden wäre, hätte er sicher nicht
versucht, das Passah zu feiern. Er hätte die Hände in den
Schoß gelegt und gesagt: „es ist nutzlos, daran zu denken,
unsere großen nationalen Einrichtungen noch länger festzuhalten. Es kann nur als eine Art Anmaßung betrachtet werden, das Fest feiern zu wollen, das bestimmt war, die Erlösung Israels vom Gericht durch das Blut des Lammes darzustellen, weil Israels Einheit verloren gegangen und seine
nat'onale Herrlichkeit verschwunden ist". — Doch Josia urteilte nicht so. Er handelte einfach nach der Wahrheit Gottes.
Er forschte in der Schrift, verwarf was falsch war und tat
was recht war. „Und Josia feierte dem Jehova Passah zu Jerusalem; und man schlachtete das Passah am vierzehnten des
erste n Monats" (2. Chron 35, 1). Das war ein höherer
Platz als der, den Hiskia eingenommen hatte, als er sein
Passah am vierzehnten Tage des zweite n Monats hielt
(2. Chron 30, 15). Wir wissen, daß Hiskia damit von der
Vorsorge Gebrauch machte, die die Gnade für Fälle der Verunreinigung getroffen hatte (4. Mo 9, 9-11). Gott hatte jedoch den erste n Monat als den geeigneten Zeitpunkt bestimmt, und Tosia wurde befähigt, sich nach dieser Ordnung
zu richten. Er nahm die höchste Stufe ein, der Wahrheit
Gottes gemäß, während er tief unter dem niederbeugenden
Gefühl persönlicher nationaler Übertretung lag. Das ist immer der Weg des Glaubens.
„Und er stellte die Priester in ihre Ämter und ermutigte sie
zum Dienste des Hauses Jehovas. Und er sprach zu den
Leviten, welche ganz Israel unterwiesen, die Jehova geheiligt
waren: Setzet die heilige Lade in das Haus, welches Salomo,
der Sohn Davids, der König von Israel, gebaut hat; ihr habt
sie nicht mehr auf der Schulter zu tragen. Dienet nunmehr
Jehova, eurem Gott, und seinem Volke Israel; und bereitet
euch nach euren Vaterhäusern, in euren Abteilungen, nach
175
der Schrift Davids, des Königs von Israel, und nach der
Schrift seines Sohnes Salomo; und stellt euch im Heiligtum
auf nach den Klassen der Vaterhäuser eurer Brüder, der
Kinder des Volkes, und zwar eine Abteilung eines Vaterhauses der Leviten; und schlachtet das Passah, und heiliget
euch und bereitet es für eure Brüder, da ß ih r tue t
nac h de m Wort e Jehova s durc h Mose " (2.
Chron 35, 2-6).
Hier sehen wir, wie Josia nach der höchsten Autorität handelt. Alles hat Bezug auf ganz Israel, und wie kraftvoll ist
der Ausdruck: „Daß ihr tuet nach dem Worte Jehovas durch
Mose". — Mögen diese Worte unser Herz erreichen! Josia
fühlte, daß es sein hohes und heiliges Recht war, sich nach
dem göttlichen Gebot zu richten, ungeachtet aller Verirrungen
und alles Bösen, das sich nach und nach eingeschlichen hatte.
Die Wahrheit Gottes muß immer stehen bleiben. Der Glaube
erkennt diese Tatsache an und handelt danach. Welch eine
liebliche Szene! Wir können Josias treues Hangen an dem
Wort Jehovas nicht mehr bewundern als seine weitherzige
Hingabe und Freigebigkeit. „Und Josia schenkte den Kindern
des Volkes an Kleinvieh: Lämmer und Ziegenböcklein —
alles zu den Passahopfern für alle, die sich vorfanden —,
dreißigtausend an der Zahl, und dreitausend Rinder; das
war von der Habe des Königs. Und seine Obersten schenkten freiwillig für das Volk, für die Priester und für die
Leviten . . . Und der Dienst wurde eingerichtet; und die
Priester standen an ihrer Stelle und die Leviten in ihren
Abteilungen, nach dem Gebote des Königs . . . Und die
Sänger, die Söhne Asaphs, waren an ihrer Stelle, . . . und
die Torhüter waren an jedem Tore: sie hatten nicht nötig,
von ihrem Dienste zu weichen, weil ihre Brüder, die Leviten, für sie bereiteten. Und so wurde der ganze Dienst Jehovas an jenem Tage eingerichtet, um das Passah zu feiern
und die Brandopfer auf dem Altar Jehovas zu opfern, nach
dem Gebote des Königs Josia. Und die Kinde r Israel ,
die sich vorfanden, feierten das Passah zu selbiger Zeit, und
das Fest der ungesäuerten Brote sieben Tage lang. Und es
war kein solches Passah in Israel gefeiert worden wie dieses,
176
seit den Tagen Samuels, des Propheten; und alle Könige von
Israel hatten kein Passah gefeiert wie das, welches Josia
feierte und die Priester und die Leviten und ganz Juda und
Israel, das sich vorfand, und die Bewohner von Jerusalem. Im achtzehnten Jahre der Regierung Josias ist dieses
Passah gefeiert worden" (2. Chron 35, 7-19).
Welch ein Bild! Der König, die Obersten, Priester, Leviten,
Sänger, Torhüter, ganz Israel, Juda und die Einwohner von
Jerusalem, alle waren vereinigt, alle an ihrem rechten Orte
und an dem ihnen zugewiesenen Werke, und zwar im achtzehnten Jahre der Regierung Josias, als der jüdische Staat
kurz vor seiner Auflösung stand. Wir sehen also, daß keine
Zeit, keine Umstände, keine Einflüsse jemals die Wahrheit
Gottes ändern oder das Glaubensauge verdunkeln- können.
„Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit", und der Glaube
erfaßt dieses Wort und hält es fest. Es ist das Vorrecht des
Gläubigen, daß er es mit Gott und Seiner ewigen Wahrheit
zu tun hat, und darum hat er die Pflicht, den höchsten Standpunkt einzunehmen. Der Unglaube hingegen nimmt die Umstände zum Vorwand, im Laufen schlaff zu werden und die
Stimme zu senken. Laßt uns mit Beschämung und Schmerz
wegen unserer Sünde und unserer Fehltritte uns niederbeugen, aber laßt uns auch durch den Glauben unsere hohe Stellung einnehmen. Die Fehltritte sind auf unserer, die Stellung
auf Gottes Seite. Josia weinte und zerriß seine Kleider, aber
er gab die Wahrheit Gottes nicht auf. Er fühlte, daß er, seine
Väter und Brüder gesündigt hatten, aber warum sollte er
nicht das Passah nach göttlicher Anordnung feiern?
Hiermit schließen wir unsere Betrachtung. Die Zeiten Josias
liefern uns ein treffendes Bild auch von unserer heutigen
Zeit. Möchten wir daraus lernen, unter allen Umständen und
selbst in den dunkelsten Zeiten an der Wahrheit in der
Heiligen Schrift festzuhalten. Nur wenn dieser göttliche Boden unter unseren Füßen ist, werden wir mit festem Schritt
unseren Weg gehen und gesegnet werden, wie sehr auch alles
gegen uns sein mag. Vor allem aber ist es unser Wunsch
und Gebet, daß der Herr diese Zeilen an den Herzen vieler
Christen segnen und allen die Wahrheit köstlich machen
möge: „D a is t ei n Lei b un d ei n Geist" .
177
Das Manna und das Erzeugnis des Landes
(Josua 5, 9-15)
Die Berufung und die Auserwählung des Christen sind Wahrheiten von großer Bedeutung. Ich denke hierbei nicht nur
an die Herrlichkeit des Herrn, sondern auch daran, daß wir
berufen sind, Christus ähnlich und Seiner Natur teilhaftig
zu sein. Geistlicherweise werden wir Ihm ähnlich, und darum sagt der Apostel Paulus zu den Ephesern (Kap 5, 25),
daß „Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für
sie hingegeben hat, auf daß er sie heiligte, sie reinigend
durch die Waschung mit Wasser durch das Wort". Das Wort
verherrlicht die Versammlung nicht, sondern es heiligt sie;
ihre Verherrlichung ist die Folge der Gemeinschaft mit Jesus
in der Herrlichkeit, und durch den Genuß dessen was Er ist,
sind wir Seiner Herrlichkeit teilhaftig. Aus Eph 4 ersieht man,
daß wir dem gleichförmig sind, was wir erkennen. Der
Apostel meint: „Ihr habt erkannt, was Gott in der Vergebung
und in der Herrlichkeit ist, ihr habt dies erfaßt; nun, so
verwirklicht es in eurem Wandel". Was geistlich von Herzen
erkannt wird, wird verwirklicht, darum steht geschrieben:
„Seid vollkommen usw." — Gott hat euch geliebt, als ihr
Seine Feinde wäret; tut desgleichen, liebet eure Feinde!
Ich rede jetzt nicht von unserer Vollkommenheit in Christo,
denn diese ist schon vollendet, — sondern es handelt sich um
die auf der Erde stattfindende Verwirklichung dessen, was
wir erkennen. Johannes sagt: „Was von Anfang war, was
wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir
angeschaut und unsere Hände betastet haben, betreffend das
Wort des Lebens usw." Da Christus unser Leben ist, verwirklicht sich das in uns, was wir in Christus sehen. Das
Maß meiner Verwirklichung hängt ab von dem Maß meines
Genusses. Wenn ich das was Christus ist, verwirkliche, dann
ist es die Freude meines Herzens. Das richtet zwar mein
Fleisch, denn wenn Christus da ist, wird alles, was Ihm widerspricht, ans Licht gebracht.
Laßt uns nun ein wenig betrachten, in welcher Weise Christus
uns nährt, und wie wir in unserem täglichen Leben von Ihm
178
unterstützt werden, damit der Genuß Christi in all den
Schwierigkeiten, die uns so leicht zerstreuen und beunruhigen, sobald wir den Blick nicht auf Ihn gerichtet halten, nicht
geschwächt wird. Wenn unsere Gedanken zerstreut und von
Christus abgelenkt sind, dann finden wir, daß unser Herz
erkaltet ist, wenn wir zu Ihm zurückkehren wollen, weil es
das Bewußtsein Seiner Liebe mehr oder weniger verloren
hat. Wir können im Christen drei verschiedene Kennzeichen
unterscheiden. 1. Er ist ein erlöster Sünder, ein Gegenstand
der Gnade der Erlösung, und man sieht in ihm zwei Gegensätze zusammengerückt: Gott und den Sünder. 2. Man hat
nie dergleichen in einem Engel gesehen, noch wird man so
etwas je sehen können. Er hat mit Christus teil an der Herrlichkeit. 3. Er ist ein Pilger in der Wüste. — Dieser dritte
Charakterzug bezieht sich, wie wir später sehen werden, auf
Christus als das Manna, das ein Kennzeichen der Bedürfnisse in der Wüste ist und vorübergeht, während die anderen beiden Kennzeichen ewig bleiben.
Als Gott Sein Volk in Ägypten heimsuchte, redete Er mit
ihm nicht von der Wüste, die es zu durchwandern hatte,
sondern von Kanaan; und in ähnlicher Weise handelt Gott
mit uns. Wenn Er uns durch die Erkenntnis Jesu aus der
Welt befreit hat, so redet Er mit uns vom Himmel und stellt
die Herrlichkeit vor unsere Augen. Wir bleiben oft bei unseren Verhältnissen in der Wüste stehen, wenn aber der Geist in
uns wirksam ist, richten wir unsere Blicke auf das Ziel. Paulus lebte nicht in den sichtbaren Dingen, denn sie sind nur
zeitlich und daher wertlos; sein Herz war mit himmlischen
Dingen erfüllt. Die erste Bedingung nun, um die Welt als
Nichts betrachten zu können, ist das Bewußtsein, daß man
ihr nicht angehört, denn Gott hat uns in der Sünde, Ihm
ganz entfremdet, gefunden, und Er hat getan, was nötig war,
um uns in die Herrlichkeit zu versetzen. Durch dieselbe
Macht, durch die Er Christus aus dem Grabe auferweckt und
Ihn zu Seiner Rechten in den Himmel gesetzt hat, hat Er
auch uns aus unseren Sünden gezogen, um uns in den Himmel zu versetzen.
In dem oben angeführten Kapitel (Jos 5, 9-15) finden wir
179
zweierlei: das Passah und das Erzeugnis des Landes. Alles
übrige ist beiseitegelassen. Wenn es sich um den Himmel
handelt, dann ist vom Manna nicht mehr die Rede. Das will
viel sagen, aber wir werden sehen, wie man nicht nur vor
dem Gericht geborgen, sondern auch im Himmel sein kann.
Israel war nicht mehr in Ägypten, aber es aß in der Wüste
nicht vom Erzeugnis des Landes Kanaan. Pharao war nicht
anwesend, denn Israel war von der Knechtschaft Ägyptens
befreit, und dennoch war das Erzeugnis des Landes nicht
seine Speise. Ähnlich verhält es sich mit dem Christen, der
nur das Heil kennt, das er in Christus besitzt. Er ist nicht
mehr unter der Verdammnis, aber er kann Gott nicht verherrlichen; er ist vor dem Gericht geborgen, aber er kennt
nicht die Wirksamkeit des Werkes Christi für die Herrlichkeit. Jeder Kampf und jede Furcht bezüglich des Heils muß
gänzlich aufgehört haben, und wir müssen wie Israel fern
von Ägypten und der Macht Pharaos Gott als unseren Erretter kennen und von jeder Furcht in dieser Hinsicht völlig
befreit sein. Ein Christ ist jeder, der sagen kann: „Christus
hat alles für meine Rettung getan, Er hat mich für immer
der Gewalt Satans entrissen"! — wie Israel sagen konnte:
„Ich fürchte Pharao nicht mehr, er ist in der Tiefe des Meeres"! Satan war überwunden, sobald Jesus sagte: „Den
Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht
trinken"? Die Erlösung ist vollständig, denn Gott hat sich
als unser Retter geoffenbart, so daß wir mit dem Apostel
sagen dürfen: „Wenn Gott für uns ist, wer wider uns"?
Wenn auch Satan oder die Wüste noch da sind, lasse ich
doch alles beiseite, weil ich weiß, daß Gott für mich ist. Aber
es gibt noch eine andere Wahrheit, die ich ebenfalls verstehen sollte. Der Jordan ist da, und er hat eine andere
Bedeutung. Christus ist fü r mic h gestorben und auferstanden, das sagt mir das Kreuz; der Jordan aber sagt mir,
daß ic h mi t Christu s gestorben und auferstanden
bin. Es ist die Erkenntnis und der Genuß meiner Vereinigung mit Christus, und hier erst fängt man an, vom Gewächs des Landes zu essen: man ist im Himmel.
Wenn man in das Land eingeführt ist, beginnt der Kampf
mit den darin befindlichen Feinden, aber man ißt von dem
180
Erzeugnis des Landes. Man befindet sich in Gilgal, wo die
Beschneidung geschieht. Das bedeutet, daß man alles nach
der Regel des Himmels beurteilt, wenn man das Bewußtsein
hat, im Himmel zu sein. Wenn ich droben bin, so sage ich
von allem was ich in der Welt sehe: „Das ist nicht vom
Himmel, und ich will nichts davon". Es ist notwendig für
uns, in Gilgal zu bleiben, d. h. das Fleisch in der Gegenwart
Gottes zu richten.
Ich komme jetzt auf die Art und Weise zurück, wie man sich
von Christus nähren kann. Als Israel vom Erzeugnis des
Landes zu essen begann, hörte das Manna auf, und das bedeutet für uns, daß man die Erlösung in ganz neuer Weise
zu genießen anfängt. Welches ist nun der Unterschied zwischen dem Genuß des Erzeugnisses des Landes und dem
Essen des Manna? Anfangs denkt man an seine Sünden und
an Christus, und dies ist auch die Tür, durch die man eingehen muß. Man muß als armer Sünder gedemütigt
sein, um durch Christus eingehen zu können. Hernach aber,
wenn man weiß, daß Gott uns so liebt, wie Er Jesus
liebt, und daß Sein Wohlgefallen auf uns ruht, wenn man
die ganze Tragweite der durch Jesus vollbrachten Erlösung
versteht, fängt man an, das Werk Christi zu schätzen, wie
Gott es schätzt, und mit den Gedanken Gottes in dieser
Beziehung in Übereinstimmung zu sein. Man sieht Christus
ganz anders als früher, und man nährt sich auf eine ganz
andere Weise von Ihm. Für mich handelt es sich dann nicht
nur darum, gerettet zu sein, denn in Christus gehöre ich Gott
selbst an, und ich bewundere die ganze Vollkommenheit des
Lammes, das im Himmel ist. Und wenn ich dann daran
denke, welcher Erniedrigung Er Sich unterworfen, und wie
Er Sich Selbst zu nichts gemacht hat, um den Charakter Gottes aufrechtzuerhalten, der ohne den Strom Seiner Liebe zu
hemmen, in Gerechtigkeit handeln, und ohne Seiner Gerechtigkeit Eintrag zu tun, Liebe üben konnte, dann bete ich
Christus an. Der Sohn des Menschen ist verherrlicht, weil
Gott durch Ihn verherrlicht worden ist. Er hat Sich freiwillig
ganz erniedrigt, damit Sein Vater verherrlicht werde; Er hat
allem entsagt und ein unumschränktes Vertrauen auf Seinen
181
Vater gesetzt; Er ist bis ans Ziel gegangen und hat den
Kelch getrunken, damit der Vater verherrlicht und unsere
Rettung vollbracht wurde. Dies alles dient zu meiner Nahrung. Nicht nur bin ich errettet, sondern ich bete an. Wer
in seinen Sünden ist, beschäftigt sich mit seiner Errettung;
wer aber im Himmel ist, nährt sich von Christus. Er bewundert Ihn und betet Ihn an, und es ist sein Genuß, mit Christus in den himmlischen örtern zu sitzen. Je geistlicher wir
sind, desto besser verstehen wir die Herrlichkeit, die Christus
mit uns teilen will. Alles was er von Ewigkeit her war, und
alles was Er durch Seinen Gehorsam erworben hat, ist uns
gegeben, und wir werden Ihm gleich sein. Ist Christus nicht
ein Gegenstand der Liebe für mich? Freue ich mich nicht,
Ihn dort zu sehen? Er sagt zu Seinen Jüngern: „Wenn ihr
mich liebtet, so würdet ihr euch freuen, daß ich zum Vater
gehe". Wenn ich daran denke, wie Jesus von dieser Welt
verhöhnt und verworfen worden ist, freue ich mich, Ihn im
Himmel zu sehen.
Er ist das „Erzeugnis des Landes", denn Er ist aus dem
Himmel und darum auch die Nahrung, die für uns passend
ist. Der Christ ist vom Himmel und hat dort sein Bürgertum,
und er soll sich von Christus als dem Lamme nähren. Wenn
ich sage, daß wir in Kanaan wohnen sollen, so spreche ich
von einem Kanaan, wo Kämpfe sind. In den von Kanaan
dargestellten himmlischen örtern ist beständiger Kampf.
Sind wir aber in Wirklichkeit einmal im Himmel, ist vollkommene Ruhe unser Teil. Als Sünder ist der Mensch in
Ägypten, als Christ ist er in Kanaan, aber er durchwandert
die Wüste und befindet sich leider oft noch in Ägypten,
weil er der Wüste überdrüssig ist und sein Herz nach
Ägypten zurückkehrt. Und doch sollte die Welt für ihn, wie
sie es für den Herrn Jesus war, nur ein dürres, trockenes
und wasserloses Land sein. Hier gibt es für uns nur eine
Wüste mit feurigen Schlangen, aber mit Gott müssen wir
hindurch; und wenn unser Herz fähig ist, sich von Christus
zu nähren, dann werden wir alles überwinden können. Ich
frage mich: „Warum ist es nicht so, da Jesus doch mein
Heiland ist"? Der Grund liegt wohl darin, daß man sich nicht
182
von Christus als dem Gewächs des Landes nährt, oder mit
anderen Worten, daß man nicht in Seiner Gemeinschaft
bleibt. Das Manna ist für die Wüste, das Gewächs des Landes aber für Kanaan.
Das andere Kennzeichen, das ich angedeutet habe, und das
man unterscheiden muß, ist Christus als Manna für die Bedürfnisse des Wandels in der Wüste. Jesus spricht davon,
wenn Er zu den Juden sagt: „Mein Vater gibt euch das wahrhaftige Brot aus dem Himmel". Wenn der Christ es vernachlässigt, sich in dieser Weise von Christus zu nähren, dann
fehlt ihm die nötige Kraft, um in seinem Wandel auf der
Erde Christus anzuziehen.
Als Christus auf den Berg ging, fand die Verklärung statt.
Das war für Ihn das Gewächs des Landes. Er nährte Sich
von der Herrlichkeit. Aber als Er vom Berge herabstieg, fand
Er die Macht Satans, aber in allen Verhältnissen verwirklichte
Er das Leben Seines Vaters. So sollen auch wir uns von Jesus nähren. Da wo wir dem Feind begegnen, ist Er als Manna unsere Nahrung. Jesus konnte stets sagen: „Gleichwie der
lebendige Vater mich gesandt hat und ich lebe des Vaters
wegen, so auch, wer mich ißt, der wird auch leben meinetwegen". Wie Christus Selbst durch diese Wüste gegangen
ist und im Glauben gewandelt hat, so sind auch wir berufen, es zu tun. In jeder Lage betete Er, und wenn die Schwierigkeiten sich steigerten, dann betete Er heftiger. Er befand
Sich als Mensch darin und ging mit Hilfe Seines Vaters
durch alles hindurch. Der Christ nährt sich von einem Christus, Der versucht und erniedrigt worden ist, und er soll
mit soviel Gnade durch diese Welt gehen, daß man seinen
Herrn und Meister in ihm erkennen kann. Wenn er in Ihm
wandelt, wird man an ihm alle Gütigkeit, Langmut, Sanftmut erblicken. Die Versuchungen übten auf Jesus die Wirkung aus, daß Seine Gnade mehr ausstrahlte. Bin ich bei
Ihm, so ertrage ich es, wenn man mich schmäht, und ich werde
nicht aufhören, sanftmütig zu sein, weil Er, Der Sich so
geoffenbart hat, meine Nahrung ist. Mein Charakter als
Christ macht es nicht notwendig, daß ich in so schwierige
Umstände komme, aber ich besitze, was notwendig ist, um
183
hindurchzukommen, und ich vergesse diese Umstände, weil
ich nicht von dieser Welt, sondern vom Himmel bin. Wenn
ich wandle als jemand, der Christus in sich hat, dann esse
ich das Manna in der Wüste, nähre mich aber auch vom Erzeugnis des Landes Kanaan. Täglich kann ich beides tun. Es
mußte von Israel jeden Tag gesammelt werden, denn es verdarb vom Abend bis an den Morgen. Um aber Gott zu verherrlichen und in allen Lagen, sei es als Mann oder Frau,
als Herr oder Knecht, den Charakter Jesu zu offenbaren,
muß man sich von Christus als dem Erzeugnis des Landes
nähren. Wenn wir die himmlische Freude genießen wollen,
müssen wir uns von Jesus als dem Manna nähren, das vom
Himmel herniedergekommen ist und alles für uns enthält,
was wir in allen Lagen benötigen. Dann werden wir Ihn
genießen und die Herrlichkeit als unser ewiges Teil.
Johannes 19, 31
„Die Juden nun baten den Pilatus, damit die Leiber nicht
am Sabbath am Kreuze blieben, weil es Rüsttag war( denn
der Tag jenes Sabbaths war groß), daß ihre Beine gebrochen
und sie abgenommen werden möchten".
Diese Stelle zeigt, wie blind der Mensch ist, und stellt vor
allem einen Charakterzug des gefallenen Menschen dar,
nämlich den, daß er bemüht ist, durch seine Werke sich Gott
angenehm zu machen.
Israel war unter das Gesetz gestellt und hatte es übertreten.
Der Ausspruch Gottes, daß derjenige, der in einem fehle,
des ganzen Gesetzes schuldig sei, machte jede Tätigkeit des
Menschen unnütz. Auch wenn Israel in der Folge das Gesetz
hätte erfüllen können, wäre es schon mit Rücksicht auf die
Vergangenheit verloren gewesen. Dennoch eiferten die Juden
für das Gesetz, als ob es möglich wäre, etwas damit zu erreichen, ebenso wie es heute Tausende tun, die ohne zu untersuchen der Meinung sind, daß das Beobachten religiöser
Vorschriften vor Gott Wert habe. Es ist für die menschliche
184
Gesellschaft sicher angenehmer, mit einem nüchternen Mann
umzugehen, als mit einem Trunkenbold, und in Bezug auf
diese Welt ist es weit lieblicher, einen ehrbaren Mann zu
sehen als einen Dieb; aber welchen Wert dies auch an und
für sich haben mag, so sind doch ohne Unterschied alle Menschen, gemessen an den von Gott gestellten Forderungen,
nichts als Sünder und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes.
Ja, mehr noch: der religiöse Mensch ist gerade durch seine
vermeintlich guten Werke so verblendet, daß er eine viel
größere Gnade braucht, um sich zu, erkennen und die an die
religiösen Pharisäer gerichteten Worte des Herrn zu verstehen: „Wahrlich, ich sage euch, daß die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes". Ja, es ist sogar
eine ganz gewöhnliche Erscheinung, daß die Feindschaft des
natürlich frommen Menschen gegen den einzig wahren Weg
des Heils so groß ist, daß er in seinem blinden Gesetzeseifer
gerade gegen Gott handelt. So sehen wir, daß der nach der
Gerechtigkeit im Gesetz tadellose Paulus ein Verfolger Jesu
war.
Dasselbe finden wir in der angeführten Schriftstelle. Die
Juden wollten den Sabbath halten. Den Gekreuzigten während des Sabbaths am Kreuz hängen zu lassen, verstieß gegen
das Gesetz, und in ihrem Gesetzeseifer wollten sie lieber die
Beine Jesu als den Sabbath brechen. Welche Blindheit! Durch
ihre Feindschaft gegen Gott hing Er am Kreuz, Der der Herr
des Sabbaths war, Der das arme Volk besuchte, um ihnen
Heil zu bringen, Der Mensch geworden war, um für Sünder
zu sterben, und Der, während das Gesetz den Menschen verfluchte, es erfüllte und aus Gnaden den Weg zur Gerechtigkeit öffnete. Durch ihre Feindschaft gegen Gott wollten
sie Ihn so schnell wie möglich zu Tode bringen, um das Gesetz nicht zu brechen.
Das ist der gefallene Mensch ohne das Licht von oben. Er
tötet voll Haß Den, Der das Gesetz gegeben hat, und um
nicht das Gesetz zu brechen, bricht er lieber die Beine Dessen, Der das Gesetz gegeben und erfüllt hat. Wenn es je
einen Beweis von der Blindheit und Bosheit des Menschen
gegeben hat, so ist es der, daß Gott in der Person Christi in
185
die Welt kam, aber der Mensch voll Frevel Ihn von sich
stieß. Der gefallene Mensch fühlt sich nicht wohl in der
Gegenwart Gottes. Wohl läßt er sich in der Not und der
Krankheit Hilfe gefallen, aber schließlich schreien die Hosianna-Rufer doch: „Kreuzige, kreuzige Ihn"! Adam verbarg
sich, sobald er gesündigt hatte. Die Heiligkeit Gottes erlaubt
dem Sünder nicht, ruhig zu bleiben in der Gegenwart Gottes.
Glückselig jeder, der dies erkennt und sich durch Jesus zum
Vater ziehen läßt! Denn niemand kann zu Ihm kommen, es
sei denn, daß der Vater, Der Ihn gesandt hat. ihn ziehe!
Wie schrecklich aber wird der Augenblick für alle sein, die
diese Gnadenzeit versäumen, und wie groß die Enttäuschung
für solche, die sich einbilden, auf Grund ihrer Werke Gott
nahen zu können, wenn sie dereinst Jesus als dem Richter
begegnen!
Auszug aus einer Betrachtung
Ober 4. Mose 20, 1-13
Es ist für den Menschen — sei es als Geschöpf oder als
Sünder — nichts schwieriger, als Gott wirklich zu erkennen;
und dennoch ist es das ewige Leben, „dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesum Christum, (zu)
erkennen" (Joh 17, 3). Diese Erkenntnis Gottes, die das ewige
Leben ist, fehlt dem natürlichen Menschen ganz und gar;
sie kann sich auch nicht in ihm finden, weil sie nicht aus dem
menschlichen Verstand hervorgehen kann; denn sonst wäre
Gott nicht Gott. Wenn mein Verstand über irgendetwas ein
Urteil fällt, so steht er höher als die Sache, die ich beurteile,
und diese Sache kann nicht Gott sein, denn sonst wäre ich
Gott überlegen. Der Mensch kann die Gedanken Gottes nicht
erfassen. Könnte er dies, dann wäre diese Erkenntnis für ihn,
der in der Sünde ist, sein Verderben. Der Mensch kann nicht
Gott sehen und leben (2. Mo 33, 18-23).
Wenn aber Gott wirkt, wenn Er alle Seine Güte vor Mose
vorübergehen läßt, wenn Er begnadigt und Sein Erbarmen
bewiesen hat, wenn Er ihn auf den Felsen gestellt und ihn
186
mit Seiner eigenen Hand bedeckt hat, während Seine Herrlichkeit vorübergeht, dann kann Jehova von hinten gesehen
werden, nicht aber von Angesicht. Wenn all Seine Güte vorübergegangen ist, kann man Ihn erkennen. Ohne dies wäre
der Anblick Gottes das ewige Verderben.
Wenn Gott einmal wirklich erkannt worden ist, dann versteht man völlig, daß Gott kennen die Liebe kennen heißt.
Durch alles was Gott für uns getan hat, versteht man dies,
und die Gnade, durch die man es versteht, findet ihre Anwendung auf den armen Sünder in seiner Gnade. In der
Erkenntnis Gottes wandeln — und dies ist die wahre Heiligkeit — bedeutet, in der Erkenntnis Seiner Liebe wandeln.
Gott ist für uns stets das was Er im Tode Seines Sohnes
war; und jeder, der Gott in dieser Weise kennt, rechnet auf
diese Liebe. Was das innere Leben kräftigt, was Einsicht gibt
und sie entwickelt, ist die fortwährende Abhängigkeit von
dieser Liebe; und der Fortschritt besteht in einem immer
tieferen und beständigeren Gefühl Seiner Liebe (oder der
Abhängigkeit von dieser Liebe), während die Ursache und
Folge des inneren Rückganges ist, daß Gott weniger erkannt
wird und man sich nicht auf Seine Gnade stützt, wie es Seiner Liebe angemessen ist. Von diesem Augenblick an bewegt
sich der Mensch in seiner eigenen Fähigkeit und fällt; der
Strom versiegt, weil er nicht mehr in gehöriger Verbindung
mit der Gnade steht. Der Schlüssel zu aller Abnahme geistlichen Lebens ist, daß wir nicht in dem Maße auf die Gnade
Gottes zählen, wie sie zu unserer Verfügung steht. Das Gewissen übt dann Gewalt über das Herz aus, und weil das
Herz zuviel Böses sieht, hat es kein Vertrauen mehr, um auf
Gott zu rechnen.
Das Christentum ist dadurch gekennzeichnet, daß wir durch
einen Mittler mit Gott verkehren können. In Eden genoß
der Mensch den persönlichen Umgang mit Gott; wir genießen
ihn mit Hilfe eines Mittlers. Die Gnade Gottes offenbart sich
in Jesu in Bezug auf alle Bedürfnisse und Mängel der Kinder
Gottes. Gott hat uns errettet und berufen, und Er wird in
unseren Herzen nicht verherrlicht, wenn wir nicht verstehen,
daß Er uns errettet hat. Eine wirklich erweckte Seele kann
sich mit nichts weniger als dem Heil begnügen, und Gott in
187
Seiner Offenbarung mit Jesu wird dem Herzen ungemein
kostbar.
Auf diese Weise sollte Israel in der Wüste Gott kennenlernen. Israel ist von Ägypten ausgegangen und hat alles verlassen, um in ein unbesätes Land zu kommen. Dies war die
Liebe des Brautstandes: Israel war Jehova geheiligt. Es gab
in der Wüste nichts, was das Herz hätte anziehen oder ihm
einen Beweggrund hätte geben können, als allein die Nachfolge Gottes; und wir folgen Ihm glücklich und mit Freuden
ohne irgendwelche Sorge, weil der Gott, Der uns errettet hat,
uns auch vorangeht. Gott genügt dem Herzen, und dies ist die
Liebe des Brautstandes. Wenn Gott weniger der Gegenstand
unserer Liebe ist, so erkaltet sie; man beschäftigt sich weniger mit Gott, das Herz wendet sich anderen Dingen zu, und
siehe da, der Glaube sinkt, das Elend oder ein öffentlicher
Fall sind die Folgen. Es ist dann die Wüste, die als solche
das Herz beschäftigt, und einem solchen Herzen genügt Gott
nicht mehr.
Gott aber weiß wohl, daß Er uns in die Wüste geführt hat,
und was tut Er? Er geht vor den Israeliten her und sucht
ihnen eine Lagerstätte, einen Ort, wo sie ruhen können (4. Mo
10, 33; 5. Mo 1, 33), obwohl betreffs der Ordnung der
Stämme die Bundeslade in ihrer Mitt e sein sollte. Was
Gott für uns in der Wüste tut, ist dieses: Er sucht Ruhe für
uns und geht deshalb vor uns her, läßt uns Erquickungen
und Stärkungen finden, und so gehen wir von Kraft zu
Kraft. Wenn sich die Wolke erhebt, dann brechen wir wieder auf. Aber Israel genügte das nicht; das Volk beklagte
sich über Müdigkeit (4. Mo 11, 1) und schritt von Empörung
zu Empörung. Hier haben wir die Geschichte unserer Herzen; aber Gott öffnet die überschwenglich reichen Hilfsquellen Seiner Gnade. Nach dem Aufruhr Korahs hat Gott die
Gedanken Seiner Gnade gegen Sein Volk nicht aufgegeben;
Er läßt den Stab Aarons blühen. Dazu hatte Mose nichts
beigetragen, und es ist wichtig zu verstehen, welche Bedeutung dieser Stab für uns hat. Die Erde hatte Korah, Dathan
und Abiram verschlungen (4. Mo 16, 33), aber dadurch wurde
das Volk nicht durch die Wüste geführt. Gott wollte das
188
Murren der Kinder Israel zum Schweigen bringen (4. Mo 17,
5), und deshalb befahl Er, daß die Stäbe vor die Bundeslade
in das Zelt gebracht würden, und der Stab, der sproßte, war
derjenige des Priesters. Im Charakter eines Priesters wird
Gott der Heerführer Seines Volkes.
Allein das Priestertum Jesu kann uns führen. Es ist eine
Autorität, die unseren Bedürfnissen angepaßt ist und Kenntnis von ihnen nimmt, um sie vor Gott zu bringen, damit
Seine Gnade ihnen entgegenkomme. Das Priestertum ist nicht
nur aufgerichtet, um uns die Vergebung, die Barmherzigkeit
und die Gnade zu verschaffen (Hebr 9, 16), sondern es teilt
uns auch die zur Erneuerung unserer Kräfte notwendige
Gnade mit. Wir werden sehen, welchen Gebrauch man von
dem Stabe Aarons machen soll, und wie groß die vollkommene Güte Gottes gegen uns ist. Die rote Kuh, von der in
Kap. 19 gesprochen wird, und das Wasser der Reinigung
wenden im Vorbild die Leiden Christi auf das Herz an und
zeigen den Abscheu, den Gott vor der Sünde hat. Aber wir
haben auch noch Bedürfnisse; das Herz dürstet und braucht
Erquickung auf dem Wege nach dem Land der Verheißung.
Das Volk murrt, weil es kein Wasser hat, und wünscht sogar
den Tod. Die Schwierigkeiten führen zur Entmutigung, und
in seiner Torheit wünscht das Volk, von Jehova ausgerottet
zu werden, als Gott Jehova die Sünde richtet. Sie wünschen
lieber, in Ägypten geblieben zu sein, obwohl sie das Gericht
Gottes über jenes Land gesehen hatten. Sie hatten die Freude
des Brautstandes vergessen, und in ihren Augen war die
Wüste nur noch ein böser Ort, nicht ein Ort für Aussaat
und Feigenbäume, für Weinstöcke und Granatbäume; und
kein Trinkwasser war vorhanden (4. Mo 20, 5). Wie oft
sagen unsere Herzen: „Dieser böse Ort"! Unsere Lippen
würden das nicht auszusprechen wagen; unser Gewissen
hindert uns, es zu sagen und diesen Gedanken gutzuheißen.
Wie viele Herzen — und ich zweifle nicht, auch unter den
Lesern — sagen oft: „Welch ein böser Ort"! Die Israeliten
richteten ihren Blick auf die Wüste. Sie hatten nicht das
Bewußtsein, daß Gott unter ihnen war, weil ihr Herz etwas
anderes suchte.
189
Gott will, daß wir Seine Gedanken kennen. Er sagt hier
nicht wie nach der Sünde mit dem goldenen Kalb (2. Mo 32,
10), nach der Weigerung des Volkes, nach Kanaan zu ziehen
(4. Mo 14, 12), und nach dem Aufstand Korahs (4. Mo 16,
21), daß Er das Volk vertilgen und Mose zu einer großen
Nation machen wolle. Dieses Mal ist es nicht die Fürbitte
Moses, die das Gericht abwendet. Das Herz und die Gedanken
Gottes sind nach einer ganz anderen Seite hin gerichtet. Er
erinnert sich des Stabes Aarons, den Er erwählt hat, um das
Murren des Volkes zu stillen. Das Priestertum bringt die
Gnade hervor, die unseren Bedürfnissen gemäß auf unseren
Zustand angewendet wird. In Israel waren Bedürfnisse und
mancherlei Elend, aber Gott wollte in Gnade handeln und
in dieser Wüste Wasser hervorquellen lassen. „Redet vor
ihren Augen zu den Felsen, so wird er sein Waser geben"
(Vers 8). Gott befiehlt, den Stab zu nehmen, diesen wohlbekannten Stab, der vor Ihm im Zelt war. Mose aber
handelt anders. Er befolgte zwar die Befehle Gottes bis zum
Felsen hin. Er nimmt den Stab und versammelt die ganze
Gemeinde. Aber während er von Gott als Werkzeug gebraucht wird, findet der Gedanke an sich selbst Eingang in
seinem Herzen, und er gebraucht die Autorität Gottes, um
sich selbst zu verherrlichen.
Wir finden im Worte Gottes mit Ausnahme des Herrn Jesus
wohl kaum einen schöneren Charakter als denjenigen Moses.
Es ist immer etwas sehr Ernstes, wenn wir der Sünde in
einem Mann Gottes begegnen. Es bewirkt ein peinliches,
demütigendes Gefühl. Aber Gott spricht sein Urteil. Wegen
dieser Sünde darf Mose das Volk nicht in Kanaan einführen. Später flehte er deshalb zu Gott, aber Gott wollte Sein
Wort nicht zurücknehmen. „Laß es genug sein", sagt Er zu
Mose, „rede mir fortan nicht mehr von dieser Sache" (5. Mo
3, 26). Mose sagt zu dem Volk: „Höret doch, ihr Widerspenstigen"! Er hatte die Gottlosigkeit des Volkes in ganz
richtiger Weise beurteilt, aber „sie reizten seinen Geist, so
daß er unbedacht redete mit seinen Lippen" (Ps 106, 33).
Gott geht hier über Seine gewöhnlichen Wege hinaus. Mose
war treu in seinem Hause; hier ist Gott aber nicht nur
190
treu , sondern Er handel t i n Gnade , und Mose
kann sich nicht mehr zur Höhe der Gedanken Gottes erheben. Während er die Widerspenstigkeit sieht, denkt Gott an
den Stab Aarons, und dieser Stab war nicht dazu bestimmt,
die Widerspenstigen zu schlagen.
Gott hat einen abgestorbenen Stab sprossen lassen. Das ist
ein neues Lebensprinzip, das dem was tot ist mitgeteilt wird.
Knospen, Blüten und Mandeln auf einem abgestorbenen
Stab! Das sind Wirkungen, deren Urheber nur Gott sein
kann. Mose beschäftigte sich mit den Widerspenstigen und
versteht Gott in diesem Augenblick nicht. Er sagt zum Volk:
„Werden wir euch Wasser aus diesem Felsen hervorbringen"?
— Werden wir ? — Er schreibt sic h die Sache zu und
schlägt den Felsen mit seine m Stabe. Er hat sich nicht
bis zur Höhe der Gnade erheben können, die aus eigenem
Antrieb durch das Priestertum zur Segnung des Volkes tätig
ist. Das Priestertum tritt dazwischen. Jesus wirkt in Seiner
vollkommenen Gnade in den armen Sündern und zwar als
Gott, Der in ihrer Mitte wandelt, um durch das Priestertum
von ihrem Zustand Kenntnis zu nehmen und sich in ihrer
Gegenwart zu heiligen, d. h. den Platz einnehmen, der Ihm
gebührt.
Wenn Bedürfnisse vorhanden sind, wenn Dürre, wenn Durst,
wenn kein Wasser da ist am Ende der Wanderung durch die
Wüste, was ist dann zu tun? Das Priestertum ist da; man
muß nur Gebrauch machen von dem ewigen Grün, das aus
dem Tode hervorgegangen ist, und das Wasser wird daraus
hervorquellen. Das erste Mal, als es Israel an Wasser fehlte,
mußte der Fels geschlagen werden (2. Mo 17, 6). Damit der
Sünder das Leben vor Gott finden konnte, mußte Christus
für ihn geschlagen werden: dieses ein e Mal genügte. Wäre
es möglich gewesen, daß Christus zum zweiten Male litt,
dann würde damit die Wirkung aller Seiner Leiden geleugnet
werden. Als der Fels zum ersten Mal geschlagen wurde, gab
er sein Wasser für das Volk. Jetzt hätte ohne zu schlagen
ein Wort genügt, und der Fels hätte sein Wasser gegeben.
Christus, Der die Blüten und Früchte getragen hat und vor
Gott der ewige Beweis der Gültigkeit Seines Werkes ist,
191
erscheint vor Ihm für alle unsere Bedürfnisse und Nöte hier
auf der Erde. Wir brauchen sie nur gestützt auf das Priestertum vor Gott zu bringen, und das Wasser ist da. Das ist so
einfach, daß man wie Naaman (2. Kö 5) Mühe hat, es zii
glauben. Es wäre eine eitle Hoffnung gewesen, ein solches
Volk ohne diese wirksame Gnade ans Ziel führen zu wollen. Wenn die Wüste eine Wüste und der Mensch ein Mensch
ist, dann hält ihn nichts aufrecht als diese beständige, stets
hilfsbereite Gnade. Die Einfalt des Herzens ist hiervon überzeugt. Er stützt sich auf das Priestertum Jesu, das sie stets
benötigt. Je mehr wir uns unserer Abhängigkeit bewußt
sind, desto mehr zählen wir in den Schwierigkeiten auf einen
Freund. Mose kann das Volk nicht in das Land Kanaan einführen — dies ist das Haderwasser (V. 13). Die Kinder
Israel murrten wider Jehova, und Gott heiligt Sich, indem
Er ihnen trotz des Fehltrittes Moses Wasser gibt. Gott wollte
nicht von der Höhe Seiner Gnade herabsteigen. Er hat Mose
gestraft und Seine Gnade Seinem Volk gegenüber bewiesen
— eine Gnade, von der dieses keinen Gebrauch machen will,
wenn sie vorhanden ist. Wie oft ist dies bei uns der Fall!
Gott möge uns unterweisen, in das Verständnis Seiner Gnade
einzugehen, uns Ih m zu nahen in dem Bewußtsein, daß
Jesus da ist, und in einfältiger und kindlicher Zuversicht von
dem Priestertum Jesu Gebrauch zu machen. Man darf wohl
wünschen, daß das Volk Gottes Seine Gnade in dieser Weise
verstehen lerne. Glücklicherweise wissen wir jedoch, daß wenn
wir auch nicht vermögen, Gott zu heiligen, Er Selbst Sich
heiligt. Allerdings entsteht hierdurch ein Verlust für uns.
Immerhin aber muß Er es tun und den Platz in unseren Herzen einnehmen, der Ihm gebührt. Es ist eine Freude für Gott,
das Wohl Seiner Auserwählten zu. sehen und Seine eigene
Verherrlichung in ihnen. (Nach J. N. D.)
192
„Was irgend mir Gewinn war, das habe ich
um Christi willen für Verlust geachtet"
(Philipper 3, 7)
Welch ein wunderbarer Wechsel! Saulus hatte viel gewinnreiche Quellen. Er hatte mancherlei Ehren um seinen Namen
gesammelt. Er hatte Fortschritte im Judentum gemacht und
viele von seinesgleichen darin übertroffen. Er hatte eine Gerechtigkeit nach dem Gesetz erlangt, an der niemand einen
Flecken finden konnte. Sein Eifer, seine Erkenntnis und seine
Moral — alles war ausgezeichnet. Aber von dem Augenblick
an, als Christus ihm geoffenbart wurde, zeigte sich seine
vollkommene Umwandlung. Alles war verändert. Alles was
für Saulu s Gewinn war, wurde wie Kot für P a u. 1 u s .
Er spricht nicht von offenbaren Sünden, sondern von solchen
Dingen, die fü r ih n als Gewinn betrachtet werden konnten. Die Offenbarung der Herrlichkeit Christi hatte den ganzen Lauf seiner Gedanken so gänzlich umgewandelt, daß er
die Dinge, die er einst als wirklichen Gewinn betrachtet hatte,
jetzt als wirklichen Verlust betrachtete.
Und warum? Einfach, weil er sein alles in Christus gefunden
hatte. Diese gesegnete Person hatte alles andere im Herzen
des Paulus verdrängt. Alles, was ihm einst angehörte, war
durch Christus ersetzt, und dadurch hätte der Besitz der
eigenen Gerechtigkeit und Weisheit, nachdem er dies alles
in göttlicher Vollkommenheit in Christus Jesus empfangen
hatte, einen wirklichen Verlust für ihn bedeutet. Wenn
Christus mir von Gott zur Gerechtigkeit gemacht worden
ist, ist es dann nicht ein Verlust für mich, irgendwie eigene
Gerechtigkeit zu haben? Ganz gewiß. Wenn ich das erlangt
habe, was göttlich ist, brauche ich dann noch das was menschlich ist? Keineswegs. Je vollständiger ich befreit und geleert
bin von dem, wodurch i c h verherrlicht wurde und was
m i r Gewinn brachte, je besser, weil ich dann i n Chri -
stu s alles finde, was vor Gott Wert hat. Alles was geeignet
ist, mein Ich zu erheben, sei es Gerechtigkeit, Sittlichkeit,
Wohlstand, Ehre, persönliche Güte, sogenannte Menschenfreundlichkeit — alles ist ein wirkliches Hindernis für den
Genuß Christi.
193
Möge der Geist Gottes uns die Person Christi immer köstlicher machen, um wie Paulus zu vergessen, was dahinten
ist, und uns auszustrecken nach dem was vorn ist. —
Einige Gedanken über Johannes 3,1-3
Es gibt hier drei Dinge: 1. Der Mensch und seine Verantwortung, 2. Das Verhältnis des Kindes Gottes, 3. Der Wandel, der daraus hervorgeht.
Der Mensch muß wissen, was er ist und was er getan hat.
Das was Gott in Liebe tut, ist die Wirkung der Gnade. Der
Mensch kann nicht zu Gott kommen; Gott kommt zum
Menschen. Wenn Gott uns gerettet hat, so hat das nichts
mit dem Kommen zu unserem Gericht zu tun. Wenn wir
das was wir sind, mit dem was Gott für uns getan hat vermischen, dann entsteht daraus kein Heil. Wenn man erkannt
hat, daß man nichts Gutes in sich hat, ergibt man sich ganz
der Gnade.
Was unsere Taten betrifft, so hat Christus unsere Sünden
an Seinem Leibe auf dem Holze getragen. Was unsere Natur
betrifft, sind wir mit Christus gestorben. Ich bin gestorben,
ich habe das Recht, zu meinem Fleisch zu sagen: Ich kenne
dich nicht mehr, ich bin dir nichts mehr schuldig. Christus
hat mich verstehen lassen, wie Er mich ganz für Sich erworben hat.
Es war der Ratschluß Gottes, uns Jesu ähnlich zu machen!
Wir sind Kinder Gottes in dem letzten Adam. Durch den
Glauben bin ich nicht mehr ein Kind Adams, sondern Gottes.
Christus sagt: Ich gehe zu meinem Vater und zu eurem
Vater; ihr seid bei mir und wie ich vor Gott, — nämlich wie
ich als Mensch.
Wir haben den Geist. Wir müssen das Bewußtsein haben,
daß Christus in uns ist, und daß wir in Ihm sind.
Außerdem gibt es noch ein Zweites. Er wird erscheinen und
wir werden Ihm ähnlich sein. Aber wir sind uns unserer
Stellung durch den Heiligen Geist bewußt. Es ist nicht nur,
was wir sein werden, sondern auch was wir sind.
194
In Bezug auf das was wir sind lesen wir: „Jeder der diese
Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst". Wir haben als
Kinder Gottes eine neue Verantwortung. Jede Verantwortung rührt von der Stellung oder dem Verhältnis her, die
man hat; man muß in einem bestimmten Verhältnis stehen,
um eine Verpflichtung zu haben. Ich bin ein Kind Gottes;
mein Wandel muß deshalb der eines Kindes sein, das ist das
Maß meiner Verantwortung. Christus ist das Muster eines
Menschen, der ein Kind Gottes ist. Wenn wir in Christus
sind und Christus in uns ist, dann müssen wir dies auch
beweisen und Christus in unserem ganzen Leben offenbaren.
Wir haben jetzt das Bewußtsein unseres Verhältnisses, aber
sein wirklicher Besitz ist erst in der Zukunft unser Teil!
Wir werden Christus gleich sein, deshalb sollten wir Ihm
auch jetzt soviel wie möglich gleichen. Wenn ich mit Christus
gestorben bin, dann ist dadurch jede Verbindung mit der
Welt abgeschnitten. Was soll ich in dieser Welt tun, wenn
ich gestorben bin?
Laßt uns daher diese kostbaren Worte wohl zu Herzen
nehmen: „Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben
hat, daß wir Kinder Gottes heißen sollen! Deswegen erkennt
uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat. Geliebte,
jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht offenbar
geworden, was wir sein werden; wir wissen, daß, wenn es
offenbar werden wird, wir ihm gleich sein werden, denn
wir werden ihn sehen, wie er ist. Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist".
Das Haus Gottes
In der Heiligen Schrift sehen wir, wie Gott in dem Haus
einkehrt, das der Glaube und der Dienst Seiner Heiligen
für Ihn errichtet; und Er tut dies, wie Er Selbst sagt, „mit
(Seinem) ganzen Herzen und mit (Seiner) ganzen Seele"
(Jer 32, 41).
Wir finden dies zunächst in der Wüste. Das Volk Israel
erbaute die Stiftshütte und richtete sie im Glaubensgehorsam
195
ein. Mose bezeichnete das Werk der Erbauer als vollkommen Gott gemäß, denn wir lesen: „Und Mose sah das ganze
Werk, und siehe, sie hatten es gemacht; so wie Jehova geboten hatte, also hatten sie es gemacht; und Mose segnete sie"
(2. Mo 39, 43). Dann füllte die Herrlichkeit Jehovas die
Wohnung so völlig, daß für eine Zeit niemand, selbst Mose
nicht, Platz darin finden konnte.
Das gleiche finden wir in der Zeit des Königreichs, nachdem
das Haus von behauenem Stein und Zedernholz durch den
König Salomo erbaut worden war. Die Herrlichkeit füllte
den Tempel, wie sie einst die Stiftshütte erfüllt hatte; sie
befand sich jetzt bei Israel im Lande , wie sie einst bei
Israel in der Wüste gewesen war. Dort zeigte sich kein
Widerstreben und keine Abneigung, sondern ganz und gar
das Gegenteil. Der Gott des Himmels, Dessen Macht und
Herrschaft keine Grenzen hat, tritt in Sein Haus inmitten
der Menschenkinder, inmitten des Verfalls der Erde, und
zwar in einer Weise, die Er in den Worten ausdrückt: „Hier
will ich wohnen, denn ich habe es begehrt".
Es ist sehr lehrreich, diese gnadenreiche Herabneigung Gottes
zu den Menschen zu sehen. Wir besitzen jedoch in dieser
Beziehung noch andere Zeugnisse im Neuen Testament.
Nachdem, wie wir in Apg 2 sehen, der lebendige Tempel
aufgerichtet ist, zieht auch die Herrlichkeit wieder ein. Der
Heilige Geist nimmt Wohnung in der Versammlung der
Heiligen, in dem lebendigen Tempel des Neuen Testaments,
mit einem Brausen aus dem Himmel, „wie von einem daherfahrenden, gewaltigen Winde", während zerteilte Zungen wie
von Feuer sich auf einen jeden von ihnen setzten. Das war
jene das Zelt bedeckende Wolke und jene die Wohnung
füllende Herrlichkeit (2. Mo 40), ein sicheres Zeugnis, daß
der Herr von ganzem Herzen und von ganzer Seele Besitz
genommen hatte von einem Ort, den der Glaube Ihm bereitet hatte.
So ist es in der Tat. Ebenso finden wir es in Offb 21: „Siehe,
die Hütte Gottes bei den Menschen" (V. 3)! Gott ist im
Begriff, bei ihnen zu wohnen, nicht nur hin und wieder, wie
in den Tagen der Patriarchen, z. B. im Zelt Abrahams zu
196
Mamre, sie zu besuchen , oder die Tür der Arche hinter Noah zu verschließen. Auch will Er nicht nur, wie einst
in den Tagen der Wüstenreise, Sein Zel t unter ihnen
aufschlagen , sondern bei ihnen bl e i b e n , Sich bei
ihnen niederlassen und hier Seine Wohnstätte haben. Dies
wird, wie es immer geschehen ist, nach dem Wunsch Seines
Herzens ausgeführt werden, denn „eine laute Stimme aus
dem Himmel kündigt frohlockend dieses große Ereignis an
(Offb 21, 2-4).
Es ist indes der Glaube, der dieses Sein Haus entdeckt, wo
es auch sein mag, denn der Glaube, und nur der Glaube,
kennt Ihn. Wenn Er nicht gekannt wird, so kann auch Sein
Haus nicht entdeckt werden.
Auf diese Weise entdeckte in den Tagen der Patriarchen
Jakob das Haus Gottes. Er war in jenem Augenblick der
Vertreter einer Generation, die sich verderbt hatte — er war
ein Sünder. Wenigstens für die Gegenwart war er ein ruinierter Mann, und dieser Zustand war die Frucht seiner
eigenen Handlungen, das Ende des von ihm eingeschlagenen
Weges. Anstatt als der Erbe des Landes und der Segnung
in der Heimat in seinem Vaterhaus zu bleiben, irrte er ohne
Freund und Begleiter umher und wurde dann ein Tagelöhner, abhängig von der Gunst eines ungerechten Herrn. Aber
der Gott aller Gnade war ihm erschienen. Wie niederdrükkend seine Erfahrungen im fremden Land auch sein mochten,
die Hand Gottes war doch weit gegen ihn geöffnet, und die
Heere des Himmels hatten ihm die Sorge der Vorsehung
zugesichert. Um diese zugunsten des Sünders geschehene
Gr.adenoffenbarung zu krönen, gab die Stimme Jehovas die
Zusage, ihn samt allen zu erwartenden Segnungen schließlich
wiederherstellen zu wollen.
Das war ein vollkommenes und reiches Zeugnis von dem
was Gott ist. Das war eine Gnade, die das Gericht weit
übertraf, dem der Mensch, der Sünder, verfallen war. Es
war das Evangelium, und das Evangelium ist die Offenbarung Gottes. Es war daher Gott Selbst.
Jakob entdeckte dies alles. Er schaute den geheimnisvollen
Ort; er schaute ihn vollkommen. „Dies ist nichts anderes als
197
das Haus Gottes"! rief er aus. Gott war ihm geoffenbart
worden, und der Glaube verstand diese Offenbarung, wie
es immer ist. Für das Auge des Glaubens ist die öde Stätte,
genannt Lus, ein Bethel geworden. Wie dürre und wüst sie
auch an und für sich sein mochte, so war sie doch das Haus
Gottes; denn gerade dort hatte Gott Seinen Namen verkündigt.
Es ist schön zu sehen, wie der Glaube Gott entdeckt, selbst
wenn zu gleicher Zeit menschliche Schwachheiten das Herz
bestürmen, wie es sicher bei Jakob der Fall war. Er nannte
die Stätte das „Haus Gottes", die „Pforte des Himmels". Die
Einfachheit und Bestimmtheit, womit dies geschieht, ist bewundernswürdig. Wenn wir, selbst inmitten des menschlichen
Verfalls, im Hause Gottes sind, wenn wir das Anrecht auf
Seinen in einer Welt voll von Sündern geoffenbarten Namen
empfangen haben, dann stehen wir an der Pforte des Himmels. Befinden wir uns im Reich des vielgeliebten Sohnes,
dann sind wir an den Grenzen des Erbteils der Heiligen im
Lichte (Kol 1). Wenn wir gerechtfertigt sind, dann sind wir
auch verherrlicht (Rö 8). Dasselbe zeigte sich auch im Glauben des Patriarchen. Nachdem Jakob entdeckt hatte, daß er
im Hause Gottes war, wußte er auch, daß er an der Pforte
des Himmels stand. In dem Augenblick, wo er die Gnade
erkannt hatte, war er auch „passend" für die Herrlichkeit.
Gott hatte ihm Errettung, Vergebung und Frieden zugesichert, und das war für ihn genug, um versichert zu sein,
daß er sich für immer bei Ihm zuhause, in Seinem eigenen
Himmel befinden würde.
Viele Jahre nach den patriarchalischen Tagen Jakobs finden
wir das gleiche. Ich meine bei David und in den Tagen des
Königreichs Israel.
Die Sünde war überschwenglich, aber die Gnade zeigte sich
weit überströmender. David hatte sich, wie Jakob, selbst verderbt, aber Gott war mit Seiner Rettung dazwischengetreten. Die Dreschtenne des Jebusiters (1. Chron 21) bezeugte
das jetzt, wie einst die Wüste und die Stätte Lus es bezeugt
hatten. Gott hatte wieder Sein Haus angekündigt, und es ist
immer dasselbe Haus. Die Zeit hatte daran nichts geändert,
198
denn Er ist Derselbe gestern, heute und in Ewigkeit. Gott
war geoffenbart worden, so wie Er stets war und wie Er
stets sein wird, und David zögerte nicht einen Augenblick.
„Dieses hier soll das Haus Jehovas Gottes sein" (1. Chron
22, 1), sagte er im Geist des Patriarchen. Er hatte die gleiche
Offenbarung Gottes empfangen wie einst der Patriarch, und
obwohl Jahrhunderte zwischen beiden Ereignissen vergangen
waren, handelte der Glaube doch mit dieser Offenbarung
in dem gleichen Vertrauen.
Dies ist einfach und segensreich. Auch ist es lieblich zu sehen, mit welch einem eifrigen, sorgfältigen und ungeteilten
Herzen David sich dieser Stätte zuneigt. Er scheute sich, sie
zu verlassen — und das ist eine gute Belehrung für uns alle.
Andere Orte hatten ihre Berechtigung und ihre Reize. Der
höchste Ort war Gibeon, wo die Stiftshütte und ihr Altar
standen, und das Zelt, das David auf dem Berge Zion errichtet hatte, war damals die Wohnstätte der Lade des
Zeugnisses. Aber da, wo Gott dem Zustand eines verlorenen
Sünders in Gnade begegnet, wo das Schwert des Gerichts
zurückgezogen und das Opfer durch das Feuer des Himmels
angenommen worden war, da mußte David bleiben. Gott
setzte in betreff des Ortes genannt Golgatha, des Berges
Morija, wo Er Sich Selbst ein Lamm ausersehen hatte, die
Offenbarung Seiner Selbst fort, und der Glaube folgte Ihm.
Der Glaube muß mit der Offenbarung Schritt halten. „Dieses
hier soll das Haus Jehovas Gottes sein, und dies der Altar
zum Brandopfer für Israel"! rief David mit Bestimmtheit.
Auf der Tenne Omans mußte er sein Eben-Eser errichten.
Die Priester der Stiftshütte hätten sagen können, daß ihnen
ein solcher Ort nicht bekannt sei, aber Gott kannte ihn, und
der Glaube mußte ihn anerkennen.
Fügen wir jetzt hinzu, daß es sich mit uns ebenso verhält.
Wir haben das Haus Gottes entdeckt, denn Gott Selbst hat
es uns geoffenbart. Er hat (und zwar für immer) auf der
Dreschtenne des Jebusiters, auf dem Berge Morija, d. h. auf
jener „Stätte genannt Golgatha", Seinen Namen geoffenbart,
denn dort erscheint Er als der gerechte Gott, aber auch als
de ' Heiland, als der Gott des Friedens, Der Sich dort für
199
Seinen Altar ein Lamm ausersehen und das Opfer angenommen hat, indem Er den Vorhang zerriß und Ihn, Der
von Sünden reinigte, in die höchsten Himmel setzte. Der
Glaube sitzt, wenn die vollbrachte Rettung gefeiert wird, an
der Tafel im Hause Gottes und sagt mit den Patriarchen und
mit dem König Israels: „Dies ist das Haus Gottes, dies ist
die Pforte des Himmels, dies ist der Altar zum Brandopfer
für Israel". Der Glaube hat bis zu dieser Stunde den Tod
des Lammes verkündigt, hat ihn mit einem Opfer des Lobes
verkündigt, und wird ihn verkündigen, „bis Er kommt", indem er mit Bewußtsein an der Pforte des Himmels, oder an
den Grenzen der Herrlichkeit steht (1. Kor 11).*
Die wahre Abhängigkeit
Wir befinden uns in einer bösen Welt, und wir sind darin
ohne eigene Kraft. Es ist nötig und sehr gesegnet, über
beides ein klares Verständnis zu haben, um einerseits die
Befleckungen einer bösen Welt zu fürchten, und andererseits
die Kraft zu einem gottseligen Wandel zu suchen, wo sie
zu finden ist — in Christus.
Wir haben hier auf Erden eine zweifache Stellung: Wir sind
Kinder Gottes, und wir sind Knechte Jesu Christi. Als Kinder befinden wir uns unter dem Schutze und der Fürsorge
eines uns göttlich liebenden Vaters, Der uns nicht versäumt,
nicht vergißt. Als Knechte aber stehen wir im Dienst, wo
von unserer Seite eine Tätigkeit gefordert wird, die wir unter
dem Schutz unseres Vaters ausüben können. Indes sind wir
sehr geneigt, weit mehr an unser Kindesverhältnis und an
die Beschirmung und Hilfe unseres himmlischen Vaters zu
denken, als daß wir als Knechte Christi unsere dienende
Stellung in uns zu einem klaren Bewußtsein werden lassen.
Ganz natürlich. Zu ersterem ist von unserer Seite nichts
nötig, Gott hat unseretwegen jede Tätigkeit auf Sich genom-
*) Erinnern wir uns, daß der Berg Morija, die Tenne Omans und der Hügel, genannt Golgatha dieselben Dinge sind.
200
men, während der Dienst von unserer Seite eine Tätigkeit
erfordert.
Allerdings ist es wahr, daß nur ein in Abhängigkeit von
Gott lebender Christ imstande ist, durch den Glauben völlig
in allen Lagen auf den Herrn zu vertrauen, in Leiden und
Schwierigkeiten geduldig auszuharren und den ihm aufgetragenen Dienst auszuüben und daß unsere Unruhe, Verzagtheit
und Mutlosigkeit nur Zeugnisse davon sind, daß wir uns
nicht verbunden fühlen mit einem Gott, Den wir zwar Vater
nennen, aber Dessen unendliche Liebe, Treue, Sorgfalt und
Mühe um Seine Kinder wir in Wirklichkeit nur wenig kennen. Er, Der die Sperlinge ernährt, die Raben versorgt, die
Lilien kleidet und das Haar unseres Hauptes gezählt hat,
sollte Er Seine Kinder vergessen? Er, Der Seinen Sohn gegeben hat, um uns durch Ihn Seinem Vaterherzen nahezubringen,
Er, Der Seine Liebe in unsere Herzen ausgegossen hat, um uns
fühlen zu lassen, was Er für uns ist, sollte Er Sein Herz verschließen können, während unser Weg durch eine Welt geht,
die nichts als Haß und Feindschaft gegen Gott offenbart?
Sollte Er kein Auge für unsere Umstände, kein Ohr für
unsere Seufzer haben?
Und dennoch ist es wahr, daß nur die abhängige Seele in
dieser Liebe ruht, sie genießt und ihr vertraut. Im Bewußtsein der eigenen Ohnmacht ist es kostbar, auf Seine Kraft
zu vertrauen, und in unserer Schwachheit zeigt sich Seine
Kraft. Er sagt in Seinem Wort: „Meine Kraft wird in
Schwachheit vollbracht", und der Apostel Paulus, dessen
Verständnis für diese Wahrheit geöffnet wurde, fügt hinzu:
„Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark". Fühlen wir
uns in Seiner Gemeinschaft und mit Ihm verbunden, dann
ist das Herz von Ihm erfüllt; wir ruhen in Seiner Liebe, wir
lassen Ihn sorgen, wir sind von Seiner Treue überzeugt, wir
schauen Ihn durch den Glauben, wir fühlen Seine Nähe, und
stets werden wir unser Vertrauen belohnt sehen. Nur im
Gefühl unserer eigenen gänzlichen Abhängigkeit von Ihm
und unseres völligen Vertrauens auf Ihn können wir in
Seinen Wegen wandeln und ein Zeugnis ablegen für Seinen
heiligen Namen. Wenn wir verstehen, als Kinde r Got -
201
t e s am Herzen unseres Vaters zu ruhen, werden wir als
Knecht e Christ i eifrig sein in guten Werken.
Es gibt jedoch noch zwei andere Seiten der Abhängigkeit von
Gott. Zunächst sind wir abhängig in Bezug auf die Kraft ,
das Gute zu tun, und dann sind wir abhängig von Seinem
Willen , indem wir den eigenen Willen zu verleugnen
haben. Kein Christ leugnet, daß er in sich selbst keine Kraft
besitzt, und daß er der Kraft von oben bedarf, um das Gute
tun zu können. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß jeder
Christ in diesem Verhältnis der Abhängigkeit von Gott
wandelt. Zwischen dem Geständnis, daß wir keine Kraft
haben, und dem lebendigen Bewußtsein der Seele, daß wir
ohne Kraft sind, ist ein großer Unterschied. Es ist in der Tat
eine Gnade Gottes, wenn Er unsere Herzen von unserer
Kraftlosigkeit überzeugt und uns befähigt, stets in diesem
Bewußtsein zu wandeln. Nicht nur werden wir dann verstehen, daß wir nichts nach dem wohlgefälligen Willen Jesu
tun können, wenn wir nicht in Ihm bleiben, sondern wir
werden dann wirklich auch praktisch in Ihm bleiben, und
die von Ihm, dem Weinstock, ausströmende Kraft wird sich
in uns, den Reben, zeigen. Wie oft begegnet man neben dem
Bekenntnis, daß wir nichts aus uns selbst vermögen, dennoch dem eigenen Bemühen, als könnten wir alles! Wie oft
hören wir sagen, daß Christus unsere Kraft sei, und finden
daneben ein kraftloses, dürres Leben, ohne daß der Weinstock seine Säfte der Seele zuführt! Die Unruhe der Seele
liefert deutlich den Beweis, daß man nicht praktisch in
Christo bleibt; und nur der in Ihm bleibt, wird viel Frucht
bringen.
Folgenschwerer ist es wenn wir die zweite Art von xA.bhä/igigkeit nicht verwirklichen, indem wir uns nicht dem Willen
des Herrn unterwerfen, sondern unserem eigenen Willen
folgen. Es ist freilich wahr, daß wir, wenn wir in Ausübung
des Guten nicht in der Abhängigkeit des Herrn wandeln,
die Zeit nicht auskaufen, sogar vergeblich arbeiten und unseren Lohn verlieren. Aber wenn wir in Bezug auf den Willen des Herrn unsere Abhängigkeit von Ihm aus dem Auge
verlieren, dann tun wir unseren eigenen Willen, folgen den
202
Neigungen unseres trügerischen Herzens, und verleben nicht
nur eine verlorene Zeit, sondern betrüben auch den Herrn,
handeln gegen Seinen wohlgefälligen Willen, vergessen, daß
wir teuer erkauft sind, um uns jetzt nicht mehr selbst anzugehören und greifen in die Rechte des Herrn ein, Dessen
Sklaven wir sind, und Dessen Willen wir tun sollen. Wenn
wir nun sagen wollten, daß es doch nicht unsere Absicht sei,
das Böse zu tun, dann vergessen wir, daß es schon böse ist,
dem eigenen Willen zu folgen, da wir die Sklaven eine?
anderen, nämlich Christi, sind. Nichts ist betrübender für
den Herrn, als wenn wir uns unabhängig von Ihm machen
und unseren eigenen Willen tun, und nichts ist gefährlicher
für uns, als wenn wir unsere eigenen Wege gehen, denn
unsere Wege sind nicht Seine Wege. Auf unseren Wegen
wandeln wir nicht in Seiner Gemeinschaft, und darum werden wir keine Frucht bringen. Auf den Wegen unseres eigenen Willens ist Gott nicht mit uns, wir können dabei nicht
auf Seine Hilfe rechnen, und es ist in der Tat noch eine
Gnade zu nennen, wenn Er uns auf diesen Wegen zuschanden werden läßt, damit wir zurückkehren und uns in die
Abhängigkeit von Ihm stellen.
Jeder Christ sollte sich in seiner Seele stets aufrichtig prüfen, was in jeder Lage und in allen Umständen der wohlgefällige Wille Gottes ist. Unsere Herzen sollten stets von
dem Bewußtsein durchdrungen sein, daß wir nicht mehr uns
selbst angehören, und daß wir daher nicht das geringste
Recht haben, unseren Willen zu tun.
Immer ist es das Fleisch, das seinen eigenen Willen gehen
will und mit Leichtfertigkeit entweder sagt, daß es den Willen Gottes nicht entdecken könne oder daß es hoffe, nicht
dem Willen Gottes entgegen zu handeln, oder sogar, daß es
von Seiten des Herrn auf seinem Wege behindert werden
möchte, wenn dieser Weg nicht nach Seinem Willen sei.
Aber bedenken wir wohl, es ist das Fleisch, das eine solche
Sprache führt. Der Geist ist in Übereinstimmung mit Gott.
Wenn wir nach dem Geiste wandeln, werden wir nie über
den Willen Gottes im Unklaren sein. Und sollte der Herr
zögern, uns Seinen Willen in irgendeiner Sache zu offen203
baren, dann werden wir geduldig warten, bis er uns die
Weise und die Absichten Seines Handelns anzeigt. In diesem
Falle wird man nicht zu der Ausrede greifen müssen, daß
man hoffe, nicht dem Willen Gottes entgegen zu handeln,
weil man nicht eher handelt, als bis Gott Seinen Willen
geoffenbart hat. Der Herr aber wird dann nicht gezwungen
sein, unseren Wegen entgegenzutreten, weil es die Wege
Seines Willens sind und wir das tun, was vor Ihm wohlgefällig ist.
Möge der Herr uns die Gnade verleihen, immer in völliger
Abhängigkeit von Ihm zu wandeln, denn nur dann werden
wir sichere und gesegnete Wege gehen. Es gibt für Herren
oder Knechte, Frauen oder Mägde viele kleine und große
Dinge in unserem Leben, die wir nach unserem Verstand zu
erledigen pflegen. Es fällt uns sehr oft gar nicht dabei ein,
daß wir in jeder Sache im Dienst des Herrn stehen. Wir
stellen sehr oft erst dann eine kleine Prüfung an, wenn es
sich um außergewöhnliche Fälle handelt, während wir im
Alltagsleben tausend Dinge tun, die das Ergebnis unserer
Gewohnheiten oder unseres Verstandes sind, die aber in vielen Fällen als gegen Seinen Willen bezeichnet werden müssen,
wenn sie im Licht und nach dem Urteil Gottes geprüft werden. Nach dem Wort Gottes aber sollen die gewöhnlichsten
Dinge, wie Essen und Trinken, mit der Ehre Gottes in
Verbindung gebracht werden.
Doch wenn wir auch bekennen müssen, daß große Schwachheit und vor allem ein bedauerlicher Mangel an Abhängigkeit von Gott sich unter uns vorfindet (und wir bekennen
dies von ganzem Herzen), ist es doch gesegnet, uns vor
Augen zu halten, daß der Herr nur zu unserem eigenen
Besten eine völlige Abhängigkeit in jeder Beziehung von
uns fordert. Ohne Kraft, abhängig von Seiner Kraft, sind
wir stark. Welch ein Tausch für unsere Schwachheit! Statt
unserer Ohnmacht Seine Kraft, um statt unseres bösen
Willens Seinen gesegneten Willen tun zu können. Möchten
wir doch daher für das elende Vertrauen zu uns selbst ein
völliges Vertrauen zu dem Gott eintauschen, Der uns schirmt
und schützt. Sicher wird ein solches Vertrauen von jener
204
Ruhe begleitet sein, die für die Seele aus einem so gesegneten Verhältnis entspringt, und sicher wird unser Herz
von jener Freude erfüllt werden, die Verheißung darreicht,
daß der Gott des Friedens mit uns sein wird.
Der Herr gebe uns allen das tiefe Verlangen, in wahrer, steter
und völliger Abhängigkeit von Ihm unseren Pfad zu wandeln!
Grenzen und Anstöße
„Du sollst nicht die Grenze deines Nächsten verrükken, welche die Vorfahren in deinem Erbteil gesetzt
haben" (5. Mose 19, 14).
„Hebet aus dem Wege meines Volkes jeden Anstoß
hinweg" (Jesaja 57, 14).
I.
Welch eine zarte Sorgfalt, welch eine gnadenreiche Umsicht
verraten diese beiden Schriftstellen! Die alten Grenzen sollten nicht verrückt werden, aber die Anstöße sollten entfernt
werden. Das Erbteil des Volkes Gottes sollte sich in seiner
Länge und Breite zeigen, während die Anstöße aus dem
Weg geschafft werden sollten. Das war die Gnade des Gottes
Israel. Das war Seine Sorgfalt für Sein Volk. Das Teil, das
Gott einem jeden gegeben hatte, war geeignet, Freude zu
bewirken, während zu gleicher Zeit der Pfad, auf dem ein
jeder zu wandeln berufen war, von jeder Art von Anstoß
befreit wurde.
Dies ist in unseren Tagen sehr wichtig. Der Schreiber dieser
Zeilen hat oft Gelegenheit gehabt, mit Seelen zu verkehren,
die ihm vertrauensvoll ihre Zweifel und Befürchtungen, ihre
Schwierigkeiten und Gefahren, ihre Kämpfe und Versuchungen mitteilten, und es ist sein ernster Wunsch, von Gott
gebraucht zu werden, um zum Nutzen des Lesers die Grenzen, die Gott durch Seinen Geist aufgerichtet hat, genau zu
bezeichnen, sowie die Anstöße, die der Teufel so fleißig auf
den Pfad der Gläubigen legt, wegzuräumen.
205
So ist unter anderem die Lehre von der Erwählung schon
bei manchem ein Gegenstand des Anstoßes geworden. Dennoch wird diese Lehre an ihrem rechten Platz, anstatt ein
Anstoß auf dem Pfade ängstlicher Forscher zu sein, als ein
Grenzstein erkannt werden, der von alters her gesetzt wurde
durch die inspirierten Apostel unseres Herrn Jesus Christus in
dem Erbteil des Israel Gottes. Aber wir wissen, daß eine an
einen falschen Platz gestellte Wahrheit bei weitem gefährlicher ist, als ein wirklicher Irrtum. Wenn jemand sich erheben und mit Unverschämtheit die Lehre von der Auserwählung als Irrtum bezeichnen würde, dann würden wir ohne
Zögern seine Behauptung bestreiten und widerlegen. Aber
wir wären vielleicht nicht ganz so gut vorbereitet, jemandem
zu begegnen, der, während er diese Lehre als wahr und
richtig anerkennt, ihr nicht den von Gott bestimmten Platz
anweist. Dennoch geschieht dies oft, zur Schädigung der
Wahrheit Gottes und zur Verfinsterung der Seelen der Menschen.
Welches ist dann der wahre Platz für die Lehre von der
Auserwählung? — Ihr wahrer, göttlich bestimmter Platz ist
im Inner n des Hauses, in der Hand des Lehrers , als
geeignet für das Ohr wahrer Gläubiger ; aber stattdessen hat der Feind ihr außerhal b des Hauses in der Hand
des Evangeliste n einen Platz angewiesen, und zwar
zum Anstoß ängstlich suchender Seelen. Darum hört man so
oft die Worte ängstlicher Gemüter: „Wenn ich nur wüßte, ob
ich einer der Erwählten sei, dann wollte ich schon ganz
glücklich sein; denn ich könnte dann die Segnungen des
Todes Christi auf mich anwenden".
Sicher würde dies, wenn sie nur die Gefühle ihrer Herzen
sprechen ließen, die Sprache vieler sein. Sie machen einen
schlechten Gebrauch von der Lehre von der Erwählung, die,
wahr und gesegnet in sich selbst, eine höchst wertvolle Grenze, aber auch ein höchst gefährlicher Anstoß ist. Es ist sehr
nützlich für den ängstlich Suchenden, wenn er es stets in
seinem Geiste festhält, daß er als ein verlorener Sünder und
nicht als ein Auserwählter die Segnungen des Todes Christi
auf sich anwenden kann. Der geeignete Standpunkt, von wo
206
aus man eine Rettungsaussicht auf den Tod Christi genießen
kann, ist nicht die Auserwählung, sondern das erkannte
Verderben. Zu erkennen, daß man ein verlorener Sünder
ist, ist daher eine unaussprechliche Gnade; aber ich erkenne
mich nicht eher als einen Auserwählten, als bis ich durch das
Zeugnis und die Unterweisung des Heiligen Geistes die
frohe Botschaft von der Errettung durch das Blut des Lammes empfangen habe. Die Errettung — klar wie der Sonnenstrahl, voll wie der Ozean, fest wie der Thron des ewigen
Gottes — ist mir nicht als einem Auserwählten, sondern
als einem äußerst verlorenen, verdammungswürdigen Sünder
gepredigt worden; und als ich meiner Rettung durch den
Glauben gewiß wurde, da hatte ich den entscheidenden Beweis meiner Auserwählung. „Wissend, von Gott geliebte
Brüder, eure Auserwählung. Denn unser Evangelium war
nicht bei euch im Worte allein, sondern auch in Kraft und
im Heiligen Geiste und in großer Gewißheit" (1. Thess 1,
4. 5). Die Auserwählung ist nicht die Bürgschaft für meine
Errettung, sondern der Empfang meiner Errettung ist der
Beweis meiner Auserwählung. Wie könnte auch ein Sünder
wissen, daß er einer der Auserwählten sei? Wo ist dies zu
finden? Es muß eine Sache göttlicher Offenbarung sein, denn
sonst kann es nie eine Sache des Glaubens sein. Aber wo
finden wir diese Offenbarung? Wo wird die Kenntnis der
Erwählung als eine unumgänglich notwendige und wesentliche Vorbedingung zur Annahme des Heils genannt? Nirgends im Worte Gottes. Mein einziges Anrecht auf Rettung
ist, daß ich ein armer, schuldbeladener, verlorener und verdammungswürdiger Sünder bin. Wenn ich auf ein anderes
Anrecht warte, so bin ich im Begriff, die so sehr wertvolle
Grenze von dem ihr bestimmten Platz wegzurücken und
einen Anstoß in meinen Weg zu legen. Das aber ist unklug,
gelinde ausgedrückt.
Doch es ist mehr als unklug. Es ist ein deutlicher Widerstand
gegen das Wort Gottes, und zwar nicht nur gegen die oben
angeführten Stellen, sondern gegen den Geist und gegen die
Belehrung der ganzen Heiligen Schrift. Wie lautet der Auftrag, den der auferstandene Heiland an Seine ersten Boten
207
richtete? „Gehet hin in die ganze Welt und prediget das
Evangelium der ganzen Schöpfung" (Mk 16, 15). Zeigt sich
in diesen Worten auch nur ein schwacher Grund, auf den sich
eine Frage bezüglich der Erwählung stützen könnte? Wird
jemand, dem dieses herrliche Evangelium gepredigt wird,
berufen, sich zunächst und vor allem mit dieser Frage der
Erwählung zu beschäftigen? Gewiß nicht. Die „ganze Welt"
und die „ganze Schöpfung", das sind Ausdrücke, die jede
Schwierigkeit beiseitesetzen und die Frage der Errettung auf
das ganze Menschengeschlecht ausdehnen. Wir lesen nicht:
„Gehet hin in einen bestimmten Teil der Welt und predigt
das Evangelium einer gewissen Zahl". Nein, das würde sich
nicht mit der Gnade vereinbaren lassen, die in der ganzen
weiten Welt verkündigt werden sollte. Wenn es sich um das
Gesetz handelte, so war es allerdings nur an eine gewisse
Zahl in einem bestimmten Teil der Schöpfung gerichtet; aber
als das Evangelium verkündigt werden sollte, wurde ihm
die „ganze Welt" als sein Wirkungskreis, und die „ganze
Schöpfung" als sein Gegenstand angewiesen.
Und wie lauten die Worte, die der Heilige Geist durch den
Mund des Apostels Paulus sagt? „Das Wort ist gewiß und
aller Annahme wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünde r zu erretten" (1. Tim 1, 15). Bieten diese
Worte irgendwelchen Raum für die Annahme, daß jemand
ein besonderes Anrecht auf die Errettung habe? Keineswegs.
Wenn Christus zur Rettung der Sünder in die Welt gekommen ist und ich ein Sünder bin, dann bin ich auch berechtigt,
die Segnungen Seines kostbaren Opfers auf meine eigene
Seele anzuwenden. Bevor ich mich in irgendeiner Weise davon
ausschließen kann, muß ich etwas anderes sein als ein Sünder. Wenn allerdings die Heilige Schrift irgendwie erklären
würde, daß Christus Jesus zur Rettung der Auserwählten
in die Welt gekommen sei, dann wäre ich selbstverständlich
gezwungen, beweisen zu können, daß ich zu dieser Zahl
gehöre, bevor ich die Segnungen Seines Todes mir zu eigen
machen könnte. Aber Gott sei gepriesen! im ganzen Evangelium finden wir nicht ein Wort, was eine solche Annahme
stützen könnte. „Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu
208
suchen und zu erretten was verlore n ist" (Lk 19, 10).
Ist das nicht mein natürlicher Zustand? Ja, in der Tat. Nun,
ist es dann nicht der Standpunkt eines Verlorenen, von dem
aus ich den Tod Christi erblicken kann? Ohne Zweifel. Und
darf ich, von dort aus das kostbare Geheimnis der Erlösung
betrachtend, nicht im Glauben die Worte sagen: „Er hat mich
geliebt und sich selbst für mich hingegeben"? Ja, ich darf
es, und zwar so rückhaltlos und unbedingt, als ob ich der
einzige Sünder auf dem Erdboden wäre.
Nichts kann den Geist einer ängstlich suchenden Seele mehr
beruhigen und erquicken, als wenn sie erkennt, daß die
Kettung ihr gerade in dem Zustand, in dem sie sich jetzt
befindet, und gerade auf dem Grund, auf dem sie eben steht,
gebracht wird. Es zeigt sich nicht der geringtse Anstoß auf
dem ganzen Wege, der zu dem Erbteil der Heiligen führt —
zu einem Erbteil, das durch Grenzen festgestellt ist, die weder
durch Menschen noch durch Teufel verrückt werden können.
Der Gott aller Gnade hat alles gesagt und alles getan, was
der Seele Ruhe, Gewißheit und volles Genüge geben kann.
Er hat den Zustand und den Charakter derer, für die Christus
starb, in solchen Grenzen gezeigt, daß kein Raum für Zweifel oder Ungewißheit übrig bleibt. Sein kostbares Wort ruft
uns die Worte zu: „Denn Christus ist, da wir noch kraft -
1 o s waren, zur bestimmten Zeit für Gottlos e gestorben". —
„Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin, daß Christus,
da wir noch Sünde r waren, für uns gestorben ist". —
„Denn wenn wir, die wir Feind e waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, vielmehr werden
wir, da wir versöhnt sind, durch sein Leben gerettet werden"
(Rö 5, 6. 8. 10).
Bedarf es noch größerer Klarheit, als wie sie diese kostbaren
Stellen liefern? Wird hier ein Ausdruck gebraucht, der möglicherweise im Herzen eines Sünders sein völliges und unbestreitbares Recht auf die Segnungen des Todes Christi in
Frage stellen könnte? Keineswegs. Bin ich ein „Gottloser"?
Nun, für einen solchen starb Christus. Bin ich ein Sünder?
Gegen einen solchen erweist Gott Seine Liebe. Bin ich ein
209
„Feind"? Einen solchen versöhnt Gott durch den Tod Seines
Sohnes. Also alles ist so klar wie das Sonnenlicht, und der
Anstoß, den die an einen falschen Platz gestellte Lehre von
der Auserwählung hervorgerufen hat, ist aus dem Wege geräumt. Als Sünder erlange ich die Wohltaten des Todes
Christi. Als Verlorener erlange ich eine Errettung, die frei
und unerschütterlich ist. Alles was ich brauche, um den Wert
des Todes Christi auf mich anzuwenden, besteht einfach darin, daß ich mich als schuldbeladenen Sünder erkenne. Es
würde mir in dieser Hinsicht nichts nützen, wenn man mir
sagte, daß ich ein Auserwählter sei, denn Gott wendet Sich
im Evangelium nicht in diesem Charakter an mich, sondern
Er begegnet mir als einem verlorenen Sünder.
Nun könnte sich jemand zu der Frage veranlaßt fühlen:
„Willst du denn die Lehre von der Auserwählung beiseitesetzen"? — Gott verhüte es. Wir wollen nur diese wichtige
Lehre an ihren rechten Platz stellen. Wir wünschen sie als
eine Grenze, nicht aber als einen Anstoß. Wir glauben, daß
es nicht die Aufgabe des Evangeliste n ist, die Erwählung zu predigen. Dies ist die Sache des Lehrer s in
der Versammlung der Gläubigen. Paulus predigt e den
Sündern Christus, aber er belehrt e die Gläubigen über
die Auserwählung. Das ist der ganze Unterschied. Wir glauben, daß jemand, der durch die Lehre der an einen falschen
Platz gestellten Auserwählung in irgendeiner Weise beunruhigt ist, kein geeigneter Evangelist sein kann. Wenn ein Evangelist statt Christus die Erwählung predigt, dann werden
gleichgültige Sünder nur noch gleichgültiger gemacht, während
ängstliche Seelen nutzlos in noch größere Ängste gestürzt
werden. Sicher werden dies die Folgen sein, und sie sollten
genügen, um ernste Gedanken in den Herzen derer zu erwecken, die brauchbare Prediger der freien und vollkommenen Errettung sein wollen, die aus dem Evangelium des
Christus hervorstrahlt und allen, die es hören, jede Entschuldigung nimmt. Die erhabene Tätigkeit eines Evangelisten
besteht darin, daß er die vollkommene Liebe Gottes, die
Wirkung des Blutes Christi und das Zeugnis des Heiligen
Geistes in seiner Predigt darstellt. Sein Geist muß ganz
210
ohne Fesseln und sein Evangelium ohne Unklarheiten sein.
Er muß eine gegenwärtige Errettung verkündigen, die völlig frei und so unerschütterlich ist, wie der Thron Gottes
selbst. Das Evangelium ist nicht mehr und nicht weniger als die Offenbarung des Herzens Gottes, gleichsam
dargestellt in dem Tode Seines Sohnes und in dem unvergänglichen Zeugnis des Heiligen Geistes.
Würde dies mit größerer Sorgfalt beachtet, dann wäre auch
mehr Kraft vorhanden, um einerseits den immer wieder auftauchenden Einwendungen gleichgültiger Menschen, andererseits den tiefen Ängsten der wahrheitssuchenden Seelen begegnen zu können. Die einen würden dann keinen Grund
zu Einwendungen und die anderen keinen Grund zur Furcht
haben. Wenn jemand das Evangelium verwirft, indem er sich
auf ewige Ratschlüsse Gottes beruft, dann verwirft er das,
was geoffenbar t ist um dessentwillen, was ver -
borge n ist. Was kann er über die Ratschlüsse Gottes
wissen? Gar nichts. Wie kann das, was ein Geheimnis ist,
als Grund zur Verwerfung dessen was geoffenbart ist, genommen werden? Warum dasjenige verweigern, wa s er -
kann t werde n kann , um deswillen, was nich t
erkann t werde n kann ? Es ist klar, daß Menschen
in Fällen, wo sie eine Sache glauben wollen, nicht so handeln. Wenn wir sehen, daß jemand bereit ist, irgendetwas
zu glauben, dann werden wir sicher nicht finden, daß er sich
eifrig nach einem Einwand oder Gegenargument umsieht.
Aber ach, die Menschen haben kein Bedürfnis, Gott zu
glauben. Sie verwerfen Sein kostbares Zeugnis, das so klar
ist wie die helle Sonne, und berufen sich, um ein solches Tun
zu rechtfertigen, auf Seine Ratschlüsse, die in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt sind. Welche Torheit! Welche
Blindheit! Welche Missetat!
Was nun jene ängstlich suchenden Seelen betrifft, die sich
mit Fragen über die Erwählung quälen, so wünschen wir von
Herzen, ihnen zu zeigen, daß es nicht in Übereinstimmung
mit dem Geiste Gottes ist, daß sie sich mit solchen Schwierigkeiten beschäftigen. Gott wendet Sich an sie gerade indem Zustand, in dem Er sie sieht, und in dem sie selbst
211
sich sehen können. Er wendet Sich an sie als an Sünder, und
dies ist genau das, was sie sind. Es gibt nur Rettung für
einen Sünder , und zwar in dem Augenblick, wo er seinen wahren Platz als Sünder einnimmt. Das ist einfach genug für eine einfältige Seele. Fragen bezüglich der Auserwählung zu erheben, ist purer Unglaube. Es ist anders gesagt eine Verwerfung dessen was geoffenbart ist, auf Grund
dessen was verborgen ist. Es ist eine Ablehnung dessen
was ich erkennen kann, auf Grund dessen was ich nicht
erkennen kann. Gott hat Sich in Jesu Christo geoffenbart,
so daß wir Ihn erkennen und Ihm vertrauen können. Außerdem hat Er in der Versöhnung am Kreuz eine vollkommene
Vorsorge für alle unsere Bedürfnisse und für unsere ganze
Schuld getroffen. Anstatt mich daher mit der Frage zu quälen: „Bin ich einer von den Auserwählten"? ist es mein
glückseliges Vorrecht, in der vollkommenen Liebe Gottes, in
der Allgenugsamkeit Christi und in dem treuen Zeugnis des
Heiligen Geistes zu ruhen.
II.
Es gibt jedoch noch andere Anstöße, die wir aus dem Wege
des Volkes Gottes gerückt zu sehen wünschen, und ebenso
auch noch andere Grenzen, die dem Blickfeld mancher Christen entschwunden zu sein scheinen.
So haben wir in vielen Fällen gefunden, daß die Aneig -
nun g der aus dem Erlösungswerk hervorgehenden Segnungen den Seelen oft zu einem Anstoß gedient hat. Obwohl
wir uns stets bemüht haben, uns in diesem Punkt klar auszudrücken, erachten wir es dennoch als notwendig, auch hier
in Kürze dem Leser zu zeigen, daß die Frage der Aneignung,
anstatt ein Anstoß auf seinem Wege zu sein, vielmehr eine
Grenze in seinem geistlichen Erbteil ist.
Wenn wir die Art, in der viele zu der persönlichen Annahme
des Werkes Christi stehen, näher betrachten, so will es uns
scheinen, als meinten sie, sie müßten etwas tun, bevor sie
die Segnungen des Todes Christi für sich in Anspruch nehmen könnten. Das ist aber ein großer Irrtum. Der Tod
Christi wendet sich in seiner ganzen Versöhnungswirksam212
keit an den Sünder, und zwar in dem Augenblick, wo dieser
seinen Platz als Sünder einnimmt. Die Anwendung dieser
Wahrheit bietet keine Schwierigkeit, es ist vielmehr eine
Schwierigkeit, ja, eine Unmöglichkeit, die Anwendung abzuweisen. Das Blut Jesu Christi ist für den Sünder als solchen
da. Deshalb hat jeder, der weiß und fühlt, daß er ein verlorener Sünder ist, das Vorrecht, einfach in diesem kostbaren
Blut Ruhe zu finden. Das Werk der Versöhnung ist vollbracht. Die Sünde ist weggetan. Alles ist vollbracht, vollbracht
durch Gottes eigene Hand. Muß ich nun noch auf etwas anderes warten? Muß ich noch etwas anderes tun, dem vollbrachten Werke Christi etwas hinzufügen? Gewiß nicht. Ich
bin einfach berufen, durch Glauben in dem zu ruhen, was
Christus für mich getan hat; und ich weiß, daß alle meine
Sünden weggetan sind, und daß mein Gewissen so rein ist,
wie das Blut Jesu. Christi reinigen kann.
Das ist die wahre Anwendung. Ich nehme Gott bei Seinem
Wort und drückte mein Siegel auf das was wahr ist. Es ist
nicht irgendein nicht näher zu beschreibendes Werk von meiner Seite, sondern ein Ruhen in dem Werk Christi. Es ist
nicht ein Warten auf etwas, das vo n mi r noc h ge -
schehe n muß , sondern ein Vertrauen auf das, was
bereits durc h Christu s geschehe n ist . Das ist
der große Unterschied. Diese Anwendung ist in der Tat eine
Grenze und kein Anstoß. Nur weil sie mißverstanden wird,
straucheln so viele darüber. Nicht selten blicken manche mit
Zögern und Unsicherheit dorthin, während sie bereits in
ihrem Besitz sind. Wenn ich von ganzem Herzen glaube,
daß Jesus gestorben und wieder auferstanden ist, dann habe
ich das Vorrecht, in die kostbaren Worte des Apostels einzustimmen und zu sagen: „der (Herr Jesus) mich geliebt
und sich selbst für mich hingegeben hat". Das ist in der Tat
die Sprache dessen, der den ganzen Segen dieses Werkes
auf sich anwendet, — aber am rechten Ort, d. h. als Grenze
und nicht als Anstoß. Wer sie als Anstoß nimmt, wird so
reden: „Ich weiß wohl, daß Christus fü r mic h starb,
aber ich kann die gesegneten Folgen des Todes Christi mir
nicht aneignen". Das ist in Wahrheit ein beklagenswerter
213
Irrtum, der in verhüllter Weise feststellt, daß der Tod
Christi ohne ein gewisses Werk von Seiten des Sünders
keinen Nutzen habe, während die Heilige Schrift uns doch
belehrt, daß von dem Augenblick an, wo ein verlorener
Sünder seinen wahren Platz einnimmt, der Tod Christi eine
so vollständige und wahre Anwendung auf ihn findet, als
ob er der einzige Sünder in der ganzen Welt wäre, und daß
er überdies gerechtfertigt ist durch Glauben und nicht durch
Werke, welcher Art sie auch sein mögen.
Es ist wirklich wunderbar, die verschiedenen Methoden zu
beobachten, deren sich der Feind bedient, um die Seelen zum
Straucheln zu bringen und zu verwirren. Wenn er sie nicht
veranlassen kann, sich auf gesetzliche Anstrengungen und
zeremonielle Gebräuche zu stützen, dann wird er sie sicher
zu Fragen bezüglich der Auserwählung, der Aneignung
der Segnungen des Werkes Christi, der Verwirklichung, der
Gefühle und Erfahrungen drängen. Anstatt in dem vollkommenen Werke Christi zu ruhen, gehen sie bekümmert
umher, weil sie durch alle diese Fragen zu Boden gedrückt
sind. Gewiß wollen wir diese Dinge nicht unterschätzen. Im
Gegenteil, wir schätzen sie als Grenzen, aber wir verabscheuen sie als Anstöße. Der wahre Grund des Friedens für
einen Gläubigen ist nicht die Auserwählung oder die Aneignung oder die Verwirklichung, sondern- Christus. Der Friede
ruht auf der ewigen Wahrheit, daß Gott mit Christus am
Kreuz über alle unsere Sünden abgerechnet hat, daß dort
die ganze Frage für immer und ewig geordnet und beseitigt
ist. Ich glaube das, — und das ist die persönliche Aneignung. Im Glauben bleiben — das ist die Verwirklichung.
Möge der Heilige Geist den ängstlich gewordenen Leser leiten, diese Dinge zu verstehen! Es ist der Wunsch unseres
Herzens und unser Flehen zu Gott, daß jede niedergebeugte
Seele sich befreit fühlen möge durch die Erkenntnis einer
vollkommenen und freien Errettung, die keinen Anlaß gibt
zu all jenen Fragen, die so oft zur Schädigung der Wahrheit
Gottes und zur Verfinsterung der Seelen erhoben werden.
Die Auserwählung ist eine kostbare Wahrheit, die persönliche Aneignung eine Tatsache, und die Verwirklichung eine
214
Wirklichkeit. Aber laßt uns ein für allemal feststellen, daß
diese Wahrheiten nicht als Anstöße auf den Pfad des Sünders gelegt sind, sondern daß Gott sie zu kostbaren Grenzen
im Erbteil der Heiligen aufgerichtet hat.
Wir müssen hier schließen, obwohl es noch viele Anstöße
gibt, die wir aus dem Wege des Gläubigen weggerückt zu
sehen wünschen, und noch viele Grenzen im Erbteil des
Volkes Gottes, die oft so wenig Beachtung finden. Möge der
Leser alle diese Dinge im Lichte Gottes betrachten!
„Ihr aber, wer saget ihr, daß ich sei"?
(Matthäus 16, 18)
Eine merkwürdige Frage des Herrn — eine Frage von der
allergrößten Tragweite! Der Herr hatte vorher gefragt: „Wer
sagen die Menschen, daß ich, der Sohn des Menschen, sei"7
,
und die Antwort der Jünger war, daß etliche Ihn für Johannes den Täufer, andere für Elias, wieder andere für Jeremias oder für einen anderen der Propheten hielten. Sie alle
wiesen Jesus einen hohen Platz an, aber nicht den, der Ihm
gebührte. Sie kannten Ihn nicht.
Johannes war unter ihnen gewesen, aber welchen Nutzen
hatten sie von ihm, wenn nicht den, daß er auf Jesus hinwies. Sie kannten Elias aus der Schrift und hatten sicher die
Bücher Jeremias und der anderen Propheten gelesen, aber
was nützte ihnen alles, wenn sie sich dadurch nicht zu dem
wahren König Israels, dem Sohne Gottes führen ließen? Alle
diese heiligen Männer konnten den gefallenen Menschen
nicht aufrichten und glücklich machen. Nur Einer konnte es,
und das war der in diese Welt gekommene Sohn Gottes.
Seine Erscheinung war etwas ganz anderes als die Erscheinung des Johannes, des Elias oder der Propheten. Hätten wir
Jesus nicht, was sollten Johannes und Elias, was könnten
die Propheten für uns tun? Seit Seiner Erscheinung gilt für
jeden Menschen, der von Christus hört, die große Frage:
„Was denkst du von Christus"? Von der Beantwortung
dieser Frage hängt alles ab. Jeder gibt Jesus einen Platz.
Dem einen ist Er ein weiser Lehrer, dem anderen der Stifter
215
der christlichen Religion, der dritte legt Ihm diesen, der vierte
jenen Charakter bei; aber Christus ist für sie nicht mehr,
als was auch irgendeine andere Person für sie sein könnte,
und es gibt nur eine verhältnismäßig geringe Zahl derer, die
in Ihm den Sohn Gottes erkennen. Und warum? Weil zu
dieser Kenntnis nur die Offenbarung des Vaters führen
kann.
Als Petrus dem Herrn die Antwort gab: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes", gab ihm der Herr
die beachtenwerte Erklärung zurück: „Glückselig bist du.,
Simon, Bar Jona; denn Fleisch und Blut haben es dir nicht
geoffenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist".
— Ja, es ist eine Glückseligkeit, Jesus als den vom Himmel
gekommenen Sohn Gottes zu erkennen. Nur die Offenbarung
des Vaters ist die einzige Quelle dieser Erkenntnis. „Niemand
kennt den Sohn als nur der Vater". — „Dies aber ist das
ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, und den
du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen".
Mit Gott hatten wir es zu tun. Wir waren Sünder, und Sein
Zorn ruhte auf uns. Er war unser Richter, ein gerechter
Richter; aber Christus kam, um dieses schreckliche Gericht
auf Sich zu nehmen. Seine Sendung war der große Beweis
der Liebe Gottes gegen den armen, verlorenen Sünder, aber
auch ein redendes Zeugnis der Gerechtigkeit und Heiligkeit
Gottes. Niemand konnte Gott zufriedenstellen als nur Sein
geliebter Sohn, Der um unserer Sünden willen Sein Leben
hingab. Die Liebe Gottes fand den einzigen Weg zu unserer
Rettung in der Sendung und der Dahingabe Seines Sohnes,
so daß Seine Gerechtigkeit für Ihn kein Hindernis mehr war,
Sich in Gnade des Sünders anzunehmen.
In der Person Seines eingeborenen Sohnes trat Gott in die
unmittelbare Nähe des Menschen. Er erschien in Christus
als der versöhnende Gott in Gnade und Wahrheit. Wer
Christus kennt, der kennt auch den Vater, und, was so kostbar ist, Gott Selbst offenbart uns Seinen Sohn. Er Selbst ist
bemüht, dem armen, gefallenen Geschöpf einen Gegenstand
zu zeigen, in Dem Vergebung, Leben, Gerechtigkeit und eine
216
Fülle von Segnungen ist. Er ist auch bemüht, das Herz des
Menschen fähig zu machen, diese Fülle zu erkennen und zu
genießen. Ja, glückselig der Mensch, der Jesus kennt, und
in Ihm das erblickt, was Er ist, und mit voller Gewißheit
sein Vertrauen auf Ihn setzt.
Freilich ist unsere Erkenntnis von Ihm jetzt nur Stückwerk,
und daher ist der damit verbundene Genuß unvollkommen.
Dazu haben wir von Natur ein Herz, das sich immer wieder
zu anderen Dingen hinneigt und uns nötigt, immer auf unserer Hut zu sein. Obwohl wir wissen, daß wir unserem Herzen nicht vertrauen dürfen und darin schon so oft getäuscht
und betrogen worden sind, sind wir dennoch töricht, ihm
immer wieder zu vertrauen oder wenigstens seine eitlen
Wünsche und Neigungen nicht ernst und aufrichtig niederzuhalten.
Das ist aber nicht alles. Das menschliche Herz ist so trügerisch, daß wir nicht nur die offenbar bösen Neigungen darin
unterdrücken müssen, sondern oft sogar solche, die an und
für sich gut zu sein scheinen. Was das menschliche Herz ist,
dafür liefert uns der Apostel Paulus ein lebendiges Beispiel.
In der vorliegenden Stelle gibt der Herr Jesus dem Petrus
das Zeugnis, daß der Vater ihm die Erkenntnis des Sohnes
Gottes geoffenbart habe, und wenn wir etwas weiter lesen,
finden wir in demselben Kapitel, daß der Herr gezwungen
ist, den Jünger Petrus ernst zurechtzuweisen und ihm das
strafende Wort zurufen muß: „Geh hinter mich, Satan; du
bist mir ein Ärgernis, denn du sinnest nicht auf das, was
Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist". — Welche
niederschmetternden Worte! Der Herr hatte von Leiden gesprochen, und Petrus wollte nicht, daß Er sie erdulden sollte.
Das erste Mal antwortet Petrus unter der Leitung des Vaters,
das zweite Mal unter der Leitung seines Herzens, das scheinbar voll Mitgefühl für den Herrn war, aber unter dem Einfluß des Fürsten dieses Zeitlaufs steht. Selbst unser innigstes
Mitgefühl und Wohlwollen ist wertlos, wenn es nicht Gott
zur Quelle hat. Die Wahrheit kommt von oben, vom Vater.
Nur was der Vater uns offenbart, hat unendlichen Wert und
macht das Herz glücklich.
217
Unsere Aufgabe ist, in der Erkenntnis, die von oben kommt,
zu wachsen; sie erhöht den Genuß der Glückseligkeit. Wenn
wir Jesus als unseren Erretter kennen, dann können wir Ihn
jeden Tag besser kennenlernen als unseren Freund und als
den guten Hirten. Aber wie sehr ist unser Wachstum abhängig von einem steten Wandel in der Gegenwart Gottes! Die Geschichte des Petrus zeigt uns, wie nahe oft die
verschiedenartigsten Erfahrungen zusammenliegen, wenn wir
uns in einem Augenblick durch das was von oben kommt,
und im anderen durch unser eigenes Herz leiten lassen. Wie
nötig ist es daher, nüchtern zu sein und in der Abhängigkeit
vom Herrn zu bleiben, uns immer zu fürchten, daß wir unseren eigenen Eindrücken folgen möchten, wobei wir — und
das ist beachtenswert — selbst wenn wir von einer scheinbar
guten Meinung geleitet sind, den Platz Satans einnehmen
können! Wir denken oft nicht an die Tragweite einzelner
Worte, und auch der arme Petrus hatte sicher keine Ahnung
davon, daß, wenn sein Wunsch: „Gott behüte dich, Herr!
dies wird dir nicht widerfahren." erfüllt worden wäre, Satan
triumphiert hätte und an keine Erlösung zu denken gewesen wäre. Nie hätte dann die Gnade durch die Gerechtigkeit
herrschen und nie ein elender Sünder Frieden mit Gott finden können! Unser Tun, unser Reden und unser Denken
wird stets die Offenbarung dessen sein, was uns leitet. Das
Herz steht immer unter irgendeinem Einfluß, und das ist
sehr beachtenswert. Entweder sind es die Offenbarungen
des Vaters, die uns leiten, oder es sind die Einflüsterungen
Satans, der Welt und unserer eigenen Natur, die unsere
Schritte lenken. Welch ein Unterschied besteht zwischen den
Worten des Herrn: „Glückselig bist du, Simon!" und „Gehe
hinter mich, Satan!" — und doch waren sie an die gleiche
Person gerichtet, über deren Lippen die Worte kamen: „Du
bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!" und
„Gott behüte dich, Herr!" — „Aus demselben Munde geht
Segen und Fluch hervor. Dies, meine Brüder, sollte nicht
also sein" (Jak 3, 10).
Erinnern wir uns stets daran, geliebte Brüder, daß der Weg
eines Jüngers Jesu schmal ist, und daß es der steten mich218
ternen Abhängigkeit vom Vater, des steten Umgangs mit
Jesus und der steten Leitung des Heiligen Geistes bedarf,
um sicher gehen zu können. Aber Gott sei gepriesen! der
schmale Weg ist breit genug für ein demütiges Herz, das
von oben geleitet werden will, und die Gnade hat Mittel
und Wege genug, um ein solches Herz zu bewahren, damit
der Fuß nicht abgleitet und der Mund keine Torheiten redet.
Die Verherrlichung Christi auf dem Berge
(Matthäus 16, 28-17 , 8; Markus 9, 1 - 8; Lukas 9, 27-36)
Die drei Evangelisten, die uns dieses erhabene Ereignis mitteilen, lassen unmittelbar die Worte Jesu vorangehen: „Wahrlich, ich sage euch: Es sind etliche von denen, die hier stehen, welche den Tod nicht schmecken werden, bis sie den
Sohn des Menschen haben kommen sehen in seinem Reiche".
Dann lesen wir weiter: „Und nach sechs Tagen nimmt Jesus
den Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, mit
und führt sie auf einen hohen Berg besonders". Hieraus ersieht der einfältige Leser sofort, daß die Verherrlichung auf
dem Berge die Erfüllung der Verheißung Jesu war. Petrus,
Jakobus und Johannes waren die „etlichen", die den Tod
nicht schmecken sollten, bevor sie den Sohn des Menschen
in Seinem Reiche gesehen hatten. Auf dem Berge nun sahen
sie den Herrn in Seiner königlichen Herrlichkeit. Petrus
selbst sagt uns dies in seinem zweiten Briefe. „ . . . Augenzeugen seiner herrlichen Größe . . . Denn er empfing von
Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit, als von der prachtvollen Herrlichkeit eine solche Stimme an ihn erging: „Dieser
ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe". Und diese Stimme hörten wir vom Himmel
her erlassen, als wir mit ihm auf dem heiligen Berge waren"
(2. Petr 1, 16-18). Diese Verherrlichung auf dem Berge ist
daher ein Vorbild der Herrlichkeit Christi in Seinem Königreich.
Das was uns nun ganz besonders in die Augen fallen muß,
ist, daß Mose und Elia in derselbe n Herrlichkeit mit
219
Jesus gesehen werden. Vom Herrn lesen wir: „Und er wurde
vor ihnen umgestaltet; und seine Kleider wurden glänzend,
sehr weiß wie Schnee, wie kein Walker auf der Erde weiß
machen kann" (Mk 9, 3). In Lk 9, 31 lesen wir, daß Mose
und Elia i n derselbe n Herrlichkei t mi t Ih m
gesehen wurden, während die drei Jünger, die zugegen waren, zwar die Herrlichkeit sahen, sie aber nicht teilten. Wir
finden hier also eine Darstellung dessen, was einmal im
Reiche Christi stattfinden wird. Mose ist das Vorbild aller
Gläubigen, die vor der Ankunft Jesu gestorben sein werden,
Elia hingegen das Vorbild jener Gläubigen, die ohne zu
sterben in den Himmel aufgenommen werden, während die
Jünger diejenigen Gläubigen vorstellen, die während der
Regierung Christi im Tausendjährigen Reich auf der Erde
wohnen, und wohl die Herrlichkeit Christi und der verherrlichten Heiligen sehen, aber nicht teilen werden. Die
verherrlichten Heiligen werden mit dem Herrn derselben
Herrlichkeit teilhaftig sein. Ihr Leib wird Seinem verherrlichten Leibe gleichförmig sein (Phil 3, 21). Wenn Er geoffenbart wird, werden wir mit Ihm geoffenbart werden in
Herrlichkeit (Kol 3, 4). Christus ist der Erbe aller Dinge,
der Vater hat Ihm alles unterworfen, und wir sind Seine
Miterben (Rö 8, 17). Wir werden mit Ihm als Könige auf
der Erde herrschen (Offb 1, 6; 5, 10), ja, wir werden selbst
die Engel richten (1. Kor 6, 3). Kein Unterschied wird zwischen Jesu und den Seinigen sein. Ich spreche hier natürlich
nicht von Seiner Gottheit, denn in dieser Beziehung kann
niemand Ihm gleich sein, sondern es handelt sich um die
Herrlichkeit, die Er als Sohn vom Vater empfangen hat. Was
unsere Stellung vor Gott betrifft, sind wir schon jetzt in der
Welt, wie Er ist (1. Jh 4, 17), und wenn Er geoffenbart
wird, werden wir Ihm gleich sein, dann werden wir Ihn
sehen, wie Er ist (1. Jh 3, 2). Welch eine unaussprechliche
Gnade! Wir, die wir von Natur verlorene Sünder, Feinde
Gottes waren, sollen in derselben Herrlichkeit mit dem
Sohn Gottes geoffenbart werden.
Doch es gibt noch etwas Herrlicheres als dieses. In Lukas
lesen wir nicht nur, daß Mose und Elia mit Jesus in Herr220
lichkeit erschienen, sondern daß sie auch in der unmittelbaren Gegenwart Gottes waren. Es kam nämlich eine Wolke,
die sie überschattete, und die Jünger wurden mit Furcht erfüllt, als sie sahen, daß jene in die Wolke eintraten (Lk 9,
34). Diese Wolke ist die Wohnung Gottes, wie uns dies im
Alten Testament gesagt wird. Als die Kinder Israel durchs
Rote Meer zogen, ging die Wolke hinter ihnen her und
machte eine Scheidung zwischen ihnen und den Ägyptern,
so daß diese sie nicht erreichen konnten. Auf ihrer Reise
durch die Wüste ging die Wolke vor ihrem Angesicht her,
um ihnen den Weg zu zeigen. Aus dieser Wolke sprach
Jehova mit Mose; sie stand über dem Eingang der Stiftshütte,
und Jehova sprach mit Mose aus ihr. In gleicher Weise kam
auch hier aus der Wolke die Stimme des Vaters: „Dieser ist
mein geliebter Sohn; ihn höret". Gott, der Vater, war also
in der Wolke. Und Mose und Elia gingen in sie hinein. Sie
gingen in die Wohnung Gottes, in das Haus des Vaters.
Dies ist das Teil der Gläubigen. „In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen", sagt der Herr Jesus zu Seinen
Jüngern, „ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten". Wenn
Er nun wiederkommt, wird Er uns in das Haus des Vaters
führen. Dies ist unendlich mehr als die Erscheinung in der
Herrlichkeit Jesu. Die Herrlichkeit, die die Jünger sahen,
weckte keine Furcht in ihnen; aber als sie sahen, daß Mose
und Elia in die Wolke hineingingen, da fürchteten sie sich.
Sie wußten sehr wohl, daß die Wolke die Wohnung Gottes
war, aber noch nie hatten die Gläubigen die Schwelle dieser
Wohnung überschritten. Wohl hatte Mose mit Gott, Der
in der Wolke war, gesprochen, aber er war nicht in sie hineingegangen. Dies war etwas ganz Neues. Und in der Tat
ist dies das Herrlichste, das es geben kann. Das Haus des
Vaters, die Wohnung Gottes, ist der beste und höchste Platz,
den es gibt. Dort soll nun unsere ewige Wohnung sein. Es
ist eine unaussprechliche Gnade, dieselbe Herrlichkeit mit
Christus zu teilen und darin mit Ihm offenbar zu werden,
aber es ist unendlich herrlicher, in dem Hause des Vaters
zu sein, dort mit Jesus zu verkehren und vertraulich mit Ihm
umzugehen und zu sprechen.
221
Und dies ist es, was wir hier finden. Mose und Elia unterhielten sich mit Jesus, und zwar, wie Lukas erzählt, über
den Ausgang, den Jesus in Jerusalem erfüllen sollte. Sie
sprachen also in vertraulicher Weise mit Ihm über Sein
Leiden und Sterben, über das, was das Herz Jesu in diesem
Augenblick am meisten erfüllen mußte und wozu Er in die
Welt gekommen war. So wird es mit uns sein, wenn wir
mit Jesus im Hause des Vaters wohnen werden. Dies muß
vor allem die Wonne unserer Herzen sein. Der Genuß der
Herrlichkeit ist köstlich, aber weit köstlicher ist der vertrauliche Umgang mit Jesus. Eine Krone ist herrlich, aber Gemeinschaft mit Jesus ist herrlicher. Sicher ist es die Freude
einer Gattin, die Ehre und Herrlichkeit ihres Gatten teilen
zu können, aber wäre es nicht traurig, wenn sie sich mehr
über den Mitgenuß dieser Ehre erfreute, als über den Umgang mit ihrem Gatten? Sollte die Gemeinschaft mit Jesus
im Vaterhaus nicht einen größeren Wert für uns haben, als
selbst die Herrlichkeit, die wir mit Ihm teilen werden? Sollten wir nicht schon jetzt im Geiste Gemeinschaft mit Jesus
haben, die wir einst in Wirklichkeit genießen werden? Ohne
Zweifel. Kaum war der Herr vom Berge herabgestiegen, als
Er auch schon in derselben vertraulichen Weise mit Seinen
Jüngern über Sein Leiden und Sterben zu sprechen begann,
wie Er es auf dem Berge in der Herrlichkeit mit Mose und
Elia getan hatte. Wie herrlich! Der Gegenstand der Unterhaltung Jesu mit den Seinigen unten am Fuße des Berges
war derselbe wie oben auf dem Berge, — derselbe in der
Erniedrigung wie in der Herrlichkeit. Ja, obwohl der Herr
jetzt verherrlicht im Himmel ist und wir noch auf der Erde
pilgern, können wir doch jene innige Gemeinschaft und
jenen vertraulichen Umgang mit Ihm genießen, den Mose
und Elia auf dem Berge, und die Jünger Jesu in den Tagen
Seines Wandels auf Erden genossen.
Merkwürdig ist in dieser Beziehung, was wir nach der Bekehrung des Saulus auf dem Weg nach Damaskus sehen.
Der Herr sagt zu Ananias: „Stehe auf und geh in die Straße,
welche die gerade genannt wird, und frage im Hause des
Judas nach einem, mit Namen Saulus, von Tarsus, denn
222
siehe, er betet" (Apg 9, 11). Der Herr bezeichnet also genau
die Straße, in der Saulus wohnte. „Ananias aber antwortete:
Herr, ich habe von vielen von diesem Manne gehört, wie
viel Böses er deinen Heiligen in Jerusalem getan hat. Und
hier hat er Gewalt von den Hohenpriestern, alle zu binden,
die deinen Namen anrufen" (V. 13. 14). Ananias bringt also
in der freimütigsten und vertraulichsten Weise seine Besorgnisse vor den Herrn. „Der Herr aber sprach zu ihm: Gehe
hin; denn dieser ist mir ein auserwähltes Gefäß" (V. 15).
Mit diesen Worten verscheucht der Herr alle Besorgnisse
Seines Dieners, der jetzt in freudigem Gehorsam den ihm
gegebenen Auftrag ausführt. Welch ein unaussprechlich herrliches Vorrecht! So nahe sind wir zu Jesus gebracht, und so
nahe ist Er zu uns gekommen, daß wir mit Ihm sprechen
können, wie ein Freund mit seinem Freunde spricht. Möchten
wir diesen gesegneten Umgang doch in reicherem Maß genießen.
Doch wir finden hier noch mehr. Als Mose und Elia in die
Wolke hineingegangen waren, kam eine Stimme aus der
Wolke, die sagte: „Dieser ist mein geliebter Sohn; ihn höret"! Hier wird uns kein Gebot gegeben, den Sohn zu
lieben und uns Seiner zu erfreuen, sondern etwas ganz anderes, weit herrlicheres. Der Vater gibt Zeugnis über Seinen
Sohn; Er teilt uns Seine Gedanken über Ihn mit. „Dieser
ist mein geliebter Sohn". Der arme, erniedrigte Mensch, der
keinen Platz hatte, wo Er Sein Haupt niederlegen konnte,
Der von allen gehaßt und verfolgt wurde, Dieser war Sein
geliebter Sohn, Den sie hören sollten. Welch eine Gnade!
Wie uns der Herr Jesus in Joh 17 hören läßt, was Er mit
dem Vater redet und welche Gemeinschaft Er mit Ihm hat,
so läßt uns hier der Vater hören, welch einen Wert Sein
Sohn für Ihn und für uns hat. Das ist wahre Gemeinschaft.
Was anders ist die Gemeinschaft als dieselben Gefühle, dieselben Gedanken, dieselbe Freude zu haben? Wenn ich von
Gemeinschaft mit den Brüdern rede, so muß ich dieselbe
Freude, dieselben Gedanken und denselben Gegenstand der
Betrachtung haben. Nun, der Vater sagt vor unseren Ohren:
„Dieser ist mein geliebter Sohn"! und fügt dann hinzu:
223
„Ihn höret"! Der Gegenstand der Liebe und des Wohlgefallens Gottes ist also der Gegenstand unserer Betrachtung
und unserer Freude. Wahrlich, Gott konnte uns kein größeres Vorrecht und keine herrlichere Gnade verleihen!
Noch eine andere wichtige Wahrheit wird uns hier vor
Augen gestellt. Mose und Elia stellen das Gesetz und die
Propheten vor. Mose wurde von den Juden fast wie ein
Gott verehrt, und Petrus hielt es für eine große Ehre für
seinen Meister, mit Mose und Elia in Gemeinschaft zu sein,
und deshalb wollte er drei Hütten bauen, damit sie dort
beieinander bleiben konnten. Doch was geschah? Kaum hatte
er diese Worte gesprochen, da kam eine Wolke und nahm
Mose und Elia vor ihren Augen hinweg, während Jesus
allein zurückblieb, und die Stimme aus der Wolke die Worte
hören ließ: „Dieser ist mein geliebter Sohn; ihn höret"!
Mose und Elia mußten verschwinden und Jesus allein übrigbleiben. Das Gesetz und die Propheten schwinden, und nur
Jesus bleibt; und nur Ihn sollen wir hören. Nicht als ob
das Gesetz und die Propheten keinen Wert für uns hätten,
oder als ob sie nicht von Gott gegeben wären; nein, vielmehr
zeugen sie von Christus und der zukünftigen Herrlichkeit.
Das ganze Alte Testament ist uns gegeben als das Wort
Gottes und ist „nütze zur Lehre, zur Überführung, zur
Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit"
(2. Tim 3, 16). Der Herr Jesus Selbst gebrauchte Mose und
die Propheten, um den Teufel zu widerlegen und den Pharisäern den Mund zu stopfen. Aber vor Christus müssen
Gesetz und Propheten verschwinden. Ihn allein müssen wir
hören. „Nachdem Gott vielfältig und auf vielerlei Weise
ehemals zu den Vätern geredet hat in den Propheten, hat
er am Ende dieser Tage zu uns geredet im Sohne" (Hebr 1,1).
Das Gesetz ist gut, wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht,
aber es kann uns nichts geben. Es kann fordern, und weil
wir seinen Forderungen nicht entsprechen, verdammen, aber
es kann uns nichts geben. Jesus allein kann uns alles geben,
was wir für das zeitliche und das ewige Leben brauchen. Er
ist der einzige Gegenstand unseres Glaubens und unserer
Betrachtung. Alles verschwindet, selbst der von Gott dem
224
Volk Israel gegebene Gottesdienst. Jesus allein bleibt übrig,
und der Vater im Himmel sagt uns, daß wir Ihn allein hören
sollen. Wie sehr sind wir geneigt, uns an dem festzuklammern, was alt und ehrwürdig in unseren Augen ist! Wie
schwer war es für die Apostel und für die ersten Christen,
den jüdischen Gottesdienst fahren zu kssen, und wie schwer
wird es heutzutage Tausenden von Christen, die menschlichen Satzungen zu, verlassen und sich allein an Jesus und die
durch Ihn geoffenbarte Wahrheit zu klammern! Wie viele
kehren zu Mose und den Propheten zurück, während sie sich
allein in Jesus erfreuen sollen und können! O möge der Herr
unsere Augen öffnen, damit wir verstehen lernen, daß Mose
und Elia, Gesetz und Propheten, irdischer Gottesdienst und
menschliche Einrichtungen verschwinden, und daß Jesus allein
bleibt, für Dessen Unterweisung wir ein geöffnetes Ohr haben sollen!
Verweilen wir nun noch einen Augenblick bei den Jüngern.
Lukas teilt uns mit, daß Jesus den Petrus, Johannes und Jakobus zu Sich nahm und auf den Berg stieg, um zu beten.
Der Herr Jesus wünschte, wie Er es oft tat, die Nacht im
Gebet zu verbringen; und während Er betete, veränderte sich
die Gestalt Seines Angesichts. Und was taten die drei Jünger
während dieser Zeit? Sie schliefen. Wir lesen: „Petrus aber
und die mit ihm waren, waren beschwert vom Schlaf; als sie
aber völlig aufgewacht waren, sahen sie seine Herrlichkeit
und die zwei Männer, welche bei ihm standen." Wie in Gethsemane konnten sie auch hier nicht mit Ihm wachen. Es ist
bemerkenswert, daß Jesus diese Jünger bei zwei Gelegenheiten zu Sich nahm, um mit Ihm zu. wachen und zu beten, und
daß sie bei beiden Gelegenheiten vom Schlaf überwältigt wurden: auf dem Berge, während Er verherrlicht wurde, und in
Gethsemane, als Er Sich in ringendem Kampfe befand. Da
sehen wir, was der Mensch ist. Er kann weder in der Herrlichkeit noch in den Leiden Gemeinschaft mit Jesus haben.
Wohl kann der Heilige Geist uns dazu in den Stand setzen,
aber der Mensch an sich ist dazu unfähig. „Der Geist zwar
ist willig, das Fleisch aber schwach," sagte der Herr in Gethsemane. Ach, wie oft gleichen wir diesen Jüngern! Wie oft
225
schlafen wir, wenn, der Herr Jesus uns Seine Herrlichkeit offenbaren oder an Seinen Leiden teilnehmen lassen will! Und
wieviel verlieren wir! Zwar sahen die Jünger die Herrlichkeit
und erfreuten sich so sehr daran, daß sie Hütten bauen
wollten, um dort bleiben zu können, aber sie vernahmen
nichts von der Unterhaltung, die Jesus mit Mose und Elia
hatte. Ebenso geht es uns. Wieviel mehr würden wir genießen, wenn wir immer nüchtern und wachsam wären! Der
Herr will uns so gern Seine Herrlichkeit offenbaren und uns
Seine Gedanken mitteilen. Es ist Seine Freude, uns die herrlichen Vorrechte und Segnungen genießen zu lassen, die Er
für uns erworben hat. Möchten wir doch immer ein lebendiges Verlangen haben, um Seine glückselige Gemeinschaft zu
genießen!
Die beiden Throne
Wir möchten die Aufmerksamkeit unserer Leser auf zwei
Throne richten, die uns in der Heiligen Schrift vorgestellt
werden. Den einen finden wir im sechsten Kapitel des Buches
Jesaja und den anderen im zwanzigsten Kapitel der Offenbarung. Der Herr möge die Lehre, die wir daraus ziehen,
unsere Herzen und Gewissen treffen lassen und uns die
Wahrheit verstehen lassen, damit sie uns frei mache.
1. „Im Todesjahr des Königs Ussija, da sah ich den Herrn
sitzen auf hohem und erhabenem Throne, und seine Schleppen erfüllten den Tempel. Seraphim standen über ihm; ein
jeder von ihnen hatte sechs Flügel: mit zweien bedeckte er
sein Angesicht, und mit zweien bedeckte er seine Füße, und
mit zweien flog er. Und einer rief dem anderen zu und
sprach: Heilig, heilig, heilig ist Jehova der Heerscharen, die
ganze Erde ist voll seiner Herrlichkeit! Und es erbebten die
Grundfesten der Schwellen von der Stimme der Rufenden,
und das Haus wurde mit Rauch erfüllt. — Und ich sprach:
Wehe mir! denn ich bin verloren; denn ich bin ein Mann
von unreinen Lippen, und inmitten eines Volkes von unrei226
nen Lippen wohne ich; denn meine Augen haben den König,
Jehova der Heerscharen., gesehen."
Welch eine ernste und gewichtige Szene! Der Thron des heiligen Gottes steht hier vor uns, und wir sehen, welch eine
Wirkung das Anschauen dieses Thrones auf das Herz eines
Menschen ausübt, der sich in dessen Nähe sieht. Es ist eine
ernste Sache, in der Gegenwart Gottes zu sein, uns selbst in
dem Lichte Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit zu betrachten
und eine Stimme zu hören, die die Grundfesten der Schwellen
erbeben läßt. Wo dies der Fall ist, da ist sicher ein Werk des
Heiligen Geistes vorhanden. Der Mensch sieht sich dann in
seinem wahren Zustand. Die geheimen Triebfedern seines
Herzens werden bloßgelegt. Er sieht nicht nur seine Taten,
sondern auch seine Natur, nicht nur das was er getan hat,
sondern auch das, was er ist. Er bleibt nicht mehr stehen bei
dem was er nicht ist, sondern er erblickt sich in seiner wahren Gestalt. Der verlorene, gänzlich verderbte Zustand des
Menschen wird dann von ihm gesehen und erkannt. Er fühlt,
daß er durch und durch schlecht ist und in der Gegenwart
Gottes nicht bestehen kann.
So war es mit Jesaja, als er sich im Licht der Heiligkeit Gottes betrachtete. Er sah sich, wie er war. Und was war die
Folge? Er rief aus: „Wehe mir, denn ich bin verloren; denn
ich bin ein Mann von unreinen Lippen". Auch fügt er merkwürdigerweise hinzu: „Denn meine Augen haben den König,
Jehova der Heerscharen, gesehen," Dies war die Ursache, daß
er ausrief: „Wehe mir! denn ich bin verloren!" Der Anblick
der Heiligkeit Gottes deckt uns unseren Zustand auf. In der
Gegenwart Seiner Herrlichkeit kann keine Eigengerechtigkeit
bestehen. Das Licht Gottes bestrahlt die düsteren Schlupfwinkel des menschlichen Herzens. Selbst was verborgen oder
schon längst vergessen war wird dort offenbar. Das Gewissen ist erwacht, das Herz aufgedeckt. Der Heilige Geist lüftet den Schleier, und man schreckt vor sich selber zurück.
Kein Wunder, daß man ausruft: „Wehe mir! denn ich bin
verloren!" Man kann nicht anders. Das Anschauen des Heiligen Gottes zwingt uns dazu. Als Petrus den Herrn Jesus in
Seiner Macht sah, rief er aus: „Gehe von mir hinaus, denn
227
ich bin ein sündiger Mensch!" Als Johannes auf Patmos den
Herrn in Seiner Herrlichkeit als Richter der ganzen Erde sah,
fiel er wie tot zu Seinen Füßen.
Teure Leser! Früher oder später müßt ihr alle zu dieser Entdeckung kommen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Es mögen
Tage, Monate und Jahre dahingehen, der Augenblick kommt
sicher einmal, wo ihr die Wirklichkeit eures wahren Zustandes erkennen werdet und euch zu dem Ausruf gezwungen
fühlt: „Wehe mir! denn ich bin verloren!" Wie entsetzlich ist
es jedoch, wenn ihr diese Entdeckung zu spät macht! Wie
schrecklich, zu entdecken, daß ihr für ewig verloren seid!
Dennoch wird dies mit allen der Fall sein, die sich hier nicht
der Gerechtigkeit Gottes unterwerfen wollen. Alle Menschen
müssen sich einmal in dem Licht der Heiligkeit Gottes betrachten, es sei hier oder vor dem Richterstuhl Christi. Welch
ein schrecklicher Gedanke, einmal als ein armer, verlorener
Sünder vor dem Richterstuhl des heiligen und gerechten Gottes stehen zu müssen, ohne einen Erlöser, ohne jemanden,
der die Strafe an unserer Stelle getragen hat!
Doch dies ist nicht nötig. Nein, Gott sei Dank, es ist ein
Erlöser, ein Stellvertreter da. Der Thron, den Jesaja sah, hatte
einen besonderen Charakter. Es stand ein Altar vor diesem
Thron. Hören wir die folgenden Worte: „Und einer der Seraphim flog zu mir; und in seiner Hand war eine glühende
Kohle, die er mit der Zange vom Altar genommen hatte. Und
er berührte meinen Mund damit und sprach: Siehe, dieses
hat deine Lippen berührt; und so ist deine Ungerechtigkeit
gewichen und deine Sünde gesühnt" (Jes 6, 6. 7). Sobald
Jesaja sich der Gerechtigkeit Gottes mit dem Rufe: „Wehe
mir! denn ich bin verloren!" unterworfen hatte, wurde er
in Verbindung mit dem Altar gebracht, seine Ungerechtigkeit wurde von ihm genommen und seine Sünde gesühnt.
Wie unaussprechlich herrlich! Ohne Blutvergießung gibt es
keine Vergebung, sagt die Schrift. Aber Gott hat in Seiner
Gnade einen Altar gegeben und ein Opfer bereitet. Richte
deinen Blick auf Golgatha, mein teurer Leser! Dort siehst du
den Altar und das Opfer. Jesus ist das von Gott auserwählte
Opferlamm. Er wurde am Kreuz zur Sünde gemacht. Er trug
228
unsere Sünden an Seinem Leibe auf dem Holze, und darum
traf ihn die Gerechtigkeit Gottes. Er wurde von Gott verlassen, Er starb. Das Werk der Versöhnung und Erlösung ist
vollbracht, und Sein Blut reinigt von allen Sünden. Jeder der
sich bußfertig und mit dem Rufe: „Wehe mir! denn ich bin
verloren!" der Gerechtigkeit Gottes unterwirft, und sich als
ein Mensch von unreinen Lippen in der Gegenwart des Herrn
der Heerscharen erkennt, wird in Verbindung mit Jesus gebracht und empfängt Teil an dem von Ihm vollbrachten Versöhnungswerk. Die Ungerechtigkeit ist dann weggenommen
und die Sünde gesühnt. Die im Licht des Thrones geoffenbarte Schuld wird durch die Gnade des Altars beseitigt. Im
Lichte der Heiligkeit Gottes erkannte Jesaja, wie er war, und
der Seraph sagte jetzt zu ihm: „So ist deine Ungerechtigkeit
gewichen und deine Sünde gesühnt." Und es ist beachtenswert, daß gerade einer der Seraphim, die gerufen hatten:
„Heilig, heilig, heilig ist Jehova der Heerscharen!", zu Jesaja
gesandt wurde, um ihm die Botschaft der Gnade zu bringen.
„Also herrsche auch die Gnade duxch Gerechtigkeit zu ewigem
Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn" (Rö 5, 21).
Durch die Verbindung mit dem Altar können wir vor dem
Thron des heiligen Gottes stehen. Wo die Ungerechtigkeit
gewichen und die Sünde gesühnt ist, können wir das Licht
der Heiligkeit Gottes ertragen. Welch eine herrliche Gnade!
O möchten unsere Herzen diese Wahrheit vollkommen verstehen, möchten wir darin ruhen, damit wir ohne Furcht
nicht nur an unsere Sünden, sondern auch an das Offenbarwerden vor dem Richter stuhl Christi denken können!
2. Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf einen anderen Thron, von dem wir in Offb 20 lesen: „Und ich sah einen
großen weißen Thron und den, der darauf saß, vor dessen
Angesicht die Erde entfloh und der Himmel, und keine Stätte
wurde für sie gefunden. Und ich sah die Toten, die Großen
und die Kleinen, vor dem Throne stehen, und Bücher wurden
auf getan; und ein anderes Buch ward auf getan, welches das
des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet nach dem,
was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken.
Und das Meer gab die Toten, die in ihm waren, und der Tod
229
und der Hades gaben die Toten, die in ihnen waren, und sie
wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken. Und der
Tod und der Hades wurden in den Feuersee geworfen. Dies
ist der zweite Tod, der Feuersee. Und wenn jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem Buche des Lebens, so wurde
er in den Feuersee geworfen."
Dies ist der Thron des Gerichts. Hier finden wir keine
Gnade, kein Erbarmen. Vergeblich suchen wir nach einem
Altar in der Nähe dieses Thrones. Nichts als das Gericht ist
hier zu finden. „Büche r wurden aufgetan." Es sind jene
ernsten Zeugen des Lebens und des Betragens jedes einzelnen Menschen. Nichts bleibt im Verborgenen. Alles kommt
ans Licht des Thrones des lebendigen Gottes. Niemand wird
entrinnen. Das Gericht ist individuell: ein jeder empfängt
„nac h seine n Werken" . Das ist der ernste Charakter dieses Gerichts. Es ist Torheit, zu denken, daß der Mensch
nur wegen seiner Verwerfung des Evangeliums gerichtet werde. Sicher wird die Verwerfung des Evangeliums, wo immer
es gehört worden ist, das Urteil Gottes verschärfen und die
Verantwortung des Menschen vermehren; aber ebenso sicher
ist es, daß der Mensch gerichtet wird nach seinen Werken.
Der Apostel belehrt uns ausdrücklich in Eph 5, 3-6 und in
Kol 3, 5.6, daß der Zorn Gottes kommt über die Kinder des
Ungehorsams wegen bestimmter Sünden, die er auch näher
bezeichnet. Die Schrift sagt also deutlich, daß alle, „die Kleinen und die Großen", nach ihren Werken gerichtet werden.
Welch eine ernste Wahrheit! Jeder, der unbußfertig, unbekehrt und ungläubig in seinen Sünden stirbt, wird Rechenschaft von allen seinen Taten ablegen müssen. Alle seine
Taten werden mit Flammenschrift auf den Tafeln seines Gewissens geschrieben stehen; alle werden gesehen werden in
dem Licht des Thrones, vor dem nichts verborgen ist und
dem niemand entrinnen kann.
Wie entsetzlich, vor dem Thron des Gerichts zu stehen. Wie
viele werden dort ausrufen: „Wehe mir! denn ich bin verloren!" Aber dort wird kein Altar sein, kein fliegender Seraph,
keine glühende Kohle, keine Vergebung, keine Gnade! Was
aber wird dort sein? — Der „Feuersee". Unmöglich kann es
230
anders sein, denn das Gericht beschäftigt sich mit den Werken eines jeden. Das unauslöschliche Feuer und der Wurm,
der nicht stirbt, müssen notwendigerweise das Urteil aller
derer sein, die vor dem großen weißen Thron stehen. Mag
der Mensch diese Wahrheit leugnen, mag er jeden Gedanken
daran von sich weisen, mag er darüber seine besonderen Ansichten vertreten, alle seine Meinungen und alle seine Vernunftsargumente können das ernste und unzweideutige Zeugnis der Heiligen Schrift nicht auslöschen. Dies Zeugnis beweist unbestreitbar, daß diejenigen, deren Namen im Buch des
Lebens geschrieben stehen, nicht in das Gericht kommen
werden, weil Christus an ihrer Statt gerichtet worden ist,
aber auch, daß diejenigen, deren Namen nicht im Buch des
Lebens geschrieben stehen, nach ihren Werken gerichtet und
in den „Feuersee" geworfen werden. Mein teurer Leser!
nimm — wenn du es noch nicht getan hast — deine Zuflucht
zum Thron der Gnade, um dem kommenden Zorn zu entfliehen!
Der Gehorsam Jesu
In der Heiligen Schrift gibt es ein Wort, auf das ich die Aufmerksamkeit des Lesers richten möchte. Wir finden es in
Hebr 5, 8: „De r . . . obwoh l e r Soh n war , a n
d e m wa s e r litt , de n Gehorsa m lernte. "
Es ist sicher nichts Neues, von Jesus zu hören, daß Er ein
gehorsamer Mensch war, und dennoch ist es etwas Wunderbares, daß Er diesen Platz eingenommen hat. Dies ist ein so
großes Wunder, daß die Engel sich in Anbetung niederbeugen und begehren, das große Geheimnis zu verstehen. „De r
...obwoh l e r Soh n war,.. . de n Gehorsa m
lernte. " Was wollen uns diese Worte sagen?
Lieber Leser! Zeigen uns diese Worte nicht den unendlichen
und unermeßlichen Unterschied zwischen Christus und uns?
Wir sind Gehorsam schuldig. Wenn wir nicht gehorsam sind,
dann versäumen wir unsere Pflichten gegenüber denen, die
über uns gestellt sind und das Recht haben, Vorschriften und
Befehle zu geben, die zu befolgen wir verpflichtet sind. Wenn
231
ein Vater seinem Kind einen Auftrag erteilt, ist es dann in
deinen Augen etwas Seltsames oder Wunderbares, wenn das
Kind gehorsam ist? Keineswegs. Das Kind tut, was es tun
muß; man erwartet nichts anderes. Würde es aber dem Befehl des Vaters nicht nachkommen, dann wäre das nur ein
Beweis von dem Geist des Ungehorsams, der leider bei den
Menschen so natürlich ist. Es ist ganz ordnungsgemäß, daß
ein Vater gebietet und das Kind gehorcht. Ebenso wenn eine
Frau ihier Magd Befehle erteilt und ihr die tägliche Arbeit
vorschreibt, dann würden wir es doch sicher tadelnswert und
unstatthaft finden, wenn die Magd nicht gehorchte. Es ist
ihre Pflicht, gehorsam zu sein. Wie es sich nun mit den Kindern gegenüber den Eltern und mit den Dienstboten gegenüber ihren Herren verhält, so verhält es sich mit allen Menschen Gott gegenüber. „Ein Sohn soll den Vater ehren, und
ein Knecht seinen Herrn. Wenn ich denn Vater bin, wo ist
meine Ehre? und wenn ich Herr bin, wo ist meine Furcht?
spricht Jehova der Heerscharen" (Mal 1, 6). Es liegt in der
Natur der Sache, daß Gott gebietet und die Menschen gehorchen.
Welch ein Unterschied besteht nun zwischen Christus und
uns? Die soeben angeführten Worte reden zu uns von Ihm,
Dessen Stellung es war, über alles zu herrschen. Er war kein
Knecht, nein, Er war der Herrscher über alles. Er brauchte
nicht zu gehorchen, denn Er war der Gebieter über alle, sowohl über die Engel als auch über die Menschen. Er ist der
eingeborene Sohn Gottes, „der Abglanz seiner Herrlichkeit
und der Abdruck seines Wesens". Er ist der Schöpfer aller
Dinge und trägt „alle Dinge durch das Wort seiner Macht".
Er sprach: „Es werde Licht! Und es ward Licht." Er ist aller
Herr, und von Ihm wird gesagt, daß alle Engel Gottes Ihn
anbeten werden. Statt daß Er zum Gehorsam verpflichtet war,
waren alle verpflichtet, Ihm zu gehorchen. Dennoch erniedrigte Er Sich, ein Kind, ein Jüngling und ein Mann zu werden. Der Gebieter wurde Knecht und lernte aus Erfahrung,
was Gehorsam ist. Obwoh l Er Sohn war, lernte Er an
dem, was Er litt, den Gehorsam! Unbegreifliche Erniedrigung!
Wunderbare Gnade!
232
Wir dürfen diese Worte jedoch nicht in der Weise auffassen,
als ob der Herr Jesus wie wir, die wir von Natur ungehorsam sind, den Gehorsam lernen mußte. Als Er auf der Erde
war, war Er stets der gehorsame Mensch. Er konnte nicht
anders als gehorsam sein. Allerdings mußte Er den Gehorsam lernen , weil für Ihn, Der nur zu gebieten hatte, der
Gehorsam etwas Neues war. Aber nachdem Er Sich Selbst
erniedrigt hatte und Mensch und ein Knecht geworden war,
war Er in diesem. Zustand ebenso vollkommen, wie Er zur
Zeit Seiner Herrschaft über alles auf dem Thron des Vaters
vollkommen gewesen war. Freiwillig hatte Er Sich erniedrigt,
freiwillig hatte Er Knechtsgestalt angenommen und freiwillig
hatte Er es auf Sich genommen, zu gehorchen anstatt zu gebieten. Wie treffend wird uns dies in Phil 2 gesagt, wo wir
lesen: „Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo
Jesu war, welcher, da er in Gestalt Gottes war, es nicht für
einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst
zu nichts machte, und Knechtsgestalt annahm, indem er in
Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt
wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er
gehorsam ward bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze." —
Er verließ die Herrlichkeit, die Er vor Grundlegung der Welt
beim Vater hatte, um hier auf der Erde zu offenbaren, was
Gehorsam ist, — ein Gehorsam, der bis zum Tode, ja zum
Tode am Kreuze führte, weil es der Wille Gottes war, durch
Seinen Tod verlorene Sünder zu retten.
Es steht geschrieben, daß Jesus a n de m wa s Er litt ,
den Gehorsam lernte. Wie konnte Er in allem gehorsam sein,
ohne Sich dem Haß der Welt auszusetzen? Alle, die Ihn umringten, taten ihren eigenen Willen und lebten nach dem
Gutdünken ihres eigenen Herzens. Er war der einzige gehorsame Mensch. Die natürliche Folge davon war, daß Er
gehaßt, verfolgt und mißhandelt wurde. Ein treuer Untertan,
der in der Mitte von Verrätern und Aufrührern- lebt, wird
sicherlich ihrem Haß ausgesetzt sein, und wie sehr würde
sich dieser Haß steigern, wenn man die Entdeckung machte,
daß dieser der Sohn des Königs und von ihm hergesandt
sei? So verhielt es sich mit Jesus. Er, der Sohn des Vaters,
233
wurde von den Weingärtnern ergriffen, aus dem Weinberge
gestoßen und getötet, damit sie, wie sie dachten, das Erbe
in Besitz nehmen könnten. Und was tat der Herr inmitten
dieser Umstände? Er wandelte ununterbrochen auf dem Pfad
des Gehorsams. Er ließ Sich durch keine Feindschaft oder
Verfolgung in Seinem Lauf aufhalten. Gingen andere ihren
Weg, Er ging Seinen Weg; hatten andere ihre Speise, Er hatte
die Seinige. Dieser Weg und diese Speise waren, den Willen
des Vaters, Der in den Himmeln ist, zu tun. Getrieben von
Seiner Liebe zu Sündern, verließ Er den Himmel und die
Herrlichkeit, und von derselben Liebe getrieben ging Er inmitten der Schmach und Verfolgung, der Leiden und Schmerzen den Weg des Gehorsams bis zum Tode am Kreuze.
Ein in dieser Hinsicht treffendes Wort finden wir in Jes 50,
wo der Heilige Geist den Herrn sprechen läßt: „Warum bin
ich gekommen, und kein Mensch war da? habe gerufen, und
niemand antwortete? Ist meine Hand etwa zu kurz zur Erlösung? oder ist in mir keine Kraft, um zu erretten? Siehe,
durch mein Schelten trockne ich das Meer aus, mache Ströme
zu einer Wüste: es stinken ihre Fische, weil kein Wasser da
ist, und sie sterben vor Durst. Ich kleide die Himmel in
Schwarz und mache Sacktuch zu ihrer Decke." — Hier spricht
Christus von Seiner Macht und Herrlichkeit, jedoch fügt Er,
vor dem die ganze Schöpfung sich neigt, die Worte hinzu:
„Der Herr, Jehova, hat mir eine Zunge der Belehrten gegeben, damit ich wisse, den Müden durch ein Wort aufzurichten. Er weckt jeden Morgen, er weckt mir das Ohr, damit ich
höre gleich solchen, die belehrt werden." — Der Allmächtige
ist Mensch geworden, und dieser Mensch ist demütiger und
gehorsamer als das gehorsamste Kind, das jeden Morgen von
seinem Vater geweckt wird, um zu hören, was es an jedem
Tag zu lernen hat. Wer vermag dieses Wunder zu fassen?
Gott ist geoffenbart im Fleisch. Der Schöpfer des Himmels
und der Erde ein kleines, hilfloses, in der Krippe liegendes
Kind, ein verachteter Mensch auf der Erde inmitten der
Feindschaft der Menschen! O Herr! laß uns Deine unbegreifliche Liebe mehr verstehen!
234
Hat der Herr Jesus Sich je geweigert oder auch nur gezögert,
das zu tun, was Ihm der Vater geboten hatte? Nein, niemals.
Hören wir Seine Worte: „Der Herr, Jehova, hat mir das Ohr
geöffnet, und ich, ich bin nicht widerspenstig gewesen, bin
nicht zurückgewichen" (Jes 50, 2-5). Nie war Er ungehorsam.
Von der Krippe bis zum Kreuz war Er stets der vollkommen
gehorsame Mensch. Welche herrlichen Beweise haben wir davon in Seiner Geschichte! „Das Kindlein aber," so lesen wir,
„wuchs und erstarkte, erfüllt mit Weisheit, und Gottes Gnade
war auf ihm" (Lk 2, 40). Welch ein liebliches Bild zeigt uns
der zwölfjährige Jesus! Wie vollkommen war die Vereinigung
Seines Gehorsams gegen Gott und gegen Seine Eltern! Als
Seine Eltern Ihn suchten, war Er in dem Werke tätig, das
Gott, Sein Vater, Ihm aufgetragen hatte. „Was ist es, daß ihr
mich gesucht habt?" fragt Er in demütigem Ton. „Wußtet
ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?"
(V. 49). Doch anstatt Sich hiermit zu brüsten und Sich Selbst
in den Vordergrund zu stellen, wie es junge Leute so gern
tun, „ging er mit ihnen hinab und kam nach Nazareth, und
er war ihnen Untertan" (V. 51). — Welch ein Beispiel von
Gehorsam war Sein Leben vor seinem öffentlichen Auftreten
als Lehrer! Der Sohn Gottes, der Schöpfer und Erhalter des
ganzen Weltalls wohnte dreißig Jahre lang unbekannt und
unbemerkt in dem verachteten Nazareth und verdiente als
Zimmermann Sein Brot. Welch eine Erniedrigung! Aber zugleich welch eine unendliche Gnade! „Er ist in allem versucht
worden in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde."
Aber dies alles ist nichts im Vergleich zu dem, was der Herr
Jesus während der drei Jahre Seines öffentlichen Dienstes in
Israel erfuhr. Welch ein Weg der Erniedrigung, der Leiden
und des Schmerzes! Er wurde in allem versucht. Er stand
dem Teufel, den gottlosen Pharisäern, dem blinden Volk und
Seinen schwachen, kleingläubigen Jüngern gegenüber. Und in
allem zeigte Er Seine Vollkommenheit: Er war immer gehorsam. Jeder Tag brachte neue Leiden, jeder Tag neue Mühsale und Beschwerden; an jedem Tage lernte Er den Gehorsam an dem was Er litt. Wie anbetungsbedürftig ist es, den
Mann der Schmerzen in Seinem vollkommenen Gehorsam, in
235
Seiner völligen Hingabe und Unterwürfigkeit unter den Willen des Vaters zu betrachten! Soll ich einige Beispiele geben?
Betrachte Ihn in der Wüste, wo Er vom Teufel versucht wird.
Vierzig Tage und vierzig Nächte ist Er ohne Speise, und es
hungert Ihn. Der Teufel kommt und fordert Ihn auf, aus
Steinen Brot zu machen. Ja, der Herr Jesus brauchte nur e i n
Wort zu sprechen, und die Steine wären in Brot verwandelt
worden; Er war der Allmächtige. Aber nein. Er will hier nicht
Seine Allmacht, sondern Seinen Gehorsam offenbaren. „Nicht
von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem
Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht." — Betrachtet
Ihn am Jakobsbrunnen. Ermüdet von den Anstrengungen der
Reise, hungrig und durstig, hat der Herr Jesus Platz genommen. Nur e i n Wort brauchte Er zu sprechen, und Speise
und Trank wären im Überfluß vorhanden gewesen. Aber
nein. Auf diesem Wege stillt Er Seinen Hunger nicht. Er sendet Seine Jünger zur Stadt, um Speise zu kaufen, und Er
Selbst bittet um einen Trunk Wasser. Ja, der Schöpfer aller
Wasserquellen bittet ein armes, ehebrecherisches Weib: „Gib
mir zu trinken!" Welch eine Erniedrigung! Welch ein Gehorsam! — Lest die Geschichte vom Tod und von der Auf erweckung des Lazarus. Die Botschaft kommt zu Jesus: „Herr,
siehe, der, den du lieb hast, ist krank." Jesus liebte Lazarus
und seine Schwestern Maria und Martha. Er war ihr Hausfreund. Er weinte am Grabe des Lazarus. Sicher würden wir
meinen, daß Er nach Empfang jener Botschaft sofort nach
Bethanien gehen und Seinen kranken Freund wieder gesund
machen würde. Doch Er bleibt noch zwei Tage an dem Ort,
wo Er war. Er war der völlig gehorsame Mensch. „Meine
Speise ist, daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt
hat." — Noch ein anderes Beispiel. Der Herr Jesus war allwissend. Er kannte Judas und Er kannte auch dessen Pläne.
Nur ein einziges Wort hätte es Ihn gekostet, und alle Pläne
des Verräters waren vereitelt gewesen. Aber nein. Er läßt
den Sohn des Verderbens seinen Weg gehen. — Jesus ist
allmächtig. Er beweist dies sogar in Gethsemane. Auf Sein
Wort stürzen die Kriegsknechte zu Boden. Er hätte sie alle
vernichten können; Er hätte die Hohenpriester und die Schrift236
gelehrten, Pilatus und Herodes töten können; mehr als zwölf
Legionen Engel hätten Ihm zu Gebote stehen können. Aber
nein. Er bedient Sich Seiner Macht nicht: Er läßt sie alle ihre
Wege gehen; Er übergibt Sich ihnen freiwillig. Wie ein Schaf
wird Er zur Schlachtbank geführt, wie ein Lamm, das stumm
ist vor seinem Scherer. „Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht
verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel" (Jes 50, 6).
Geliebte Brüder! Es war Seine Liebe zu uns, die Ihn in diesen Zustand des Leidens und des Gehorsams brachte. Sein
Gehorsam bis zum Tode ist die Grundlage unserer Errettung.
„Der . . . obwohl er Sohn war, an dem, was er litt, den Gehorsam, lernte; und, vollendet worden, ist er allen, die ihm
gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden." — Wollen
wir, die wir durch Sein Leiden und durch Seinen Gehorsam
errettet sind, Ihm nicht gehorchen? Welch einen Wert hat der
Sohn Gottes dem Gehorsam beigemessen! Wie lieblich muß
es daher in Seinen Augen sein, wenn wir denselben Gehorsam offenbaren! Treten wir daher in Seine Fußstapfen. Wenn
wir auf Grund unseres Gehorsams zu leiden haben, nun,
dann möge es uns nicht befremden, und mögen wir uns nicht
von dem schmalen Pfade der Gerechtigkeit abdrängen lassen,
um dem Kreuz zu entfliehen! Denken wir an Ihn, Der so
großen Widerspruch von Sündern gegen Sich erduldet hat,
auf daß wir nicht ermüden, indem wir in unseren Seelen ermatten. Folgen wir Jesu, Der, „obwohl er Sohn war, an dem,
was er litt, den Gehorsam lernte."
Die Fürsorge Jesu für die Seinigen
(Johannes 16)
Der Herr Jesus stand im Begriff, dem Kreuzestod entgegenzugehen. Seine Stunde -war gekommen. Die Nacht, in der Er
verraten wurde, war angebrochen. Aber gerade in diesen
ernsten Augenblicken beschäftigte Er Sich, wie uns das Johannesevangelium so ausführlich mitteilt, mit Seinen Jüngern.
Er wußte genau, was Ihm bevorstand. Er konnte an Judas
die Worte richten: „Was du tust, tu schnell", und dennoch
237
hatte Er Ruhe und Zeit, Seine Jünger zu unterweisen, zu
trösten und ihnen Sein Mitgefühl in der zartesten Weise zu
offenbaren. Er, Der Selbst den größten Leiden entgegenging,
wollte, daß Seine Jünger nicht bestürzt seien, sondern sich
freuen sollten. Er lud alle Schmerzen auf Sich, damit ihre
Freude völlig sein könnte. Dieses Kennzeichen leuchtet uns
aus allen Seinen Handlungen in den letzten Augenblicken
Seines Lebens in so besonders lieblicher Weise entgegen. Sein
ganzes Tun zeigte, daß Er in die Welt gekommen war, um
alles für uns zu tun, auf daß ewige Freude unser Teil sein
möchte.
Die Stunde der Trennung war gekommen. Die kalte Hand
des Todes sollte bald das zarte Band zwischen dem Herrn
und Seinen Jüngern zerreißen, aber nur um ein festeres, unauflösliches, ewiges Band herzustellen; und es war eine Freude
für Sein Herz, ihnen sagen zu können, daß sie Ihn über ein
Kleines wiedersehen würden. Ja, es ist das Bedürfnis Seines
Herzens, jede Wolke der Trauer zu zerstreuen und unsere
Herzen für den Genuß Seiner Liebe zu öffnen. Er tröstet sie
mit Seiner baldigen Wiederkehr; und wie eine Frau nach der
Geburt ihres Kindes sich freut und alle ihre Schmerzen vergißt, so würden auch ihre Herzen frohlocken, wenn Er nach
kurzer Abwesenheit in ihre Mitte zurückkehren werde, so
versichert Er ihnen. Ihre Traurigkeit sollte in Freude verwandelt werden. Ja, welche Freude bringt doch die Traurigkeit
hervor! Nie hatten die Jünger einen solchen Augenblick der
Freude erlebt, der dem gleichkam, als Jesus nach Seiner Auferstehung wieder in ihre Mitte trat. Das Wiedersehen ließ
sie frohlocken, aber sicher hätten sie diese Freude nicht erlebt, wenn nicht der traurige Augenblick der Trennung vorangegangen wäre.
In gewissem Sinne sind die Wege Gottes immer schmerzlich,
aber gut und gesegnet für uns. So war es auch bei dem Heimgang des Herrn zum Vater. Trauer erfüllte das Herz der Jünger, aber der Herr konnte sagen: „Es ist euch nützlich, daß
ich weggehe." Er weiß, was gut ist, und Seine Weisheit läßt
uns Wege der Trübsal gehen, um dann die Freude zu finden,
die uns niemand rauben kann.
238
Die Freude ist und bleibt unser Teil. Es ist Sei n Wille, daß
die Freude, die E r gibt, nicht von uns genommen werde.
Jetzt schon ist die himmlische Freude unser Teil. So wie die
Jünger sich freuten, als sie den Herrn wiedersahen, als sie
erfuhren, daß weder Tod noch Grab ihren Herrn halten konnten, und als die Hoffnung in ihren Herzen erwachte, daß
nichts im Himmel und auf Erden sie von Ihm scheiden könne,
ebenso freuen auch wir uns, daß Er unser Teil ist, daß kein
Feind Ihn uns nehmen kann, und daß nichts imstande ist,
uns von Seiner Liebe zu scheiden.
Was wird es sein, wenn wir Ihn sehen, wie Er ist! Die Jünger
frohlockten, als sie den Herrn wiedersahen, und wieviel größer wird unsere Freude sein, wenn wir Ihn schauen, an Den
wir geglaubt haben, ohne Ihn gesehen zu haben. Die Jünger
mußten, als Er zum Vater ging, noch einmal die Stunde der
Trennung durchmachen. Aber wenn wir Ihn sehen, wie Er
ist, werden wir uns nie mehr von Ihm trennen. Wie glücklich sind doch alle, die Jesu angehören! Eine ewige Freude
soll nach dem Willen des Herrn ihr Teil sein. Jetzt schon bereitet der Herr inmitten der Trübsale und sogar mittels der
Trübsale eine himmlische Freude in unseren Herzen; wie aber
wird es sein, wenn Er droben uns ohne jede Trübsal teilnehmen läßt an dem vollen Genuß einer ewigen Freude! Jetzt
schon kann niemand unsere Freude von uns nehmen. Man
kann uns hassen, aber das vermehrt nur unsere Freude an
Ihm, Der uns liebt. Man kann uns Böses tun, aber es wird
nur zur Folge haben, daß wir uns näher an Jesus klammern,
Der nur Liebe und Güte für uns in Seinem Herzen birgt.
Man kann uns sogar töten, aber dann tut man im Grunde
nichts anderes, als daß man uns dahin bringt, wo die Freude
ohne Störung unser Teil ist. Die Welt mag tun, was sie will;
aber das Wort bleibt unveränderlich: „Eure Freude nimmt
niemand von euch".
Wenn unsere Herzen Ihn kennen, dann gibt es keinen Zweifel, keine Frage mehr. Alle Zweifel sind behoben, alle Fragen
sind in Ihm beantwortet. Hat das Herz verstanden, sich auf
Ihn zu stützen, dann ist alle Furcht beseitigt. Ich vertraue
mich Ihm an, ich stütze mich auf Ihn, ich weiß, daß Er für
239
alles sorgen wird. Der, Dessen Wille es ist, daß niemand
meine Freude von mir nimmt, ist auch mir genug für alles,
was mir in dieser Welt begegnen kann.
Doch dem Herrn ist es nicht genug, daß wir mit Ihm in
einem so gesegneten Verhältnis sind. Durch Ihn treten wir
auch in ein neues Verhältnis zum Vater. Seine erste Botschaft
die Er nach Seiner Auferstehung an Seine Jünger richten ließ,
war: „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und
zu meinem Gott und eurem Gott." Er hatte den Weg zum
Vaterherzen Gottes geöffnet, und schon in unserem Kapitel
ermuntert Er die Jünger, in Seinem Namen zum Vater zu
beten. Bis dahin hatten sie noch nicht im Namen Jesu gebetet. Der Herr hatte sie gelehrt, wie sie beten sollten. Jetzt
gab er ihnen eine neue Unterweisung bezüglich des Gebets.
Er hatte vom Heiligen Geist gesprochen, Der sie in die ganze
Wahrheit leiten würde, und jetzt gab Er ihnen das Recht, in
Seinem Namen, d. h. in Seinem Auftrage sich mit ihren Bitten an den Vater zu wenden.
Es ist bemerkenswert, daß der Herr hier hinzufügt: „Ich sage
euch nicht, daß i c h den Vater für euch bitten werde." Ohne
Zweifel wollte Er die Jünger hindern, von Ihm eine Fürbitte
beim Vater zu wünschen, denn das hätte ihre Herzen mehr
oder weniger in eine gewisse Entfernung von Gott gebracht.
Wohl bittet der Herr Jesus stets für uns, aber wir haben
freien Zugang zum Vaterherzen Gottes, und es ist der Wille
des Herrn, daß wir diesen Weg freimütig in Seinem Namen
betreten, wobei Er uns Mut macht durch die Worte: „Denn
der Vater selbst hat euch lieb".
Welche stille, glückliche Freude liegt darin, dem Vater nahen
zu können, während wir eine böse Welt durchschreiten, und
zwar in dem Bewußtsein, daß Er uns lieb hat! Welch eine
Freude, Ihm alles sagen zu können, und zwar im Namen
Jesu, gleichsam in Seinem Auftrag, nach Seinem Wunsch.
Der Herr wollte, daß die Jünger das Vaterherz selbst kennenlernen sollten; Er zog Sich deshalb sozusagen in den Hintergrund zurück, um ihnen — freilich durch Sich Selbst —
den Weg zum Vater zu Öffnen. Welch eine Fürsorge! Möchten
doch unsere Herzen stets mit Freude erfüllt sein, und mit
Vertrauen zu Jesus und dem Vaterherzen Gottes!
240
Petrus auf dem Meere
Wie treffend ist diese Geschichte in Mt 14, 24-32! Jesus war
allein auf dem Berge, um zu beten, und die Jünger waren
auf dem See und litten Not von den Wellen. In der Mitte
der Nacht kam der Herr, auf dem See wandelnd, um Seinen
notleidenden Jüngern zu. helfen und den Sturm zum Schweigen zu bringen. Obwohl sie dem Wind und den Meereswellen preisgegeben waren, brachte doch das Gebet und die
Hilfe Jesu sie in völlige Sicherheit. So befindet der Herr Sich
jetzt im Himmel, während wir auf den Wogen des Weltenmeeres oft in Gefahr sind, zu sinken; doch Er betet für uns
und kommt uns in unserer Not zu Hilfe. Die Stürme schweigen und wir landen schließlich in einem sicheren Hafen.
Sehr treffend ist auch das was wir von Petrus lesen. „Petrus
aber . . . sprach: Herr, wenn du es bist, so befiehl mir, zu
dir zu kommen auf den Wassern. Er aber sprach: Komm!
Und Petrus stieg aus dem Schiffe und wandelte auf den Wassern, um zu Jesu zu kommen." Petrus vertraute völlig auf
die Macht Jesu. Sobald der Herr sagte: „Komm!" kam er
sofort. Keine Welle, kein Sturm hinderte ihn. Der Herr hatte
gesprochen, und voll Vertrauen auf Sein Wort setzte er
trotz aller Gefahren den Fuß auf das Wasser und wandelte
wie Jesus auf dem See. Und wahrlich, er handelte recht. Wenn
Jesus sagt: „Komm!" dann gibt es keine Gefahr. Dann können wir Ihm vertrauen und Mut fassen, mag die Sache auch
noch so schwierig und gefährlich scheinen. Wenn Er uns irgendeinen Auftrag gibt, dann können wir völlig sicher sein,
daß Er uns nicht verlassen wird. Sind wir völlig davon überzeugt, daß der Herr uns befohlen hat, diesen oder jenen
Weg zu gehen, dann können wir mutig vorwärts schreiten,
ohne auf Menschen oder Umstände zu sehen. Wie groß die
Gefahren auch sein mögen, Jesus steht über allem. Ein Wort
von Ihm, und wir wandeln auf dem See, — ein Wort von
Ihm, und der Wind legt sich.
Voll Mut und Vertrauen setzt Petrus den Fuß auf das Wasser und wandelt auf dem Meer. Aber ach, es dauerte nicht
lange. Noch war er nicht bei Jesus, da richtete er schon sei241
nen Blick auf den Wind und die Wellen. Er fühlte sich beängstigt und begann zu sinken mit dem Ausruf: „Herr, rette
mich!" Es genügt nicht, auf das Wort des Herrn voll Mut
und Vertrauen den Weg zu betreten, sondern es ist auch
Glaube nötig für jeden Schritt. Wir haben nur Kraft, solange
wir uns am Herrn festhalten. Ein Blick auf die Umstände,
und die Schwierigkeiten erheben sich bergehoch vor unseren
Augen. In dem einen Augenblick können wir noch vollständig sicher sein und im anderen nahezu untergehen. „Außer
mir könnt ihr nichts tun." Dies Wort des Herrn muß immer
unsere Lebensregel sein, wenn wir ohne die Gefahr, unterzugehen, auf den Wogen dieser Welt vorwärtsgehen wollen.
Doch wie gut ist es, daß der Herr stets nahe ist, selbst wenn
wir unterzugehen drohen. Petrus rief: „Herr, rette mich!"
und der Herr Jesus streckte alsbal d Seine Hand aus, um
ihn zu retten. Wohl straft Er ihn, indem Er sagt: „Kleingläubiger, warum zweifelst du?" aber dennoch war Seine
rettende Hand ausgestreckt. Welch ein Trost für uns! Wenn
wir uns haben überwinden oder einschüchtern lassen, weil
wir auf die Umstände geblickt haben, wenn Satan Macht
über uns erlangt hat, und wir rufen: „Herr, rette mich!"
dann streckt der Herr uns alsbal d Seine Hand entgegen
und zieht uns empor. Welch ein Glück, solch einen Heiland
zu haben und sich Ihm so völlig anvertrauen zu können!
242
Inhaltsverzeichnis des Jahrgangs 1871 | Seite |
Gedanken über 1.Samuel 30 | 5 |
Die Entmutigung des Propheten Elia | 9 |
Der Antichrist | 16 |
Der Anbeter und der Arbeiter | 22 |
Trost in der Wüste, Gedicht | 26 |
Die beiden Ehemänner in Römer 7 | 27 |
Die erste und die zweite Ankunft Christi | 46 |
0 Braut des Lammes schaue auf, Gedicht | 50 |
Wie der Himmlische ist, so sind auch die Himmlischen | 51 |
Allein auf .den unruhigen Gewässern | 63 |
Die Reise durch die Wüste | 60 |
Die Wiederherstellung | 78 |
Drei große Wahrheiten | 86 |
Wir 'sehen jesurn | 91 |
Das Leben des Christen | 96 |
Die Errettung 'des Hauptmanns 'Cornelius | 110 |
Das Lager in der Wüste | 119 |
Das Lager und die Wolke | 130 |
Christus im Schiff | 135 |
Der Sohn Gottes | 142 |
Im Schiff und auf dem See | 232 |
Die 'Glaubensprobe | 233 |
Der Grund der Errettung | 234 |
In bewundernswürdiger Weise wird uns in der Schrift die Liebe Gottes in den Äußerungen Seiner Sorgfalt gegenüber Seinen auf Irrwege geratenen Kindern dargestellt. Die Geschichte
Israels, von der Berufung Abrahams an bis hin zu Christus, liefert uns hiervon zahlreiche Beispiele. Es scheint mir sehr köstlich und wichtig, in dem Zustand des Verfalls und angesichts unserer eigenen Fehltritte das Licht für den Wandel des Glaubens zu erlangen.
In den Tagen der durch Samuel dargestellten Regierung Gottes verlangte das Volk Israel einen König. Das war eine Verwerfung Gottes (1. Sam 8, 7). Das Volk wollte durch Schauen und
nicht durch Glauben wandeln und wurde auch dadurch, daß Saul zur Königswürde erhoben wurde, deshalb gezüchtigt. Aber trotzdem verfolgt Gott die Absichten Seiner Liebe gegen
Sein Volk, das sich immer undankbarer und widerspenstiger zeigt. Er bereitet ihnen in David, dem Sohne Isais, einen König nach Seinem Herzen. Über eine Begebenheit aus dem Leben
dieses Königs möchte ich nun gern einige Gedanken darstellen, um den Wandel des Glaubens auf dem Pfade des Christen zu beleuchten.
David war vor Saul, der ihm nach dem Leben trachtete, geflohen. Durch diese Handlung bewies er seine Schwachheit, aber sie diente auch zu seiner Rettung. In der Lage, in der er sich damals befand, konnte und sollte er nicht anders handeln.
Auch zeigt uns sein Verkehr mit Jonathan, wie sehr seine Flucht gerechtfertigt war. Wenn er jedoch den Ratschluß Gottes erforscht hätte, dann wäre er sicher sofort in die Wüste und
nicht zu Achis, dem König von Gath, geführt worden. In einem Zustand des Verfalls, wie er damals in Israel und jetzt in der Kirche herrscht, in einem Zustand der Schwachheit und der
Furcht angesichts unserer Feinde entgeht man Fehltritten dieser Art nicht leicht; aber dies sind noch nicht die größten Fehler derjenigen Gläubigen, die in 1. Kor 3, 1. 2 als „fleischlich" bezeichnet werden.
Wir sehen in unserem Kapitel die Folgen eines Falles, der bedeutender ist, als der vorhergehende, durch den David und seine Leute in eine so schwierige Lage gebracht worden waren. Gott hatte David vor Saul, seinem Feinde, der ihm in der Wüste nachjagte, wunderbar bewahrt und beschirmt. David erfuhr in dieser Stellung die Macht Gottes in Seiner steten
Sorge, ihn zu bewahren und ihn aus der Hand seines Feindes zu befreien. David verherrlichte Gott während seines Wandels durch die Wüste durch sein Vertrauen und unterwarf sich auch
der Prüfung, die im Blick auf seine Erhöhung auf den für ihn bestimmten Thron am wichtigsten und nützlichsten für ihn war.*) Aber er vermochte nicht bis ans Ende zu gehen; er ermüdete in der Wüste, gab seinem trügerischen Herzen Gehörund vergaß zu gleicher Zeit, den Rat Jehovas zu erfragen. Er machte Rückschritte in seinem Lauf und ging zu Achis, dem König von Gath (Kap. 27, 1. 2), und durch diesen Fall, der einen anderen zur Folge hatte, bereitete er sich viele Prüfungen, die als Züchtigung dienen mußten, um ihn wieder auf den Weg des Gehorsams zurückzuführen, d. h. auf den Weg, wo man den Rat des himmlischen Vaters erforscht, bevor man handelt. Und merken wir es uns, daß von Jesus nie gesagt wird, daß Er nach dem Rate Seines Herzens gehandelt habe; und doch war Er der Heilige! Aber Gott war mit David in seinem Fall und in seinen Schwachheiten, um ihn zu unterweisen, zu bewahren und zu befreien; und es ist gesegnet für uns, in dieser Hinsicht den Wegen Gottes mit Seinen Kindern folgen zu können.
Die Befreiung Israels durch die gerichtliche Beseitigung des von Gott verworfenen Saul stand nahe bevor, und somit war auch die Prüfung Davids ihrem Ende nahe. Hätte sein Aus-
") Es scheint mir, daß die Fehltritte Davids vor seiner Thronbesteigung ihre
Quelle in dem Mangel an Ausharren hatten, wodurch er veranlaßt wurde, einem Teil der Prüfung und somit auch der Erfahrung auszuweichen, die Gott für ihn in der Wüste bereitet hatte. Ähnlich verhält es sich mit einem Christen, der sich der Prüfung entzieht und auf dem Wege ermattet, weil ihm das Ausharren fehlt. Ein solcher Christ kann nicht glücklich sein und mit Paulus sagen: „Ich weiß sowohl erniedrigt zu sein, als ich weiß, Überfluß zu haben; in jedem und in allem bin ich unterwiesen, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Uberfluß zu haben als Mangel zu leiden. Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt" (Phil 4, 12. 13). Auch für uns haben diese Dinge Folgen, die mit der Regierung unseres Herrn Jesus Christus in Verbindung stehen. In den Dingen, wo unsere Verantwortung in Betracht kommt, fehlen wir oft; aber nie fehlt Gott in dem, was Er nach Seinem ewigen Ratschluß in Seinen Kindern erfüllen wird.
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harren ein wenig weiter gereicht, dann wäre er vielem Elend
entgangen und hätte sich viele Kümmernisse erspart. Wir fallen oft in der Prüfung, wenn diese sich bereits ihrem Ende zuneigt. Wie beschämend ist das für uns, und wieviel Kummer
bereiten wir uns dadurch! David vergaß seine Pflichten soweit,
daß er dem König von Gath seine Dienste anbot, um gegen
Israel zu streiten, dessen wahrer König nach der Wahl Gottes
er selbst war, — er, der seine Hand nicht an den Gesalbten
Jehovas legen wollte, als Gott in der Wüste seinen Feind Saul
in seine Hand gab. Ach, wie schnell weicht das Licht, wenn
man den Pfad des Glaubensgehorsams verläßt! Vor einem so
schrecklichen Fall bewahrte Gott David durch den Widerstand,
den die Fürsten der Philister seinem Vorhaben entgegensetzten.
Beachten wir hier die große Güte Gottes in der Sorge um Seine
Kinder; Er schreitet ein, damit sie ihre Pläne nicht ausführen
können, wenn Er urteilt, daß diese oder jene Lage, die ihre
Torheit gewählt hat, keine Gelegenheit zur Unterweisung oder
zur Offenbarung Seiner Macht und Liebe bietet. Gott, Der in
Seiner Weisheit alle Dinge bemessen kann, versperrt unseren
Weg ganz und gar, wenn auf ihm nichts Gutes und Nützliches
für uns zu lernen ist. Dies kann Er tun, und Er tut es für Seine
Kinder; hierin offenbart sich wieder Seine große und unveränderliche Liebe.
Als David nach Ziklag zurückkehrte, war alles durch die Feinde
verbrannt und geplündert. Das waren die Folgen seines Abweichens von dem Wege Gottes. Ein Fall folgt dem anderen,
und wenn ein solcher bei jemandem vorkommt, der an der
Spitze steht, dann wird seine ganze Umgebung dadurch bloßgestellt. David befand sich in Gefahr, gesteinigt zu werden. Er
hatte gefürchtet, in die Hände Sauls zu fallen, der fern von ihm
war, und hatte deshalb die Wüste verlassen; und jetzt wäre
er von denen, die ihm in seiner Verwerfung gefolgt waren, in
Stücke gerissen worden, wenn ihm Gott nicht Schutz und
Sicherheit gewährt hätte. Welch eine Lehre liegt darin für uns!
David kann jetzt nicht mehr den Eingebungen seines eigenen
Herzens folgen, sondern ist gezwungen, sich in dieser äußersten Not in Jehova zu stärken. Es gibt für ihn kein anderes
Rettungsmittel, und das ist für ihn und für uns alle ein großes
Glück, — seine Rettung ist in Gott. Jehova, Der über ihn und
7
Sein Volk wachte, hatte es erlaubt, daß er in diese verzweifelte
Lage kam, um ihn von neuem auf den Pfad des Gehorsams zu
bringen. David bittet Abjathar, den Priester, ihm das Ephod
zu bringen. Er fragt Jehova, was er tun soll, und jetzt wird er
von Gottt und nicht durch sein eigenes Herz belehrt und geleitet. Ein armer sterbender Knabe wurde zum Werkzeug, die
Feinde ausfindig zu machen, die Gott in Davids Hände gegeben hatte. Dies soll uns lehren, auf alles, was Gott auf unseren
Weg stellt, aufmerksam zu sein. Alles ist zu unserem Nutzen,
wenn Gott mit uns ist und Er zum Gelingen unserer Rettung
alles vorbereitet hat. Die Dinge, die dem Anschein nach die
schwächsten sind, können die notwendigsten werden. Laßt uns
Sorge tragen, keines von ihnen gering zu achten! Es ist für uns
eine wichtige Belehrung, daß hier ein armer, von seinem Herrn
verlassener Knabe David an die Stätte führt, wo seine Feinde
sich befanden. Das Erbarmen, das seine Leute diesem armen
Knaben erweisen, ist eine Frucht der Demütigung, zu der Gott
sie gebracht hatte, — sie, die einst denen, die sie plünderten,
kein Mitleid und keine Barmherzigkeit erwiesen hatten (Kap 27).
Wie unser Kapitel zeigt, bleibt ein Teil der Kriegsleute vor
Müdigkeit zurück. Auch hierin liegt eine Belehrung, die verdient, von uns beachtet zu werden. Diejenigen, die die Beute
nicht mit den Zurückgebliebenen teilen wollten und als böse
und lose Leute bezeichnet werden, stellen, wie mir scheint, den
Grundsatz der Gesetzlichkeit des Fleisches vor unsere Augen.
Wenn dieser Grundsatz tätig ist, dann sehen wir nichts als
Selbstsucht und somit einen vollständigen Widerspruch zum
Grundsatz der Gnade. Wenn wir eine solche Gesinnung offenbaren, dann fehlt uns jedes wahre Licht. David offenbart hier
die Gesinnung Christi. Durch die Gnade — und nicht durch
äußere Macht — bahnt er den Weg zur Freude und Segnung,
die allein für Gott und Sein Volk geziemend ist, nämlich zu
jenem gemeinsamen Segen, der der Gnade entspricht. Wenn
einige stärker waren und länger die Last und Hitze des Tages
ertragen konnten, wem hatten sie es zu verdanken? So sollen
nun diejenigen, denen Gott diese Gnade verliehen hat, sich
vielmehr freuen, ein Werkzeug zu sein, wodurch auch andere
einen Anteil an der Freude der Streiter erlangen, wenn auch
einige bei dieser oder jener Gelegenheit müde geworden sind,
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was übrigens bei jedem von uns der Fall sein kann. Und wie
groß ist die Gnade gegen diejenigen, die sich bewährt haben
und zu denen der Herr sagen kann: „Wohl, du guter und
treuer Knecht! Gehe ein in die Freude deines Herrn." Dieser
Anteil an der Freude Jesu, daß wir anderen zum Besitz dieser
unvergänglichen Schätze mitgeholfen haben, wird auch das
reiche Teil der treuen Diener sein. Wie groß aber wird die
Freude sein, die alle gemeinsam genießen und die in allen
strahlen wird, die an diesem Reichtum der Gnade unseres Gottes
und Vaters und unseres Herrn Jesus Christus, Dem wir dies
alles verdanken, teilhaben — es seien die Streiter, die die Feinde
geschlagen haben, oder diejenigen, die bei dem Gerät geblieben
sind — alle die erlösten Glieder, diese ganze glückliche Familie
insgesamt!
Am Schluß unserer Begebenheit sehen wir noch, daß David
Geschenke an die Orte sendet, wo er mit den Seinigen gewirkt
hatte. So werden auch die, die beim Eintritt Jesu in Sein Reich
Seine Herrlichkeit teilen, Seine Boten zur Mitteilung Seiner
Segnungen an diejenigen sein, die Er nach Seinem Wohlgefallen segnen und an Seinem Glück teilnehmen lassen will.
Wenn wir die Dinge betrachten, die zu unserer Belehrung geschrieben sind, so werden wir immer mehr Schätze für den
Wandel des Glaubens finden, die in unserem Zustand der
Schwachheit und des Verfalls zu unserem Nutzen sind. Wir
werden auch immer mehr erfahren, daß der Herr unsere Kraft,
unsere Errettung, unsere Freude und unser Loblied für die
Ewigkeit ist!
Die Entmutigung des Propheten Elia
Wie schwer fällt es dem menschlichen Herzen, sich auf der
Höhe der Gedanken Gottes und besonders auf der Höhe der
Gedanken Seiner Gnade zu halten!
Elia hatte die gottlose Königin Isebel gegen sich und fühlte sich
allein und verlassen. — Wenn große Begebenheiten vorüber
sind und wir ihre Geschichte lesen, so sehen wir, daß das Unsichtbare vom Sichtbaren verdeckt wird, so daß es zwar leicht
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ist, sogar in bezug auf Gott ein Urteil zu fällen, nicht aber den
Weg selbst zu machen. Scheint es doch zuweilen, als ob Gott
die Welt gehen lasse und kein Ausweg da sei, während bei
Gott doch alle Dinge möglich sind.
Es ist bereits erwähnt worden, daß es schwer ist, auf dem
Weg des Glaubens auszuharren, denn je weiter man auf diesem
Wege fortschreitet, desto schwieriger wird er. Wenn auch wir
selbst nicht vor gewissen Hindernissen zurückweichen, so begegnen wir vielleicht dem Glaubensmangel anderer, so daß wir
oft gezwungen sind, unseren Weg allein gehen zu müssen. So
sehen wir, wie Jonathan nicht mit Fleisch und Blut zu Rate geht
und auf dem Wege des Glaubens weit genug vorangeht, um
nicht durch den Unglauben und durch den Schwur, den Saul
dem Volke in fleischlicher Gesinnung auferlegte, behindert zu
werden.
Auf dem Wege des Glaubens begegnet man fortwährend Schwierigkeiten. Paulus mußte sagen: „Alle haben mich verlassen/' — Sicher hatten diejenigen, von denen der Apostel dieses sagt, den Herrn nicht gänzlich verlassen, aber sie konnten sich nicht auf der gleichen Höhe halten, auf der Paulus sich befand. Dazu benötigten sie das Maß seines Glaubens, und das fehlte ihnen.
Selbst Mose und Elia, diese bedeutendsten Männer des Alten
Testaments, die sich auch mit Jesus auf dem Berge der Verklärung befanden, auch sie haben gefehlt. Denken wir dabei
daran, daß Mose von Gott Selbst begraben war und Elias in
den Himmel entrückt worden war.
Wenn der Mensch erprobt wurde, hat er sich nie bis zur Höhe
der Gnade erheben können — jener Gnade, die die Probe besteht und Erbarmen übt. Wenn der Glaube fehlt und man die
Höhe der Gnade nicht erreicht, dann erbittert man sich gegen
diejenigen, die die Ursache unserer Schwierigkeiten sind. Mose
sagte zum Volke: „Ihr Widerspenstigen" (4. Mo 20, 10)! Gott
aber wollte ihr Murren stillen, indem Er Gnade erwies. Es
nützt uns nicht, daß Gott uns segnet, wenn unser Herz nicht
in Seiner Nähe ist. — Mose sprach nur ein Wort, und die Erde
spaltete sich; aber bald darauf, als es an Wasser mangelte,
fehlte ihm der Glaube.
10
Wenden wir uns jetzt zu unserem Kapitel. In Vers 2 lesen
wir: „Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen:
So sollen mir die Götter tun und so hinzufügen, wenn ich nicht
morgen um diese Zeit dein Leben dem Leben eines von ihnen
gleich mache!" — Dies geschah, nachdem Gott ihm auf so
wunderbare Weise geantwortet hatte, als Elia die Propheten
Baals versammelt, einen Altar gebaut, Wasser darum gegossen hatte, und Gott Feuer sandte, um alles zu verzehren. Das
war ein glänzender Sieg des Glaubens gewesen, und Gott hatte
gezeigt, daß Elia wirklich Sein Prophet war. Elia hatte gebetet:
„Jehova, antworte mir, damit dieses Volk wisse, daß du, Jehova, Gott bist. . . . Da fiel Feuer Jehovas herab und verzehrte
das Brandopfer und das Holz und die Steine und die Erde; und
das Wasser, das im Graben war, leckte es auf" (l.Kö 18,37.38).
Nach einer solchen Dazwischenkunft Gottes könnte man annehmen, daß Elia nun völlig gestärkt sei. Aber es ist nicht so.
Isebel wurde zornig, sandte Boten zu Elia und drohte ihn zu
töten. Wir werden immer die Erfahrung machen, daß nach
einem Sieg über Satan seine Wut entbrennt und wir uns anderen Feinden gegenüber sehen. Wenn das Auge jetzt auf Gott
gerichtet ist, und nicht auf den soeben errungenen Sieg, dann
erlangt man jetzt einen neuen Sieg. Man darf sich nie auf einen
eben errungenen Sieg stützen, denn dann büßt man einen anderen ein, weil man sich selbst erhoben hat und nicht in der
Gegenwart Gottes geblieben ist. Dies war bei Elia der Fall. Er
sagt: „Ich bin nicht besser als meine Väter". Er verläßt die
Stellung, die ihm Gott und der von Gott geschenkte Glaube
gebracht hatte; und nach dem Sieg wünscht er sich den Tod.
Es ist sehr gesegnet für uns, wenn wir lernen, daß wir ohne
Gott nichts tun können. Man muß im Gefühl der eigenen
Schwachheit mit Demut umhüllt sein, denn sonst wird man
vom Feind geschlagen. Bevor Josua den Gibeonitern zu Hilfe
zog, befand er sich in Gilgal, der Stätte des Gerichts über das
Fleisch; und er kämpfte siegreich. Danach kehrte er nach Gilgal
zurück und konnte neue Siege davontragen.
Wenn die Umstände günstig sind, kann ich sogar, ohne mich
auf Gott zu stützen, ruhig sein; sind aber die Umstände stärker
als ich, dann werde ich zornig und verbittert. Ist Gott mit mir,
dann bin ich unter allen Umständen ruhig, weil Gott handelt;
11
es ist Glaube da. Im andern Fall aber wird man verbittert gegen
diejenigen, die uns Böses tun. Mose zürnte über das Volk
Gottes. In seinem Urteil über Israel hatte er redit, denn es war
ein böses Volk; aber Mose konnte sich nicht bis zur Höhe der
Gnade Gottes erheben. — Als der Herr Jesus vom Berge herabstieg und den Unglauben Seiner Jünger sah, sprach Er: „Bis
wann soll ich bei euch sein? bis wann soll ich euch ertragen?"
Aber Er fügt hinzu: „Bringet mir ihn her" (Mt 17, 17). Triftl
Er eine Obereinkunft mit der Sünde? Gewiß nicht; aber die
Gnade kennt keine Schranken. — Und wie verhielt es sich mit
den Siebentausend zur Zeit des Elia? Dienten sie wirklich
Gott? Keineswegs. Aber die Liebe Gottes war stark genug,
und Seine Gnade mächtig genug, um sich über alles zu erheben. Wenn man einen Glauben hat, der alles überwinden
kann, dann sieht und erkennt man viele Seelen: siebentausend
waren es, von denen Elia nichts wußte. Wenn wir an unsere
eigene Treue denken, dann sind wir von uns selbst erfüllt. Es
ist eine traurige Erscheinung, wenn es so oft heißt: „Ich habe
dieses, ich habe jenes getan!" Je mehr man sich diesem Geiste
überläßt, desto mehr wünscht man sich den Tod; aber nur,
um dem Kampf des Glaubens auszuweichen. Wenn man nicht
den Tod wünscht, um beim Herrn zu sein, dann hat dieser
Wunsch seinen Grund in der Trägheit. Paulus sagte jedoch:
„Sei es, daß wir leben, wir leben dem Herrn; sei es daß wir
sterben, wir sterben dem Herrn" (Rö 14, 8). Möge der Herr
uns fähig machen, Seine Wahrheit zu verstehen!
Elia sagte: „Ich bin nicht besser als meine Väter" (V. 4). Er
hatte das Bewußtsein seiner Stellung verloren, in der Gott ihn
segnen konnte. Welch eine Gnade erweist uns Gott, wenn Er
uns in eine Lage bringt, in der Er uns gebrauchen kann! Und
welch ein Verlust für uns, wenn wir sie verlassen! Ein Beispiel
hierfür haben wir in der Geschichte des Barnabas, der sich von
Paulus trennte, um nach Zypern zu gehen, und auch den Markus dorthin mitnahm (Apg 15, 39). Er hatte in Zypern Besitzungen gehabt (Apg 4, 36. 37), und Markus war sein Neffe
(Kol 4, 10). Barnabas hatte gefehlt, und wir hören nichts weiter
von ihm. Er blieb in seinen Verbindungen nach dem Fleische,
und der Segen seiner Berufung als eines Arbeiters im Werke
des Herrn ging für ihn verloren. Ohne Zweifel war er errettet,
12
aber wenn man es in der Offenbarung der Stellung, in der Gott
uns haben will, an der Treue fehlen läßt, ist man für sich und
andere nur eine Last.
„Und er legte sich nieder und schlief ein unter dem Ginsterstrauch. Und siehe da, ein Engel rührte ihn an und sprach zu
ihm: Stehe auf, iß! Und als er hinblickte, siehe, da lag zu
seinen Häupten ein Kuchen, auf heißen Steinen gebacken, und
ein Krug Wasser. Und er aß und trank und legte sich wieder
hin" (1. Kö 19, 5. 6). — Wir sehen hier nicht mehr die übernatürliche Kraft, kraft derer Mose vierzig Tage lang bei Gott
weilte, ohne zu essen. — Gott stärkte Seinen Diener Elia; Seine
Güte beseitigt die Schwierigkeiten, und die rührende Weise, in
der Gott dies tut, hätte in Elia ein Gefühl für diese Güte erwecken sollen. Aber dies war nicht der Fall: „Und er stand auf
und aß und trank, und er ging in der Kraft dieser Speise vierzig
Tage und vierzig Nächte bis an den Berg Gottes, den Horeb"
(V. 8).
Es ist wichtig zu bemerken, daß verhältnismäßig selten von
den Königen in Juda erwähnt wird, daß sie richtig wandelten.
Doch hatte Gott dem Hause Davids eine Leuchte bewahrt. Aber
in Israel finden wir die Geschichte des Abfalls; und Elia, der
sich inmitten all des Bösen befindet, ist ein Zeugnis von Seiten
Gottes. In Jerusalem war alles in Ordnung. Dort waren der
Tempel, die Bundeslade, die Priester, usw. Aber Wunder wurden dort nicht verrichtet. In Israel stand es anders; dort war
ein Zeugnis, das nur von Gott abhing und das Er durch Wunder bestätigte.
Elia sprach: „Die Kinder Israel haben . . . deine Altäre niedergerissen und deine Propheten mit dem Schwerte getötet; und
ich allein bin übriggeblieben, und sie trachten danach, mir das
Leben zu nehmen" (V. 10). Wenn der Herr Jesus sagt: „O ungläubiges und verkehrtes Geschlecht! .. . bis wann soll ich euch
ertragen?" (Mt 17, 17), so war es der Unglaube der Jünger, der
dem Zeugnis entgegenstand, und nicht das Böse, das sie umgab. Wegen des Bösen war der Herr in die Welt gekommen.
Wenn dagegen Elia sagt: „Sie haben deine Altäre zerstört",
so verrät dies nur die Schwäche seines Glaubens. Wenn aber
dasjenige fehlt, wodurch das Zeugnis aufrechterhalten wird,
dann ist in dieser Beziehung alles zu Ende. Elia wurde zum
13
Horeb geführt, und Jehova sprach zu ihm wie zu Adam: „Was
tust du hier?" — Wenn wir bei Gott sind, ist es nicht nötig,
daß Er diese Frage an uns stellt und uns zuruft: „Was tust du
hier? Offenbare dein Herz!" — Wenn es sich darum handelt,
das Herz des Menschen und nicht das Herz Gottes zu offenbaren, dann zeigt sich, daß das Böse, der Unglaube darin vorhanden ist. „Ich allein bin übriggeblieben!" (V. 10) Dieses
unglückselige „Ich"! Elia denkt an sich selbst, und das ist nicht
mehr das Zeugnis Gottes. In Rö 11, 2 sehen wir die Tragweite
dieser traurigen Worte. Welch ein Unterschied zeigt sich hier
zwischen Elia und dem Herzen des Apostels Paulus. Jener tritt
vor Gott auf wider Israel, dieser tritt vor Gott für Israel. Wenn
das Herz sich gegen den Unglauben empört, wenn es sich so
sehr erbittert, daß es seine Unzufriedenheit vor Gott äußert,
so ist das nicht mehr der Glaube. Wohl kann man dem Volk
seinen Unglauben und die in Gott vorhandenen Hilfsmittel
vor Augen stellen, nicht aber die Sünde des Volkes in einer
Weise vor Gott bringen, wie es Elia in Vers 10 tut. Aber Gott
spricht zu ihm: „Gehe hinaus und stelle dich auf den Berg vor
Jehova! Und siehe, Jehova ging vorüber, und ein Wind, groß
und stark, zerriß die Berge und zerschmetterte die Felsen vor
Jehova her; Jehova war nicht in dem Winde" (V. in). Dies
waren Zeugnisse Gottes, aber Gott war nicht darin. Es hätte
Elia gefallen, wenn die Macht Gottes sich im Gericht geoffenbart hätte. Er ist durch Seine Langmut nicht befriedigt, und
das finden wir im Fleische der hervorragendsten Kinder Gottes.
Gott kann die Torheit zunichtemachen. Er kann dem Felsen
gebieten, zu bersten. Aber in all diesem befindet Er Sich nicht.
Er kann durch solche Mittel den Leichtsinn des Menschen beseitigen, aber das sanfte, stille Säuseln offenbart Ihn, Der
nicht nötig hat, Sich solcher Mittel zu bedienen. „Was tust du
hier?" — Elia weiß keine andere Antwort zu geben, als die wir
bereits aus seinem Munde vernommen haben (V. 14). Es ist
wirklich traurig, wenn alles, was man Gott zu sagen hat,
sich auf das eigene Ich bezieht, selbst dann, wenn man treu
gewesen ist. Jehova gebot ihm, seinen Rückweg anzutreten
und Elisa an seiner Stelle zum Propheten zu salben. Mit dem
Zeugnis des Elia war es also zu Ende. Elisa sowie Hasael und
Jehu, die beiden Könige von Syrien und Israel, sollten fortan
14
Sein Werk ausführen. Gott konnte ein in gewisser Hinsicht
mächtigeres Zeugnis einführen. Dazu braucht Er den Elia nicht
mehr. Dieser war zum Horeb gekommen, aber nicht in dem
Gefühl, daß Gott ihm nahe sei, um ihn zu stärken. Jehova
sprach zu ihm: „Ich habe siebentausend in Israel übriggelassen,
alle die Kniee, die sich nicht vor dem Baal gebeugt haben"
(V. 18). Gott und nicht ein Mensch bestimmte die Zeit der Ausführung Seiner Gerichte. Wenn einem das Bewußtsein der
wirksamen Gnade Gottes fehlt, glaubt man sich allein, und
Gott spricht: „Wenn du niemanden gefunden hast als dich
und dein armes Herz, so habe Ich siebentausend gefunden."
Dies war niederdrückend und beschämend für Elia, denn mit
seinem Zeugnis war es für immer zu Ende, obwohl vielleicht
mit Ausnahme Moses niemand sich als Diener so ausgezeichnet
hat wie Elia. Er war wirklich ein Mann des Glaubens; sein
leuchtendes Leben zeugt hiervon.
So oft wir sagen: „Ich kann nicht mehr!" sind wir unglücklich.
Dahin kommt es, wenn wir Gott nicht vor Augen haben. Gibt
es irgend etwas, das Gott nicht tun könnte? Gewiß nicht. — Als
die Jünger den Dämon nicht austreiben konnten, sagte Jesus:
„Bringe deinen Sohn her!" — Als das Volk Israel in der Wüste
murrte und Mose den Felsen schlug, anstatt gemäß dem Auftrage Gottes zu ihm zu reden, gab Gott dennoch Wasser. —
Als Elia sich allein sah, kannte Gott noch siebentausend, die
ihre Kniee nicht vor dem Baal gebeugt hatten. — Wir benötigen
nichts anderes als das einfältige Bewußtsein der Worte, die
Gott an Paulus richtete: „Meine Gnade genügt dir!" — Nicht
das Bewußtsein eines errungenen Sieges bewahrt uns, sondern
dasjenige unserer Schwachheit. „Wenn ich schwach bin, dann
bin ich stark." — Wenn wir an uns und unsere Siege denken,
dann liegen wir schon am Boden. Satan kann uns immer zu
Fall bringen, wenn wir nicht in vollständiger Abhängigkeit von
Gott und Seiner Macht sind. Diese Macht bewahrt uns vor
allen Verstandesüberlegungen. Mag die Not groß oder klein
sein, für Gott spielt das keine Rolle. In Schwierigkeiten und
Versuchungen ist es das Wichtigste für uns, daß wir Gott
schauen. Mose sah den Unsichtbaren (Hebr 11, 27). Was
kümmert mich der Unglaube anderer, wenn ich sehe, daß Gott
15
mir zur Seite steht? Ich weiß um die Torheit derer, die Ihn
nicht kennen, aber die Gnade ist da, die sie tragt.
Wunderbare Langmut Dessen, mit Dem wir es zu tun haben!
Wenn wir im Gefühl unserer eigenen Schwachheit, aber im
Vertrauen auf Seine Kraft unseren Weg fortsetzen, dann werden wir, mit Gnade erfüllt, für das Zeugnis Seiner Liebe, Seiner
Gnade und Seiner Güte bewahrt bleiben.
(Aus dem Französischen)
Der Antichrist
Es ist zwar nicht sehr erbaulich, sich mit der Gesinnung und
den bösen Werken des Antichristen zu beschäftigen, aber es
ist das Wort Gottes, das uns Mitteilungen über ihn macht. Ich
hoffe daher, daß es keineswegs ohne Nutzen für uns sein
wird, wenn wir die Stellen der Schrift, in denen besonders von
diesem „Menschen der Sünde" die Rede ist, etwas näher betrachten.
„Und er wird Worte reden gegen den Höchsten und die Heiligen der höchsten örter vernichten; und er wird darauf sinnen,
Zeiten und Gesetz zu ändern" (Dan 7, 25). — „Und Streitkräfte von ihm werden dastehen; und sie werden das Heiligtum, die Feste, entweihen, und werden das beständige Opfer
abschaffen und den verwüstenden Greuel aufstellen. Und diejenigen, welche gottlos handeln gegen den Bund, wird er durch
Schmeicheleien zum Abfall verleiten . . . Und der König wird
nach seinem Gutdünken handeln, und er wird sich erheben und
groß machen über jeden Gott, und wider den Gott der Götter
wird er Erstaunliches reden . . . Und auf den Gott seiner Väter
wird er nicht achten, und weder auf die Sehnsucht der Weiber
noch auf irgendeinen Gott wird er achten; sondern er wird
sich über alles erheben. . . . Den Gott, den seine Väter nicht
gekannt haben, wird er ehren mit Gold und mit Silber und
mit Edelsteinen und mit Kleinodien" (Dan 11, 31. 32. 36. 37).
— „Laßt euch von niemandem auf irgendeine Weise verführen,
denn dieser Tag kommt nicht, es sei denn, daß zuerst der Abfall komme und geoffenbart worden sei der Mensch der Sünde,
16
der Sohn des Verderbens, welcher widersteht und sich selbst
erhöht über alles, was Gott heißt, oder ein Gegenstand der
Verehrung ist, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und
sich selbst darstellt, daß er Gott sei . . . Und dann wird der
Gesetzlose geoffenbart werden, den der Herr Jesus verzehren
wird durch den Hauch seines Mundes und vernichten durch die
Erscheinung seiner Ankunft, ihn, dessen Ankunft nach der
Wirksamkeit des Satans ist, in aller Macht und allen Zeichen
und Wundern der Lüge und in allem Betrug der Ungerechtigkeit denen, die verloren gehen" (2. Thess 2, 3. 4. 8—10). —
„Und ich sah ein anderes Tier aus der Erde aufsteigen: und es
hatte zwei Hörner gleich einem Lamme und redete wie ein
Drache. Und die ganze Gewalt des ersten Tieres übt es vor
ihm aus, und es macht, daß die Erde und die auf ihr wohnen
das erste Tier anbeten, dessen Todeswunde geheilt wurde. Und
es tut große Zeichen, daß es selbst Feuer vom Himmel auf die
Erde herabkommen läßt vor den Menschen" (Offb 13, 11—13).
Diese Stellen, denen man noch andere beifügen könnte, werden
genügen, um durch das Wort Gottes die Überzeugung zu erlangen, daß es mit der Gottlosigkeit der Menschen je länger
je ärger werden, und das Böse schließlich im Antichristen gipfeln wird.
Wenn wir an Hand der angeführten Stellen den Antichristen
betrachten, finden wir zunächst, daß er den Höchsten lästern
und wider den Gott aller Götter greulich reden wird. Er wird
sich über alles erheben und Gott gegenüber keine Schranke
kennen. Aber in diesem Haß gegen Gott liegt gerade seine
Anerkennung des Daseins Gottes. Ebenso ist es in unseren
Tagen. Wenn die Menschen gegen Gott eifern, so beweisen sie
gerade dadurch, daß sie an das Vorhandensein Dessen glauben,
Den zu leugnen sie sich bemühen. Kein Gottloser eifert gegen
den Gott Mohammeds oder die heidnischen Götzen, weil man
weiß, daß diese nicht existieren. Der Antichrist aber wird
seinen Haß gegen Gott in der schrecklichsten Weise offenbaren.
Es ist für uns fast unbegreiflich, daß ein Mensch, der ein Gewissen hat, imstande ist, Abscheuliches gegen Gott zu reden
und Ihn zu lästern. Man sollte meinen, es müsse noch ein
Gefühl in der Seele sein, das sich gegen diesen höchsten Aus17
druck der Gottlosigkeit sträubte. Aber wozu ist der gefallene
Mensch nicht fähig, und besonders in jener Zeit, wenn der
Geist und die Braut die Erde verlassen haben wird, und diese
Erde dann der Schauplatz des Wirkens Satans darum in einer
so außerordentlichen Weise werden wird, weil Satan, aus dem
Himmel geworfen, weiß, daß er nicht viel Zeit hat und weil
alle, die verloren gehen, von Gott vollständig der Lüge, dem
Betrug und der Wirksamkeit Satans preisgegeben sind!
Sicher gibt es jetzt schon viel Böses auf der Erde, aber Gott
hält seinen völligen Ausbruch noch zurück. Wenn Er aber die
Bösen völlig dem Satan überläßt, dann wird die gewaltige Flut
der Gottlosigkeit jeden hemmenden Damm durchbrechen und
in gar keinem Vergleich zu dem stehen, was sich in unseren
Tagen vor unseren Augen ereignet.
Mit seinem Haß gegen Gott ist der Antichrist naturgemäß
auch gegen diejenigen, die Gott angehören. So lesen wir, daß
er die Heiligen der höchsten örte r vernichten wird. Wie könnte
er auch jemand dulden, der ein Zeugnis für Gott ist? Welche
Trübsale wird er den Gläubigen jener Tage verursachen! Doch
der Herr sei dafür gepriesen. Er wird auch ihre Hilfe, ihre Zufluchtsstätte sein, und alles, was sie zu erdulden haben, wird
Er zu ihrem Guten mitwirken lassen*). Es ist die Absicht des
Antichristen, Gott zu beseitigen und auf dieser Erde jedes
Zeugnis Gottes zu vernichten. Welch ein Vorrecht, daß wir in
jenen Schreckenstagen nicht auf der Erde sein werden, sondern
im Vaterhaus Gottes ungestörte Ruhe genießen! Es ist der
wohlgefällige Wille des Herrn, daß wir bewahrt werden sollen
vor der Stunde der Versuchung, welche über den Erdkreis
kommen wird. Wir werden nicht nur den kommenden Leiden
und Drangsalen entrückt und in Sicherheit sein, sondern wir
werden auch nicht Zeugen der Lästerungen sein, die der
„Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens" gegen den
Höchsten, Den wir unseren Gott und Vater nennen, ausstoßen
wird.
*) Es ist wohl kaum nötig zu bemerken, daß die Heiligen jener Tage nicht der
Kirche angehören, sondern hauptsächlich jüdische Gläubige sind, die sich nach
der Aufnahme der Kirche auf der Erde befinden und die Gerichte durchmachen
müssen.
18
„Er wird darauf sinnen, Zeiten und Gesetze zu ändern." Jede
Erinnerung an die Anordnungen und Einrichtungen Gottes
dienen dem Antichristen zum Anstoß und zum Ärgernis. Die
seit Tausenden von Jahren beobachtete Vorschrift der Feier des
siebenten Tages muß beseitigt werden. Er wird Gesetze vorschreiben, die nicht von Gott gegeben sind und die sogar den
Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft widersprechen, und
in allen seinen Einrichtungen und Neuerungen wird er nirgends
auch nur die Nennung des Namens Gottes gestatten.
Auch Jerusalem, jene Stadt, in deren Toren die Füße Jesu
standen, wird der Antichrist betreten. Er wird sich mit einer
Kriegsmacht umgeben, um seine gottlosen Pläne auszuführen,
und mit ihr wird er das Heiligtum entweihen. Die Juden werden zu jener Zeit ihren Tempel wieder aufgerichtet haben und
ihre Opfer bringen, aber der Böse wird bei seinem Erscheinen
diese Opfer nicht mehr dulden. Er wird — wer weiß, durch
welche teuflischen Mittel — den Ort der Anbetung und der
Opfer entweihen, das Opfer abschaffen und an dessen Stelle
den Greuel der Verwüstung setzen. Jerusalem, die Stadt, von
der Gott gesagt hat, daß sie Seine höchste Wonne sein sollte,
wird dann zu einer Stätte werden, von der Gott mit dem tiefsten Mißfallen Seines Herzens den Blick abwendet. An keinem
Ort auf dieser Erde hat der Mensch das Maß seiner Sünden so
voll gemacht wie in Jerusalem. Nicht nur wurde der Herr der
Herrlichkeit dort gekreuzigt, nein, auch der Name Gottes muß
dort gelästert, und wenn möglich, ausgerottet werden.
Aus dem Wort des Herrn, daß Er gekommen sei in Seines
Vaters Namen, ohne Aufnahme zu finden, daß aber ein anderer (der Antichrist) in seinem eigenen Namen kommen und
Aufnahme finden werde, geht augenscheinlich hervor, daß der
Antichrist ein Jude sein, aber nicht den Gott seiner Väter
achten wird. Ehrfurcht vor den Vätern, die an Gott glaubten,
kennt er nicht; die Segnungen Gottes für Israel von alters her
verachtet er. Sein Herz kennt nur ein Ziel: Gott völlig zu beseitigen, so daß wenn möglich, kein Mensch auf der Erde mehr
den Namen Gottes nennen möchte, und er hat nur einen
Dienst: den Dienst des Lügners. Wenn wir die Mühe und
Arbeit dieses Bösen, seinen Eifer und seine Tätigkeit sehen,
werden wir auf beschämende Weise belehrt, daß der Mensch
19
für das Böse weit mehr Anstrengungen macht, als wir, die
Kinder Gottes, für das Gute.
Paulus nennt den Antichristen den „Menschen der Sünde".
Wir alle sind Sünder von Natur, und sowohl die Heilige Schrift
als auch die Weltgeschichte zeigen uns Menschen, die sich dadurch hervortaten und auszeichneten, daß sie besonders böse
waren. Aber hier wird uns jemand vor Augen gestellt, der in
ganz besonderer Weise der „Mensch der Sünde" bezeichnet
wird. Es ist der Lebenszweck des Antichristen, Sünde zu tun,
und nicht nur Sünde im allgemeinen, sondern sogar die Sünde,
Gott zu beseitigen, gegen Gott in einer Weise zu freveln, die
solange die Erde steht, nicht ihresgleichen hat. — Auch kommt
er als der „Sohn des Verderbens", um die Werke seines Vaters,
des Lügners und des Mörders von Anfang, auszuüben; und die
Menschen folgen den finsteren Wegen dieses Verwüsters. Einst
ist Einer zu ihnen gekommen. Der die Liebe war und Errettung
bringen wollte, aber sie haben Ihn nicht aufgenommen. Später
wird einer kommen, der sie verderben will, und ihn werden sie
aufnehmen. Weil sie der Wahrheit nicht geglaubt haben, werden sie dahingegeben, der Lüge zu glauben. Ach, wie tief ist
der Mensch gesunken! Er verwirft die Wahrheit und glaubt der
Lüge; er verwirft das Licht und liebt die Finsternis, weil seine
Werke böse sind.
Aber es genügt dem Antichristen nicht, Gott beiseite zu setzen
und die Menschen zu verderben, sondern er nimmt auch den
Platz Gottes ein, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und
sich darstellt, als sei er Gott. Welche wunderbare Langmut
offenbart Gott doch darin, daß Er so lange mit dem Gericht
zögert, bis der Antichrist den Gipfel der Sünde erreicht hat!
Der Hochmut des „Menschen der Sünde" kann keinen höheren
Platz einnehmen, als sich an die Stelle Gottes zu setzen. Dabei
läßt Gott noch zu, daß der Teufel den Rebellen unterstützt, um
diesen Platz zu behaupten. Satan treibt sein Spiel mit den
Menschen, die verloren gehen, in einer noch nicht dagewesenen
Weise, und er wirkt durch den Antichristen in aller Macht, in
Zeichen und Wundern der Lüge und in allem Betrug der Ungerechtigkeit, so daß der Antichrist wie Elia Feuer vom Himmel
vor den Menschen herabkommen läßt, als ob er Verbindung
zum Himmel habe.
20
In der oben angeführten Stelle aus der Offenbarung des Jo
hannes sehen wir den Antichristen auch in der Gestalt und dem
Charakter des Lammes auftreten, ein Beweis, daß ihm jedes
Mittel und jede Täuschung willkommen ist, wenn er nur
seinen Platz behaupten und die Menschen verderben kann.
Doch schließlich erreicht die Langmut Gottes bezüglich dieses
„Menschen der Sünde" ihr Ende. Paulus sagt uns, daß ihn „der
Herr Jesus verzehren wird durch den Hauch seines Mundes
und vernichten durch die Erscheinung seiner Ankunft". Wie
viele werden bis zu diesem Ende die Größe und Macht des
Antichristen angestaunt haben, welch eine Menge von Huldigungen wird man einem solchen Wundertäter gebracht haben!
Sicher wird die Höhe, auf die er sich, um große Dinge zu tun,
ohne Gott emporgeschwungen hat, staunenswert sein, aber in
dem Augenblick, da er sich selbst verherrlicht und den höchsten
Platz eingenommen hat, erscheint Christus. Die Erscheinung
Seiner Ankunft genügt völlig, um den Menschen der Sünde zu
vernichten; ein Hauch des Mundes Christi verzehrt ihn.
Wie wunderbar verändert wird in diesem Augenblick dann
plötzlich der Zustand auf der ganzen Erde sein! Solange ging
alles Streben der Menschen dahin, sich selbst zu erhöhen und
Gott auszuschließen. Aber welch ein Entsetzen wird die Menschen dann erfassen, wenn sie Ihn, Den sie beseitigt glaubten,
als den Richter der ganzen Erde erscheinen sehen! Wie ein
Spinnengewebe wird sich dann alles erweisen, was die Menschen sind und was sie tun können gegen die Macht Dessen,
Dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist.
Und Gott sei gepriesen, daß dann der Hochmut des Menschen
ein Ende findet, und daß Er, Der auf dieser Erde so erniedrigt
war, daß man sein Angesicht vor Ihm verbarg, so sehr erhöht
sein wird, daß jedes Knie sich vor Ihm beugt und jede Zunge
Ihn als Herrn bekennt! Wir aber, geliebte Brüder, werden
Zeugen dieser Szene sein (2. Thess 1, 10), wenn wir mit dem
Herrn vom Himmel zurückkehren. Welch ein glücklicher Augenblick wird dann für ein Herz, das Jesus liebt, anbrechen,
wenn unser Auge Ihn vor der ganzen Welt verherrlicht sieht!
Jetzt bewundern wir Seine Geduld, mit der Er das Gericht aufschiebt, denn gerade dieser Langmut Gottes haben wir es zu
verdanken, daß wir zu der Zahl der Erlösten gehören. Wäre
21
Er früher gekommen, und hätte Er uns als Sünder gefunden,
was wäre unser Los gewesen? — Aber jetzt harren wir Seiner
Wiederkunft entgegen, wenn Er uns in das Haus des Vaters
führen wird, um Seine Ruhe zu genießen; und dann werden
wir mit Ihm erscheinen in Herrlichkeit.
Möchten wir es doch jetzt verstehen, uns von einer Welt getrennt zu halten, die nicht nur unseren Herrn Jesus Christus
gekreuzigt hat, sondern die auch einem Menschen huldigen wird,
der sich anmaßt, Gott zu beseitigen und Seinen Platz einzunehmen. Je mehr man versteht, was diese blinde Welt ist, je
mehr man ihren Haß gegen Gott und ihr Streben, ohne Gott in
dieser Welt zu sein, und endlich ihren Hochmut, den höchsten
Platz einzunehmen, erkannt hat, desto deutlicher wird der Unterschied zwischen den Kindern dieser Welt und uns, den Kindern Gottes. Wir dürfen jetzt schon Gott kennen, und sind berufen, Ihn zu lieben, Ihn durch einen treuen, demütigen Wandel zu ehren und den Augenblick herbeizuwünschen, in dem der
Herr kommen wird, um uns aus einer so bösen Welt herauszunehmen und uns zu einer Stätte zu führen, wo unser Ohr nicht
mehr die Stimme derer, die Gott hassen, hört, und unser Auge
nicht mehr die Werke derer sieht, die Gott entfremdet in Hochmut, Verblendung und Sünde einhergehen. Hier seufzen wir inmitten der gefallenen Schöpfung, dort aber werden wir frohlocken inmitten der herrlichsten Segnungen. Der Name des
Herrn sei ewig dafür gepriesen!
Der Anbeter und der Arbeiter
Nichts ist schädlicher für die Seele, als eine Verwechslung der
Wahrheiten des Wortes Gottes. Die Seele kommt dadurch in
Verwirrung und gerät dann in Gefahr, auf Abwege zu geraten.
So kommen z. B. in 2. Tim 2 Ausdrücke vor, die nur auf solche
angewendet werden dürfen, die bereits aus dem Tode ins
Leben hinübergegangen sind. Es ist dort von einem „Arbeiter",
von einem „guten Kriegsmann" und von einem „geheiligten
Gefäß" die Rede. Wenn man diese Ausdrücke auf eine Seele
anwenden wollte, die noch keine Ruhe im Opfer des Kreuzes
22
gefunden hat, würde man sicher in hoffnungslose Verwirrung
kommen. Eine solche Seele verlangt nach Ruhe; sie seufzt unter
der Last ihrer Sünden. Wie töricht würde es nun sein, wenn
man ihr die Pflichten des Gläubigen vorhalten würde, anstatt
sie zu Jesus zu führen. Ein solches Vorgehen würde ihre Last
noch vermehren, und das schon lange nach Frieden dürstende
Herz würde zu Boden gedrückt und in hoffnungslose Traurigkeit gestürzt werden. Alles dies wäre das Resultat einer Verwechslung von Ursache und Folge. Wie könnte jemand ein
Arbeiter sein, ehe er ein Anbeter geworden ist!
Es ist wichtig, daß man diese beiden Dinge gut von einander
unterscheidet. Man kann unmöglich einen wahren, unveränderlichen Frieden genießen oder Gott in Geist und Wahrheit anbeten, solange das Gewissen nicht durch das Blut
des Kreuzes gereinigt ist. Bevor wir frei atmen, in Frieden
wandeln und Gott innerhalb des Vorhangs anbeten können,
müssen wir das Bewußtsein haben, daß nicht nur allen Forderungen unseres Gewissens, sondern auch allen Forderungen
der Gerechtigkeit Gottes völlig Genüge geschehen ist. Und wie
können wir das wissen? Allein durch den Glauben an das auf
Golgatha am Kreuz vollbrachte Werk. Von uns selbst ist nichts
Gutes zu erwarten. Man mag noch so große Anstrengungen
machen, um Gott zu dienen und Seinen Namen zu verherrlichen, — man wird sich immer getäuscht sehen.
Wie könnten wir nun für Gott arbeiten, ehe wir in Seine Gemeinschaft gebracht sind? In diese Gemeinschaft können wir
auch nur durch Jesus gebracht werden. Gott kann die Sünde
nicht sehen, und darum kann Er uns nicht in Seiner Gegenwart
dulden, solange wir nicht von allen Sünden gereinigt sind. Nur
durch das einmal vollbrachte Opfer Jesu können unsere Sünden weggenommen werden. Unser erstes Bedürfnis ist, Anteil
zu haben an dem Opfer des Kreuzes. Und wer hat teil daran?
Jeder, der an den Sohn Gottes glaubt. Wer sich als armer, verlorener Sünder dem Herrn übergibt und ganz und gar sein
Vertrauen darauf setzt, was Er vollbracht hat, der hat Frieden
mit Gott und Freimütigkeit, um zu Gott zu gehen.
Geliebter Leser, hast du diesen Frieden gefunden? Wenn nicht,
dann richte Deine Blicke von dir selbst weg und suche nicht
länger deine eigene Gerechtigkeit, sondern richte deinen Blick
23
unverwandt auf das, was Jesus für Sünder getan hat! Vertraue
dich dem Herrn an. Du mußt aus Gnaden errettet werden. Der
Grund unseres Friedens darf nicht unser Gefühl oder die
Veränderung unseres Zustandes sein, sondern das, was Gott
in Christus für uns getan hat. Wenn wir darauf allein vertrauen, dann hat unser Herz Ruhe und Frieden. Dann können
wir als gereinigte und glückselige Anbeter in der Gegenwart
Gottes erscheinen und uns der süßen Gemeinschaft mit Ihm
erfreuen.
Erst von dem Augenblick an, da du ein „Anbeter" geworden
bist, kannst du ein „Arbeiter" des Herrn werden, der berufen
ist, sich zu reinigen, um ein Gefäß zur Ehre zu sein, „geheiligt,
nützlich dem Hausherrn, zujedem guten Werk bereitet" (V. 21).
Ein Arbeiter sein zu wollen, bevor man ein Anbeter geworden
ist, hieße die Ordnung der Dinge umkehren. In diesem Fall
genießt man weder die Glückseligkeit des einen, noch die Segnung des anderen. Man muß jedem Ding den Platz lassen, den
Gott ihm angewiesen hat. Erst nachdem der Aussätzige rein
erklärt worden war, begann er seine Kleider zu waschen (3. Mo
14, 7. 8). Hätte er dies früher tun wollen, dann hätte er, anstatt
sich selber zu reinigen, das Wasser verunreinigt.
„Da wir nun diese Verheißungen haben, Geliebte, so laßt uns
uns selbst reinigen von jeder Befleckung des Fleisches und des
Geistes, indem wir die Heiligkeit vollenden in der Furcht
Gottes" (2. Kor 7, 1). In dieser Stelle wird uns das wahre
Mittel gezeigt, urn ein guter Arbeiter, ein geheiligtes Gefäß, ein
nützlicher Knecht zu sein. „Wenn sich nun jemand von diesen
reinigt", sagt Paulus zu seinem geliebten Timotheus im Blick
auf die Gefäße zur Unehre in dem großen Hause, „so wird
er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn",
ein Werkzeug, das „zu jedem guten Werke", das der Herr ihm
zu tun aufträgt, „bereitet" ist (V. 21). Gereinigt zu sein durch
das Blut Jesu ist die erste Notwendigkeit, mich zu reinigen von
aller mich befleckenden Ungerechtigkeit durch die Kraft des
göttlichen Lebens ist eine zweite Sache. Beides darf nicht miteinander vermengt werden, denn jedes hat seinen bestimmten
Platz. Sobald man diese Dinge miteinander vermischt, vernichtet man das Wesen des Christentums und beraubt die
Seelen ihres Friedens.
24
Der Christ ist zu einem fortdauernden, ununterbrochenen
Kampf berufen. Dieser Kampf nimmt seinen Anfang in dem
Augenblick, da die Seele Ruhe und Frieden in Jesus findet.
Wenn die Verkündigung des auf Golgatha errungenen Sieges
deutlich und verständlich in das Herz eindringt und jede Frage
göttlich beantwortet ist, dann beginnen die Kämpfe. Für den
natürlichen Verstand mag eine solche Behauptung unverständlich sein. Nur der Glaube begreift sie. Ich muß das Bewußtsein
haben, daß Sünde, Tod und Teufel, diese unerbittlichen Feinde
des Menschen, durch den Tod Christi für mich überwunden
sind, ehe ich die Waffe gegen sie erheben kann. Der Christ ist
zugleich ein Überwinder und ein Streiter. Er setzt seinen Fuß
auf den unerschütterlichen und „festen Grund Gottes", der
durch keine Macht der Welt oder der Hölle ins Wanken gebracht werden kann, und dann, im Genuß des Friedens, den
dieser feste Grund ihm schenkt, und nicht im Geist der Knechtschaft oder in Furcht und Zweifel, „steht er ab von der Ungerechtigkeit" (V. 19). Warum aber steht er von der Ungerechtigkeit ab? warum reinigt er sich selbst? — Etwa darum, um ein
Anbeter zu werden? Keineswegs. Er muß bereits ein Anbeter
sein, bevor der Streit beginnt. Warum denn?Um ein gereinigter
Arbeiter, ein geheiligtes Gefäß, ein nützliches Werkzeug zu
sein, damit er dem Hausherrn behilflich ist, Seine Segnungen
anderen zuführen zu können.
Lieber teurer Leser, der du die Wirklichkeit eines gereinigten
Gewissens gekostet hast, rufst du den Herrn an „aus reinem
Herzen"? Kämpfst du mit Aufrichtigkeit, die „jugendlichen
Lüste zu fliehen", und nach „Gerechtigkeit, Glauben, Liebe
und Frieden zu streben mit denen, die den Herrn anrufen aus
reinem Herzen" (V. 22)?
Du bist vielleicht geneigt zu antworten: „Ich sehe um mich
her solch eine hoffnungslose Verwirrung und solch eine beklagenswerte Zersplitterung, daß ich wirklich nicht weiß, mit
wem ich mich vereinigen, oder wo ich einen Pfad für meinen
Fuß finden soll." — Das mag wahr sein, aber bedenke, daß,
wenn die bekennende Kirche noch mehr zerstückelt wäre als
sie es bereits ist, und wenn die allgemeine Verwirrung sich wie
eine verwüstende Flut über die ganze Christenheit verbreitete,
jeder Christ dennoch verpflichtet wäre, von der Ungerechtigkeit abzustehen, sobald er sie erkennt. Der Christ ist berufen,
25
sich allezeit zu reinigen von den Gefäßen der Unehre. In dem
Maße wie er treu ist, sich absondert und reinigt, wird er ein
nützliches Gefäß für den Hausherrn (V. 20, 21).
Wo du dich auch befinden magst, lieber gläubiger Leser, überall wirst du zu diesem ernsten Kampf, zu diesem edlen Werk
berufen. Der Herr will, daß du, gereinigt durch Sein Blut, ein
treuer Dienstknecht bist, von aller Ungerechtigkeit abstehst
und dich von den Gefäßen zur Unehre reinigst. Wie erwiderst
du diesen Mahnruf? Trachtest du nach einer engeren Gemeinschaft mit Gott und nach einer größeren Gleichförmigkeit mit
Jesus? Fühlst du dich nicht höchst unangenehm berührt bei
dem Anblick des kalten und leblosen Bekenntnisses unserer
Tage und beim Anschauen des kraftlosen Formenwesens, das
mehr und mehr sich geltend macht? — Nun, der Herr zeigt dir
den Weg. Du bist ein Anbeter, aber du bist auch ein Arbeiter,
ein Knecht Jesu Christi. Tue das was Er so gern sieht. Rufe
den Herrn an um ein reines Herz. Reinige dich von den Gefäßen zur Unehre. „Strebe . . . nach Gerechtigkeit, Glauben,
Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem
Herzen." —
Trost in der Wüste
Es heult der Sturm, und es treiben die Wellen,
es dröhnt das Schifflein, als woll't es zerschellen;
doch siehe! am Steuer mit mächtiger Hand
sitzt Jesus und führt das Schifflein ans Land.
Es schreitet der Pilger mit wankendem Schritt,
es zeigt die Gefahr sich bei jeglichem Tritt;
doch siehe! der Heiland, Er schreitet voran,
tritt nieder die Dornen, macht eben die Bahn.
Es stöhnt der Kämpfer auf mühsamen Wegen,
es stürzt sich der Feind voller Wut ihm entgegen;
doch siehe! der Sieger, der göttliche Held,
hat völlig am Kreuze zur Schau ihn gestellt.
Es dringen die Seufzer aus blutendem Herzen,
es fließen die Tränen als Zeugen der Schmerzen;
doch siehe! das freundliche Auge des Herrn
schaut mitleidsvoll nieder, Er tröstet so gern.
26
Die beiden Ehemänner
in Römer 7
Dieses Kapitel kann als die Grundlage des apostolischen Beweises für die Rechtfertigung und das Fruchttragen betrachtet
werden, und nichts könnte zeitgemäßer sein als eine Erläuterung des Bildes der beiden Ehemänner. Daß der inspirierte
Beweis unwiderlegbar ist, brauche ich kaum hinzuzufügen.
Es ist bedeutungsvoll, daß wir auf die wenigen in Klammern
gesetzten Worte: „Denn ich rede zu denen, die Gesetz kennen"
(V. 1) achten. Hier zeigt sich, daß der Apostel sich in diesem
Kapitel insbesondere an die Gläubigen aus dem Judentum
wandte. „Wisset ihr nicht, Brüder, . . . daß das Gesetz über
den Menschen herrscht, so lange er lebt? Denn das verheiratete
Weib ist durchs Gesetz an den Mann gebunden, solange er
lebt; wenn aber der Mann gestorben ist, so ist sie losgemacht
von dem Gesetz des Mannes. So wird sie denn, während der
Mann lebt, eine Ehebrecherin geheißen, wenn sie eines anderen
Mannes wird; wenn aber der Mann gestorben ist, ist sie frei
von dem Gesetz, so daß sie nicht eine Ehebrecherin ist, wenn
sie eines anderen Mannes wird. Also seid auch ihr, meine
Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht brächten. Denn als wir im
Fleische waren, wirkten die Leidenschaften der Sünden, die
durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, um dem Tode
Frucht zu bringen. Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten
wurden, so daß wir dienen in dem Neuen des Geistes und nicht
in dem Alten des Buchstabens" (V. x—6). — Hier haben wir
also die beiden „Ehemänner". Mit dem alten Ehemann, dem
Gesetz, waren die Juden verbunden, während der Christ mit
dem neuen Manne, dem auferstandenen Christus, in eine eheliche Verbindung getreten ist. Und wie eine Frau nicht gesetzmäßig zu gleicher Zeit mit zwei Ehemännern verheiratet sein
kann, so ist auch, wie hier gezeigt wird, eine gleichzeitige Verbindung des Gläubigen mit Christus und dem Gesetz eine
Unmöglichkeit.
27
In den Versen 5 und 7—24 gibt der Apostel eine Beschreibung
des Eheverhältnisses mit dem alten Ehemann. Stellen wir uns
nun ein Ehepaar vor, dessen Gesinnung einander so vollkommen entgegengesetzt sind, daß die arme Frau, je mehr sie versucht, ihr Möglichstes zu tun, desto mehr Scheltworte und
Schläge empfängt, bis schließlich ihr Leben so elend wird, daß
sie sich aus diesem jammervollen Streit heraussehnt, — dann
haben wir ein treues Bild des elenden Zustandes derer, die mit
dem Gesetz verbunden waren, vor uns. Damit soll jedoch nicht
gesagt werden, daß das Gesetz ein so schlechter Ehemann gewesen sei; o nein, es war „heilig und gerecht und gut". Aber
die Natur des Menschen war so vollständig verdorben, so vollkommen fleischlich, unter die Sünde verkauft. Das hatten Paulus und die jüdischen Gläubigen erfahren, als sie im Fleische,
unter dem Gesetz waren. „Denn als wir im Fleische waren,
wirkten die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz
sind, in unseren Gliedern, um dem Tode Frucht zu bringen"
(V. 5). Kein Ehepaar in dieser Welt hätte je gegensätzlichere
Gesinnungen haben können als in der menschlichen Natur und
dem heiligen Gesetz Gottes gefunden werden. Der Apostel
beschreibt diesen Zustand des Menschen im Fleische und verbunden mit jenem alten Ehemann, dem Gesetz, folgendermaßen: „Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist, ich aber
bin fleischlich, unter die Sünde verkauft; denn was ich vollbringe erkenne ich nicht: denn nicht was ich will, das tue ich,
sondern was ich hasse, das übe ich aus" (V. 34, J5). So mächtig
ist die in ihm wohnende Sünde, daß, obwohl er dem Gesetz
völlig beistimmt, daß es gut sei, und ernstlich das Rechte zu
tun begehrt, er doch keine Kraft dazu hat. „Das Vollbringen
dessen, was recht ist, finde ich nicht. Denn das Gute, das ich
will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will,
dieses tue ich" (V. 18. 19). Er findet, daß Sünde in ihm wohnt,
ja sogar, daß ihre Kraft als ein festes Gesetz in seiner Natur
besteht. „Also finde ich das Gesetz für mich, der ich das Rechte
ausüben will, daß das Böse bei mir vorhanden ist" (V. 21). Er
ist eine lebendige Seele und ist vielleicht sich auch der Kindschaft
bewußt, aber er steht unter dem Gesetz, und obwohl der innere
Mensch das Gesetz halten möchte, ist doch die sündige Natur
viel zu stark. Daher der Ausdruck des tiefen Elends: „Denn ich
habe Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren
28
Menschen; aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Sinnes widerstreitet und mich in
Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist" (V. 22 .23).
Dies ist also das Bild, das der Apostel von dem Eheleben mit
dem alten Manne entwirft. Wie eine arme Frau, die sich lange
vergeblich abgemüht hat, ihrem Mann zu gefallen und endlich,
anstatt sich nach Hilfsmitteln umzusehen, um seine Gunst zu
erlangen, den Schrei ausstößt: „O ich elende Frau! wer wird
mich erlösen?" — ebenso fleht auch der unter dem Gesetz
Lebende nicht um Hilfe, um dem alten Ehemann zu gefallen,
sondern er ruft: „Ich elender Mensch! wer wird mich retten von
diesem Leibe des Todes?" — Der folgende Vers führt den neuen
Ehemann ein: „Ich danke Gott durch Jesum Christum, unseren
Herrn" (V. 25)! Wir werden nun den Ehestand mit dem neuen
Mann ebenso gesegnet finden, wie jener unter dem alten
elend und beklagenswert war. In Kapitel 8 wird dieses gesegnete Verhältnis besonders durch zwei Dinge gekennzeichnet.
Verbunden mit Christus gibt es weder eine Verdammnis (V. 1)
noch eine Scheidung (V. 35—39). Kehren wir daher zu der
Untersuchung zurück, wie diese Verbindung zustande kam.
Der Apostel stellt hier bei denen, die unter dem alten Ehemann
gewesen waren, seine Untersuchungen an; und wenn wir die
heiligen Aussprüche Gottes sorgfältig prüfen, werden wir finden, daß die Israeliten 1500 Jahre lang unter dem Gesetz —
oder mit dem alten Ehemann verbunden — waren. Es ist höchst
befremdend, daß es viele Christen gibt, die es nicht beachten,
daß das Gesetz während eines Zeitraums von 2300 Jahren —
die Jahre von Adam bis auf Mose — gar nicht existierte. Wäre
nicht überhaupt eine Untersuchung der Heiligen Schrift in
bezug auf die Richtigkeit dieser Dinge weit besser als jedes aufgeregte Hin- und Herreden? Wurde nicht Adam durch ein gegebenes Gesetz geprüft als er im Zustand der Unschuld war?
Fiel er nicht durch Übertretung? Fiel nicht auch sein ganze
Nachkommenschaft in ihm, so daß der Tod zu allen Menschen
durchgedrungen ist? „Darum, gleichwie durch einen Menschen
die Sünde in die Welt gekommen, und durch die Sünde der
Tod, und also derTod zu allen Menschen durchgedrungen ist... "
(Röm 5, 12). Es ist ganz klar, daß das ganze Menschenge29
schlecht auf diese Weise unter die Sünde und den Tod gebracht
worden ist. Kann nun aber der Leser auch nur eine einzige
Schriftstelle anführen, um zu beweisen, daß während des ganzen Zeitraums zwischen dem Fall Adams und der Gesetzgebung
auf dem Berge Sinai — eine Zeit von 2500 Jahren — ein Gesetz
oder eine Übertretung vorhanden war? „Denn . . . wo kein
Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung" (Röm 4, 15). Von
Adam bis auf Mose gab es kein Gesetz, und deshalb konnte es
keine Übertretung geben. Aber einige, die weder die Heilige
Schrift noch den Unterschied zwischen Sünde und Übertretung
kennen, ziehen hieraus den Schluß, daß, wenn kein Gesetz ist,
auch keine Sünde und folglich keine Notwendigkeit des Versöhnungstodes Christi da sei. Aber die Heilige Schrift
sagt ausdrücklich, daß, obwohl keine Übertretung da war
(Röm 5, 13. 14), weil das Gesetz noch nicht existierte, dennoch
die Sünde da war. „Denn so viele ohne Gesetz gesündigt haben,
werden auch ohne Gesetz verloren gehen" (Röm 2, 12). Diese
und viele andere Schriftstellen beweisen unwiderlegbar, daß
das Gesetz nicht allen Menschen gegeben wurde, denn wie
hätte sonst jemand ohne Gesetz sündigen können? Wo sind
die „Nationen, die kein Gesetz haben" (Röm 2, 14), wenn das
Gesetz allen Menschen gegeben worden ist, und alle sich unter
dem Gesetz befinden, wie etliche lehren? Es ist außerordentlich
wichtig, über diesen Punkt klar zu sehen. Stellen wir uns einen
Lehrer mit einer Anzahl zügelloser Kinder vor. Er kennt die
Widersetzlichkeit und Feindseligkeit seiner Schüler sehr gut,
hat aber bisher noch kein bestimmtes Verbot (Gesetz) gegeben.
Eines Tages nun verbietet er ausdrücklich, die Wände zu bekritzeln. Es mag sich vorher schon allerlei Gekritzel an der
Wand befunden haben, aber ich bin sicher (wenn ich die
menschliche Natur auch nur annähernd kenne), daß, sobald der
Lehrer den Rücken wendet, dort zehnmal mehr gekritzelt wird
als vorher. Die Sünde, an die Wände zu schmieren, war schon
vorher da; aber jetzt, nachdem das Verbot gegeben worden ist,
wird die Sünde zur Übertretung. Das Gewissen wird den Kindern schon oft gesagt haben, daß es Unrecht sei, die Wand zu
beschmieren, aber nach dem Verbot vermehren sich die Kritzeleien, und das ist Übertretung. Zu diesem gleichen Zweck kam
„das Gesetz . . . daneben ein, auf daß die Übertretung überströmend würde" (Röm 5, 20). „Es wurde der Übertretungen
30
wegen hinzugefügt, (bis der Same käme . . .) " (Gal 3, 19). Man
möge den Zusammenhang, in dem diese Stelle steht, sorgfältig
prüfen. Ich glaube kaum, daß irgendeine Wahrheit in der Schrift
klarer dargestellt ist als diese, daß es weder Gesetz noch Gesetzesübertretung gab, bis Gott ein einziges Volk unter das
Gesetz stellte, und zwar zu dem besonderen Zweck, die sündige
Natur des Menschen in offenbarer Übertretung zu beweisen,
„auf daß jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem
Gericht Gottes verfallen sei" (Röm 3, ig). Auf diese Weise
war das Bedürfnis des Menschen nach jener großen und wunderbaren Gabe des Erlösers Jesus Christus, unseres Herrn,
völlig erwiesen.
Es ist erstaunlich, welche Unwissenheit in bezug auf diese
Wahrheit herrscht. Vor einigen Tagen stellte ich einem Bruder
in Jesu die Frage, ob er für die von ihm verfochtene Meinung,
daß alle Menschen unter dem Gesetz seien, irgendeinen Grund
anführen könne. Die Antwort war: „Weil wir alle Kinder
Moses sind." Ich muß gestehen, daß ich über diesen angeführten Grund einigermaßen erschrocken war, aber ich weiß nicht,
ob ich je einen besseren hörte. „Was wollen Sie damit sagen,
daß wir alle Kinder Moses sind?" forschte ich weiter. „Nun,
haben wir denn nicht alle die Religion Moses?" war seine Erwiderung. Ich fühlte mit tiefem Schmerz, daß in diesen seinen
Worten nur zu viel Wahrheit steckte. Ich bemühte mich, ihm
zu zeigen, wie die Schrift deutlich lehrt, daß wir, die Glaubenden, im Besitz der Religion seien, die Abraham hatte. Aber
offenbar hatte er nie gehört oder gelesen, daß das Gesetz gar
nicht dem Abraham, sondern erst 430 Jahre nach ihm gegeben
worden war. In Gal 3, 16. 17 wird dies klar zum Ausdruck
gebracht. Wenn aber das Gesetz weder Abraham noch irgendeiner Nation in seinen Tagen, noch überhaupt während der
2000 Jahre vor ihm oder der 500 Jahre nach ihm gegeben worden ist, wie könnte dann bewiesen werden, daß es allen Menschen gegeben sein soll? Teurer Leser, eine solche Behauptung
verrät großen Mangel an Schriftkenntnis über diesen Punkt.
Laßt uns aber auch mit aller Entschiedenheit den Irrtum bekämpfen, als ob das Nichtvorhandensein des Gesetzes und folglich der Übertretung beweise, daß darum auch die Sünde und
somit die Notwendigkeit des Versöhnungstodes Christi nicht
31
vorhanden sei. Der Tod Christi für die Menschen war von
Adam bis zu Mose hin ein ebenso großes Bedürfnis wie in
jedem anderen Zeitraum. „Denn bis zu dem Gesetz war Sünde
in der Welt" (Röm 5, 13). Und obwohl hier die Sünde nicht
wie diejenige Adams als Übertretung eines bestimmten Gebots
betrachtet und zugerechnet werden konnte, herrschte dennoch
der Tod von Adam bis auf Mose. So erwies sich die Notwendigkeit dessen, was der Lage des Menschen entsprach, — die Notwendigkeit des Todes Christi, des Stellvertreters. Zwar stellte
das schwarze Verzeichnis der zu offenbaren Übertretungen gewordenen Vergehungen den Zustand des Menschen um so mehr
ins Licht, als am Berge Sinai dem Volk, das sich selbst vertraute, das Gesetz gegeben worden war. Aber die Gnade war
überströmend, als diese Nation, die sich des Gesetzes rühmte,
den Sohn Gottes verstoßen und ermordet hatte, denn gerade
ihr verkündigt die Gnade Vergebung der Sünden in Seinem
Namen. Diejenigen, die sich rühmen das Gesetz zu halten,
haben von jeher — wie auch in unseren Tagen — die Kinder der
Gnade gehaßt und verleumdet. Möge der gnädige Gott uns
bewahren, daß wir nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern ihnen vielmehr jene Gnade erweisen, die zuerst in Jerusalem kundgemacht wurde.
Wir möchten jedoch auf jeden Fall Mißverständnisse vermeiden.
Wenn wir von der Gerechtigkeit und der Stellung des Menschen
vor Gott sprechen, darf man keinesfalls annehmen, daß wir d;
e
gerechten Grundsätze der Regierung Gottes sowohl vor als
auch während der Zeit des Gesetzes auch nur einen Augenblick
in Frage stellten. Werfen wir einen Blick auf das Buch Hiob
oder auf das erste Buch Mose. Das Gesetz bestand damals noch
nicht und wird in keinem dieser beiden Bücher erwähnt. Dennoch sehen wir deutlich die Grundsätze von Recht und Unrecht
in die Gewissen eingeschrieben, obwohl das Gesetz noch nicht
gegeben worden war und — wie es oft unrichtig bezeichnet
wird — weder als der Grundsatz, noch als die Kraft der Gerechtigkeit, noch als Richtschnur des Lebens betrachtet werden
konnte.
Die Heilige Schrift zeig": deutlich, daß in der Geschichte
dieser Welt während eines Zeitraums von 2500 Jahren — vom
Falle Adams bis zur Gesetzgebung am Sinai — das Gesetz noch
32
nicht gegeben war, daß aber dennoch die Sünde da war, obwohl
während dieser Zeit kein Gesetz existierte und daher auch keine
Übertretung „in der Gleichheit der Übertretung Adams" stattfinden konnte. „Der Tod (ist) zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben." Von den Tagen Abels
an bezeichnet die Schrift es als unmöglich, Gott zu nahen, es
sei denn auf Grund des Todes eines Stellvertreters. Dann aber
wurde während eines Zeitabschnittes von 1500 Jahren einem
Volk das Gesetz gegeben, um den Zustand des Menschen in
offenbarer Übertretung klar darzustellen. Alle sind Sünder, die
Juden sind Übertreter. Von dem Augenblick an, da das Gesetzgegeben war, wurde die Sünde zur Übertretung.
Dies könnte nun zu folgender Überlegung Veranlassung geben:
Wenn das Gesetz während jener 2500 Jahre nicht vorhanden
war, dann aber 1500 Jahre hindurch dem Volke Israel gegeben
wurde, wie war es dann bezüglich der 1800 Jahre nachher?
Lehrt uns die Schrift, daß alle Menschen durch Christus oder
durch den Heiligen Geist unter das Gesetz gebracht worden
sind, nachdem Christus aus den Toten auferstanden ist? oder
lehrt sie uns, daß das Gesetz für die Gläubigen, die unter dem
Gesetz gewesen sind, abgeschafft ist? Eine höchst ernste und
wichtige Frage. Möge der Herr dem Schreiber und dem Leser
dieser Zeilen völlige Unterwürfigkeit unter Sein Wort schenken. Dies wird aber nicht der Fall sein, wenn wir diesen Gegenstand in einem nur streitsüchtigen Geist zu erörtern suchen.
Laßt uns daher im Gebet auf den Herrn warten, damit der
Heilige Geist das klare Licht der Heiligen Schrift vor unsere
Seele bringen möge!
Der Herr Jesus wurde in jenem Volk, das unter dem Gesetz
war, geboren, und jedes Pünktchen und jeder Buchstabe des
Gesetzes fand in Ihm und durch Ihn seine vollständige Erfüllung. Für die, die unter dem Fluch eines gebrochenen Gesetzes
waren, wurde Er zum Fluche gemacht, — aber nicht während
Seines fleckenlosen Lebens, sondern nur, als Er am Kreuz hing.
Denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jeder, der am Holze
hängt"(Gal 3, 13; 5. Mo 21, 23)! Aber Er trug dort nicht nur
den Fluch des Volkes Israel, sondern er wurde auch „für uns
zur Sünde gemacht". Welche Liebe und welche Gerechtigkeit
sehen wir hier! Der Sohn Gottes, der Heilige, der Schöpfer und
33
Erhalter aller Dinge hing am Holz! Verworfen von den Menschen und ach! für meine Sünden verflucht, verworfen, verlassen von Gott! O mein Heiland, gab es je eine so unbegrenzte
Liebe wie die Deinige? Mein fleckenloser Stellvertreter, anbetend preise und verehre ich Dich für immer!
Es ist für uns von großem Nutzen, in den Briefen die Anwendung des Versöhnungstodes Christi zu erforschen, sei es in
bezug auf die Juden als unter dem Gesetz oder in bezug auf
die Nationen als tot in Sünden ohne Gesetz. Zwei Schriftstellen
mögen genügen, diese Punkte klarzustellen, obwohl viele andere ebenso deutlich und bestimmt sind. Im Blick auf die Nationen sagt der Apostel: „Und euch, als ihr tot wäret in den Vergehungen und in der Vorhaut eures Fleisches, hat er mitlebendig
gemacht mit ihm, indem er uns alle Vergehungen vergeben hat."
Und zu den gläubigen Juden sprechend fährt er fort: „Als er
ausgetilgt die uns entgegenstehende Handschrift in Satzungen,
die wider uns war, hat er sie auch aus der Mitte weggenommen,
indem er sie an das Kreuz nagelte" (Kol 2, 13. 14). An einer
anderen Stelle sagte er zu den gläubigen Juden: „Christus hat
uns losgekauft von dem Fluche des Gesetzes, indem er ein
Fluch für uns geworden ist;" und zu den Nationen gewendet
setzt er hinzu: „Auf daß der Segen Abrahams in Christo Jesu
zu den Nationen käme" (Gal 3,13.14).
Kehren wir jedoch zu unserer Frage bezüglich der seit dem
Tode und der Auferstehung Christi verflossenen 1800 Jahre
zurück. Stehen wir als Gläubige unter dem Dienst des in steinerne Tafeln eingegrabenen Gesetzes, oder ist das Gesetz sogar
für die abgeschafft, die sich früher darunter befanden? Der
Apostel bezeichnet das Gesetz als den „Dienst des Todes, mit
Buchstaben in Steine eingegraben", und erklärt es als etwas,
„was hinweggetan werden sollte", während der Mensch es als
Regel und Richtschnur des Lebens bezeichnet und uns einen
Platz unter ihm anweist. Soll ich nun Gott oder den Menschen
glauben? (Siehe 2. Kor 3) Ich möchte jedoch mit aller Vorsicht
hinzufügen, daß diese Bemerkungen nur auf die Gläubigen in
Christo angewendet werden können, denn nur sie sind vom
Geist geleitet und darum nicht unter dem Gesetz. Als Ausdruck
der gerechten Regierung Gottes ist das Gesetz sicherlich nicht
weggetan. Die Ansprüche Gottes als Schöpfer bleiben stets
34
dieselben, und deshalb ist das Gesetz für den Gottlosen und
Sünder ohne Christus immer noch wirksam (siehe 1. Tim i, 9).
Unser Kapitel (Röm 7) enthält, wie bereits zu Anfang dieser
Zeilen bemerkt, die Grundlage für die Beweisgründe des Apostels. Durch das Bild der beiden Ehemänner zeigt er uns, daß der
Gläubige, der mit Christus verbunden ist, unmöglich unter
dem Gesetz sein kann. Das ist um so bemerkenswerter, weil
der Apostel, indem er dies schreibt, eine der größten Irrlehren
seiner Zeit bekämpft, nämlich die, daß es nicht genüge, durch
Christus gerechtfertigt zu sein, sondern daß es außerdem unbedingt erforderlich sei, das Gesetz in allen seinen Vorschriften
zu halten. Ich brauche kaum zu bemerken, daß diese Behauptung noch immer einer der größten Irrtümer der heutigen Zeit
ist. Der Apostel zeigt die Unmöglichkeit einer solchen Doppelstellung und stellt dies den Juden, die das Gesetz kannten, vor
Augen. Unter dem Gesetz konnte eine Frau unmöglich zu
gleicher Zeit mit zwei Männern verheiratet sein. „So wird sie
denn, während der Mann lebt, eine Ehebrecherin geheißen,
wenn sie eines anderen Mannes wird". Es ist eine
ernste Tatsache, daß der Mensch, wenn er sich noch
als lebend im Fleische und unter dem Gesetz
betrachtet, nicht mit Christus verbunden sein kann. Das wäre
ebenso verwerflich wie Ehebruch. Der Apostel hatte daher
wohl Grund, mit solchem Ernst gegen diese Lehre aufzutreten.
Die beiden Zustände sind so sehr voneinander verschieden,
daß es unmöglich ist, sich zu gleicher Zeit in einem und in dem
anderen zu befinden. Der Jude, der einst als lebend im Fleische
betrachtet worden war, wurde jetzt als tot durch den Tod
Christi gesehen — tot gegenüber dem alten Ehemann —, während die Nationen, einst tot in den Sünden und Vergehungen,
aus diesem Zustand auferweckt und mit dem auferstandenen
Christus verbunden waren (Eph 2 und 5). Hierauf gehe ich
hier nicht näher ein. Zu den Juden sagt der Apostel: „Also
seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch
den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus
den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht brächten"
(Rö 7, 4). Es ist daher klar und unzweideutig, daß die folgenden Verse, statt eine wirkliche Erfahrung des Christen zu
sein, geradezu die stärksten Gegensätze bilden. Bezieht sich
35
der Apostel bei den Worten: „Denn als wir im Fleische waren"
nicht auf die Erfahrungen der Juden unter dem ersten Ehemann, dem Gesetz, also auf einen der Vergangenheit angehörenden Zustand? „Denn als wir im Fleische waren, wirkten
die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz sind, in
unseren Gliedern, um dem Tode Frucht zu bringen", und daher
all das Elend des armen alten Ich, das noch im Fleische unter
dem Gesetz war. Zeigt der Apostel aber nicht ganz deutlich,
daß die, die sich einst in diesem jammervollen Zustand befanden, danach von ihm befreit waren? Ohne Zweifel. Dies bestätigt er auch im folgenden Vers und beschreibt zugleich die
Art und Weise, in der diese Befreiung stattgefunden hat, indem
er sagt: „Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgemacht, da
wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden
usw." Sie waren also dem Gesetz gestorben durch den Leib
des Christus und mit einem anderen, dem auferstandenen
Christus, verbunden worden. Das war wirklich eine vollständige Befreiung. Wären sie unter dem ersten Ehemann belassen
worden, dann hätten sie unmöglich jemals einen Teil des Leibes
Christi bilden können. Wie hartnäckig ist die Blindheit des
menschlichen Herzens! Welch ein betrübender Gedanke, daß
nach dieser wundervollen Befreiung derer, die einst unter dem
Gesetz waren, Satan jetzt den größten Teil der Christenheit
wieder soweit verblenden konnte, daß der Irrtum Eingang fand,
als ob der Gläubige sich noch in diesen elenden Banden befinde.
In welchem Zustand befindest du dich, mein teurer Leser? Hat
dieser allgemeine Irrtum auch dein Herz erfaßt? Dann gleicht
dein Zustand dem Zustand einer armen Frau, die mit einem
Manne verbunden ist, dem sie nichts recht machen kann. Je
mehr du dich anstrengst, das Gesetz zu halten, desto mehr
siehst du, daß du gefehlt und von Tag zu Tag vergeblich gehofft hast, es möchte einmal besser mit dir werden. Je mehr du
auf dich siehst, desto mehr fleischliche Gesinnung und Sünde
steht vor deinem Auge. Nun aber erhebt sich die Frage: Hast
du dich als lebend oder als tot zu betrachten? Ich rede hier
von deinem alten, sündigen Ich. Was sagt das Wort Gottes?
„Haltet euch für tot", tot der Sünde, tot dem Gesetz! Was aber
kann das Gesetz einem toten Menschen nützen? Kann es für
ihn Richtschnur seines Lebens sein? — Dies ist noch nicht alles,
36
meine Brüder. — Du bist mit Christus auferstanden und mit
einem aus den Toten auferstandenen Christus verbunden.
Diese Vereinigung fand nicht während Seines Lebens statt; das
war unmöglich. Er mußte sterben, denn sonst blieb Er allein
(Joh 12, 24).
Genau genommen beginnt die christliche Zeitrechnung nicht
mit der Geburt des Herrn, sondern mit dem glorreichen Augenblick, da Christus aus den Toten auferstand. Zuerst hatte Er
uns mit Seinem kostbaren Blut völlig von unseren Sünden losgekauft und - was noch mehr war - Er hatte Gott in Seinem gerechten Gericht, das Ihn unserer Sünden wegen in seiner ganzen
Schwere traf, vollkommen gerechtfertigt. Das Erlösungswerk
wurde vollbracht, bevor das Christentum seinen Anfang nehmen konnte. Möge Gott dem Leser Verständnis für diese große
und wichtige Tatsache geben! In dem Heil Gottes gibt es keine
Unordnung. Die zuvorbestimmte Braut Christi lag tot in Sünden unter dem Urteilsspruch des Zornes Gottes. Und als Er,
Der im Anfang bei Gott war, Der Selbst Gott war, Mensch
wurde, kannte Er die ganze Tragweite der Gerechtigkeit Gottes
in dem über die Sünden der Menschen gefällten Urteil. Aber
alles mußte in Ordnung gebracht sein, bevor eine einzige Seele
mit dem auferstandenen Christus verbunden werden konnte.
Wie tief ist die Bedeutung der Worte: „Es ist vollbracht!" Der
Kelch war getrunken, der Zorn in unendlicher Liebe getragen.
Unsere Sünden waren zunichte gemacht —mehr noch als alles. Er
war für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit
würden in Ihm. Wir können nicht fest genug an der Fundamentalwahrheit festhalten, daß vor Gott nur Er in Seinem eigenen
Leibe an dem Holze das ganze Gericht Gottes über unsere
Sünden trug, und zwar bevor Er aus den Toten auferstand
und bevor also das Christentum seinen Anfang nahm. Es war
ein vollkommenes Werk, das nie wiederholt zu werden braucht.
Wir sind nicht in der Weise mit Christus verbunden, daß die
Sündenfrage immer wieder aufs neue geordnet werden muß.
Nein, diese Frage ist vorher geordnet worden, und danach
wurden wir mit Christus einsgemacht in der Auferstehung.
Wenn wir daher ein richtiges Verhältnis über das Christentum
besitzen, wenn wir die Wahrheit, mit Christus verbunden zu
sein, wirklich verstanden haben, dann wird es uns auch klar
37
sein, daß die Sündenfrage nie wieder vor Gott gebracht werden
kann. Wenn wir einmal durch das ein für allemal geschehene
Opfer des Leibes Christi geheiligt sind, dann ist unser Vollkommensein auf ewig das sichere Resultat (Hebr 10, 14). Ja,
das vollbrachte Werk Christi ist so vollkommen, daß die Sünden des Gläubigen nie wieder in Erinnerung gebracht werden
können. „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in
Christo Jesu sind" (Rö 8, 1). Für die mit dem ersten Ehemann
verbundenen Juden gab es nichts anderes als Verdammnis; für
die mit dem zweiten Ehemann verbundenen Christen gibt es
keine Verdammnis.
Ist es nicht ganz verwerflich, diese beiden Zustände miteinander zu vermengen, wie dies leider von vielen Christen geschieht? Wenn man mit Christus, dem aus den Toten Auferstandenen, verbunden ist, dann ist alles neu geworden, eine
neue Schöpfung. Sünde, Gesetz, Tod und Verdammnis haben
nichts mit der neuen Schöpfung zu tun, sie haben damit keine
Verbindung und gehören nicht dazu. Sie sind vergangen.
„Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung; das
Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden" (2. Kor 5,
iy). Welch ein Zustand! Eins mit Christus! Welch eine Rechtfertigung! Keine Verdammnis! Und welch ein Bild gebraucht
der Heilige Geist, um diese innige Verbindung zu beschreiben!
Nichts auf Erden drückt den Charakter der Einheit so deutlich
aus, wie das Verhältnis der Ehe. „Und der Mensch sprach:
Diese ist einmal Gebein von meinen Gebeinen, und Fleisch
von meinem Fleische" (1. Mo 2, 23). Auch wendet der Heilige
Geist diese Worte auf uns an, indem Er sagt: „Denn wir sind
Glieder seines Leibes, von seinem Fleische und von seinen Gebeinen" (Eph 5, 30). Wir wissen nun, wenn eine Person in
den Brautstand tritt, geht sie in ein neues Verhältnis; das alte
vergeht. Am Tage ihrer Verbindung zeichnet sie zum letzten
Mal mit ihrem Namen, und dann hört selbst dieser auf zu
existieren. Allerdings ist sie noch dieselbe Person, aber sie
befindet sich in einer ganz neuen Stellung, und zwar in einem
so dauerhaften und unveränderlichen Verhältnis, daß nur de*
Tod diese Verbindung lösen kann.
Wenn wir nun bedenken, daß dies alles auf den Gläubigen, der
mit Christus, dem aus den Toten Auferstandenen, verbunden
38
ist, angewendet wird, wie sehen wir dann, daß dies eine ganz
neue Stellung ist! Das ist nicht das Werk eines Menschen,
sondern ganz und gar das Werk Gottes. Gott hat unseren
Herrn und uns mit Ihm auferweckt und uns mitsitzen lassen
in Ihm in den himmlischen örtern. Hätte der Mensch sich
selbst aus dem Zustand des Totseins in Sünden zu einer so
erhabenen Stellung auferwecken können? Vergessen wir nicht,
daß der Apostel uns deutlich zeigt, wie unmöglich es selbst
für die Juden war, zu gleicher Zeit in dem alten und in dem
neuen Zustand zu sein. Durch den Tod Christi ist der alte
Zustand völlig vorbei. Zu ihm, d. h. unter das Gesetz zurückzukehren, heißt den Tod Christi wirkungslos machen. Wie die
verheiratete Frau ihren Namen verliert, so hört auch der Jude
auf, ein Jude zu sein, und der Heide hört auf, ein Heide zu
sein. Beide werden eins, verbunden mit Christus in der Auferstehung. Und wie dauerhaft ist dies gesegnete Verhältnis!
Selbst der Tod kann dieses feste Band nicht lösen. Wird der
aus den Toten auferstandene Christus je wieder sterben? Nein,
denn „wir wissen, daß Christus, aus den Toten auferweckt,
nicht mehr stirbt" (Rö 6, 9). Wir, die mit Ihm auferstanden
sind, teilen mit Ihm das Auferstehungsleben. Das ewige
Leben kann nie zerstört werden. Unser Leben ist so unvergänglich wie das Seinige, ja, es ist dasselbe Leben. Ich spreche
nicht von dem, was Er ist als Gott, sondern was Er ist als
auferstandener Mensch, und ich frage: Kann Christus je wieder
sterben? Ebenso wenig können auch die sterben, die mit Ihm
gestorben, mit Ihm auferweckt und eins mit Ihm geworden
sind; und ich füge kühn und mit größter Freimütigkeit hinzu,
daß, wenn wir einmal mit Christus vereinigt sind, keine Macht
dies gesegnete und ewig dauernde Band zu zerreißen vermag.
Möchte die Festigkeit dieses immerwährenden Verhältnisses
doch besser erkannt werden! O mein Bruder, öffne dein Herz
dieser bewunderungswürdigen Wahrheit! Du bist nicht nur für
wenige Tage mit Christus verbunden, um dann wieder von Ihm
aufgegeben zu werden. Wohl kannte Er deine ganze Unwürdigkeit und alle deine Sünden. Aber alles ist bereits auf dem
Kreuze getragen, und jetzt vermag nichts dich von dem auferstandenen Christus zu scheiden. Es ist eine der unaussprechlichen Segnungen dieser Verbindung, daß sie keine Trennung
zuläßt. Welch eine Vereinigung! Welch eine vollkommene Ein39
heit. Die Liebe Christi, die sich hier offenbart, können Worte
nicht beschreiben. „Christus (hat) die Versammlung geliebt
und sich selbst für sie hingegeben .. . Wer sein Weib liebt,
liebt sich selbst . . . gleichwie auch der Christus die Versammlung" (Eph 5, 25. 28. 29). Bist du je in diese Gedanken eingedrungen, daß Christus die Kirche liebt, wie Er Sich selbst
liebt? Kannst du, auf diese Worte gestützt, ausrufen: „Teurer,
auferstandener Herr! Du liebst mich, wie Du Dich Selbst
liebst"? Welcher Friede, welche Freude, an diese unveränderliche, nie endende Liebe Christi zu denken!
Durch diesen Gegenstand werden zwei andere Punkte sehr
deutlich ins Licht gerückt. In einer Hinsicht sind Rechtfertigung
und Gerechtigkeit ein und dasselbe. Nachdem der Apostel die
vollständige Befreiung von dem elenden Eheverhältnis unter
dem ersten Ehemann, dem Gesetz, dargestellt hat, und zwar
nls Folge des Gestorbenseins mit Ihm, dem aus den Toten
Auferweckten, fährt er fort: „Also ist jetzt keine Verdammnis
für die, welche in Christo Jesu sind." Weiter lesen wir in demselben Kapitel: „Gott ist es, welcher rechtfertigt," und der
Apostel fügt hinzu: „Wer ist, der verdamme" (Rö 8)?
Ich danke Gott für jeden Widerspruch und jede Streitfrage in
der letzten Zeit, denn alles hat in mir die Wirkung hervorgebracht, jeden Gegenstand vor Gott zu bringen und meine
Seele in beziig auf solche Gegenstände mit Seinem Charakter
zu beschäftigen. Und darum wollen wir auch diese Frage in
bezug auf Gott näher betrachten.
Angenommen, der Sohn einer Familie schließt mit irgendeiner
Person die Ehe. Wenn nun der Vater diese Ehe billigt, oder
rechtfertigt, so bezieht sich das sowohl auf den Sohn als auch
auf dessen Braut. Er wird beide in seinem Hause aufnehmen.
Wie groß auch der Reichtum des Sohnes und wie groß auch
die Armut der jungen Frau vor der Heirat gewesen sein möchte,
wird der Vater der Braut doch nie ihre frühere Armut vorwerfen, wenn er die Heirat gutgeheißen hat. Beide sind ein
Fleisch. Wenn der Sohn reich ist, kann dann die Frau arm
sein? Und wenn der Vater sie unter seinen Schutz nimmt, wer
kann dann Klage gegen sie erheben? Es wird kaum nötig sein,
ausführlicher zu werden. Gott war es, Der Seinen Sohn sandte,
und dadurch daß der Sohn uns für Sich erwarb, tat Erden Willen
40
des Vaters. Darum liebte Ihn der Vater, weil Er Sein Leben
ließ für die Schafe (Joh 10). Wo sind nun meine Sünden?
Gott hat sie auf Ihn gelegt. Wie bin ich nun von meinen Sünden gerechtfertigt? „Christus ist es, der gestorben, ja noch
mehr, der auch auferweckt ist." Welches ist nun der vollkommenste, deutlichste und sicherste Beweis für meine Rechtfertigung? „Der auch zur Rechten Gottes ist, der sich auch für uns
verwendet." Ich wiederhole es, daß Gott es ist, Der uns mit
Christus auferweckt hat. Ja, Gott hält die Verbindung aufrecht, Gott rechtfertigt sie. Der Mensch mag verachten und
verwerfen, er mag töten und kreuzigen; aber hat nicht Gott
diese Verbindung gebilligt? Ist Er es nicht, Der sie gutheißt
und rechtfertigt? Daher wissen wir: „Also ist jetzt keine Verdammnis mehr." Christus hat uns geliebt und Sich Selbst für
uns hingegeben. Er nahm auf Sich unsere Sünden und unsere
Schuld. Er trug unser Gericht. Gott hat Seine Zustimmung gegeben, indem Er Ihn „aus den Toten auferweckt hat, welcher
unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer
Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist" (Rö 4, 25).
„Gott ist es, welcher rechtfertigt." Nun sind wir im Auferstehungsleben verbunden mit Ihm, Der aus den Toten auferweckt ist, und sind eins mit Ihm. Gott hat diese Verbindung
gebilligt. Und die Gerechtigkeit Gottes? Sie ist in ihrer ganzen
Tragweite aufrechterhalten worden, sowohl hinsichtlich unserer
Sünden, die durch das Blut Christi abgewaschen sind, als auch
hinsichtlich unseres gegenwärtigen und zukünftigen Lebens
als solche, die eins sind mit Christus. Denn unsere neue Schöpfung in Christo Jesu ist in Gerechtigkeit und wahrer Heiligkeit. Welch ein herrlicher Gedanke! Wir sind eins mit Christus.
Er ist unsere Gerechtigkeit, unser Friede, unsere Herrlichkeit. Er
ist uns geworden Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und
Heiligkeit und Erlösung (1. Kor 1, 30).
Ja, mein teurer Bruder in Christo, wir sind vollkommen eins
mit Christus. Wir sind auf der Hochzeitsreise und gehen
unserem gesegneten Herrn entgegen. Wir haben die Erlösung
durch Sein Blut, das ist die Vergebung der Sünden, nach dem
Reichtum Seiner Gnade. Wir sind freigesprochen von unseren
Sünden und von allem, was mit unserer alten Natur und Stellung in Zusammenhang stand; ja, wir sind mit Ihm auferweckt
41
und in einen ganz neuen Zustand versetzt worden. Es hat keine
Verbesserung der alten Natur stattgefunden, sondern wir
haben eine ganz neue erhalten. Wir sind eine neue Schöpfung
und in diesem neuen Zustand eins mit Christus. Wir haben
unser altes Leben völlig verloren, aber wir besitzen ein neues
Leben — das Auferstehungsleben. Als Auferweckte und als Besitzer dieses neuen Lebens sind wir vor Gott gerechtfertigt. „Wenn
Gott für uns ist, wer wider uns?" Alles ist aus Gott. Was
könnte mehr Frieden geben als dieses? Sollen wir nun alle
diese herrlichen Vorrechte und Segnungen aufgeben und zurückkehren zu dem alten Ehemann, dem Gesetz? Bedenke wohl,
wir können nicht mit beiden verbunden sein. Wenn wir unter
dem Gesetz sind, dann sind wir nicht mit Christus verbunden.
Wenn wir mit Christus verbunden sind, dann sind wir nicht
unter Gesetz. Wie klar macht dies den ganzen Gegenstand!
Du wirst nun vielleicht fragen: Was ist nun aber Regel und
Richtschnur des christlichen Lebens und Wandels? Christus
allein. — „Ihr Weiber, gehorchet euren Männern!" Ist das
nicht der Grundsatz des Gehorsams gegen Christus, der Grundsatz der Liebe und nicht des Gesetzes, und dennoch das Gesetz
der Liebe? Erkenne ich Christus in dieser bewunderungswürdigen, unwandelbaren Beziehung? Bin ich mir Seiner beständigen, unveränderlichen Liebe bewußt? Dieser Grundsatz läßt
mich die ganze Bibel verstehen, und je mehr ich Seine Liebe
kenne, desto mehr wird es meine Freude sein, Seinen Willen
angedeutet zu finden.
Wenn wir nun davon sprechen, daß wir vom Gesetz befreit
sind, möge niemand darunter verstehen, daß wir damit Gesetzlosigkeit, die ja das wahre Wesen der Sünde ist, meinen. Was
wir meinen, ist Folgendes: Wir werden nicht geprüft hinsichtlich des Grundsatzes: „Tue dies, so wirst du leben." Das Gesetz
ist nicht länger der Prüfstein für den Menschen. Es heißt nicht
mehr: „Du sollst Jehova, deinen Gott, lieben mit deinem
ganzen Herzen." Alles ist Gnade. Gott hat mich geliebt mit
Seinem ganzen Herzen, als ich noch verloren und schuldig war,
und nichts kann mich von Seiner Liebe scheiden. Ich liebe Ihn
nun, weil Er mich zuerst geliebt hat, und die Liebe freut sich,
den Willen Gottes zu tun.
Wie steht es aber hinsichtlich der Kraft?
42
Wir haben bereits gesehen, daß der Mensch unter dem Gesetz
keine Kraft hat, der Sünde zu widerstehen, sondern daß das
Gesetz die Sünde in vielen verschiedenartigen Übertretungen
zum Vorschein bringt. Unter dem Gesetz herrscht die Sünde,
und deshalb ist es zu allen Zeiten das unablässige Streben
Satans, die Christen unter das Gesetz zu stellen. Die Gnade
ist jedoch gerade das Gegenteil, sogar in bezug auf die Sünde
und den Wandel. „Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade"
(Rö 6, 14). Aber noch mehr: wir sind mit Ihm, Der aus den
Toten auferstanden ist, verbunden, auf daß wir Gott Frucht
bringen (Rö 7, 4). „Denn das Gesetz des Geistes des Lebens
in Christo Jesu hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde
und des Todes. Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es
durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen
eigenen Sohn in Gleichheit des Fleisches der Sünde und (als
Opfer) für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische verurteilte, auf daß das Recht des Gesetzes erfüllt würde in uns,
die nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste wandeln"
(Rö 3, 2—4). Wir mögen fehlen, und das Böse mag hervorbrechen, aber wenn wir unter der Gnade sind, wird die Sünde
keine Herrschaft über uns haben. Es mögen harte Kämpfe,
böse Lüste zu Zeiten aufkommen, aber der Geist gelüstet
wider das Fleisch, auf daß wir nicht das tun, was wir sonst
gerne getan hätten (siehe Gal 5, 17).
Wenn wir daher mit Christus verbunden sind, ist es nicht nur
unsere Freude, Seinen Willen zu tun, sondern es ist auch Kraft
dazu vorhanden, die Kraft des Geistes des Lebens in Christo
Jesu, so daß wir das Gesetz nicht nur nicht übertreten, sondern
auch die Gerechtigkeit des Gesetzes in uns, die wir nicht unter
Gesetz sind, erfüllt wird.
Unter dem ersten Ehemann war nichts vollkommen, alles war
Elend und Knechtschaft. Sind wir hingegen mit Christus verbunden, dann ist alles göttlich vollkommen. Von welcher Seite
wir diese gesegnete Einheit auch betrachten mögen, ob hinsichtlich der Rechtfertigung oder des Wandels, überall zeigt
sich göttliche Vollkommenheit: vollkommene Rechtfertigung,
keine Verdammnis mehr. Das vollkommene Vorbild und die
43
vollkommene Richtschnur des Lebens erblicken wir in Christus,
— die vollkommene Kraft für den Wandel im Geiste des Lebens.
Möchten unsere Herzen doch mehr in diese Dinge eindringen!
Was bedeutet der Reichtum dieser Welt für uns, die wir auf
der Hochzeitsreise sind? Was haben wir mit der Welt zu tun?
Was sind ihre Ehren für uns? Was kümmert uns ihre Politik?
Und was — so können wir hinzufügen — kümmert uns ihre
Religion? Wenn wir mit Christus gestorben sind, warum trachten wir dann noch nach Dingen, die zur Zerstörung bestimmt
sind durch den Gebrauch (Kol 2, 22)? Und wenn wir mit
Christus auferweckt sind, sollten wir dann nicht suchen, was
droben ist? Laßt uns doch unseren „Ehevertrag" im Epheserbrief, und die Richtlinien unseres „Ehelebens" im Kolosserbrief
betrachten! Wir können hier nicht näher darauf eingehen.
Aber betrachte für dich, mein Leser, unter Gebet den kostbaren
Brief an die Epheser. Dann wirst du klar erkennen, wozu Gott
uns in Christus gemacht hat, wie Er uns auserwählt hat in
Ihm, wie Er uns zuvorerkannt hat in Ihm, und wie Er uns angenommen hat in Ihm. Welch eine Erlösung und Vergebung
der Sünden! Welch eine Herrlichkeit und Ehre! Welch eine
Weisheit und Gerechtigkeit! Welch ein Reichtum Seiner Gnade!
Welch ein Siegel und Unterpfand unseres Erbes! Aber lie*,
weiter und erkenne, welche Sicherheit Gott uns gab, als Er
Christus aus den Toten auferweckte. Laßt uns durch den
Glauben Ihm folgen, Der hoch erhoben ist über alle Fürstentümer und Gewalten und über jeglichen Namen, und dies
alles für uns, die Kirche, die Sein Leib ist, die Fülle Dessen,
Der alles in allem erfüllt. Das zweite Kapitel dieses Briefes zeigt
uns, was wir waren und was wir jetzt sind, und zwar alles
aus Gnaden, alles aus Gott. Im dritten Kapitel finden wir
jenes Geheimnis, das seit den Zeitaltern verborgen, und —
wir müssen es leider sagen — für Jahrhunderte wiederum verloren gegangen war. Das vierte Kapitel gibt uns beachtenswerte Belehrungen bezüglich unseres Betragens in dieser Verbindung mit Ihm, und schließlich offenbart uns das fünfte
Kapitel die wunderbare Liebe Christi zur Kirche, Seiner Braut.
Wie es mit unserer Erlösung ist, so verhält es sich auch mit
unserer Vereinigung. Wir haben die Erlösung, und dennoch
erwarten wir sie noch, d. h. ihre vollständige Erfüllung. Wir
44
sind mit Christus vereinigt, und doch eilen wir der Hochzeit
des Lammes entgegen. Wie unzählig wird die Zahl, und wie
groß die Freude derer sein, die, wenn die Hochzeit des Lammes
gekommen ist, mit lauter Stimme rufen werden: „Halleluja!
denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat die Herrschaft
angetreten. Laßt uns fröhlich sein und frohlocken und ihm
Ehre geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und
sein Weib hat sich bereitet. Und es ward ihr gegeben, daß sie
sich kleide in feine Leinwand, glänzend und rein; denn die
feine Leinwand sind die Gerechtigkeiten der Heiligen" (Offb
19, 6-8).
Welch ein Tag ungetrübter Freude wird das sein! Und er wird
mit Sicherheit anbrechen. Für diese Freude erduldete der Herr
das Kreuz, indem Er der Schande nicht achtete, und Er hat Sich
gesetzt zur Rechten des Thrones Gottes (Hebr 12, 2). Sollen wir
nicht auf Seine Wiederkunft warten? Können wir nicht sagen:
„Komm, Herr Jesus"? Wie wird uns sein, wenn wir Ihn von
Angesicht zu Angesicht schauen! Kein Wort kann diese Willkommensfreude ausdrücken. Welch ein herrlicher Triumph der
unaussprechlichen Gnade und der unendlichen Liebe! Es ist
Gnade von Anfang bis Ende, Liebe, die nimmer ausgelöscht
werden kann. Und welch ein Glück, immer beim Herrn zu sein,
wo fern von dem Streit und der Zwietracht einer bösen Well
alles in ruhigen, ewigen Frieden verwandelt ist! Dort begegnen
wir keiner Spur von Sünde, keiner Runzel der Unvollkommenheit, keinem unheiligen Gedanken. Seele, betrachte und bewundere diese Szene reinsten, ungetrübten Segens! Alles ist
dein. Ja, Er Selbst, der Mittelpunkt und die Quelle von allem,
ist dein, und du bist Sein. Was könnte dir noch fehlen?
Hochgelobter Herr! Laß Deine Braut aufwachen! Lenke unsere
Herzen von allem Sichtbaren ab und erfülle sie mit Dir! „O
Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes" (Rö 11, 33)! Ihm sei Ehre und Herrlichkeit
in der Versammlung durch Jesus Christus in alle Ewigkeit!
Amen. (Nach dem Englischen von C. J.)
45
Die erste
und die zweite Ankunft Christi
Der herrliche Zweck der ersten Ankunft Christi auf Erden wird
uns in Hebr g, 26 deutlich vor Augen gestellt, und zwar mit
den Worten: „Jetzt aber ist er einmal in der Vollendung der
Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch
sein Opfer". Er, Der bereits lange zuvor in den israelitischen
Opfern Sein Vorbild gefunden hatte, erschien Selbst zur bestimmten Zeit, um alles zu erfüllen, was die Opfer des Alten
Testaments nicht hatten erfüllen können, nämlich die Sünde
hinwegzutun. Wohl konnten die Opfer zur Reinigung des
Fleisches dienen, aber unmöglich konnten sie das Gewissen
von bösen Werken reinigen. Das Blut des Sohnes Gottes hat
sie weggenommen. Er hat an Seinem eigenen Leibe unsere
Sünden auf dem Holze getragen. Alle unsere Sünden lagen auf
Ihm, und darum traf Ihn auch die Strafe, die wir verdient
hatten. Durch Sein Opfer hat Er die Sünde zunichte gemacht.
Auf Grund dieses Opfers kann Gott nun zu allen, die an Jesus
glauben, sagen: Eurer Sünden und eurer Gesetzlosigkeiten
werde ich nie mehr gedenken (vgl. Hebr 10, 17). In Christus
haben wir „die Erlösung . . . durch sein Blut, die Vergebung
der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade" (Eph 1, 7).
Aber Christus hat nicht nur dies getan. Er hat nicht nur unsere
Sünden vergeben und unsere Missetaten durch Sein Blut ausgelöscht, sondern hat auch die Sünde zunichte gemacht. Wir
hatten nicht nur gesündigt, sondern wir befanden uns auch
unter der Macht der Sünde. Die Sünden, die wir getan haben,
sind die Frucht des Zustandes, in dem wir uns von Natur
befanden. Diesem Zustand nun hat Christus ein Ende gemacht.
Er hat nicht nur an Seinem Leibe unsere Sünden auf dem
Holze getragen, sondern Er wurde auch von Gott für uns zur
Sünde gemacht. Am Kreuz trug Er unsere Sünden, und am
Kreuz wurde Er behandelt, als wäre Er in dem Zustand, in
dem wir uns von Natur befanden. In Sich Selbst war Er rein
und heilig, aber Er wurde unser Stellvertreter, und als solchen
machte Gott Ihn zur Sünde und belud Ihn mit unseren Sünden.
46
Darum befand Er Sich drei Stunden lang in der Finsternis
und war von Gott verlassen. Darum starb Er, der Gerechte,
für die Ungerechten. In Seiner unendlichen Liebe starb Er den
Tod des Sünders und machte dadurch die Sünde vollkommen
zunichte. Er wurde an unserer Statt gestraft, von Gott verlassen und getötet, und darum sind wir, die an Christus
glauben, vollkommen frei. „Denn durch ein Opfer hat er auf
immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden." Es
kann keine Rede mehr davon sein, daß Gott uns unsere Sünden zurechnet, denn Christus hat sie alle durch Seinen Tod am
Kreuz vernichtet und ebenso wenig kann für uns vom Gericht
die Rede sein, denn Christus war an unserer Statt gestraft und
gerichtet. Die Sünde, die in uns wohnt, das Fleisch, unsere
alte Natur, hat Er weggetan. Gott sieht uns in Christo nicht
nur als von der Sünde befreit, sondern auch als ganz der
Macht der Sünde entrückt. Zwar wohnt die Sünde in unserem
Fleisch, solange wir auf der Erde leben, aber die Sünde im
Fleisch steht nicht mehr zwischen uns und Gott. Sie ist mit
Christus am Kreuz gerichtet und durch das Opfer Seiner Selbst
weggetan. Gott sieht uns jetzt vom Fleisch und der Sünde so
weit getrennt, wie Christus davon getrennt ist. Und wie weit
ist Christus davon getrennt? So weit der Himmel von der
Erde ist. Er ist in der Fülle der Zeiten geoffenbart worden, um
durch Sein Opfer die Sünden wegzutun, und „nachdem er
durch sich selbst die Reinigung der Sünden gemacht, (hat er)
sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe" (Hebr i, 3).
Christus, Der aus den Toten auferstanden und gen Himmel
aufgefahren ist, ist das ewige Zeugnis, daß die Sünde und die
Sünden, die Wurzel und die Zweige, für immer in Übereinstimmung mit den Forderungen der Heiligkeit Gottes und den
Bedürfnissen des Sünders hinweggetan sind. Er, Der unsere
Sünden auf dem Holze trug, Der für uns zur Sünde gemacht
und darum von Gott verlassen wurde, ist von Gott aus den
Toten auferweckt und zu Seiner Rechten gesetzt worden. Er,
Der unser Stellvertreter am Kreuze war und an unserer Statt
gestraft und gerichtet wurde, ist jetzt im Himmel mit Ehre
und Herrlichkeit gekrönt. Wo sind nun die Sünden, die Er trug?
Sie sind für immer weggetan. Wo ist die Sünde, unter deren
Macht wir waren? Sie ist völlig zunichtegemacht. Und wo befindet sich der Gläubige jetzt? Er sitzt in Christo zur Rechten
47
Gottes. Darum können wir sagen: So weit der Himmel von
der Erde ist, so weit bin ich von der Sünde entfernt, denn ich
bin in Christo, und Christus ist zur Rechten der Majestät
Gottes in den höchsten Himmeln mit Ehre und Herrlichkeit
gekrönt.
Was fehlt uns nun noch? Nichts mehr als Jesus zu sehen, wie Er
ist, und Ihm gleich zu sein (1. Joh 3). Wir sind mit Dem vereinigt, Der für uns den Weg des Todes und des Gerichts gegangen ist. Wir stehen mit Ihm auf dem Felsen der Auferstehung;
Tod und Gericht sind hinter uns. In Christus sind wir aus dem
Tode in das Leben hinübergegangen. Nun erwarten wir nichts
anderes als Christus, und zwar als kommend in Herrlichkeit.
Nachdem der Apostel uns den Zweck der ersten Ankunft Jesu
vor Augen gestellt hat, sagt er uns, daß Er „zum zweiten Male
denen, die Ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen (wird) zur
Seligkeit" (Hebr 9, 28). Ohne Sünde — denn Er hat bei Seiner
ersten Ankunft die Sünde zunichtegemacht. Richten wir daher
unseren Blick auf das Kreuz; dort sehen wir Christus, beladen
mit unseren Sünden, für uns zur Sünde gemacht und niedergebeugt unter dem Gewicht des Zornes Gottes. Richten wir
dann unseren Blick auf Jesus, sitzend zur Rechten Gottes, wo
Er mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt ist. Bald kommt Er
wieder. Wir werden Ihn getrennt von der Sünde sehen, und
dann wird Er uns aufnehmen in Seine Herrlichkeit. Alles was
nötig war, um uns für die Herrlichkeit und die Gegenwart
Gottes passend zu machen, hat Er vollbracht, als Er zum ersten
Mal hier auf der Erde war. Nun fehlt uns nichts, als die Herrlichkeit zu schauen und sie mit Ihm zu teilen. O wie glücklich
sind unsere Herzen, wenn wir diese herrlichen Wahrheiten
verstehen! Unruhe und Angst sind dann verschwunden. Friede
und Seligkeit erfüllt unser Herz, und mit Freuden erwarten wir
die Wiederkunft Jesu.
Die Wiederkunft Jesu ist daher die Erwartung der Gläubigen.
Er wird denen, die Ihn erwarten, erscheinen zur Seligkeit.
Ist das nicht Grund genug, den Herrn zu erwarten? Der Gläubige hat weder den Tod, noch sonst ein Ereignis zu erwarten.
Zwar kann er sterben, ehe der Herr kommt, aber für ihn ist
der Tod keineswegs ein Gegenstand der Erwartung. Christus
Selbst ist seine glückselige Hoffnung. Welch eine herrliche
43
Sicherheit liegt in den Worten: „Er wird denen, die ihn erwarten, . . . erscheinen." Sie sollen in ihrer Erwartung nicht
getäuscht werden. „Ich komme wieder und werde euch zu mir
nehmen, auf daß, wo ich bin, auch ihr seiet" (Joh 14). Und
wiederum: „Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart wird,
dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit" (Kol 3, 4). Ja, der Herr wird bald zum zweiten Mal erscheinen. Das erste Mal kam Er, um uns zu erlösen und die
Sünde zunichtezumachen. Das zweite Mal kommt Er, um uns
in Seine Herrlichkeit, in das Haus des Vaters zu bringen. Die
erste Ankunft war ein Werk vollkommener Gnade. Er kam
als der gehorsame Diener, um den Willen des Vaters zu tun
und das große Erlösungswerk zu vollbringen. Seine zweite
Ankunft wird in göttlicher Majestät und prachtvoller Herrlichkeit stattfinden.
Anmerkung des Bearbeiters: Es ist vielleicht gut, hier eine
kurze Erklärung zu geben, um Verwirrung zu vermeiden.
Nachdem der Herr einmal in der Fülle der Zeit geoffenbart
worden ist und nach Seiner Auferstehung von der Welt nicht
mehr gesehen wurde, wird Er auch für die Welt, die nicht an
Ihn glaubt, nur in Herrlichkeit zum Gericht erscheinen (Kol 3,
4; 2. Thess 1, y—10; 2, 8 usw.) Vorher wird Er jedoch für die
Seinen erscheinen, um sie von dieser Welt zu Sich ins Vaterhaus zu nehmen (Joh 14, 3; 1. Kor 15, 5iff.; 1. Thess 4, ~L4.1l.;
Hebr 9, 28). Bei diesem — für die Welt unsichtbaren — Kommen
des Herrn für die Seinigen werden sie in die Herrlichkeit aufgenommen. Wenn der Herr dann danach für die Welt, die Ihn
seit der Kreuzigung nicht mehr gesehen hat, in Herrlichkeit
zum Gericht erscheinen wird, werden wir, die Gläubigen, Ihn
begleiten und mit Ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit
(Kol 3, 4)-
Lieber Leser! Gehörst du auch zu denen, die Ihn erwarten zur
Seligkeit? Verlangt dein Herz nach Seiner Ankunft? Nichts
steht Seinem Kommen im Wege. Sobald alle die Seinigen aus
der Welt erlöst sind, kommt Er, um uns in Seines Vaters Haus
einzuführen. Wenn Er heute kommt, dann werden wir noch
heute in einem Augenblick, in einem Nu verwandelt werden;
unser sterblicher Leib wird Unsterblichkeit anziehen, und
plötzlich werden wir von dieser sündigen Erde weggenommen
49
und in die unmittelbare Gegenwart Gottes gebracht werden,
wo wir ewig bei Jesus sein und Seiner Herrlichkeit teilhaftig
sein werden. Welch eine glückselige Hoffnung! Durch Jesus
von den Sünden befreit und auf ewig erlöst und vollendet,
wartet auf uns eine ewige Herrlichkeit, wo wir ungestört und
in vollem Maße genießen, was schon jetzt durch den Glauben
unsere Herzen glücklich macht. — O Herr, erfülle unsere Herzen mit Lob und Anbetung für Deine unendliche Liebe, und
richte unsere Blicke unverwandt auf Deine baldige Ankunft!
50
Wie der Himmlische ist,
so sind auch die Himmlischen
(l. Korinther 15, 48)
Die Heilige Schrift stellt uns zwei Dinge vor Augen, die zur
Erlösung unbedingt nötig sind. Das erste von ihnen ist die
völlige Offenbarung des in Gnade gegen uns handelnden, moralischen Charakters Gottes. In der Versöhnung wird dieser
Charakter nicht nur geoffenbart, sondern Gott Selbst wird
auch in ihr verherrlicht, denn sowohl die Gerechtigkeit Gottes
gegen die Sünde, als auch Seine Liebe gegen den Sünder tritt
dadurch in das hellste Licht. Das zweite von ihnen, das von
dem ersten ganz verschieden ist, ist die Dazwischenkunft
der Kraft Gottes, die uns aus dem Zustand des Elends und der
Gottlosigkeit, den Folgen der Sünde, herausreißt und uns in
eine ganz neue Stellung versetzt.
Wenn Sünder zu Gott gebracht werden sollten, war das erstere
eine unbedingte Notwendigkeit, denn, um uns zu Gott zu bringen, mußte die Versöhnung stattfinden. Wenn Gott uns zu
Sich gebracht hätte, ohne daß zuvor Seine Gerechtigkeit
unzweideutig erwiesen worden wäre, so hätte man in Ihm
nicht den Heiligen und Vollkommenen erblicken können, der
Er in Wirklichkeit ist. Aber alles, was Gott ist, ist am Kreuz
völlig erwiesen und ans Licht gestellt worden. Nur auf dem
Kreuz konnte dies vollkommen geschehen. Hätte Gott nur
in Barmherzigkeit gegen den Menschen gehandelt und ihm
seine Schuld ohne weiteres erlassen, so wäre dies in Wirklichkeit keine Liebe, sondern Gleichgültigkeit gegen die Sünde gewesen. Wenn zum Beispiel eines meiner Kinder sich schlecht
benimmt und ich es dennoch wie meine anderen Kinder behandele, so ist das sicher keine Liebe. Man besitzt nicht die wahre
Liebe, wenn nicht nach der Wahrheit des heiligen Namens
Gottes die Gerechtigkeit im vollen Maß gehandhabt wird.
Allein die Ausübung dieser Gerechtigkeit würde ohne das Kreuz,
ohne den Tod Christi, Der Sich der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes übergab, nicht stattgefunden haben; denn das
Kreuz zeigt uns sowohl die Heiligkeit Gottes, Seinen Haß
51
gegen die Sünde, als auch Seine Liebe gegen den Sünder. Das
Kreuz Christi ist für uns die Offenbarung und der unwiderlegbare Beweis von allem, was Gott nicht nur in Liebe, sondern
auch in Heiligkeit ist. Hierin liegt ein großer Segen. Wir kommen zu Gott als verlorene Sünder und finden dort den Versöhnungsdeckel und das darauf gesprengte kostbare Blut. Aber
wenn ich im vollen Genuß des Friedens auf das Kreuz blicke,
so sehe ich, in welch einer vollkommenen Weise Gott durch das
Kreuz verherrlicht worden ist. Und je mehr das Kreuz mir die
Heiligkeit Gottes zeigt, desto mehr wird mir deutlich, wie
wunderbar es ist. Es gibt weder im Himmel noch auf Erden
etwas, das ihm zur Seite gestellt werden könnte. Zwar offenbart uns die Schöpfung die Macht Gottes in reichem Maße, aber
sie stellt nicht die Liebe und die Wahrheit Gottes in dem Maße
ans Licht, wie das Kreuz es tut. Daher bleibt für alle Ewigkeiten
das Kreuz die gesegnete Stätte, wo man lernen kann, was der
wahre Charakter und das Wesen Gottes ist.
Aber es gibt noch eine andere Seite der Wahrheit, die wir
kennen müssen, nämlich die Tatsache, daß der Erlöser gekommen ist, um uns aus einem Zustand zu befreien, in dem wir
uns Von Natur befinden; denn wir waren arme, elende Wesen,
die sich vergeblich bemühten, aus dem Schlamm der Sünde
herauszukommen. Wenn es auch eine unumstößliche Wahrheit
ist, daß Gott in dem Kreuz Christi gerechtfertigt und verherrlicht worden ist, so folgt daraus jedoch noch nicht, daß wir auch
aus dem Zustand, in dem wir uns befanden, herausgezogen
sind. In bezug hierauf war es nötig, daß Gott zu uns herabstieg, uns aus dem Zustand des Elends und der Sünde herauszog und uns in eine ganz neue Stellung versetzte. Hierzu bedurfte es der Dazwischenkunft der göttlichen Macht.
Die Erlösung ist eine durch göttliche Kraft zuwege gebrachte
Befreiung, eine Macht, durch die wir dem einen Zustand entrissen und in einen anderen versetzt worden sind. Zwar sind
wir moralisch verändert, aber — obwohl jeder, von dem dies
gesagt werden kann, auch sicher alles übrige erlangen wird —
wir bedürfen mehr als dies. Vorausgesetzt, daß ich die neue
Natur besitze mit dem Verlangen nach Heiligkeit, was hat dies
zur Folge? Daß ich das Bewußtsein von der in mir wohnenden
Sünde habe. Ich begehre, heilig zu sein, aber ich sehe, daß ich
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es nicht bin; und gebeugt gehe ich unter der Macht der Sünde
einher, deren elender Sklave ich bin, und ich habe die Erkenntnis einer Heiligkeit, nach der ich zwar verlange, die ich aber
nicht besitze. Ich sage: Was nützt es, die Heiligkeit zu kennen,
da ich sie doch nicht habe? Dies gibt mir durchaus keinen Trost.
Wir haben soeben von der Gerechtigkeit Gottes gesprochen,
aber ich finde, daß ich diese Gerechtigkeit nicht besitze. Kann
ich in einem solchen Zustand Ruhe für meine Seele finden? Das
ist unmöglich; ja, es ist sogar eine Folge des Besitzes dieser
neuen Natur samt ihren heiligen Neigungen und Wünschen
für Christus, daß ich zu der Entdeckung gebracht werde, daß
mir gerade das fehlt, was diese neue Natur aus sich selber
mir nicht mitteilen kann. In mir habe ich das brennende Verlangen der neuen Natur, alle ihre heiligen und gerechten Wünsche; aber den Gegenstand meines Verlangens besitze ich nicht.
Ich sage: „O, wie gern möchte ich gerecht sein!" Aber ich bin
es nicht. Auf diesem Wege kommt Gott uns nun mit einer vollkommenen Erlösung entgegen. Zunächst macht Er uns lebendig,
um ein Bedürfnis nach Heiligkeit in uns wachzurufen. Zugleich
gibt Er uns eine neue Natur, um diese genießen zu können.
Aber das ist doch nicht alles. Wenn ich diese neue Natur habe,
besitze ich dann den Gegenstand, nach dem ich begehre? Keineswegs. Ich mache die größten Anstrengungen, um die mir
fehlende Heiligkeit zu erlangen, aber alles ist nutzlos. Ich hasse
die Sünde. Aber die Sünde, die ich hasse, ist vorhanden. Ich
habe das lebendige Verlangen, mit Gott zu wandeln, um stets
das Licht Seines Angesichtes zu schauen. Aber ich sehe, daß
ich die Sünde in mir habe, und ich weiß, daß das Licht Seines
Angesichtes nicht auf meine Sünde scheinen kann. Ich benötige
eine Gerechtigkeit, die für die Gegenwart Gottes passend ist;
und ich besitze sie nicht. In diesem Zustand begegnet uns nun
Gott im Kreuz. Er gibt uns nicht nur die Natur, die wir brauchen, sondern auch die Sache, die wir nötig haben, nämlich die
Gerechtigkeit. Ja, in Christus gibt Er uns sowohl den vollkommenen Gegenstand, als auch die Natur, um davon zu genießen, und zwar alles in Kraft durch die Gabe des Heiligen
Geistes.
In 1. Kor 15 finden wir einen merkwürdigen Ausdruck bezüglich der Wahrheit, von welcher wir sprechen. „Wie der von
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Staub ist, so sind auch die, welche von Staub sind; und wie der
Himmlische, so sind auch die Himmlischen". Hier ist keine
Rede davon, was wir sind, wenn wir in die Herrlichkeit eingehen werden, denn es folgen die Worte: „Und wie wir das
Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das
Bild des Himmlischen tragen". Wir haben das Bild des ersten
Adam getragen in allen Folgen seiner Sünde und seines Falles.
Ebenso werden wir auch das Bild des letzten Adam tragen.
Zunächst aber wird uns die große Wahrheit vorgestellt. „Wie
der Himmlische ist, so sind auch die Himmlischen". Das ist
unser jetziger Zustand. Hier finde ich das, was mein durch Gott
lebendig gemachtes Herz benötigt, und ich lerne verstehen,
welch ein Segen in Christus ist, in Dem Gott uns dies geoffenbart hat. Gott hat uns eine vollkommene Gerechtigkeit gegeben
in Christus, Der Der in der Gegenwart Gottes angenommene,
verherrlichte Mensch ist, Der Der einzige ist, zu Dem Gott sagen
konnte: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße". Durch den Menschen bist Du
zwar verworfen, aber auf Dir ruht meine ganze Wonne. —„Wie
der Himmlische ist, so sind auch die Himmlischen." Dies ist es,
was Gott uns bezeugt. Er stellt uns in Christus vor Sich hin in
einem ganz neuen Zustand und läßt uns dann verurteilen, was
mit diesem Zustand nicht übereinstimmt. Zudem wird uns
auch Kraft verliehen — nicht nur eine neue Natur mit brennendem Verlangen nach einer Stellung, in der wir uns nicht befinden —, um dem Zustand gemäß, in dem wir uns befinden,
alles zu richten und zu verurteilen, was mit dieser neuen Stellung nicht im Einklang steht. Sollten jedoch wirklich Dinge
vorhanden sein, die ich zu verurteilen habe, so geschieht dies
in dem vollen Bewußtsein dessen, was Gott mir in Christus
Jesus gegeben hat. In Christus finde ich den Maßstab von dem,
was Gott durch die Dazwischenkunft Seiner Macht aus mir
gemacht hat.
„Wie der von Staub ist . . . wie der Himmlische ist usw." —
Hier sehen wir sozusagen die beiden Menschen, den ersten
Adam von Staub nebst allen, die ihm angehören, und
dann den zweiten Menschen, „den Herrn vom Himmel". Ich
finde in jedem dieser beiden Menschen das Vorbild aller anderen Menschen, die ihrem Bilde gleich sind. Ich finde in dem
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ersten Adam den gefallenen, elenden und verdorbenen Menschen, während ich im geistlichen Sinn in dem letzten Adam
das Haupt eines neuen Geschlechts erblicke, nachdem Er nach
den Ratschlüssen Gottes diesen Platz in Herrlichkeit eingenommen hat.
Daher ist es nicht nur wahr, daß in bezug auf das, was wir als
Kinder des ersten Adam waren, eine Versöhnung für uns geschehen ist, sondern Gott Selbst ist in Betreff unserer Sünden
verherrlicht worden. Je mehr wir daher die Gegenwart Gottes
genießen, desto mehr erkennen wir den Wert des Kreuzes.
Aber in 1. Kor 15, wo der Apostel die Frage der Auferstehung
behandelt, spricht er über die Dazwischenkunft der Macht Gottes. Wir sehen hier, wie Gott in bezug auf Christus in der
Kraft der Auferstehung handelt, und zugleich, wie wir die
Gegenstände dieser Kraft sind.
Wenn wir Christus anschauen, wie Er auf dieser Erde wandelte,
dann fällt uns in Seiner Beschäftigung mit den Menschen Seine
vollkommene Güte auf, eine Güte, die dem Menschen in all
seinen Bedürfnissen entgegenkommt. Unser Herz wird dadurch
ermutigt und getröstet. Er speist die Hungrigen, heilt die Kranken und treibt die Teufel aus. Dort war Kraft, aber nicht in
denen, mit denen Er zu tun hatte. Es war die Kraft Gottes. Er
kam den Menschen in all ihren Bedürfnissen zu Hilfe. Die
Güte Gottes in Christus Jesus war der Gottlosigkeit und dem
Elend, worin sich der Mensch befand, völlig angemessen. Ich
bin überzeugt, daß unsere Predigt von größter Kraft begleitet
sein würde, wenn wir mehr die Taten des Herrn in Seinem
Leben auf der Erde hervorheben würden.
Wenn ich Christus in Seinem Wandel hier auf der Erde betrachte, dann finde ich Gott in diesem sanftmütigen Menschen.
Es ist daher nötig, in einer Welt voller Mühsal, Elend und Gottlosigkeit immer den Blick auf die einfache Tatsache gerichtet zu
halten, daß Gott gekommen ist und ich Ihn gefunden habe.
Ich bin mit Ihm durch den Glauben zusammengetroffen; Gott
war da, und ich bin Ihm begegnet. Ich weiß, wer Er ist und
was Er für mich ist. Ich war nichts als ein Sünder, wie andere
Menschen; aber Gott war da, und Er war nur Güte gegen mich.
Christus kam um meinetwillen vom Himmel auf die Erde. In
Ihm begegne ich Gott, und folglich kenne ich Gott. Ich habe
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Seine Gnade kennengelernt und Seine Güte erfahren. Und darum weiß ich auch, was Er am Tage des Gerichts für mich sein
wird. Ich war ein elendes, verächtliches Geschöpf, das nach den
Vergnügungen und Schätzen dieser Welt trachtete. Aber jetzt
bin ich Ihm begegnet und weiß, wer Er ist. Wenn die Seele
dieses Bewußtsein hat, dann besitzt sie den Schlüssel, der alle
Pforten der Ewigkeit öffnet. Ich habe Gott gefunden, und ich
habe erfahren, daß Er Licht ist. Ohne Zweifel werde ich, gerade
weil Er Licht ist, in mir selber Mängel und Gebrechen entdecken und mich zu richten und zu verurteilen gezwungen sein.
Dennoch aber weiß ich, wer Er ist und was Er für midi ist. Und
so findet meine Seele einen Ruheplatz und lernt den Gott, mit
dem ich es zu tun habe, in Wahrheit kennen. Ich sehe, daß
„Gott in Christo war, die Welt mit sich selbst versöhnend". —
Aber nun tritt mir eine andere Schwierigkeit in den Weg: Ich
fühle mich nicht fähig, mit Ihm im Himmel zu sein. Ich sehe
die Sünde in mir, und die Sünde kann nicht geduldet werden.
Das ist wahr. Aber ich finde vollkommene Ruhe im Hinschauen
auf den gelobten Heiland, Der der Ausdruck einer Gnade ist,
von deren Vollkommenheit ich mir kaum eine Vorstellung
machen kann. Er kam herab und trat ein in den Zustand, in
dem ich mich befand. Ich sehe Ihn, Der für mich zur Sünde gemacht wurde, als den Träger meiner Sünden durch den Tod
und das Gericht gehen, um mich davon zu befreien. Ich finde
nicht nur, daß Christus auf der Erde lebte und Mitleid mit
meinem Elend hat und voll Güte gegen mich ist, sondern ich
finde Ihn auch als Den, Der meinen Platz einnimmt, um für
mich den Zorn und das Gericht Gottes zu tragen. Am Kreuze
leidet Er allein. Sein Leiden während Seines Wandels auf dieser
Erde war ein Leiden, an dem ich teilhaben kann. Er litt unter
der Hand der Menschen um der Gerechtigkeit willen; und auch
wir können, wenn auch in geringem Maße, in ähnlicher Weise
leiden. Er hat die Leiden in dieser Welt kennengelernt, um uns
zu trösten und Mitleid mit uns haben zu können. Aber wenn
ich den Herrn am Kreuz leiden sehe, finde ich Ihn dort ganz
allein. Dort ist die Sündenfrage zwischen Ihm und Gott vollkommen und für immer in Ordnung gebracht worden. An diesem Leiden kann ich nie teilnehmen. Ich konnte nicht dort sein,
wo Christus war; denn Er nahm dort meinen Platz ein, indem
Er den Zorn Gottes trug und jenen Todeskelch trank, dessen
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kleinster Tropfen mir den ewigen Tod gebracht hätte. Dort
sehe ich den Herrn auf den Platz meines tiefsten Elends herabsteigen und niedergebeugt unter der schweren Hand der
Gerechtigkeit Gottes. Er hat meinen Platz in Gnade eingenommen. Dort, wohin die Sünde mich gebracht hatte, dahin hat die
Gnade Ihn gebracht.
Nachdem die Versöhnung vollbracht und Gott durch den Tod
Christi vollkommen verherrlicht war, trat die Macht Gottes auf
den Plan und stellte Ihn, durch den das Werk der Erlösung geschehen war, zur Rechten Gottes. Daher sehe ich nicht nur die
Verherrlichung Gottes im Kreuze Christi, sondern ich sehe auch
die Macht Gottes wirksam, um denselben Christus, Der bis in
die Tiefe des Todes hinabgestiegen war, aufzunehmen und Ihn
zur Rechten Gottes in den Himmel zu setzen. Hier finde ich
also eine vollkommene Erlösung, und zwar in einer so großen
Tragweite, daß Christus in Vereinigung mit anderen den
Namen Gottes preisen kann, indem Er sagt: „Ich will
deinen Namen kundtun meinen Brüdern; inmitten der
Versammlung will ich dir lobsingen". Er kann diesem Namen
lobsingen, weil Er ihn kennt, da Er am Ende Seiner Laufbahn,
nachdem Er all unsere Sünden für immer getilgt hatte, in die
Gegenwart Gottes, Seines Vaters, eingeführt worden ist und
dort das volle Licht Seines Angesichtes genießt. Die Kraft Gottes war auf den Plan getreten, so wie wir in Psalm 16 lesen:
„Du wirst nicht zugeben, daß dein Frommer die Verwesung
sehe". Zwar mußte Christus auf dem Kreuz ausrufen: „Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?", aber auch
dort sehen wir, daß Er Sich ganz den Händen Gottes, Seines
Vaters, übergibt (Lk 23, 46); und Gott drückt Sein Siegel auf
Ihn, indem Er Ihn aus den Toten auferweckt. In der Auferstehung Christi finde ich das Eintreten der Macht Gottes, und
ich sehe den Menschen Christus Jesus in den Himmel versetzt,
nachdem die Versöhnung vollbracht und die Sündenfrage durch
das Werk, durch das Er Gott verherrlicht hat, ganz in Ordnung
gebracht worden ist. Ich sehe Ihn dort, wo die Kraft ihren Sitz
hat als den Gegenstand der Ratschlüsse Gottes. Denn Christus
ist es, in dem alle Dinge unter ein Haupt zusammengebracht
werden sollen. Schon jetzt hat Gott Ihn „als Haupt über alles
der Versammlung gegeben".
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In der Auferstehung Christi ist also die Frage der Sünden gänzlich geklärt. „Wenn aber Christus nicht auferweckt ist, so ist
euer Glaube eitel; ihr seid noch in euren Sünden". Da Er nun
aber wirklich auferweckt worden ist, sind wir nicht mehr in
unseren Sünden. So finde ich also jenen himmlischen Menschen, Der auf Erden gewesen ist und Der in der Kraft der Auferstehung meine Sünden getragen hat, in der Gegenwart Gottes. Er ist der Herr vom Himmel. Beachten wir es wohl. Später
sagt der Apostel in dem Brief an die Epheser, daß dieselbe
Kraft, die in Christus, als Gott Ihn aus den Toten auferweckte,
gewirkt hat, auch in den Glaubenden wirkt. Er wünscht, daß
sie es wissen, welches da sei „die überschwengliche Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der
Macht seiner Stärke, in welcher er gewirkt hat in dem Christus, indem er ihn aus den Toten auferweckte, und er setzte
ihn zu seiner Rechten in den himmlischen örtern". Die Macht,
die tätig war, als Gott Christus aus den Toten auferweckte
und Ihn zu Seiner Rechten setzte, ist dieselbe, die bereits in dir, dem Glaubenden, gewirkt hat. Du hast in Ihm
droben einen Platz, und deshalb heißt es: „Wie der vom Staub
ist, so sind auch die, welche von Staub sind, und wie der Himmlische ist, so sind auch die Himmlischen". In Christus befinden
wir uns in der Gegenwart Gottes, und ich habe eine Antwort auf
dieses Verlangen. Ich habe nicht nur eine neue Natur, sondern
ich habe auch das, wonach die neue Natur verlangt, weil ich
Christus habe. Ich habe nicht nur brennendes Verlangen nach
etwas, sondern ich besitze die so sehr ersehnte Sache selbst.
Ich bedarf der Gerechtigkeit und der Heiligkeit; und ich besitze
sie auch, weil ich in Christo bin. Mit einem Wort, ich bin im
Besitz der Erlösung nach ihrer ganzen Tragweite, nicht nur
einer neuen Natur, sondern der Erlösung. Gott ist zu mir gekommen und hat mich befreit. Er ist gekommen und hat mich
Selbst aus dem Zustand herausgezogen, in dem ich mich befand,
nämlich aus dem hoffnungslosen Zustand des Elends und der
Bosheit in dem ersten Adam. Er hat mich nun in dem letzten
Adam in Seine eigene Gegenwart versetzt, ohne daß eine einzige meiner Sünden auf mir geblieben ist, denn alle Sünden
sind hinweggenommen, da alles in der Person Christi gerichtet
worden ist. Das ist der Zustand, in welchen Christus uns gebracht hat.
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Nach dem Fall des ersten Menschen und nachdem Gott den
Menschen auf verschiedene Weise — ohne Gesetz und unter
Gesetz — auf die Probe gestellt hatte, kommt Er in vollkommener Gnade zum Menschen und sendet Seinen vielgeliebten
Sohn. Es ist, als hätte Er sagen wollen: Dies ist der letzte Prüfstein, den ich an den Menschen lege. Doch der Mensch tritt
dem herabgesandten Heiland mit den Worten entgegen: „Dieser ist der Erbe; kommt, laßt uns ihn töten und sein Erbe in
Besitz nehmen". Der Mensch ist ganz auf die Probe gestellt
und als ganz verwerflich befunden worden. Es gibt kein Mittel,
ihn zu verbessern. Aber was finde ich in Christus? Er hat für
uns hier den Platz des ersten Adam eingenommen. Er starb am
Kreuz; dadurch ist für alle diejenigen, die an Ihn glauben,
dieser Zustand ein für allemal beendet worden. Ich halte mich
jetzt der Sünde für tot, weil Christus gestorben ist. Er wurde
als mein Stellvertreter behandelt und empfing den Tod. Hierdurch ist diese Sache zu Ende gebracht, und zwar durch das
Gericht, das Er erduldet hat. Als Gläubiger werde ich die Regungen der alten Natur noch feststellen, und ich muß sie verurteilen. Aber ich schaue auf Christus, Der, nachdem Er am
Kreuz für mich zur Sünde gemacht, gerichtet und getötet wurde,
aus den Toten auferweckt worden ist und in Ewigkeit lebt. Der
alten Natur, auf die Sünde und Gericht bezug hatten, ist also
ein Ende gemacht worden. Damit verhält es sich ebenso wie
mit jemand, der in Erwartung seiner Strafe im Gefängnis sitzt
und dort stirbt. Das Leben, auf das die Strafe ihre Anwendung
hätte finden müssen, ist dann nicht mehr vorhanden. Unmöglich
kann noch von einer Strafe für die Sünde die Rede sein, da das
Leben, für das diese Strafe galt, nicht mehr besteht. Dasselbe
trifft für uns zu, die wir in Christo sind. Daher wendet sich der
Apostel immer an die Gläubigen als solche, die der Sünde gestorben sind. Er sagt zu ihnen: „Ihr seid gestorben", und:
„Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend
in Christo Jesu" (Röm 6, 11). Es steht nirgends in der Schrift,
daß wir der Sünde sterben müssen; denn in diesem Fall würden wir selbst sterben müssen; und dann wäre es ganz und
gar mit uns aus. Die Schrift sagt, daß wir in Christus der Sünde
gestorben sind. Nun, da Christus „ein für allemal der Sünde
gestorben" ist, darf ich mich selbst betrachten als tot für die
Sünde und lebend für Gott in Christus Jesus. Dies wird mir
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als der Grundsatz der Stellung eines Christen vorgestellt. Obwohl ich noch hier auf der Erde lebe, ist doch der alte Mensch,
mit dem sich Gott beschäftigt hat, für immer zunichte gemacht,
weil Christus gestorben ist. Nun ist die Kraft Gottes gekommen, die mich mit Christus auferweckt hat. Die alte Natur,
gegen die gehandelt werden mußte, wird als gerichtet und gestorben betrachtet; und so befinde ich mich jetzt in der Stellung,
in der Christus ist, nämlich auferweckt und in der Gegenwart
Gottes. Wenn Christus erscheinen wird, dann werden wir Ihm
gleich sein; aber was unsere wirkliche Stellung vor Gott betrifft, so dürfen wir schon jetzt mitsitzen „in den himmlischen
örtern in Christo Jesu" (Eph 2). Die göttliche Liebe ist bis zu
dem Platz der Sünde und des Todes, wo wir uns befanden,
herabgestiegen; und die göttliche Gerechtigkeit hat uns aufgenommen und uns in die Stätte des Lichtes versetzt, wo Jesus
Christus Selbst Seine Wohnung hat; denn ein Zwischending
existiert nicht. Wenn ich weiß, was die Sünde ist, so weiß ich
auch, daß sie die Verdammnis verdient. Sicher wäre es keine
Barmherzigkeit, wenn Gott Sich nicht mit der Sünde nach
Seiner Gerechtigkeit beschäftigt hätte. Sie mußte unbedingt
aus dem Wege geschafft werden. Aber in welcher Weise? Sie
mußte zunichte gemacht werden durch den Tod, weil sie nichts
als die Verdammnis verdient. Wenn Gott mit Bezug auf die
Sünde handelt, so muß aufgrund meines Verhaltens als Sünder gegen Ihn der Tod unmittelbar eintreten. Es gibt keine
Vergebung für den Sünder als nur durch ein Werk, welches der
göttlichen Gerechtigkeit angemessen ist. Dieses Werk erblicken
wir am Kreuz. „Jetzt aber ist er einmal in der Vollendung der
Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch
sein Opfer" (Hebr 9, 26). Aber dies ist noch nicht alles. Dadurch, daß Er so die Sünde weggetan hat, hat Er auch den alten
Zustand der Dinge beiseitegesetzt und ist dadurch, daß Er die
Natur, in der Er verantwortlich war und in der Er für die
Sünde gelitten hat, hinter Sich zurückließ, in einen ganz neuen
Zustand eingetreten. Nun ist Er der himmlische Mensch in der
Gegenwart Gottes, und in Ihm sind auch wir dorthin versetzt.
„Wie der Himmlische ist, so sind auch die Himmlischen." Darum finden wir auch in dem 1. Brief des Johannes dieselbe
Wahrheit dargestellt. Dort lesen wir die Worte: „Hierin ist die
Liebe Gottes zu uns geoffenbart worden, daß Gott seinen ein60
geborenen Sohn in die Welt gesandt hat, auf daß wir durch ihn
leben möchten" (Kap 4, 9). Hier sehe ich die göttliche Liebe,
die in diese Welt gekommen ist, in der Person des Sohnes Gottes. Zwei Dinge waren notwendig. Zunächst mußte Sühnung
geschehen für unsere Sünden, weil wir schuldig waren; aber
dann fährt Johannes fort und sagt: „Hierin ist die Liebe mit
uns vollendet worden, auf daß wir Freimütigkeit haben an dem
Tage des Gerichtes, daß, gleichwie er ist, auch wir sind in
dieser Welt" (Vers 17).
Warum kann ich Freimütigkeit haben am Tage des Gerichts?
Weil ich meinem Richter gleich bin, und zwar jetzt schon in
dieser Welt. „Gleichwie er ist, sind auch wir in dieser Welt".
Das ist es, was ich auch in den Worten finde: „Wie der Himmlische ist, so sind auch die Himmlischen." Es ist dieselbe Wahrheit. Wie unaussprechlich köstlich! Welch eine Erlösung! Hier
ist nicht nur Barmherzigkeit, die Sünden vergibt. Nein, es ist
eine vollkommene Erlösung; eine Erlösung, die uns, die wir in
Christo sind, aus dem Zustand, in dem wir uns befanden, herausgerissen und hinübergebracht hat in einen ganz neuen Zustand, und zwar in Christo Jesu. Zwar werden wir alle vor dem
Richterstuhl Christi offenbar werden müssen, und dort wird
alles ans Licht gebracht werden. Aber ebenso wahr ist es, daß
ich bin, wie Er ist. Wie wird Er mich beurteilen? Wie werde ich
dort erscheinen? Ich werde Ihm gleich sein. Er hat zu Seinen
Jüngern gesagt: „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten.
Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme
ich wieder und werde euch zu mir nehmen, auf daß, wo ich bin,
auch ihr seiet" (Joh 14). Wenn ich nun vor dem Richterstuhl
Christi erscheinen werde, so geschieht dies, weil Seine Liebe
zu mir so unendlich groß ist, daß Er mich Selbst abholen und
mich vor Seinen Richterstuhl bringen will. In welchem Zustand
wird dies geschehen? Ich bin schon verherrlicht, bevor ich
vor diesen Richterstuhl trete. Alles wird dort ans Licht
gebracht werden, aber dies wird für uns nur Gewinn sein. Wir
werden dann das Gute und das Böse so vollkommen kennen,
wie wir gekannt sind. Wir werden geoffenbart werden, aber
geoffenbart vor Ihm. Der als der Bürge unserer Errettung in der
Gegenwart Gottes ist. Wir werden das Bild Christi nicht vollkommen zur Schau tragen, solange der Tag der Herrlichkeit
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nicht gekommen ist. Aber bezüglich unserer Stellung vor Gott
ist es bereits jetzt wahr, daß „wie der Himmlische, so auch die
Himmlischen sind". Was nun unsere Seele und unser ewiges
Leben betrifft, so ist Gott gekommen und hat uns, indem Er
Christus zu unserem Leben machte und Ihn als unsere Gerechtigkeit und Hoffnung uns schenkte, in diese Stellung bereits
versetzt. Er hat uns durch den Glauben in sie eingeführt. Die
Verwirklichung dieser Stellung ist etwas ganz anderes, und
dabei können unsere Schwächen und Fehler ein großes Hindernis sein. Vielleicht beginnt der Leser sich selbst zu untersuchen
und findet in sich diesen und jenen Gedanken, der mit Christus
nicht im Einklang steht. Eine solche Prüfung ist an und für sich
gut und nützlich, und wir werden immer etwas zu verurteilen
finden. Wenn wir aber nur auf uns selbst sehen, so ist es sicher,
daß wir in uns keine Gerechtigkeit vor Gott finden werden und
daß wir keinen Augenblick vor dem Angesicht Gottes bestehen
können. Ich muß auf Christus sehen, um zu erkennen, was ich
vor Gott bin; und von diesem Standpunkt aus kann ich immer
sagen: „Wie der Himmlische ist, so sind auch die Himmlischen". Das ist meine Stellung in der Gegenwart Gottes. Es
gibt keinen Vorhang mehr (Mt 1.7, 51). Wir müssen im Licht
wandeln, wie Er im Licht ist.
Nun beurteile ich sowohl meine Sünden als auch die in mir
wohnende Sünde nach dieser Liebe und Gnade. Sobald ich mit
Paulus sagen kann: „Ich kenne einen Menschen in Christo",
so beurteile ich alles nach dem, was ich in Christo bin. Paulus
hatte von sich selbst nichts zu rühmen. Er nannte es eine Torheit, weil er seine Schwächen und Gebrechen kannte. Er sagt:
„Ich kenne einen Menschen in Christo . . ., über einen solchen
werde ich mich rühmen; über mich selbst aber werde ich mich
nicht rühmen, es sei denn meiner Schwachheiten" (2. Kor 12).
Hier finde ich meine wahre Stellung. Obwohl ich in mir selbst
ein armes, schwaches Geschöpf bin, hat Gott mir in Christo
einen Platz angewiesen; und danach muß jetzt alles, was meine
Seele betrifft, beurteilt werden. „Wer da sagt, daß er in ihm
bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt
hat" (1. Joh 2, 6). Es mag sein, daß ich diese Höhe nicht erreiche, aber doch ist es der einzige Maßstab. Paulus sagt: „Daher will ich am allerliebsten mich vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, auf daß die Kraft des Christus über mir
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wohne". Paulus blieb nicht immer im dritten Himmel, so wie
wir auch nicht stets die gesegneten Früchte unserer Stellung genießen. Aber es bleibt für immer wahr, daß Christus, in dem
wir sind, im Himmel ist. Er ist nicht persönlich hier auf der
Erde, Er ist in der Gegenwart Gottes, und dort sind wir in
Ihm. Und es mag sein, daß wir nicht immer unsere Stellung in
Christus verwirklichen; aber es ist unser Glück, daß Christus
immer Derselbe bleibt in dieser Gegenwart, und Er wohnt in
mir. Hier finde ich die vollkommene Lebensregel, die ich brauche. Die Kraft Christi wohnt in mir, selbst während ich auf der
Erde bin. Und da auch Christus hier auf der Erde gewandelt
hat, haben wir in Seinem Wandel einen vollkommenen Maßstab von dem, was einem himmlischen Menschen geziemt. In
Ihm finden wir den vollkommenen Ausdruck der Liebe, der
Gnade und der Heiligkeit, die für das Haus des Vaters passend
sind.
Ich muß für meine Seele die Gewißheit haben, daß in Christus
mein Platz vor Gott ist, um wie Christus zu wandeln und Ihm
nachfolgen zu können. „Ich heilige mich selbst für sie, auf daß
auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit". Er ist im Himmel für
Gott als unser Vorbild abgesondert. Ich sehe in Ihm die Richtschnur meines Wandeins. Ich werde in der Liebe wandeln, weil
Christus uns geliebt und Sich Selbst für uns hingegeben hat.
Ich lese: „So seid nun Nachahmer Gottes als geliebte Kinder"!
Und wiederum: „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer
himmlischer Vater vollkommen ist". Der Herr stellt die Güte
Gottes selbst Seinen Feinden gegenüber vor unsere Augen als
etwas, das sie nachahmen sollen. Aber die Quellen in dieser
Lebensregel ist der Platz oder die Stellung, in der ich mich
schon in Christus befinde.
Seitdem der Mensch gefallen und durch die Sünde in seinem
Urteil verblendet ist, denkt er stets an seine Pflichten als an
ein Mittel, wodurch er sich das ewige Leben zu verdienen hofft.
Viele meinen sogar, daß wenn die Ungewißheit, die die Verantwortung, das Leben zu erlangen, stets begleitet, nicht mehr
vorhanden sei, Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit die unausbleiblichen Folgen sein würden. Aber stellen wir uns ein Kindesverhältnis vor. Hört das Kind eines Vaters unter Umständen auf, sein Kind zu sein? Keineswegs. Aber wird dies die
Verantwortung des Kindes wegnehmen? Durchaus nicht. Im
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Gegenteil bildet das Verhältnis, worin das Kind steht, seine
Verantwortlichkeit. Es würde dem Vater nicht gehorchen und
nicht mit Ehrerbietung begegnen, wenn es nicht das Bewußtsein
hätte, das Kind dieses Vaters zu sein. Hierin besteht also auch
unsere wahre Verantwortung vor Gott. Ich muß wandeln in
einer Weise, die der Stellung, in die Er mich versetzt hat, angemessen ist. Die christliche Verantwortung ist nicht für jemand,
der ein Christ zu werden hofft, sondern für den, der bereits
ein Christ ist. Nicht die Unsicherheit bezüglich meiner Stellung
verleiht mir Kraft, um vor Gott zu wandeln. Im Gegenteil,
wenn mein Herz voll von Christus ist, wenn ich in Ihm meine
Stellung völlig gesichert weiß, dann haben die Dinge, die mit
Ihm im Widerspruch stehen, keinen Reiz für mich. Gerade in
Seiner Gegenwart werde ich meine Fehler am klarsten erkennen. Aber auf meiner Seite ist dann auch die Kraft Dessen, Der
mir in Christus einen herrlichen Platz gegeben hat.
In bezug auf den alten Menschen hat unser Verhältnis zu Gott
auf dem Kreuz aufgehört zu bestehen. Ein ganz neues Verhältnis hat begonnen, ein höchst gesegnetes Verhältnis in der
Kraft der Erlösung, durch die wir in Christus einen Platz gefunden haben. Am Kreuz nahm dies neue Verhältnis seinen
Anfang, denn dort ist meine alte Natur gerichtet und beiseitegesetzt worden. Darum kann der Apostel sagen: „Als wir im
Fleische waren". Es gibt viele Gläubige, die sagen: „Was sind
wir anders als Menschen im Fleisch?" Aber der Apostel sagt:
„Als wir im Fleische waren", und gibt dadurch deutlich zu verstehen, daß wir jetzt nicht mehr im Fleische sind. Dies war
unser Zustand im ersten Adam. Aber jetzt befinden wir uns
in dem letzten Adam — in Christo. Das uns zur Nachfolge dargestellte Vorbild hat uns, sobald wir erkennen, daß wir vor
Gott nicht mehr im Fleisch, sondern in Christo sind, zugleich
die Kraft zur Nachfolge dargereicht. Wir befinden uns in diesem gesegneten Verhältnis in dem Licht in Christo nach der
Vollkommenheit der Gnade Gottes, die uns dort hineingebracht
hat. Wir müssen stets im Genuß des vollen Friedens mit Gott
auftreten können, um der Welt zu sagen: Das, worüber wir
sprechen, ist eine vollkommene Erlösung, die wir wirklich besitzen. Ich habe Gott gefunden und verkündige euch ein Heil,
das aufgrund der erlösenden Macht Gottes in meinem Besitz
ist.
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Allein auf den unruhigen Gewässern
Wie reich ist die Heilige Schrift an Bildern, die uns die Fürsorge und treue Wachsamkeit des von der Welt verworfenen
Herrn über Sein Volk vor Augen stellen! (Siehe Mt 14, 22—36;
Mk 6; Joh 6). „Und alsbald nötigte er die Jünger, in das Schiff
zu steigen und ihm an das jenseitige Ufer vorauszufahren, bis
er die Volksmenge entlassen habe". — Das Schiff segelte hinaus in die dunkle, stürmische Nacht; und nach menschlichem
Ermessen waren die Jünger inmitten tobender Wellen allein
gelassen. „Das Schiff aber war schon mitten auf dem See und
litt Not von den Wellen, denn der Wind war ihnen entgegen".
Jesus war nicht in dem Schiff bei ihnen — kein tröstender Herr,
um ihre ängstlichen Gemüter zu beruhigen oder ihre ermatteten Herzen aufzurichten. „Und es war schon finster geworden,
und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen". — Wäre die
Nacht klar und ruhig gewesen, so würden sie auf demselben
Wege Seine Abwesenheit nicht so sehr verspürt haben. Der
unruhige See, der stürmische Wind, die Dunkelheit der Nacht,
die Schwierigkeit des Ruderns, die Abwesenheit des Herrn —
alles dies machte sie bestürzt und ängstlich. Kein Wunder, daß
allmählich in ihren Herzen der Gedanke aufkam, daß nicht nur
ihr Herr und Meister sie verlassen, sondern auch daß die Wut
der Elemente sich gegen sie verschworen habe.
Aber wo ist der Herr während dieser ganzen Zeit und wohin
ist Er gegangen? Hat Er aufgehört, für Seine Jünger zu sorgen,
oder weiß Er nichts von ihrer Gefahr und von ihrem Jammer?
Im Gegenteil. Er ist zum Ort der Macht gegangen. Diese Macht
verwertet Er zu ihren Gunsten. Von jenem Berge herab, den Er
Sich zu Seiner Gebetsstätte auserkoren hat, folgt ihnen Sein
allsehendes Auge ohne Unterlaß. Keine Welle berührt das
Schiff, ohne von Seiner Hand gemessen zu sein, kein einziger
Windhauch, den Er nicht aus Seinen Kammern gesandt hat.
Wir dürfen kühn sagen, daß Er sowohl das Schiff als auch den
Wind und die Wellen lenkt. Seine Hand erfaßt alles — Er
herrscht über alles. Nie ist Er Seinem Volk näher und nie sind
die Seinigen Ihm teurer, als wenn sie anscheinend allein durch
Sturm und Unwetter pilgern müssen.
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Diese ganze Szene ist ein lebendiges Bild voll reicher Belehrung
und süßen Trostes, ein Bild dessen, was gegenwärtig stattfindet. Persönlich waren natürlich der Herr und die Seinigen
getrennt; aber im Geiste und in Macht war Er bei ihnen gegenwärtig. Zur Prüfung ihres Glaubens erlaubte Er dem Sturm,
sich während Seiner Abwesenheit zu erheben. Wer fände das
Rudern gegen einen starken Wind nicht schwierig? Aber so ist
es mit dem Volk Gottes in der gegenwärtigen Zeit. Die Welt
hat den Herrn gekreuzigt, und die Jünger durchfahren allein
den unruhigen wogenden See. Die Kirche gleicht einer Witwe
oder einer Verlassenen, die die Erinnerung an den Tod ihres
Herrn und ihre Einsmachung mit ihm nach dem Willen des
Herrn aufrechterhält, bis Er kommt. Solange sie hier weilt,
wird sie stets das Bild der Verwerfung ihres Herrn an ihrer
Stirn tragen.
Aber kehren wir jetzt zu der wunderbaren Szene zurück. Am
Ende jenes denkwürdigen Tages, den der Herr in der Wüste
zugebracht hatte, war die alte Prophezeiung: „Seine Speise
will ich reichlich segnen, seine Armen mit Brot sättigen" Ps 132,
15), in Erfüllung gegangen. Tausende von Menschen aus dem
Volk waren auf wunderbare Weise gespeist worden, und wie
wir in Joh 6 lesen, will man Ihn mit Gewalt zum König machen.
Aber als Jesus dies bemerkte, „entwich er wieder auf den
Berg, er selbst allein". Die Stunde war noch nicht gekommen,
in der die Krone Davids das Haupt Seines Sohnes und Herrn
schmücken sollte. Das Volk befand sich im Unglauben; und
Er wollte nicht zum König gemacht werden, um ihre weltlichen Wünsche zu befriedigen. Er entwich aus ihrer Mitte und
ging auf einen Berg allein, um zu beten. Er weigerte Sich, die
Krone aus der Hand des Menschen anzunehmen. Aber Er
nimmt den Platz als Priester vor Gott ein. Gesegnete Frucht
Seiner Verwerfung!
Aber hier, meine Seele, beachte die Hand des Herrn, die uns
dieses kostbare Bild vor Augen stellt! Bevor Er auf die Höhe
steigt, entläßt Er die Volksmenge oder die ungläubige Nation.
Dann sammelt Er Seine Jünger oder den gläubigen Überrest
in einem Schiff und läßt es dann, während ein heftiger Orkan
den See aufzuwühlen beginnt, abfahren, ohne selbst miteinzusteigen. Er Selbst steigt auf den Berg — und warum? —, um
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Fürbitte für sie einzulegen. Wir lesen: „Und als er sie verabschiedet hatte, ging er hin auf den Berg, um zu beten. Und als
es Abend geworden war, war das Schiff mitten auf dem See,
und er allein auf dem Lande". — Während der langen dunklen
Nacht Seiner Abwesenheit folgt Sein nie ruhendes Auge voll
Liebe und Güte den Jüngern auf allen Wegen durch die Tiefe,
wie sehr sie auch hin und her geschleudert werden und den
äußersten Gefahren preisgegeben sind. O, teurer Herr, welch
eine Nacht war das für Dich! Gewiß hat Dein Auge den ganzen
Zeitraum der folgenden 18 Jahrhunderte durchschaut und all
die Gefahren und Versuchungen gesehen, die das Teil der Deinigen sein sollten. Wieviele Stürme haben Deine Geliebten
während der langen finsteren Nacht Deiner Abwesenheit zu
bestehen gehabt! Wievielen Strömungen mußten sie in diesem
bösen Zeitalter begegnen, wieviele Kämpfe und Leiden durchmachen! Doch die angebrochene Morgendämmerung bringt Erleichterung. Diese traurige finstere Nacht mit ihren Mühen und
Plagen wird bald vorüber sein. „Siehe, ich komme bald \" Das
sind die Worte unseres geliebten Herrn, und der Geist spricht,
als ob wir zwischen uns und dem Kommen des Herrn nur
noch Augenblicke zu zählen hätten.
„Aber in der vierten Nachtwache kam er zu ihnen, wandelnd
auf dem See. Und als die Jünger ihn auf dem See wandeln
sahen, wurden sie bestürzt und sprachen: Es ist ein
Gespenst! Und sie schrieen vor Furcht. Alsbald aber redete
Jesus zu ihnen und sprach: Seid gutes Mutes, ich bin's; fürchtet euch nicht! Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr,
wenn du es bist, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem
Gewässer. Er aber sprach: Komm! Und Petrus stieg aus dem
Schiff und wandelte auf dem Gewässer, um zu Jesu zu kommen. Als er aber den starken Wind sah, fürchtete er sich; und
als er anfing zu sinken, schrie er und sprach: Herr, rette mich!
Alsbald aber streckte Jesus die Hand aus, ergriff ihn und
spricht zu ihm: Kleingläubiger, warum zweifeltest du? Und als
sie in das Schiff gestiegen waren, legte sich der Wind. Die
aber in dem Schiffe waren, kamen und huldigten ihm und
sprachen: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn!"
Petrus mag hier die Kirche vorstellen. Er verläßt den Platz des
jüdischen Überrestes und geht im Glauben dem Herrn ent67
gegen, und zwar ohne Hilfe der Natur. Aber er fällt, wie die
Kirche gefallen ist; er fällt, weil er nicht festhält an Christus
und Seinem Wort. Er blickt auf die Wogen, d. h. auf die Umstände, anstatt auf den Herrn zu blicken. Solange sein Auge
auf Christus gerichtet blieb, ahmte er Ihn nach und wandelte
wie Er auf dem See. Aber sobald sich sein Auge von Christus
ab und auf die Wogen wandte, begann er zu sinken. Der Glaube kann ruhig und sicher über wild tosende Wasser gehen,
wenn nur das Auge auf Jesus gerichtet bleibt. Der Herr hatte
zu Petrus gesagt: Komm! — und das war genug. Er, Der die
Elemente geschaffen hatte, konnte den See zum Weg für Seinen
Diener machen. Wenn wir Christus und Sein Wort in unseren
Seelen festhalten, können wir auf dem stürmischen See des
Lebens so sicher wandeln wie auf stillen Wassern, ja sogar wie
auf ebenen Pfaden.
Zwar ist der gnädige Herr bereit, auf den Schrei des Kleinglaubens ebenso wie auf die Stimme des Glaubens zu antworten. Aber im ersten Falle ist die ehrenvolle Anerkennung, die
den Pfad des Glaubens krönt, verloren. „Alsbald aber streckte
Jesus die Hand aus, ergriff ihn und spricht zu ihm: Kleingläubiger, warum zweifeltest du? Und als sie in das Schiff gestiegen waren, legte sich der Wind." Der Herr, begleitet von
Petrus, vereinigte sich mit den Jüngern im Schiff; und augenblicklich legten sich die brausenden Wogen. Wenn der Herr mit
Seiner himmlischen Braut — der Kirche — zu Israel zurückkehren wird, so werden alle Widerwärtigkeiten und alle Versuchungen dieses Volkes ein Ende nehmen. Er wird dann anerkannt und angebetet werden als der wahre Messias, der König
Israels, der Sohn Gottes. „Die aber in dem Schiffe waren,
kamen und huldigten ihm und sprachen: Wahrhaftig, du bist
Gottes Sohn!"
Doch der Segen ergießt sich dann über die ganze Erde. „Und
als sie hinübergefahren waren, kamen sie in das Land Genezareth. Und als ihn die Männer jenes Ortes erkannten, schickten sie in jene ganze Umgegend und brachten alle Leidenden zu
ihm; und sie baten ihn, daß sie nur die Quaste seines Kleides
anrühren dürften: und soviele ihn anrührten, wurden völlig
geheilt". Hier haben wir eine glänzende Szene des Tausendjährigen Reiches. Der Herr wird freudig empfangen. Die Stätte
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Seiner früheren Erniedrigung und Verwerfung ist jetzt der
Schauplatz Seiner Macht und Seines Ruhmes. Er ist dann herabgestiegen von dem Platz Seiner Fürbitte. Sein altes Volk, das
in tiefen Wassern war, bringt Er an die friedliche Küste. In der
Welt, die mit den Werken Satans erfüllt ist, übt Er Seine
Macht aus in Heiligung und Segen. Er kommt einer elenden
seufzenden Schöpfung zu Hilfe. Die Verführung der Schlange
schwindet, und Freude und Glückseligkeit, Gesundheit und
Schönheit füllen alle Länder. O, Herr, beschleunige in deiner
Zeit diesen verheißenen, kommenden, glückseligen Tag!
In der Zwischenzeit aber mögen alle, die jetzt noch durch tiefe
Wasser und wogende Wellen ihr Schifflein lenken, ihre Seelen
in Geduld und Ausharren bewahren. Wir kennen den Herrn
ja besser, als Seine alten Jünger Ihn kannten. Seine Liebe ist
völlig geoffenbart worden. Wir kennen Seine unaufhörliche Fürbitte, die Er für uns zur Rechten Gottes im Himmel einlegt.
Mag die Nacht auch finster und stürmisch sein, mögen die
Winde wehen und die Wogen hochgehen, mögen die Wolken
der Umstände auch einen düsteren Schatten auf die Gegenwart
werfen, so ruft uns die Heilige Schrift doch stets das Trostwort
zu: „Die Nacht ist weit vorgerückt; der Tag ist nahe"; und
wiederum: „Denn noch über ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen und nicht verziehen". — Das sturmumtobte Schiff wird bald den Hafen ewiger Ruhe erreichen und
mit Jubel empfangen werden von allen, die schon früher dort
sicher gelandet sind.
Möchten unsere Hände bis dahin kräftig die Ruder umfassen
und möchten unsere Herzen auf Dich, unseren Herrn, vertrauen, während wir mit Wachsamkeit warten auf den ersten
Strahl des Morgensterns.
Die Reise durch die Wüste
(5. Mose 8)
Die Geschichte Israels von seinem Auszug aus Ägypten bis zu
seiner Ankunft in Kanaan ist ein Bild des Zustandes der Gläubigen in Christus und ihrer Stellung in dieser Welt. Israel war
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in jener Schreckensnacht durch das an die Türpfosten gestrichene Blut von der Tötung seiner Erstgeburt errettet worden.
Während alle Erstgeborenen der Ägypter starben/
ging überall, wo Gott das Blut sah, der Würgeengel vorüber. Geschützt
durch das Blut konnte man das Passah feiern. Danach verließen
die Israeliten Ägypten. Ebenso ist der Gläubige durch das Blut
Christi, des Lammes Gottes, in vollkommener Sicherheit. Alle
seine Sünden sind für ewig ausgetilgt; und er hat Ägypten, die
Welt, verlassen. Gott sieht das Blut Christi, und darum ist der
Gläubige sicher. Ebenso sicher, wie der durch das Blut sichergestellte Israelit in seiner Wohnung das Passah feiern konnte,
können auch wir im Vertrauen auf das Blut Christi frohlocken
und uns freuen. Die Frage ist nicht, ob wir, sondern ob Goff
befriedigt ist. Und Er ist es durch das Blut Christi.
Auf der Reise gab es bald eine neue Schwierigkeit. Gott führte
die Kinder Israel ans Rote Meer; und Pharao jagte hinter ihnen
her. Sie standen zwischen den Fluten des Roten Meeres und
dem feindlichen Lager. Vor und hinter ihnen lauerte der Tod.
Hier drohte das Meer, sie zu verschlingen, dort Pharao, sie zu
vernichten. Was sollten sie beginnen? Gott bahnte ihnen einen
Weg durch das Rote Meer. Trockenen Fußes gingen sie hindurch, während Pharao mit seinem Heer im Meer den Tod
fand. Am jenseitigen Ufer waren sie nicht nur von den Ägyptern getrennt, sondern auch von der Macht Pharaos befreit. Sie
befanden sich in einem neuen Zustand. Ebenso ist es mit uns.
Wir haben nicht nur, von unseren Sünden gereinigt, die Welt
verlassen, sondern wir sind auch der Macht Satans entrückt
und in einen ganz neuen Zustand versetzt, und zwar durch den
Tod und die Auferstehung Christi. Am Kreuz hat Christus die
Fürstentümer und Gewalten ausgezogen und einen Triumph
über sie gehalten. Wir 9ind mit Christus gestorben und auferstanden. Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden. Am Kreuz ist unser alter Mensch mit Christus gekreuzigt,
und als eine neue Schöpfung haben wir mit Christus das Grab
verlassen. Wir sind also vor Gott eine neue Schöpfung, über
die der Teufel keine Macht mehr hat. Wie die Israeliten am
jenseitigen Ufer des Roten Meeres, können auch wir den Lobgesang unserer Befreiung anstimmen. Alle Unruhe der Christen hat ihren Grund darin, daß sie sich durch die Wasser des
Roten Meeres nicht vom Teufel und der Sünde geschieden
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sehen, daß sie mit anderen Worten im Tod und der Auferstehung Christi nicht ihre Befreiung vom ewigen Gericht und von
der Macht Satans und der Sünde sehen. Nach ihren Gedanken
und nach ihrem Gefühl befinden sie sich noch immer zwischen
dem Roten Meer und Ägypten. Dabei kann das Herz unmöglich glücklich sein. Wenn du, mein Leser, noch in diesem Zustand bist, so laß dich durch die Wahrheit frei machen. Gehe
noch einen Schritt weiter und glaube, daß du mit Christus gestorben und auferstanden bist und daß du in Ihm als eine neue
Schöpfung vor Gott stehst. Der Weg durch das Rote Meer ist
gebahnt; du kannst trockenen Fußes hindurchgehen. Christus
ist dieser Weg; alle Feinde sind hinter uns.
Nach dem Roten Meer folgte für die nach Kanaan reisenden
Israeliten die Wüste. So sind auch wir, die Erlösten in Christus,
in der Wüste der Welt auf der Reise nach dem himmlischen
Kanaan. Früher war die Welt mit ihren Vergnügungen und
Genüssen unsere Heimat. Nun ist diese Welt eine Wüste für
uns. Wir sind nicht von der Welt. Sie bietet nichts, was unser
Herz befriedigen oder glücklich machen könnte. Sie hat nur
Mühsal und Leiden, Gefahren und Sünde für uns. Unser Herz
sehnt sich nach dem Lande himmlischer Ruhe. Freilich zeigen
leider viele Christen eine weltliche Gesinung und verraten
dadurch, wie wenig sie ihre Stellung kennen und genießen. Für
den geistlichen Christen aber ist die Welt eine Wüste, wie sie
es für den Herrn Jesus war.
In 5. Mose 8 finden wir die Kinder Israel am Ende ihrer 40-
jährigen Reise durch die Wüste. Sie sind im Begriff, das verheißene Land zu betreten. Ebenso verhält es sich mit uns. Wie?
stehen wir denn auf dem Punkt, in den Himmel zu gehen?
Könnte es denn nicht der Fall sein, daß wir noch etliche Jahre
hier auf der Erde bleiben müßten? — Ja, freilich, und dennoch
haben wir kein Recht, einen Raum zuzulassen zwischen dem
gegenwärtigen Augenblick und der Ankunft Christi, um uns
aufzunehmen. „Siehe, ich komme bald", hat der Herr gesagt.
Nichts steht Seinem Kommen zur Aufnahme Seiner Kirche im
Wege. Alle prophetischen Ankündigungen mit Bezug auf die
letzten Tage werden nach dieser Aufnahme ihre Erfüllung finden. Wir haben weder die Rückkehr Israels in ihr Land, noch
die Wiederherstellung des römischen Reiches, noch die mit
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diesen Ereignissen verbundenen Gerichte zu erwarten, sondern
wir erwarten die Ankunft Jesu zur Heimholung der Seinigen.
Für Paulus gab es keinen Raum zwischen dem Augenblick, in
dem er lebte, und der Ankunft des Herrn. Er hoffte, unter der
Zahl derer zu sein, die bis zu dieser herrlichen Ankunft übrig
blieben. Von Tag zu Tag erwartete er diese Erscheinung. In der
Tat ist die Ankunft des Herrn die einzige Hoffnung und Erwartung des Christen. Er kann ebenso gut heute wie morgen
kommen. Kein Zwischenraum darf gestattet werden. Darum
stehen wir jeden Tag im Begriff, in den Himmel zu gehen. Wie
glücklich ist unser Herz selbst inmitten der Schwierigkeiten
dieser Wüste, wenn das Auge auf die herannahende Herrlichkeit gerichtet ist! Noch wenige Augenblicke, und wir schütteln
den Staub von unseren Füßen, um für immer bei Jesus von
allen Kämpfen auszuruhen.
Als sie an der Grenze Kanaans, des Landes der irdischen Ruhe,
angekommen waren, forderte Gott durch den Mund Moses das
Volk auf, zurückzuschauen auf die Reise durch die Wüste und
an alles das zu denken, was geschehen war. Ebenso werden
auch wir, wenn wir an der Grenze des himmlischen Kanaans
stehen, aufgefordert, unseren Blick auf die zurückgelegte Reise
durch die Wüste der Welt zu richten. Der Herr sagte: „Und du
sollst gedenken des ganzen Weges, den Jehova, dein Gott,
dich hat wandern lassen .. . in der großen und schrecklichen
Wüste, wo feurige Schlangen und Skorpionen sind und Dürre,
wo kein Wasser ist''. Aber der Herr war ihr Führer und Begleiter. Auch unsere Wüste ist groß und furchtbar. Hier gibt
es nicht nur Schlangen, Skorpionen und dürre Sandflächen,
sondern Satan selbst mit seinem ganzen Heer ist da (Eph 6).
Kein Labsal für die Seele ist zu finden. Aber getrost, der Herr,
unser Gott, ist unser Führer und Leiter. Und dieser Gott —
das konnte Israel nicht sagen — ist unser Vater. Ja, in Christus
ist Gott unser Vater. Welch ein Trost für unser Herz! Und mit
welcher väterlichen Liebe und Treue hat Er uns durch alle Schwierigkeiten bisher hindurchgeholfen! Dieser unser Gott und Vater
aber wird uns sicher auch weiterhin nicht verlassen noch versäumen. Wir dürfen stets auf Seine gnadenreiche Führung
rechnen. Mag die Wüste auch groß und furchtbar sein, Gott
ist doch größer. Mag auch der Feind mit seinem ganzen Heer
uns umgeben, Gott hat doch alles in Seiner Macht. Mag es auch
71
an Entbehrungen nicht fehlen, Gott läßt uns doch keinen Mangel leiden.
Doch der Herr hat uns noch mehr zu sagen. Warum läßt Er uns
in der Wüste? Warum nimmt Er uns nicht gleich nach unserer
Bekehrung in den Himmel? — Aus demselben Grunde, aus dem
Er auch die Israeliten 40 Jahre lang in der Wüste ließ. „Und
du sollst gedenken des ganzen Weges, den Jehova, dein Gott,
dich hat wandern lassen diese 40 Jahre in der Wüste, um dich
zu demütigen, um dich zu versuchen, um zu erkennen, was in
deinem Herzen ist, ob du seine Gebote beobachten würdest
oder nicht". Das ist also die Ursache, um deretwillen Er uns in
der Wüste läßt. Freilich gibt es noch einen anderen Grund. Wir
sind in der Wüste, um die Zeugen Jesu zu sein. Jesus sagt
bezüglich Seiner Jünger zu Seinem Vater: „Gleichwie du mich
in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt"
(Joh 17). Doch davon ist hier nicht die Rede. Unser Bleiben in
der Wüste hier hat den Zweck, daß Gott uns demütigt und das
Innere unserer Herzen prüft. Diese beiden Dinge sind eng miteinander verbünden. Der Herr will uns demütigen und zugleich
ans Licht bringen, was in unseren Herzen ist. Das erste geschieht durch das letzte. Durch die Offenbarung dessen, was
in unseren Herzen ist, werden wir gedemütigt. Welch eine hohe
Meinung haben wir oft von uns! Wie fühlt sich besonders der
noch kurz Bekehrte oft so stark gegenüber der Sünde und der
Welt! Doch bald kommen Schwierigkeiten und Versuchungen
aller Art; und wieviel Schwachheiten, die man für unmöglich
hielt, offenbaren sich dann oft! Das ist demütigend. Wie oft
entdeckt man bei anderen traurige Dinge, die zu tun man sich
selbst kaum für fähig hält! Später entdecken wir dann dasselbe
bei uns. Ja, das beugt uns nieder. Aber das ist es, was Gott
will. Er will nicht, daß wir sündigen, denn Er hat uns freigemacht von der Macht der Sünde. Aber Er will uns demütigen
und klein machen in unseren Augen und das Gefühl in uns
wecken, daß wir nichts sind und nichts vermögen. Ist dieses
Gefühl vorhanden, dann vertrauen wir nicht mehr auf unsere
eigene Kraft, sondern nehmen zu Ihm, ohne den wir nichts
vermögen, unsere Zuflucht. Dann geben wir bei all unserem
Tun Ihm die Ehre. Dann sagen wir mit Paulus: „Wenn ich
schwach bin, dann bin ich stark!" Und: „Alles vermag ich durch
den, der mich kräftigt".
73
Die Umstände, durch welche Gott uns gehen läßt, machen stets
offenbar, was in unseren Herzen ist. Als es den Israeliten an
Wasser fehlte, murrten sie; als ihnen Speise fehlte, erhoben
sie sich gegen Mose; als ihnen an der Grenze Kanaans die
Kunde von den Riesen und den mächtigen Städten zu Ohren
kam, wollten sie nicht hineingehen; und so offenbarten sie bei
jeder Schwierigkeit auf ihrem Weg, was in ihren Herzen war.
Ebenso ist es bei uns. Die Umstände offenbaren, wie unser
Herz zu Gott steht, ob wir Ihm vertrauen oder nicht. Und nicht
allein die bösen, sondern auch die guten Tage stellen den Zustand des Herzens ans Licht. Als das Brot fehlte, murrten die
Kinder Israel. Als der Herr eine große Menge Wachteln sandte,
zeigten sie eine Gier, die den Tod zufolge hatte. Darum sagt
Paulus nicht nur: „Ich habe gelernt, Hunger zu leiden", sondern auch: „Ich habe gelernt, Überfluß zu haben". — Wir
müssen in allem unterwiesen werden. Wir können aus uns
selbst weder das eine noch das andere. In den Tagen des Mangels können wir murren und uns gegen Gott empören, und in
den Tagen des Überflusses können wir verschwenderisch leben
und Gott vergessen. Darum will der Herr uns unterweisen;
und Er benutzt daher alle Umstände, um uns den Zustand
unserer Herzen aufzudecken. Möchten wir doch aufmerksame
Schüler sein! Im Gefühl unserer Abhängigkeit werden wir in
Seiner Kraft wandeln und in allen Lagen auf Ihn vertrauen.
Wie gesegnet kann also unser Leben in der Wüste sein! Der
Herr will uns unterweisen, um uns Seiner Heiligkeit teilhaftig
zu machen. Er benutzt dazu die Verfolgungen der Menschen
und die Versuchungen des Teufels. Nehmen wir doch alles aus
Seiner Hand an! Kein Haar fällt von unserem Haupte ohne
Seinen Willen. Alle Dinge müssen bei denen, die Gott lieben,
zum Guten mitwirken. Hiob sagte: „Jehova hat gegeben, und
Jehova hat genommen, der Name Jehovas sei gepriesen!" —
Und doch war es der Mensch, der ihm alles nahm, und der
Teufel, der ihn plagte. Welch eine Ruhe für unser Herz! Der
Herr kennt und liebt uns. Er züchtigt uns zu unserem Nutzen.
„Alle Züchtigung aber scheint für die Gegenwart nicht ein
Gegenstand der Freude, sondern der Traurigkeit zu sein; hernach aber gibt sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen,
die durch sie geübt sind".
74
„Er demütigte dich und ließ dich hungern; er speiste dich mit
dem Man, das du nicht kanntest und das deine Väter nicht
kannten, um dir kundzutun, daß der Mensch nicht von Brot
allein lebt, sondern daß der Mensch von allem lebt, was aus
dem Munde Jehovas hervorgeht". Wunderbare Worte! Jehova
speiste das hungernde Volk mit Man, damit es verstand, daß
der Mensch nicht nur von Brot, sondern von allem lebt, was
aus dem Munde Jehovas hervorgeht. Konnte Er nicht Korn
wachsen lassen, um das Volk zu sättigen? Gewiß. Es wäre kein
größeres Wunder gewesen, als daß Er Brot vom Himmel regnen ließ. Aber Er tat es nicht, damit Israel erfahren sollte, daß
der Mensch von allem lebt, was aus dem Munde Jehovas hervorgeht. Wenn Er in der Wüste Korn hätte wachsen lassen,
dann hätten die Pilger es in ihren Zelten aufgespeichert, und
solange der Vorrat aushielt, wären sie ruhig und zufrieden gewesen. Ihr Vertrauen wäre auf das Korn, und nicht auf den
Herrn gerichtet gewesen, während sie beim Manna stets ihre
Abhängigkeit von der Güte Gottes fühlen mußten. Jeden Morgen mußte der Herr aufs neue Seinen Mund öffnen, um Israel
zu speisen; und Israel mußte jeden Morgen seine Speise holen.
Nach Sonnenaufgang begann das Manna zu schmelzen; und
wenn man es bis zu dem folgenden Tag aufbewahren wollte,
verdarb es. Auf Gott allein mußte daher das Vertrauen gerichtet bleiben. Hörten Seine Gaben auf, dann mußte das Volk
hungern. Man war abhängig von dem, was täglich aus dem
Munde Jehovas hervorging.
Ebenso verhält es sich mit uns. Hier in der Wüste findet sich
für uns nichts. Die Wüste ist dürre und leer und zeigt keine
erfrischende Quelle. Unsere Seele kann hier keine Erquickung
finden. Alles, was wir brauchen, muß von oben kommen. Gott
allein vermag die Bedürfnisse unserer Seele zu stillen. Und täglich zeigt Er in dieser Beziehung Seine Treue und Sorgfalt.
Aber Er reicht uns nicht mehr dar, als wir für jeden Tag nötig
haben. Nie öffnet Er in uns einen Brunnen, aus dem wir schöpfen können. Er Selbst ist die Quelle aller Genüsse und aller
Kraft. Von Ihm sind wir ganz abhängig. Sein Wort muß unsere
tägliche Speise sein. Nicht nur müssen wir es täglich lesen,
sondern es muß auch durch den Heiligen Geist auf unser Herz
und unser Leben angewandt werden, so daß es wirklich eine
75
Speise für uns ist, und wir in allem den wohlgefälligen Willen
Gottes verstehen lernen. Der Herr Jesus ist auch hierin unser
Vorbild. Wie wir wissen, hat Er die Worte Moses dem Teufel
gegenüber angeführt. Als Ihn hungerte und der Teufel Ihn
versuchte, aus Steinen Brot zu machen, war Seine Antwort: „Es
steht geschrieben- Nicht von Brot allein soll der Mensch leben,
sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht". — Es wäre sicher leicht für den Herrn gewesen, aus
Steinen Brot zu machen. Aber Er hatte kein Gebot von Gott,
dieses zu tun; und darum wollte Er lieber von jedem aus dem
Mund Gottes ausgehenden Wort leben, als Seine leiblichen Bedürfnisse in eigenmächtiger Weise zu stillen. Welch eine ernste
Lehre für uns! Wie gesegnet, wenn wir alles von Gott erwarten
und keinen Schritt tun, ohne zu wissen, daß unser Tun mit
Seinem Willen in Einklang steht. Alles muß für uns von oben
kommen. Die Wüste bietet uns nichts. Wir müssen jeden Tag
leben von dem, was aus dem Munde Gottes ausgeht. Laßt uns
daher täglich das himmlische Manna suchen! Es ist stets in
reicher Fülle vorhanden. Wir können so viel bekommen, daß
wir selbst noch für andere etwas übrig haben. Der Herr stillt
reichlich alle unsere Bedürfnisse, wenn wir nur kommen, um
zu nehmen.
Dies hat Israel in der Wüste in vollkommener Weise erfahren.
Was konnte Mose am Ende ihrer 40 jährigen Reise zu ihnen
sagen? „Dein Kleid ist nicht an dir zerfallen, und dein Fuß ist
nicht geschwollen diese 40 Jahre." — 40 Jahre lang waren sie
der sengenden Hitze der Wüste bloßgestellt gewesen. Dennoch
waren ihre Kleider nicht veraltet. Mit denselben Kleidern, mit
denen sie Ägypten verlassen hatten, sollten sie in Kanaan einziehen. 40 Jahre hindurch hatten ihre Füße den heißen Sand
der Wüste durchschritten, und dennoch waren sie nicht geschwollen. Welch eine Macht und welch eine Fürsorge Gottes!
Viel Mühsalen waren sie auf ihrem Wege begegnet. Feurige
Schlangen und Skorpione hatten die Pilger geplagt. Allerlei
Versuchungen und Prüfungen waren über sie gekommen. Aber
nie hatte Gott sie verlassen. Er hatte sie so herrlich geleitet, daß
sie nach einer 40 jährigen Reise durch die große und schreckliche Wüste unversehrt an den Grenzen des verheißenen Landes standen und bekennen mußten: „Uns hat nichts gefehlt!"
76
— Wie herrlich ist es, geliebte Brüder! Ja, der Herr führt uns in
mancherlei Mühsale und Versuchungen, um uns zu demütigen
und ans Licht zu stellen, was in uns ist. Aber Er verläßt uns
nie. Er läßt Leiden, Krankheiten und andere Prüfungen über
uns kommen, damit wir Seine Gnade besser kennenlernen, aber
nie ermüdet Er in Seiner Sorge für uns. Sein Auge wendet Sich
nie von dem Gerechten ab. Inmitten unserer Mühsale sorgt Er
für uns und segnet uns. Welch ein Trost! Wenn wir Leiden zu
erdulden haben, dann denken wir oft, der Herr habe uns vergessen. Aber das ist ein verwerflicher Gedanke. Machen wir
doch einen Augenblick halt und schauen wir auf den Weg zurück, auf dem uns der Herr, unser Gott, durch die Wüste der
Welt geleitet hat! Haben wir je Mangel gehabt? O, nein. Im
Gegenteil werden wir sagen müssen: Der Herr hat alles wohl
gemacht. Und wenn wir noch länger auf dieser Erde bleiben
müssen und nach einiger Zeit noch einmal den Blick auf den
Weg, der hinter uns liegt, zurückwerfen, dann werden wir dasselbe bezeugen müssen. Der Herr bleibt stets und unverändert
Derselbe. Darum laßt uns mit dem Mut des Glaubens unseren
Weg fortsetzen, indem wir unverwandt das Auge auf die kommende Ruhe in der ewigen Herrlichkeit gerichtet halten. Bald
werden wir bei Jesus sein. Zu den Kindern Israel sagte Mose:
„Denn Jehova, dein Gott, bringt dich in ein gutes Land, ein
Land von Wasserbächen, Quellen und Gewässern, die in der
Niederung und im Gebirge entspringen; ein Land von Weizen
und Gerste und Weinstöcken und Feigenbäumen und Granatbäumen; ein Land von ölreichen Olivenbäumen und Honig; ein
Land, in welchem du nicht in Dürftigkeit Brot essen wirst, in
welchem es dir an nichts mangeln wird; ein Land, dessen Steine
Eisen sind, und aus dessen Bergen du Erz hauen wirst". Aber
was ist dieses alles im Vergleich mit der Herrlichkeit, die unser
Teil sein wird? Kein irdischer Genuß, kein irdischer Glanz, sondern ein himmlischer Genuß, eine himmlische Herrlichkeit warten auf uns. Das Haus des Vaters wird unsere Wohnung sein.
Für immer werden wir bei Jesus sein. Seine Herrlichkeit wird
die unsrige sein. In Seiner Liebe werden wir uns vollkommen
und für ewig ergötzen. Die Herrlichkeit Kanaans hatte ihre
Grenzen; die unsrige wird unendlich, grenzenlos sein. Vorwärts, geliebte Brüder! Wie mühevoll der Weg auch sein mag,
und wie viele Versuchungen und Gefahren uns auch umringen
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mögen, wir werden bald in das himmlische Kanaan eingehen.
Die Reise ist bald zu Ende. Noch wenige Augenblicke,, und wir
stehen am Ziele und werden von allem Leid und Kampf für
immer erlöst sein.
Ermüdend ist die Wüste,
doch land' ich bald an jener Himmelsküste,
wo Jesus wohnt, wo meine Heimat ist.
Ja, der Herr ist nahe. Auch uns ruft Er zu: „Siehe, ich komme
bald!" — O, welch ein seliger Augenblick wird es sein, wenn
wir Ihm gleich sein und Ihn sehen werden, wie Er ist. Ja,
Herr Jesus, unser Herz verlangt nach diesem Augenblick. Schon
schauen wir die Küste von ferne, wo unser Schiff landen wird.
Amen. Ja, komm, Herr Jesus!
Die Wiederherstellung
(Johannes 21, 1—10)
Eine sorgfältige Betrachtung dieser Verse kann uns zeigen, daß
darin von drei verschiedenen Wiederherstellungsarten die Rede
ist, nämlich von einer Wiederherstellung des Gewissens, von
einer Wiederherstellung des Herzens und einer Wiederherstellung der Stellung.
1. Die Wiederherstellung des Gewissens ist von höchster Wichtigkeit. Der Wert eines guten, reinen und fleckenlosen Gewissens kann gar nicht genug geschätzt werden. Ein Christ kann
nicht weiterkommen, solange noch ein einziger Flecken auf seinem Gewissen haftet. Er muß vor Gott mit einem reinen Gewissen wandeln — mit einem Gewissen ohne Flecken und Runzeln. Welch ein kostbarer Schatz! Möge der Leser sich stets
dessen erfreuen!
Es ist völlig einleuchtend, daß Petrus in der rührenden Szene
am See Tiberias ein solch gutes Gewissen besaß. Und dennoch
war er kurze Zeit vorher in eine schreckliche, schändliche Sünde gefallen. Er hatte seinen Herrn mit einem Eide verleugnet.
Aber er war wiederhergestellt. Ein Blick von Seiten Jesu hatte
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die tiefen Quellen Seines Herzens aufgebrochen und seinen
Augen eine Flut von Tränen entlockt. Und dennoch waren es
nicht die Tränen, sondern die Liebe, die diese Tränen hervorlockte, die den Grund zur gänzlichen Wiederherstellung seines
Gewissens bildete. Es war die unwandelbare, unendliche Liebe
des Herzens Jesu, sowie die göttliche Kraft des Blutes Jesu und
die allesvermögende Macht Seiner Fürbitte, die dem Gewissen
des gefallenen Jüngers die Kühnheit und Freimütigkeit verlieh,
die uns in der vorliegenden, denkwürdigen Geschichte so schön
vor Augen gestellt wird.
Hier in dem letzten Kapitel des Evangeliums nach Johannes
sehen wir den auferstandenen Herrn, wie Er über Seine armen,
törichten, schwachen und elenden Jünger wacht, wie Er gleichsam ihren Pfad umschwebt, wie Er Sich ihnen in der mannigfachsten Weise darstellt, wie Er eine Gelegenheit sucht, um ihre
Bedürfnisse zu stillen, und wie Er Sich ihren Herzen in vollkommener Gnade zu erkennen gibt. Gab es dort eine Träne zu
trocknen, eine Schwierigkeit zu beseitigen, eine Furcht zu stillen, ein beunruhigtes Herz zu besänftigen, ein durch Unglauben verzagtes Gemüt wiederherzustellen? Der Herr Jesus war
gegenwärtig, um in der ganzen Fülle und Mannigfaltigkeit
Seiner Gnade all diesen Dingen zu begegnen. Auch in diesem
Augenblick, als die Jünger unter der Führung des Petrus eine
ganze Nacht in fruchtloser Arbeit zugebracht hatten, ruhte Sein
Auge auf ihnen. Er wußte alles über die Finsternis, die Arbeit
und das leere Netz; und Er stand am Ufer, um ein Feuer für sie
anzuzünden und für sie ein Mahl zuzubereiten. Ja, derselbe
Jesus, Der am Kreuze gestorben war, um ihre Sünden wegzunehmen, stand jetzt am Ufer, um sie nach ihrer mühevollen
Arbeit zu erfrischen, sie um Sich zu versammeln und alle ihre
Bedürfnisse zu stillen. Kindlein, habt ihr etwas zu essen?" Diese Frage enthüllte die ganze Fruchtlosigkeit ihrer nächtlichen
Arbeit. „Kommet her, frühstücket!" Das war der rührende Ausdruck der zärtlichen, für alles sorgenden Liebe des auferstandenen Heilandes.
Aber verweilen wir einen Augenblick bei dem Anschauen eines
gänzlich wiederhergestellten, gereinigten Gewissens, das uns
in Petrus vor Augen gestellt wird. „Da sagte jener Jünger,
welchen Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr. Simon Petrus
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nun, als er hörte, daß es der Herr sei, gürtete das Oberkleid
um (denn er war nackt) und warf sich in den See." — Unmöglich konnte er warten, bis das Schiff am Ufer war. Ein brennendes Verlangen zog ihn zu den Füßen seines auferstandenen
Herrn. Anstatt zu Johannes und den anderen Jüngern zu sagen:
„Ihr wißt, wie schändlich ich gefallen bin, und obgleich ich seit
jener Zeit den Herrn gesehen und aus seinem Munde die
Worte: ,Friede euch!' vernommen habe, so fühle ich doch, daß
es für einen, der so tief gefallen ist, geziemend ist, sich zurückzuhalten und nachzufolgen," — stürzt er sich mutig in den See,
als wollte er sagen: „Ich muß zuerst zu den Füßen meines auferstandenen Herrn liegen, denn niemand hat solch einen Anspruch auf Ihn wie ich armer, gestrauchelter und gefallener
Petrus".
Nicht wahr? Das war ein völlig wiederhergestelltes Gewissen —
ein Gewissen ohne einen einzigen Flecken — ein Gewissen, das
sich wärmte in den Strahlen einer unveränderlichen Liebe. Das
auf Christus gesetzte Vertrauen war unbewölkt, und wir dürfen kühn behaupten, daß das dem Herzen Jesu angenehm war.
Die Liebe liebt es, wenn man ihr vertraut. Mögen wir stets
daran denken. Man möge sich nicht einbilden, daß man Jesus
ehrt, wenn man fern auf dem Grunde der Unwürdigkeit seinen
Standpunkt einnimmt, und dennoch ist es so schwer für jemand, der gefallen oder abtrünnig geworden ist, das Vertrauen
zu der Liebe Christi wieder zu erlangen. Ein solcher kann deutlich erkennen, daß ein Sünder, wie groß und mannigfaltig seine
Sünden auch sein mögen, stets dem Herrn Jesus willkommen
ist. Aber er denkt, daß die Sache eines abtrünnigen oder strauchelnden Christen ganz anders sei. Sollten jedoch diese Zeilen
von jemand gelesen werden, der abtrünnig geworden oder gefallen ist, so können wir ihm die unmittelbare Rückkehr zu
Jesus nicht ernst genug ans Herz legen. „Kehret um, ihr abtrünnigen Kinder; ich will eure Abtrünnigkeiten heilen". —
Und was ist die Antwort auf diesen feierlichen Zuruf? „Hier
sind wir, wir kommen zu dir; denn du bist Jehova, unser
Gott". — „Wenn du umkehrst, Israel, spricht Jehova, zu mir
umkehrst, . . ." (Jer 3, 22; 4, 1) — Die Liebe des Herzens Jesu
kennt keine Veränderung. Wir verändern uns oft; aber Er ist
„Derselbe gestern und heute und in Ewigkeit". Wir ehren Ihn
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durch unser Vertrauen. Das Vertrauen des Herzens des Petrus
war ein reicher Genuß für das Herz Jesu. Es ist sicher sehr
traurig zu fallen, zu irren und abtrünnig zu werden. Aber noch
trauriger ist es, wenn wir, nachdem wir gefallen sind, Seiner
Liebe mißtrauen und Seine gnadenreiche Bereitwilligkeit leugnen, mit der Er uns wieder an Sein Herz ziehen will.
Lieber Leser! Bist du gefallen? Bist du auf Irrwege geraten?
Bist du abtrünnig geworden? Hast du das süße Gefühl des göttlichen Wohlgefallens, das glückliche Bewußtsein der Annahme
von Seiten Gottes, verloren? Wenn dies der Fall ist, was hast
du dann zu tun? Was sonst, als einfach zurückzukehren? Es
ist das Wort Gottes, das sich speziell an den Abtrünnigen richtet. Es fordert die Rückkehr zum Selbstgericht und zu dem
glückseligen Vertrauen in die grenzenlose, unwandelbare Liebe
des Herzens Christi. Laß dich nicht durch deinen eigenen Unglauben in der Ferne zurückhalten. Du darfst das Herz Jesu
nicht nach deinem eigenen Herzen ermessen. Laß Ihn Selbst es
dir sagen, was Sein Herz gegen dich fühlt. Du hast gesündigt,
du hast gefehlt, du hast dich abgewandt. Du fühlst die Schande
und wagst es kaum, deinen Blick zu Ihm emporzuheben, den
du so sehr betrübt und verunehrt hast. Auch wird Satan dir die
finstersten Gedanken eingeben, denn er möchte dich gern zurückhalten von dem gepriesenen Heilande, Der dich mit einer
ewigen Liebe liebt. Aber richte deinen Blick auf das Blut, auf
die Fürbitte und auf das Herz Jesu, um eine triumphierende
Antwort auf alle schrecklichen Einflüsterungen des Feindes und
auf alle ungläubigen Bemerkungen deines eigenen Herzens
zu erhalten. Laß daher nicht eine Stunde vergehen, ohne jede
Frage zwischen deiner Seele und Christus ganz in Ordnung
gebracht zu haben. „Kehret um, ihr abtrünnigen Kinder!" —
„Kehret um zu mirl", spricht der Herr.
2. Jedoch das Herz muß ebenso wiederhergestellt werden wie
das Gewissen. Möchten wir dies nie außer acht lassen. Oft ist
es in der Geschichte der Seelen der Fall, daß bezüglich gewisser
Handlungen, deren wir uns schuldig gemacht haben, unser Gewissen vollkommen rein ist, daß aber die Wurzeln, aus denen
diese Handlungen hervorgingen, durchaus nicht erreicht sind.
Die Handlungen erscheinen auf der Oberfläche des täglichen
Lebens, aber die Wurzeln sind in der Tiefe des Herzens ver81
borgen, vielleicht uns selbst und anderen unbekannt, aber vollkommen offen vor dem Auge Dessen, mit Dem wir es zu tun
haben.
Diese Wurzeln aber müssen unbedingt erreicht, bloßgestellt
und gerichtet werden, bevor unser Herz in einem richtigen Zustand vor dem Angesicht Gottes ist. Blicken wir auf Abraham.
Er setzte seinen Weg fort mit einer gewissen Wurzel im Herzen — einer Wurzel ungläubiger Sorge bezüglich seiner Frau
Sara. Das verleitete ihn bei seinem Zug nach Ägypten zu einer
Lüge, und obwohl sein Gewissen wiederhergestellt war und
er zu seinem Altar in Bethel zurückkehrte, wurde die Wurzel
doch erst nach Jahren bei seinem Zusammentreffen mit Abimelech, dem König von Gerar, erreicht.
Alles dies ist sehr ernst und von praktischer Wichtigkeit. Wir
sehen das sowohl bei Petrus als auch bei Abraham. Aber in
welch einer außergewöhnlich zarten Weise sucht der Herr Jesus
die Wurzeln in dem Herzen Seines teuren und geehrten Dieners
zu erreichen. Die Worte: „Als sie nun gefrühstückt hatten"
zeigen uns, daß der Herr bis zu diesem Augenblick in keiner
Weise auf das Vergangene angespielt und nichts gesagt hatte,
was das Herz des Petrus hätte verwunden oder eine Wolke über
seinen Geist bringen können, während er mit einem wiederhergestellten Gewissen mit einer Liebe bei der Mahlzeit saß, die keinen Wechsel kennt. Das kennzeichnet die Handlungen Gottes
mit allen Seinen Heiligen. Das Gewissen ist in der Gegenwart der
unendlichen, ewigen Liebe in Ordnung gebracht, bevor die entfernteste Anspielung auf die Wurzeln der Dinge im Herzen
gemacht wird. Als sich Petrus in dem völligen Vertrauen eines
wiederhergestellten Gewissens zu den Füßen Jesu niederwarf,
war er berufen, auf die gnädige Einladung zu lauschen: „Kommet her, frühstücket!" Aber „als sie nun gefrühstückt hatten",
nahm Jesus sozusagen den Petrus besonders zu Sich, um das
Licht der Wahrheit in seine Seele strömen zu lassen, damit er
in diesem Licht die Wurzel erkennen könne, aus der sein Fall
entsprungen war. Diese Wurzel war das Selbstvertrauen, das
ihn verleitet hatte, sich über seine Mitjünger zu erheben, indem
er sagte: „Wenn sich alle an dir ärgern werden, ich werde mich
niemals ärgern". —
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Diese Wurzel mußte ans Licht gebracht werden. Daher lesen
wir: „Als sie nun gefrühstückt hatten, spricht Jesus zu Simon
Petrus: Simon, Sohn Jonas', liebst du mich mehr als diese?"
— Das war eine durchdringende und schmerzhafte Frage. Sie
drang geradewegs in das Innere des Herzens Petrus. Dreimal
hatte Petrus seinen Herrn verleugnet, und dreimal zieht der
Herr das Herz des Petrus zur Rechenschaft, denn die Wurzel
seiner bösen Handlung muß erreicht werden. Es genügt nicht,
daß das Gewissen von den Wirkungen gereinigt ist, die im
praktischen Leben hervorgerufen werden. Es muß auch ein
inneres Gericht über das stattfinden, was diese Wirkungen hervorgerufen hat. Das wird oft nicht genügend verstanden und
beachtet. Die Folge davon ist, daß die Wurzel immer wieder
hervorschießt, ihre Früchte erzeugt und ihren Samen tausendfach um uns her verstreut, und daß dadurch für uns die trostlosesten und bittersten Mühen bereitet werden, die sämtlich
vermieden worden wären, wenn die Wurzel wirklich verurteilt
und ausgerottet worden wäre.
Lieber Leser! Der Zweck dieser Zeilen ist von höchst praktischer Bedeutung. Lassen wir uns daher ermahnen, die bösen
Wurzeln, die in uns sind, welcher Art sie auch sein mögen, mit
Ernst zu verurteilen. Kennen wir diese Wurzeln in uns? Es ist
auf jeden Fall sehr schwierig, sie zu erkennen. Sie liegen in der
Tiefe und sind mannigfaltig. Stolz, persönliche Eitelkeit, Habsucht, Reizbarkeit, Ehrgeiz, — das sind einige von den natürlichen Wurzeln und Triebfedern unserer Handlungen, über die
ein strenges Gericht ausgeübt werden muß. Unsere Natur muß
fühlen, daß sie einem ständigen Selbstgericht unterworfen ist.
Wir müssen diesen Kampf ununterbrochen fortsetzen.
[Anm. d. Bearb.: Allerdings spricht das Wort Gottes in diesem
Sinn nie von einem Kampf, sondern immer von einem Gestorbensein und im-Tode-Halten (Röm 6, Kol 3, 6ff), wobei natürlich das Selbstgericht immer vorhanden ist (1. Kor 11, 31).]
Mögen wir auch diesen oder jenen Fehltritt zu beklagen haben,
so müssen wir doch den Kampf aufrechterhalten, denn Kampf
verrät Leben. Möge der Heilige Geist uns stärken in unserem
unaufhörlichen Streit!
3. Wir schließen diese Zeilen mit einem kurzen Hinweis auf
eine Wiederherstellung bezüglich der Stellung oder des Pfades
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der Seele. Wenn das Gewissen völlig gereinigt und das Herz
mit seinen verschiedenen Wurzeln gerichtet ist, gibt es noch
eine moralische Zubereitung für unseren eigenen Pfad. Die
vollkommene Liebe Jesu hat alle Furcht aus dem Gewissen des
Petrus ausgetrieben. Seine dreifache Frage hat die Wurzeln in
dem Herzen des Jüngers bloßgelegt, und jetzt sagt Er zu ihm:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wohin du wolltest; wenn
du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken,
und ein anderer wird dich gürten und hinbringen, wohin du
nicht willst. Dies aber sagte er, andeutend, mit welchem Tode
er Gott verherrlichen sollte. Und als er dies gesagt hatte,
spricht er zu ihm: Folge mir nach." —
Hier haben wir also in drei Worten den Pfad des Dieners
Christi. „Folge mir nach!" Der Herr hat Petrus soeben die kostbarsten Pfänder Seiner Liebe und Seines Vertrauens gegeben.
Fr hat ihm trotz des früheren Fehltritts die Pflege alles dessen
anvertraut, was Seinem liebenden Herzen in dieser Welt teuer
w<ir, ja sogar die Schafe und Lämmer Seiner Herde. Er hatte
zu ihm gesagt: „Wenn du mich lieb hast, so hüte meine
Schafe". Jetzt öffnet Er ihm mit kurzen, aber deutlichen Worten seinen eigenen Pfad. „Folge mir nach"! Das ist genug. Es
schließt alles in sich. Wenn wir Jesus nachfolgen wollen, müssen wir das Auge unverwandt auf Ihn richten. Wir müssen auf
Seine Fußtapfen achten und darin wandeln. Wenn wir, wie
Petrus, versucht sind, uns umzuwenden, um zu sehen, was
dieser oder jener zu tun hat oder wie er es tut, dann möchte
unser Ohr die zurechtweisenden Worte hören: „Was geht es
dich an? Folge du mir nach!" — Dies muß unter allen Umständen unsere einzige Tätigkeit sein. Gewiß werden sich tausenderlei Dinge erheben, um uns abzulenken und zu behindern.
Der Teufel wird uns versuchen, hierin und dorthin zu blicken,
oder uns um diesen oder jenen zu bekümmern, oder uns einzubilden, daß wir uns besser hier als dort, oder dort als hier beschäftigen könnten, oder auch beschäftigt zu sein mit dem
Werk eines Mitjüngers. Diesem allen begegnen die klaren
Worte: „Folge mir nach!"
Es zeigt sich in unseren Tagen große Gefahr, daß wir den
Schritten anderer folgen und daß wir gewisse Dinge tun, wie
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und weil andere sie auch tun. Das alles erfordert eine sorgfältige Wachsamkeit, sonst wird sicher nichts gelingen. Wir
benötigen einen gebrochenen Willen — die wahre Gesinnung
eines Dieners, der auf seinen Herrn wartet, um Dessen Willen
zu erfahren. Der Dienst besteht nicht darin, daß man dies oder
jenes tut, oder hierhin und dorthin läuft, sondern einfach darin,
daß man den Willen des Herrn tut, welcher Art dieser auch
sein mag. Es ist leichter, tätig als ruhig zu sein. Als Petrus
noch „jünger" war, ging er wohin er wollte; nachdem er „alt"
geworden war, ging er wohin er nicht wollte. Welch ein Gegensatz zwischen dem jungen, ruhelosen, feurigen und energischen
Petrus, der ging wohin er wollte, und dem alten, gereiften,
unterwürfigen und erfahrenen Petrus, der ging wohin er nicht
wollte! Welch ein Glück, einen gebrochenen Willen zu haben
und imstande zu sein, von Herzen zu sagen: „Was Du willst —
wie Du willst — wo Du willst — wann Du willst! — Herr, nicht
mein Wille, sondern der Deinige geschehe!" —
„Folge mir nach!" Kostbare Worte! O möchten sie doch tief
in unsere Herzen eingegraben sein, lieber Leser! Dann wird
unser Schritt fest und unser Dienst gesegnet sein. Dann werden
wir nicht zerstreut oder verhindert werden durch die Gedanken
und Meinungen der Menschen. Vielleidit werden uns dann
wenige verstehen und mit uns fühlen. Vielleicht werden wenige
unser Tun billigen und schätzen. Aber was schadet dies? Der
Herr sieht und kennt alles, wenn loir nur Seinen Willen kennen
und danach tun. Wenn ein Herr einem seiner Diener gebietet
auszugehen oder irgend etwas zu tun, oder irgendeinen Auftrag
zu besorgen, so ist es die Pflicht des Dieners, dem Befehle treu
nachzukommen, ohne sich darum zu bekümmern, was seine
Mitknechte darüber denken mögen. Sie mögen ihn auffordern,
einen anderen Weg einzuschlagen, oder etwas anderes zu tun,
aber als treuer Diener wird er nicht darauf achten, weil er den
Willen seines Herrn kennt und dessen Aufträge auszuführen
hat.
Möchte es so doch bei allen Dienern des Herrn sein! Möchte es
mehr der Wunsch und das Verlangen aller sein, Seinen Willen
zu erforschen und zu tun! Petrus hatte seinen Weg, und Johannes hatte seinen Weg. Jeder hat sein eigenes Werk zu verrichten. Keiner darf dem anderen im Wege stehen. Die Stifts85
hütte wurde von einem Ort zum andern getragen und aufgerichtet, und jeder Arbeiter hatte seine bestimmte Arbeit dabei
zu verrichten. Ebenso ist es auch in unseren Tagen. Gott hat
verschiedene Arbeiter in Seinem Hause und in Seinem Weinberg. Er hat Steinbrecher, Steinhauer, Maurer und Verzierer.
Sind alle Steinbrecher? Gewiß nicht, sondern jeder hat sein
Werk zu tun, und der Bau geht seiner Vollendung entgegen,
indem ein jeder die ihm zugewiesene Arbeit verrichtet. Darf
der Steinbrecher den Verzierer verachten? Darf der Verzierer
mit Geringschätzung auf den Steinbrecher herabblicken? Keineswegs. Der Meister hat sie beide nötig, und wo irgendeiner
dem anderen im Wege steht, wie es leider unter uns so oft
geschieht, da wird auch sicher das zurechtweisende Wort vernommen werden: „I-Vas geht es dich an? Folge du mir nach!" —
Drei große Wahrheiten
(Psalm 32)
In diesem lehrreichen Psalm wird Gott uns in dreifacher Weise
vor Augen gestellt. Zuerst haben wir Ihn als unseren Rechtfertiger, dann als unseren Bergungsort und schließlich als unseren Führer. Das sind sicherlich drei große Wahrheiten. Nicht
nur trägt Gott, wie reich und überschwenglich diese Güte und
Gnade auch sein würde, für unsere Rechtfertigung, Sicherheit
und Leitung Sorge, sondern Er ist Selbst gekommen, um unser
Rechtfertiger, unsere Zufluchtsstätte und unser Führer zu sein.
Welch eine wunderbare Vorsorge! Das ist die große Tragweite
der Erlösung, das ist die Weise in der der Gott aller Gnade
allen unseren Bedürfnissen begegnet ist. Wenn Gott Selbst
mein Rechtfertiger ist, muß ich vollkommen gerechtfertigt sein;
wenn Er mein Bergungsort ist, muß ich vollkommen geborgen
sein; wenn Er mein Führer ist, muß ich vollkommen richtig
geleitet werden.
1. Gott unser Rechtfertiger
„Glückselig der, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde
zugedeckt ist! Glückselig der Mensch, dem Jehova die Unge86
rechtigkeit nicht zurechnet, und in dessen Geist kein Trug ist"
(V. 1. 2)! Welch eine Glückseligkeit! Die Übertretung ist vergeben, die Sünde bedeckt. In dem religiösen Gemüt jedes Menschen ist der Gedanke tief eingegraben, daß er Gott als Richter
begegnen wird, daß er als Sünder in der einen oder anderen
Weise den Forderungen eines gerechten Richters begegnen muß
— eines Richters, der mit ihm nach seinen Sünden handeln und
den letzten Heller eintreiben wird. Wie viele Sterbende haben,
als sie sich an der Pforte der Ewigkeit sahen, die Worte ausgerufen: „Wie, muß ich vor den Richter treten, während noch alle
meine Sünden auf mir lasten?" — Es ist wirklich ein schreckliches Bewußtsein, beladen mit Sünden vor das prüfende, alles
durchdringende Auge Gottes treten zu müssen. Wenn ich Gott
als Richter begegnen muß, dann ist es aus mit mir. „Gehe nicht
ins Gericht mit deinem Knechte! denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht" (Ps 143, 2). Daher muß jede Seele, die Gott als
ihren Richter sieht, mit Furcht und Angst erfüllt sein, weil sie
nicht eines auf tausend zu antworten vermag. „Womit soll ich
vor Jehova treten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll
ich vor ihn treten mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern?
Wird Jehova Wohlgefallen haben an Tausenden von Widdern,
an Zehntausenden von Strömen Öls? Soll ich meinen Erstgeborenen geben für meine Übertretung, die Frucht meines
Leibes für die Sünde meiner Seele" (Micha 6, 6. 7)? Der Mensch
kann Gott als einem Richter nicht begegnen. Das Ergebnis
einer Begegnung zwischen einem gerechten Richter und einem
schuldigen Sünder wird ewige Verdammnis sein.
Aber Gott sei gepriesen! Er trägt jetzt einen anderen Charakter. Er ist ein gerechter Rechtfertiger, ja, ein Rechtfertiger oder
Freisprecher derer, die Ihm als einem Richter nicht begegnen
können. In jeder Sphäre, wo Gott Sich entfaltet, muß Er gerecht sein. Er muß gerecht sein, sei es als Richter oder Rechtfertiger. Aber in diesen Tagen der Gnade, während der angenehmen Zeit, am Tage des Heils, offenbart Er Sich als ein „gerechter Gott und als ein Heiland". Welch ein Charakter! Welch
ein bewunderungswürdiger Triumph der erlösenden Liebe.
Welch eine Antwort auf die Anmaßungen Satans! Welch ein
Balsam für ein überführtes Gewissen und ein zerknirschtes
Herz! Ein Heiland-Gott! Das ist gerade der Titel, der für den
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verlorenen Sünder passend ist. Dieser Titel bringt Gott in
meine Nähe, und zwar in dem Zustand und Charakter, in denen
ich mich befinde. Wenn Gott ein Heiland ist, so finde ich in
Ihm gerade Den, Dessen ich als Verlorener bedarf. Wenn Er
ein Rechtfertiger ist, so ist Er gerade das, was ich als ein Schuldiger nötig habe. Nur ein verlorener Sünder kann mit einem
Heiland zu tun haben. Nur ein schuldiger Sünder bedarf eines
Gottes, Der ein Rechtfertiger ist. Nichts könnte einleuchtender
sein. Dies stellt die Errettung und Rechtfertigung auf einen
ebenso einfachen wie festen Boden. Gott offenbart Sich als
Erretter, der glaubende Sünder tritt in das Licht dieser Offenbarung und ist errettet. Gott offenbart Sich als Rechtfertiger,
der glaubende Sünder tritt in das Licht dieser Offenbarung und
ist gerechtfertigt. Er ist gerettet und gerechtfertigt nach dem
vollkommenen Maßstab der Offenbarung Gottes Selbst. Es ist
unmöglich, auf einem festeren Boden zu stehen und eine sicherere Stellung einzunehmen. Die Rettung und Rechtfertigung
des Gläubigen antasten zu wollen, wäre eine Leugnung der
Lauterkeit der Offenbarung Gottes.
Möge der Leser sich stets erinnern, wer diejenigen sind, die
Gott rechtfertigt. Sind es gute Menschen? Sind es solche, die
ihre Pflicht getan haben? Gibt es solche überhaupt? Sind es
solche, die das Gesetz erfüllt haben? Solche Menschen hätten
gewiß keine Rechtfertigung nötig, weil sie sich sagen könnten,
daß „der Mensch, der diese Dinge tut, durch sie leben wird".
Wenn daher jemand das Gesetz erfüllen könnte, dann hätte
er keine Übertretung, die vergeben, und keine Sünde, die bedeckt werden müßte, und ein solcher benötigt keinen HeilandGott, keinen gerechten Rechtfertiger. Das ist einleuchtend. Ein
Mensch, der sich eine gesetzliche Gerechtigkeit erworben hat,
verlangt nach keiner Gerechtigkeit aus dem Evangelium. „Wenn
Gerechtigkeit durch Gesetz kommt, dann ist Christus umsonst
gestorben". Welchen Nutzen konnte Sein Sterben haben, wenn
unsere Gerechtigkeit auf einem anderen Weg hätte erlangt
werden können?
Wer sind nun diejenigen, die Gott rechtfertigt? Höre es,
ängstlicher Leser! Er rechtfertigt die Gottlosen. Ja, das ist die
wahre Sprache des Heiligen Geistes. „Dem aber, der wirkt,
wird der Lohn nicht nach Gnade zugerechnet, sondern nach
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Schuldigkeit. Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt,
der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. Gleichwie auch David die Glückseligkeit des
Menschen ausspricht, welchem Gott Gerechtigkeit ohne Werke
zurechnet: ,Glückselig die, deren Gesetzlosigkeiten vergeben und deren Sünden bedeckt sind! Glückselig der Mann, dem
der Herr Sünde nicht zurechnet''' (Röm 4, 4—8)!
Hier erlangen wir also unsere klare, volle, bestimmte und entscheidende Antwort. Zwei Charaktere werden hier einander
gegenübergestellt, nämlich „der, welcher wirkt", und „der,
welcher nicht wirkt"; und dieser vollkommene Gegensatz wirft
alle Gedanken des Menschen über den Haufen. Es war für den
Geist des Menschen unfaßbar, eine Gerechtigkeit zu erlangen,
ohne dafür zu wirken. Es überstieg jedes Verständnis, daß Gott
den Gottlosen rechtfertigt. Und dennoch ist dies die wahre
Lehre der Schrift. Wenn der Mensch die Gerechtigkeit durch
eigenes Wirken erlangen könnte, dann wäre es selbstverständlich keine göttliche Gerechtigkeit, und zwar aus dem einfachen
Grunde, weil diese eine Gerechtigkeit ist für den, „welcher
nicht wirkt". Wenn Gott Sich als Rechtfertiger der Gottlosen
offenbart, dann ist es eine gänzliche Verleugnung dieser Offenbarung für die Menschen, wenn man in einem anderen Charakter vor Ihm zu erscheinen versucht. Wenn ich als Sünder
meine Pflichten vor Gott bringe, dann muß ich Ihm als meinem
Richter begegnen, denn dann muß Er meine Pflichten untersuchen und sehen, ob sie alle in Ordnung sind. Aber wenn ich
meine Sünden vor Ihn bringe, so begegnet Er mir als Rechtfertiger mit einer völligen und freien Vergebung und mit einer
ewigen Gerechtigkeit. Es ist die besondere Herrlichkeit des
Evangeliums, daß Gott darin geoffenbart wird als der gerechte
Rechtfertiger des armen, verlorenen Sünders.
Das ist eine bewunderungswürdige Wahrheit. Und wenn, wie
es ganz natürlich ist, ein in Tätigkeit gebrachtes Gewissen nach
dem Grunde dieser erhabenen Wahrheit fragt, dann ist die
Antwort so klar und vollständig, wie es selbst die ängstlichsten
Seelen nur wünschen können. Ja, nichts könnte klarer sein. Gott
als Richter handelte mit mir bezüglich meiner Sünden am
Kreuz, damit Er als Rechtfertiger Sich mit mir auf der „Himmelsseite" des leeren Grabes Jesu beschäftigen könnte. Der
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Tod Christi ist daher der Grund, auf dem Gott in gerechter
Weise den Gottlosen rechtfertigen kann. Ein gerechter Richter
verurteilte und verdammte die Sünde am Kreuze, damit ein
gerechter Rechtfertiger in der Lage wäre, dem Schuldigen zu
vergeben und ihn zu rechtfertigen. Welch ein tiefes Geheimnis!
Kein Wunder, daß Engel hineinzuschauen begehren; kein Wunder, daß Sünder, die an dieser Segnung teilhaben, niedersinken
zum Preise und zur Anbetung Dessen, Der solche Ratschlüsse
faßte und offenbarte und alles zu ihren Gunsten wirkte durch
die vollkommene Sühnung Christi.
Hier wollen wir einen Augenblick verweilen, um eine klare und
entscheidende Frage an den Leser zu richten. Mein teurer
Freund! Kennst du Gott als deinen Rechtfertiger? Oder lebst
du noch in dem Gedanken, Ihm als Deinem Richter begegnen
zu müssen? Blickst du zum Richterstuhl als der Stätte empor,
wo die Frage deiner Rechtfertigung noch in Ordnung gebracht
werden muß? Wenn das der Fall ist, dann wirst du dich elend
fühlen. Du kannst dich nicht eher eines wahren Friedens erfreuen, als bis du erkennst und glaubst, daß Gott als Richter
nichts gegen dich als einen Sünder hat, ja, daß Er sogar Selbst
dein Rechtfertiger ist, — daß Er Sich dir, einem gottlosen Sünder, in dem Tod und der Auferstehung Christi als ein gerechter Gott und Heiland geoffenbart hat. Dies ist der feste und
unerschütterliche Grund des Friedens, und es sollte unser ernstes Gebet sein, immer tiefer in dieses große Geheimnis einzudringen. Wenn du wirklich in bezug auf die Rettung deiner
Seele beunruhigt bist, so solltest du diese Zeilen nicht aus der
Hand legen, ehe du die göttliche Gewißheit besitzest, daß du
gerechtfertigt bist, und daß Gott dein Rechtfertiger ist. Welch
eine gesegnete Gewißheit! Möchtest du sie erkennen durch den
einfachen Glauben an Den, Der den Gottlosen rechtfertigt, und
dann wirst du fähig sein, uns mit Verständnis und wahrer
Freude zu folgen, wenn wir jetzt bei dem zweiten Teil unserer
Betrachtung ein wenig verweilen.
2. Gott unser Bergungsort
Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß, so lange der Sünder
in Feindschaft wider Gott ist, er mit sich selbst, mit der Welt
und mit dem Teufel in Frieden ist. Aber von dem Augenblick
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an, da er durch die Gnade in den vollen Frieden mit Gott gebracht ist, beginnt auch der Kampf mit sich selbst, mit der
Welt und dem Teufel. Ja, kaum ist der glückliche Moment angebrochen, da ich mit Gott als meinem Rechtfertiger bekannt
geworden bin, beginnt auch schon der Kampf mit einem Heer
geistlicher Feinde in meinem Inneren und um mich her. Dies
weckt in mir ein neues Bedürfnis. Ich verlange nach einem
Bergungsort, zu dem ich mich zu allen Zeiten zurückziehen
kann, und aus dem ich nicht hervorzutreten wage. Dieser Bergungsort ist Gott. „Du bist ein Bergungsort für mich; vor
Bedrängnis behütest du mich; du umgibst mich mit Rettungsjubel" (V. 7). Welch ein Unterschied zwischen dem Zustand
der Seele hier und demjenigen im dritten und vierten Vers:
„Als ich schwieg, verzehrten sich meine Gebeine durch mein
Gestöhn den ganzen Tag. Denn Tag und Nacht lastete auf mir
deine Hand; verwandelt ward mein Saft in Sommerdürre.
(Sela)". Welch ein Gegensatz zwischen dem „Gestöhn" eines
mit Sünden beladenen, das Gericht fürchtenden Menschen, und
dem „Rettungsjubel einer gerechtfertigten, in Gott ruhenden
Seele"! Dennoch ist es weit besser, in der Zerknirschung des
Geistes zu stöhnen als zu rufen: „Friede, Friede!" wo kein
Friede ist. Wahre Angst ist sicher einem falschen Frieden vorzuziehen. Aber der Gläubige hat weder das eine noch das
andere. Seine Furcht ist in wahre Ruhe umgewandelt durch
die Erkenntnis Gottes als seines Rechtfertigers und seines Bergungsortes. Daher kann er statt desSeufzens der Zerknirschung
seine Stimme zu einem Rettungsjubel erheben. Welch ein gesegneter Wechsel! Anstatt ausrufen zu müssen: „O welch ein
Elend!" kann er jauchzen: „O welch eine Glückseligkeit!" —„Du
umgibst mich mit Rettungsjubel!" — „Wenn Gott für uns ist,
wer wider uns?" — „Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt
durch unseren Herrn Jesus Christus!" — „Gott aber sei Dank,
der uns allezeit im Triumphzuge umherführt in Christo und
den Geruch seiner Erkenntnis an jedem Orte durch uns offenbart !" -
Das sind einige Klänge jenes Rettungsjubels, mit dem der
Heiland-Gott Seine gerechtfertigten und geborgenen Gläubigen
umgibt. Möchten unsere Herzen mehr davon erfüllt sein! Leider
hört man unter den Gläubigen oft mehr ein vielseitiges Murren
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und Klagen als die Klänge des Rettungsjubels. Wenn die uns
zuteilgewordenen Gnadenerweisungen und Segnungen mehr in
unserer Erinnerung lebten, würden gewiß unsere Lippen auch
mehr geöffnet sein zum Rettungsjubel. Wer anders hätte denn
eine Ursache, sich zu freuen und fröhlich zu sein, als diejenigen,
die durch Gott gerechtfertigt und in Ihm geborgen sind?
Wir müssen indessen zum Schluß eilen, und dem dritten Punkt
unseres kostbaren Psalms noch eine kurze Betrachtung widmen.
3. Gott unser Führer
Dies ist wirklich eine große Wahrheit. Ja, wir brauchen einen
Führer, so lange wir durch die Labyrinthe dieser finsteren, gefahrvollen Welt gehen. In diesen Tagen der Unruhe und der
Verwirrung brauchen wir einen Führer, und Gott sei gepriesen,
daß Er Selbst diesen Dienst für uns übernommen hat . . . „Ich
will dich unterweisen und dich lehren den Weg, den du wandeln sollst; mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten"
(V. 8). Welch eine kostbare Gnade! Welche Mühe gibt Gott
Sich, um uns auf jeder Station unserer Laufbahn zu begegnen
und Sich uns stets in dem Charakter zu offenbaren, in dem
wir Ihn brauchen. Als wir niedergebeugt waren unter der schweren Last unserer Sünde und Schuld, als wir seufzten unter der
Qual der Gewissensangst, als unsere Gebeine sich verzehrten
und unser Saft verwandelt wurde in Sommerdürre, — da erschien Er vor uns als unser Rechtfertiger, als unser HeilandGott, Der uns unsere Übertretung und unsere Sünde bedeckte.
Wenn wir von einem Heer geistlicher Feinde umringt sind, die
uns, wenn möglich, in einem Nu zermalmen würden, dann
öffnet Er uns Seinen Busen und lädt uns ein, in Ihm eine Zufluchtsstätte und einen Bergungsort zu finden, so daß wir, anstatt von Feinden umgeben zu sein, mit Rettungsjubel umgeben
sind. Und endlich, wenn wir berufen sind, einen Schauplatz der
Verwirrung und der Unruhe zu durchschreiten, dann steht Er
in Seiner unendlichen Gnade vor uns und sagt: „Mein Auge
auf dich richtend, will ich dir raten". Welche Gnade! Welche
Nähe! Welche Innigkeit!
Wie bemerkenswert ist auch die Weise, wie Er uns leitet! „Mein
Auge auf dich richtend, will ich dir raten". Das ist, wie wir
wissen, die zärtlichste, lieblichste und wohlwollendste Art der
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Leitung. Wir müssen mit einer Person sehr vertraut sein und
ihr sehr nahe stehen, um von ihr durch den Wink ihrer Augen
geleitet werden zu können. Es ist dies eine weit zartere und
vortrefflichere Art der Leitung als durch den Wink der Hand
oder durch den Klang der Stimme. Ich muß meinen Blick auf das
Antlitz einer Person gerichtet haben, um den Wink ihrer Augen aufzufangen; und ich muß sehr vertraut mit ihrem Willen
und Wunsch sein, um mir diesen Wink zu erklären und demgemäß zu handeln.
O möchte unser Herz in diese kostbare Wahrheit tiefer eindringen! Wäre dies der Fall, dann würde der Blick des Auges
unseres Vaters völlig genügen, unsere Wege zu bereiten; ja
dann könnten wir ruhig unsere Hand in die Seinige legen und,
in Sein Antlitz schauend, sicher geleitet werden durch den Wink
Seines Auges. Dann wäre unser Pfad stets hell und sicher, einfach und gesegnet. Wir hätten dann nicht wie die unbändigen
„Rosse" und die widerspenstigen „Maultiere" den Zaum und
Zügel der Umstände nötig, sondern durch Gemeinschaft mit
Seinem Geiste würden wir Seinen Willen kennen. Wie oft
verlieren wir uns in den Umständen auf unserem Pfad! Wie
oft befinden wir uns in den mißlichsten Verhältnissen! Und
warum? Weil wir uns nicht durch das Auge Gottes leiten lassen. Wir bitten Gott um Seine Leitung in solchen Dingen, die
wir nicht tun sollten, und auf solchen Pfaden, die wir nicht
wandeln sollten. — „Ich weiß nicht, welchen Weg ich einschlagen soll", sagte jemand zu einem christlichen Freund. — Wie
lautete die Antwort? Sie war sehr einfach. „Du tust am besten,
wenn du keinen Weg einschlägst", erwiderte der Ratgeber. So
sollte es stets sein. Wenn wir uns nicht im klaren sind, ob der
Weg, den wir wandeln wollen, der richtige ist, so sollten wir
still stehen.
Möchten doch alle Jünger des Herrn durch den Heiligen
Geist befähigt sein, als Gerechtfertigte zu wandeln, in ihrem
Bergungsort zu bleiben und ihrem Führer zu folgen. —
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Wir sehen Jesum
„Wir sehen aber Jesum, der ein wenig unter die Engel wegen
des Leidens des Todes erniedrigt war, mit Herrlichkeit und
Ehre gekrönt — so daß er durch Gottes Gnade für alles den
Tod schmeckte. Denn es geziemte ihm, um deswillen alle Dinge
und durch den alle Dinge sind, indem er viele Söhne zur Herrlichkeit brachte, den Urheber ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen. Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch
die, welche geheiligt werden, sind alle von einem; um welcher
Ursache willen er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen"
(Hebr 2, 9—11).
In diesen Worten wird uns der Herr Jesus dargestellt als Derjenige, Der den Tod geschmeckt hat, durch Leiden vollkommen
gemacht wurde und Der der Erstgeborene vieler Brüder ist.
1. Jesus schmeckte den Tod für alles. In diesem Charakter
sehen wir Ihn mit Herrlichkeit gekrönt; und Seine Krone liefert
den Beweis, daß die Sünde, der Stachel des Todes, beseitigt ist.
Nie wurde vorher ein verherrlichter Mensch im Himmel gesehen. Wir sehen nicht einen unschuldigen Mann in Eden, nicht
einen wiederhergestellten Menschen auf Erden, nicht einen
Menschen auf dem Thron Israels; nein, es ist ein mit Herrlichkeit und Ehre gekrönter Mensch. Da nun Jesus aufgrund des
für mich vollbrachten Werkes gekrönt ist, bleibt für mich nichts
anderes übrig, als in der Gewißheit zu wandeln, daß alle meine
Sünde für ewig beseitigt ist. Jeder Zweifel von meiner Seite
würde eine Leugnung Seines Rechtes sein, eine Krone zu tragen. Ist der Sündenträger gekrönt, dann ist die Sünde weggetan; ist Er, Der den Tod schmeckte, mit Herrlichkeit und Ehre
bekleidet, dann ist der Stachel des Todes beseitigt. Das ist der
Gedanke Gottes, und das muß auch stets der Gedanke der
Gläubigen sein.
2. Auch ist Jesus der Anführer unserer Errettung, und als solcher durch Leiden zur Vollkommenheit gebracht. In Sich Selbst,
als Gott und Mensch, war Er vollkommen. Aber durch Leiden
wurde Er vollkommen gemacht, um der Urheber unserer Errettung zu sein. Gott wollte viele Kinder zur Herrlichkeit brin94
gen, darum mußte der Urheber ihrer Errettung um ihretwillen
durch Leiden und Tod gehen. Wir sehen daher im Himmel nicht
nur unseren Sündenträger, sondern auch den Urheber unserer
Errettung, Der uns in die Herrlichkeit einführen kann. Er, Der
die Sünde weggenommen, den Teufel überwunden, den Tod
zunichtegemacht hat, ist der Urheber unserer Errettung. Darum
kann keine Macht der Welt und der Hölle uns Seiner Hand
entreißen; Er, Der mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt ist, ist
der Urheber unserer Errettung.
3. Auch ist Er der Erstgeborene vieler Brüder. Dies konnte nur
durch den Tod und die Auferstehung bewerkstelligt werden.
Auf diesem Grunde ruht unser Einssein mit Christus. „Wenn
das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es
allein". Jesus mußte sterben, um uns mit Sich vereinigen und
uns „Brüder" nennen zu können. Das ist wichtig. Christus vereinigte die gefallene Menschheit nicht bei Seiner Menschwerdung. Das ist unmöglich. Nur aufgrund Seines Todes konnte
eine Vereinigung stattfinden, denn sonst wäre Sein Versöhnungstod unnötig gewesen. Der Tod Christi ist das Fundament
aller Dinge. Über dies große Geheimnis muß Klarheit vorhanden sein. Dem Tode Christi verdanken wir alles: Einheit, Leben, Gerechtigkeit, Frieden und Herrlichkeit. Ohne diesen Tod
haben wir nichts. Wäre der Herr Jesus nicht gestorben, wäre Er
allein geblieben und wir wären ewig verloren. Seine Menschwerdung konnte uns nicht retten. Die Wirkung des Lebens
Christi hienieden war die Offenbarung unseres verlorenen Zustandes. Sein Leben war der Prüfstein für den Menschen und
brachte den unverbesserlich schlechten Zustand des Menschen
ans Licht. In dem Tode sehen wir das Fundament der Ratschlüsse Gottes, sowohl in bezug auf die Kirche als auch in
bezug auf Israel und die ganze Welt. Alles ist auf diesen Tod
gegründet. Jesus ging für uns in den Tod, und als Auferstandener vereinigt Er als der Erstgeborene aus den Toten die
Gläubigen mit Sich und nennt sie Brüder. Nach Seiner Auferstehung sagte Er: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und
sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem
Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott" (Joh 20). Welch
eine herrliche Stellung! Der Herr Jesus gab uns Sein Leben —
das Auferstehungsleben; Er machte uns zu Gliedern Seines
95
Leibes und Er schämt Sich nicht, uns Brüder zu nennen. Das
ist ein unauflösliches Band. Er tritt vor den Vater hin mit den
Worten: „Siehe, ich und die Kinder, die du mir gegeben hast".
Möchten wir Seine Liebe und Seine herrlichen Gedanken doch
besser verstehen lernen! —
Das Leben des Christen
Die Frage, die wir in diesem Abschnitt zu betrachten gedenken,
ist eine der lehrreichsten und wichtigsten, die uns je beschäftigen kann. Was ist das Leben, das wir als Christen besitzen?
Was ist seine Quelle? Welches sind seine Eigenschaften? Was
ist sein Ausgang?
Das Wort Gottes spricht von zwei verschiedenen Häuptern oder
Quellen. Wir lesen dort von einem ersten und einem zweiten
Menschen. Schon im ersten Buch Mose lesen wir die Worte:
„Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen in unserem
Bilde, nach unserem Gleichnis; . . . Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn; Mann und
Weib schuf er sie" (Kap 1, 26. 27). — „An dem Tage da Gott
Adam schuf, machte er ihn im Gleichnis Gottes . . . Und Adam
lebte hundert und dreißig Jahre und zeugte einen Sohn in
seinem Gleichnis, nach seinem Bilde" (Kap 5, 1. 3).
Aber zwischen der Erschaffung Adams nach dem Bilde Gottes
und der Geburt eines Sohnes, der dem Bilde Adams ähnlich
war, hatte eine große Veränderung stattgefunden. Die Sünde
hatte sich eingeschlichen. Der Zustand der Unschuld war vorbei. Adam war ein gefallener, ruinierter, ausgestoßener Mensch
geworden. Diesen Sachverhalt darf man keinesfalls aus dem
Auge verlieren. Es ist eine wichtige, folgenschwere Tatsache,
die uns einen Blick in das Geheimnis des Lebens gestattet, das
wir als Söhne Adams besitzen. Ein schuldiges, verderbtes und
ausgestoßenes Haupt bildet diese Quelle. Nicht im Zustand der
Unschuld wurde Adam zum Haupt des Menschengeschlechts.
96
Nicht innerhalb der Grenzen des Paradieses, sondern außerhalb, in einer verderbten, verfluchten Welt wurde Kain geboren,
und diese Geburt war nicht nach dem Bilde Gottes, sondern
nach dem Bilde eines gefallenen Vaters.
Wir zweifeln nicht daran, daß Adam persönlich ein Gegenstand
der göttlichen Gnade war, und daß er durch Glauben an den
verheißenen Samen des Weibes Rettung gefunden hat. Betrachten wir ihn jedoch als das Haupt des Menschengeschlechts,
dann sehen wir ihn nur als einen gefallenen, ruinierten und
ausgestoßenen Menschen, und jeder seiner Nachkommen ist
in demselben Zustand geboren. Wie das Haupt ist, so sind
auch die Glieder — alle Glieder insgesamt, und jedes Glied insbesondere. Der Sohn trägt das Bild seines gefallenen Vaters
und ist der Erbe seiner Natur. „Was aus dem Fleische geboren
ist, ist Fleisch". Man mag das „Fleisch" nach Belieben erziehen,
veredeln, erheben, doch es wird sich nie in „Geist" umwandeln
lassen. Diese beiden Dinge sind einander ganz entgegengesetzt.
Das erstere ist der Ausdruck alles dessen, was wir sind als in
dieser Welt geborene Sprößlinge des ersten Adam, während
das letztere das ausdrückt, was wir als Wiedergeborene und
mit dem letzten Adam Vereinigte sind.
Die „Veredlung" des von dem ersten Adam abstammenden
Menschen ist eine Arbeit, an der sich seit Jahrtausenden alle
Weisen der Erde vergeblich abgemüht haben. Der Stand des
Wassers kann nie seine Höhe überschreiten, und ebenso wenig
können die Söhne des gefallenen Adam das Höhenmaß ihres gefallenen Vaters übersteigen. Man kann mit ihnen machen was
man will, nie werden sie, selbst beider sorgfältigsten Erziehung,
die Natur ihres verworfenen Hauptes verleugnen. Der Mensch
kann nicht über die Natur, die ihm angeboren ist, hinauswachsen. Er kann hinein—, aber nicht hinauswachsen. Wenn man nach
der Quelle des Stromes der gefallenen Menschheit sucht, wird
man als Quelle einen gefallenen, ruinierten und ausgestoßenen
Menschen entdecken. Diese einfache Wahrheit trifft die Wurzel
jedes menschlichen Stolzes auf seine Geburt. Wir sind alle
einem gemeinschaftlichem Stamm, einem Haupt, einer Quelle
entsprossen. Wir sind alle gezeugt nach einem Bild, und zwar
nach dem Bild eines verworfenen Menschen. Das Haupt des
Geschlechts, wie auch das Geschlecht selbst, sind beide in ein
97
gemeinsames Verderben verwickelt. Vom gesellschaftlichen
Standpunkte aus betrachtet mögen Unterschiede vorhanden
sein, aber vom göttlichen Standpunkt aus gibt es keine. Wenn
man sich eine wahre Vorstellung von dem Zustand der Glieder
des Menschengeschlechtes machen will, muß man den Zustand
des Hauptes betrachten. Man muß bis zum dritten Kapitel des
ersten Buches Mose zurückkehren und dort die Worte lesen:
„Und er trieb den Menschen aus". Hier ist die Wurzel der
ganzen Sache. Hier ist die Quelle jenes Stromes, aus dem seit
fast sechstausend Jahren die Millionen von Nachkommen
Adams all ihr Elend geschöpft haben. Die Sünde ist eingetreten
und hat das Band gesprengt, das Bild Gottes verunstaltet, die
Quelle des Lebens verderbt, den Tod eingeführt und dem Satan
die Macht des Todes verliehen. So verhält es sich sowohl in
bezug auf das Geschlecht Adams als ganzes gesehen als auch
in bezug auf jedes einzelne Glied. Sie alle sind mit eingeschlossen in Sünde und Verderben. Sie alle sind dem Tode und dem
Gericht verfallen. Es gibt keine Ausnahme. „Darum, gleichwie
durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen, und
durch die Sünde der Tod, und also der Tod zu allen Menschen
durchgedrungen ist, weil sie alle gesündigt haben" (Röm 5,12).
— „In dem Adam sterben alle" (1. Kor 15, 22). Zwei traurige
und ernste Tatsachen: Sünde und Tod sind hier miteinander
verbunden.
Doch Gott sei gepriesen! Ein zweiter Mensch hat den Schauplatz betreten, und diese große Tatsache beweist klar und unwiderlegbar, daß der erste Mensch völlig beiseite gesetzt ist,
während sie die wunderbare Gnade Gottes gegen den ersten
Menschen und seine Nachkommenschaft ins Licht stellt. Wäre
der erste Mensch fehlerlos gewesen, dann wäre für den zweiten
kein Platz gesucht worden. Ja, wenn ein einziger Hoffnungsschimmer für den ersten Adam vorhanden gewesen wäre, dann
hätte es für das Erscheinen des letzten Adam keine Veranlassung gegeben.
Aber Gott sandte Seinen Sohn in diese Welt. Er war der „Same
des Weibes". Möchte diese Tatsache in unseren Herzen stets
tief eingeprägt sein! Matthäus leitet Seine gesetzliche Abstammung von Abraham und David her. Er war „aus dem Samen
Davids", wie Paulus in 2. Tim 2 sagt. Lukas hingegen verfolgt
98
Sein Geschlechtsregister bis zu Adam hin. Aber hier finden wir
auch die Ankündigung des Engels bezüglich des Geheimnisses
Seiner Empfängnis. „Und der Engel antwortete und sprach zu
ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und Kraft des
Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige,
das geboren werden wird, Sohn Gottes genannt werden"
(Lk i, 35).
Hier haben wir also einen wahrhaftigen Menschen, jedoch ohne
den geringsten Flecken von Sünde und ohne die geringste Spur
von Sterblichkeit. Er wurde geboren von einem Weibe, war
also unter allen Umständen Mensch, wie wir Menschen sind,
jedoch ganz ohne Sünde und frei von jeder Verbindung, die
dem Tode und der Sünde irgendwie ein Anrecht auf Ihn hätte
geben können. Wäre der gepriesene Herr jedoch mit Adam,
dem Haupt des Menschengeschlechts, in irgendeiner Verbindung gewesen, dann könnte Er nicht der zweite Mensch genannt werden, sondern wäre wie andere Menschen ein Nachkomme Adams und sogar in Seiner eigenen Person dem Tode
unterworfen gewesen. Eine solche Behauptung oder Unterstellung aber wäre eine Lästerung.
Er war — gepriesen in Ewigkeit sei Sein unvergleichlicher
Name! — der reine heilige, fleckenlose Mensch Gottes. Er war
ohnegleichen, Er stand allein als das einzige reine, fleckenlose
Weizenkorn des menschlichen Samens, das die Erde je gesehen
hat. Er kam in diese Welt der Sünde und des Todes als der
Sündenlose und als der Geber des Lebens. In Ihm und nur in
Ihm war das Leben. Außerhalb von Ihm herrschte der Tod und
die Finsternis. Außerhalb von Ihm war kein Pulsschlag geist=
liehen Lebens, kein Schimmer göttlichen Lichtes vorhanden. Die
ganze Nachkommenschaft des ersten Adam lag unter der
Sünde, unter der Macht des Todes und war dem ewigen Gericht verfallen. Er konnte sagen: „Ich bin das Licht der Welt".
Außerhalb von Ihm herrschte sittliche Finsternis und geistlicher
Tod. In Adam sterben alle; in Christo werden alle lebendig
gemacht. Wie geschieht dies nun?
Kaum hatte der zweite Mensch den Schauplatz betreten, da erschien auch Satan, um Ihm jeden Fußtritt streitig zu machen.
Der Mensch Christus Jesus hatte sowohl das große Werk der
Verherrlichung Gottes, als auch die Zerstörung der Werke des
99
Teufels und die Erlösung Seines Volkes auf dieser Erde unternommen. Welch ein erhabenes Werk! Wir dürfen kühn sagen,
daß es ein Werk war, das nur der Mensch Gottes ausführen
konnte. Jesus mußte der ganzen List und Macht Satans begegnen. Er mußte mit ihm als der Schlange und dem Löwen zusammentreffen. Daher wurde Er zu Beginn Seiner gesegneten
Laufbahn als der getaufte und gesalbte Mensch in die Wüste
geführt, um den Versuchungen Satans standzuhalten.
Bei dieser Gelegenheit machen wir im Vorbeigehen auf die
Gegensätze zwischen dem ersten und dem zweiten Menschen
aufmerksam. Der erste Mensch befand sich in einem Gurten
voll der reichsten Genüsse, die geeignet waren, für Gott und
gegen den Versucher zu reden, während der zweite Mensch
Sich in einer Wüste voller Entbehrungen befand, die augenscheinlich ganz dazu angetan waren, gegen Gott und für Satan
das Wort zu erheben. Satan benutzte bei dem zweiten Menschen genau dieselben Waffen, die sich bei der Versuchung des
ersten so siegreich erwiesen hatten. Es war „die Lust des Fleisches, die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens" (vgl
i. Mo 3, 6; Mt 4, 1—g; Lk 4, 1—12; 1. Joh 2, 16).
Aber der zweite Mensch überwand den Versucher mit einer
einfachen Waffe: mit dem Worte, „Es steht geschrieben . . ."
Das war die einzige, unveränderliche Antwort des abhängigen
und gehorsamen Menschen. Keine Bedenken, kein Zögern -
nichts derartiges zeigte sich. Das Wort des lebendigen Gottes
war eine achtunggebietende Autorität für den vollkommenen
Menschen. Gepriesen sei ewig Sein Name! Ihm gebührt die
Unterwerfung des ganzen Weltalls in alle Ewigkeit. Amen,
Amen.
Wir können hierbei jedoch nicht länger verweilen, und kehren
daher zu unserem eigentlichen Thema zurück. Es ist unser
Wunsch, dem Leser im Licht der Heiligen Schrift zu zeigen, wie
der letzte Adam Seinen Gliedern das Leben mitteilt.
Durch den Sieg in der Wüste war der Starke „gebunden", aber
nicht zugrunde gerichtet. Daher sehen wir, daß ihm am Ende
des Weges unseres Herrn noch einmal gestattet wird, sich Ihm
entgegenzustellen. Nachdem er sich „eine Zeitlang" entfernl
hatte, kehrte er in einem anderen Charakter zurück, und zwar
als derjenige, der zum Schrecken der Seele des Menschen die
100
Macht des Todes hatte. Welch ein entsetzlicher Gedanke! Mit dieser Macht erschien er im Garten Gethsemane, um mit ihrer schrecklichen Größe auf den
Geist Christi einzudringen. Wir können diese Szene
nicht betrachten, ohne zu fühlen, daß unser Herr und
Heiland hier etwas durchschreiten mußte, was Er nie zuvor
erfahren hatte. Es ist offenbar, daß hier dem Versucher gestattet wurde, in einer ganz besonderen Weise aufzutreten und
eine ganz besondere Macht zu entfalten, um wenn möglich,
den Herrn auf Seinem Wege abzuschrecken. Wir hören den
Herrn daher in Joh 14, 30 die Worte sagen: „Der Fürst dieser
Welt kommt und hat nichts in mir;" — und ebenso sagt Er in
Lk 22, 52L zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels: „Seid ihr ausgezogen wie gegen einen Räuber, mit Schwertern und Stöcken? Als ich täglich bei euch im Tempel war, habt
ihr die Hände nicht gegen mich ausgestreckt; aber dies ist eure
Stunde und die Gewalt der Finsternis".
Es wird also deutlich, daß die Zeit zwischen dem letzten Abendessen bis zum Kreuze durch Züge gekennzeichnet ist, die von
jeder vorhergehenden Leidensstufe in der wundervollen Geschichte unseres Herrn gänzlich unterschieden sind. „Dies ist
eure Stunde", und weiter: „die Gewalt der Finsternis". Der
Fürst dieser Welt trat dem zweiten Menschen mit jener ganzen
Macht entgegen, mit der die Sünde des ersten Menschen ihn
bekleidet hatte. Er schleuderte auf Seinen Geist das Gewicht
der ganzen Macht und aller Schrecken des Todes, als des gerechten Gerichts Gottes; und Jesus fühlte diese Macht und diese
Schrecken in ihrer furchtbarsten Größe. Dies erklärt uns Seinen
Ausruf: „Meine Seele ist bestürzt bis zum Tode", sowie Seine
Angst, wenn wir lesen: „Und als er in ringendem Kampfe war,
betete er heftiger. Es ward aber sein Schweiß wie große Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen".
Mit einem Wort, Er, Der es unternahm, Sein Volk zu erlösen,
Seinen Gliedern ewiges Leben zu geben und den Willen und
die Ratschlüsse Gottes zu erfüllen, mußte alle Folgen des Zustandes ertragen, in dem der Mensch sich befand. Er konnte
ihnen nicht entrinnen. Er durchschritt sie alle, und Er durchschritt sie allein, denn wer außer Ihm hätte es tun können? ER,
die wahre Arche, war allein imstande, die finsteren und schreck101
liehen Fluten des Todes zu durchschreiten, um Bahn zu machen,
damit Sein Volk Ihm trockenen Fußes nachfolgen könne. Er
war allein in der schrecklichen Grube und im kotigen Schlamm,
damit wir mit Ihm auf dem Felsen sein möchten.
Aber Er begegnete nicht nur der ganzen Macht Satans, des
Fürsten dieser Welt, sowie der ganzen Macht des Todes als des
gerechten Gerichts Gottes, und endlich der ganzen Heftigkeit
und bitteren Feindschaft des gefallenen Menschen, — o nein,
es gab noch etwas unvergleichlich Schrecklicheres. Nachdem
Mensch und Satan, Erde und Hölle ihr Äußerstes getan hatten,
um ihrem Haß Befriedigung zu verschaffen, gab es für den
Geist unseres hochgelobten Herrn noch eine Region des Dunkels und der undurchdringlichsten Finsternis zu durchschreiten
— eine Region, in die der menschliche Gedanke nie einzudringen vermag. Wir können nur an ihren Grenzen stehen und
mit gesenktem Haupt und in dem tiefen Schweigen unaussprechlicher Anbetung auf den lauten und bitteren Schrei lauschen, der uns von dort entgegendringt, begleitet von den
Worten: „Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?" — Worte, deren tiefe Bedeutung zu enthüllen selbst die
Ewigkeit nicht hinreichen wird. Ach, welch ein Weg, um uns zu
erretten und lebendig zu machen! Mögen unsere Herzen Ihn
anbeten! Mögen unsere Lippen Ihn loben und preisen! Möge
unser Leben Ihn verherrlichen! Möge Seine Liebe uns drängen,
nicht mehr uns selbst zu leben, sondern Ihm, Der für uns gestorben und auferstanden ist und uns Leben in der Auferstehung gegeben hat.
Die Wichtigkeit und der Wert jener erhabenen Wahrheit, daß
ein auferstandener und siegreicher Christus die Quelle des
Lebens ist, das wir als Christen besitzen, kann gar nicht hoch
genug eingeschätzt werden. Als der aus den Toten Auferstandene ist der zweite Mensch das Haupt eines neuen Geschlechts,
das Haupt der Kirche, Seines Leibes geworden. Das Leben, das
der Gläubige jetzt besitzt, ist ein Leben, das in jeder nur möglichen Weise geprüft und erprobt worden ist und folglich nie
ins Gericht kommen kann. Es ist ein Leben, das durch Tod und
Gericht gegangen ist und darum nicht sterben und nicht gerichtet werden kann. Christus, unser lebendiges Haupt, hat den
Tod zunichte gemacht und durch das Evangelium Leben und
102
Unverweslichkeit ans Licht gebracht. Er ist dem Tode in seiner
ganzen Wirklichkeit begegnet, damit wir ihm nie begegnen
sollten. Er starb, damit wir nie sterben sollten. Er hat in Seiner
wunderbaren Liebe so für uns gewirkt, daß wir selbst den Tod
als einen Teil unseres Eigentums betrachten können (1. Kor 3,
22).
In der alten Schöpfung gehört der Mensch dem Tode an. Von
dem Augenblick an, wo er zu leben beginnt, beginnt er, wie
jemand gesagt hat, auch zu sterben. Welch ein ernster Gedanke!
Der Mensch kann dem Tode nicht entrinnen. „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht."
Nicht das Geringste, was der Mensch in der alten Schöpfung
besitzt, kann dem Griff der unbarmherzigen Hand des Todes
entrinnen. Der Tod beraubt den Menschen aller Dinge, verwandelt seinen Leib in Staub, und sendet seine Seele ins Gericht. Seine Häuser und Äcker, sein Wohlstand und seine Stellung, sein Ruf und sein Einfluß, alles flieht, sobald der letzte
Feind sich nähert. Besäße ein Mensch auch die Reichtümer der
ganzen Welt, so könnte er sich dennoch nicht für einen einzigen
Moment Aufschub erkaufen. Der Tod nimmt ihm alles und
bringt ihn ins Gericht. Der König und der Bettler, der Edelmann und der Bauer, der gelehrte Philosoph und der unwissende Tagelöhner, der Zivilisierte und der Wilde — der Tod
macht keinen Unterschied, sondern ergreift alle, die sich innerhalb der Grenzen der alten Schöpfung befinden. Das Grab ist
der Schlußstein der irdischen Geschichte des Menschen, und
jenseits des Grabes erhebt sich der Richterstuhl, und der Feuersee breitet dort seine schauerlichen Fluten aus.
In der neuen Schöpfung gehört der Tod dem Menschen an.
Nicht das Geringste, was sich im Besitz des Christen befindet,
ist dem Tode unterworfen. Ja, er verdankt sogar alles dem Tode.
Er besitzt Leben, Vergebung, Gerechtigkeit, Frieden, Sohnschaft, Herrlichkeit; und alles hat er dem Tode, dem Tode
Christi, zu verdanken. Mit einem Wort, das ganze Wesen des
Todes ist vollständig verändert. Satan kann ihn nicht mehr als
das Gericht Gottes über die Sünde auf die Seele des Gläubigen
werfen. Gott bedient Sich zwar des Todes zur Züchtigung,
wenn es sich um Seine Regierung bezüglich Seines Volkes
handelt (siehe Apg 5; 1. Kor 11, 30; 1. Joh 3, 16); aber Satan
103
als derjenige, der die Macht des Todes hatte, ist zunichte gemacht. Unser Herr Jesus hat ihm seine Macht genommen und
hält jetzt die Schlüssel des Todes und des Grabes in Seiner
allmächtigen Hand. Der Tod hat seinen Stachel und das Grab
seine Beute verloren. Wenn jetzt der Tod vor den Gläubigen
tritt, erscheint er nicht als Gebieter, sondern als Diener. Er
kommt nicht wie ein Gerichtsdiener, um die Seele auf ewig in
ihr Gefängnis abzuführen, sondern er kommt wie eine freundliche Hand, die die Tür des Käfigs öffnet und den Geist zu
seiner Geburlsstätte in den Himmeln hinauffliegen läßt.
Alles dies macht einen wesentlichen Unterschied. Beseitigt ist
jetzt jede Furcht vor dem Tode, die immer in dem Gläubigen
unter dem Gesetz wohnte. Sie ist jetzt vollkommen unvereinbar mit der Stellung und den Vorrechten derer, die vereinigt
sind mit Dem, Der aus den Toten auferweckt ist. Aber das ist
noch nicht alles. Das ganze Leben und der Charakter des Christen muß der Quelle gleichen, von der dieses Leben ausgeflossen ist. „Wenn ihr nun mit dem Christus au]erweckt worden
seid, so suchet was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur
Rechten Gottes. Sinnet auf das was droben ist, nicht auf das
was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben
ist verborgen mit dem Christus in Gott" (Kol 3, 1—3).
Möge jedoch niemand die Wichtigkeit dieser Wahrheit verkennen und sie etwa nur für eine Streitfrage menschlichen Verstandes halten. Weit gefehlt; sie ist eine Wahrheit von großer
praktischer Tragweite, die der Apostel Paulus beständig darstellte, und auf der er unter allen Umständen beharrte, — eine
Wahrheit, die er als Evangelist predigte, als Lehrer lehrte und
entwickelte, und deren Wirkungen er als treuer, sorgsamer
Hirte stets pflegte und überwachte. Die große Wahrheit von
der Auferstehung nahm in der Predigt des Apostels einen so
hervorragenden Platz ein, daß sogar einige der Philosophen
Athens von ihm sagten: „Er scheint ein Verkündiger fremder
Götter zu sein, weil er ihnen das Evangelium von Jesu und der
Auferstehung verkündigte" (Apg 17,18). Der Leser merke sich
diese Verbindung: „Jesus und die Auferstehung". Warum war
es nicht „Jesus und die Fleischwerdung"? Warum nicht „Jesus
und die Kreuzigung"? Fanden diese tiefen und unschätzbaren
Geheimnisse denn keinen Platz in der Predigt und Lehre des
104
Apostels? Man lese 1. Tim 3, 16, wenn man die Antwort erhalten möchte. „Anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist geoffenbart worden im Fleische, gerechtfertigt im Geiste, gesehen von den Engeln, gepredigt unter den
Nationen, geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit".
Man lese auch Gal 4, 4. 5: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe,
geboren unter Gesetz, auf daß er die, welche unter Gesetz
waren, loskaufte".
Diese Stellen geben der Frage bezüglich der Grundlehren der
Fleischvverdung und der Kreuzigung ihren bestimmten Platz.
Aber dennoch predigte und lehrte der Apostel die Auferstehung mit unbeugsamer Beharrlichkeit. Er selbst war zu einem
auferstandenen und verherrlichten Christus bekehrt worden.
Schon der erste Lichtblick auf die Person Jesu von Nazareth
zeigte ihm einen auferstandenen Menschen in Herrlichkeit. Nur
als solchen kannte er Ihn, wie er uns in 2. Kor 5 erzählt. „Daher kennen wir von nun an niemand nach dem Fleische; wenn
wir aber auch Christum nach dem Fleische gekannt haben, so
kennen wir ihn doch jetzt rieht mehr also." Paulus predigte ein
Evangelium der Auferstehung. Es war sein Bestreben, jeden
Menschen in dem auferstandenen und verherrlichten Christus
vollkommen darzustellen. Er ging weit hinaus über die bloße
Frage der Sündenvergebung oder der Errettung von ewiger
Verdammnis, wie überaus kostbar diese Früchte des Versöhnungstodes Christi auch an und für sich sein mochten. Er
streckte sich aus nach dem herrlichen Endziel der ewigen Einsmachung der Seele mit Christo. „Wie ihr nun den Christus
Jesus, den Herrn, empfangen habt, so wandelt in ihm, gewurzelt und auferbaut in ihm und befestigt in dem Glauben, so
wie ihr gelehrt worden seid, überströmend in demselben mit
Danksagung". — „Ihr seid vollendet in ihm . . . mit ihm begraben in der Taufe, in welcher ihr auch mitauferweckt worden
seid . . . Und euch . . . hat er mitlebendig gemacht mit ihm"
(K0I2).
Das war die Predigt und die Lehre des Paulus. Das war sein
Evangelium. Das ist wahres Christentum im Gegensatz zu
allen Formen menschlicher Religiosität und fleischlicher Frömmigkeit unter der Sonne. Das Leben in einem auferstandenen
105
Christus war das große Thema des Apostels. Es war nicht nur
die Vergebung und Errettung durch Christus, sondern das Einssein mit Christus. Das Evangelium des Paulus verpflanzte die
Seele in einen auferstandenen und verherrlichten Christus, wobei die Erlösung und Sündenvergebung als natürliche Folge
vorausgesetzt wurde. Das war das herrliche Evangelium Gottes,
mit dem Gott den Apostel betraut hatte.
Wir würden gern noch länger bei der gesegneten Betrachtung
der Quelle des christlichen Lebens verweilen. Aber wir müssen
zu den übrigen Punkten unseres Gegenstandes übergehen und
werden daher kurz den zweiten Punkt, die Eigenschaften oder
sittlichen Züge des Lebens erwähnen, das wir als Christen besitzen. Hierbei wäre es am Platze, das kostbare Geheimnis des
Lebens Christi als eines Menschen auf dieser Erde zu ergründen, Seine Wege zu verfolgen, und die Weise und Gesinnung,
mit der Er durch alle Stationen und Umstände Seiner Laufbahn
auf der Erde schritt, zu kennzeichnen. Wir sollten Ihn als ein
Seinen Eltern unterworfenes Kind betrachten, das aufwuchs
unter dem Auge Gottes, das von Tag zu Tag an Weisheit und
Größe zunahm und das alles zur Schau trug, was lieblich war
in den Augen Gottes und der Menschen. Wir sollten Seinen
Pfad verfolgen als eines in allen Dingen treuen Dieners, —einen
Pfad, der die Spuren ununterbrochener Mühe und Beschwerde zeigte. Wir sollten über Ihn, den niedriggesinnten, demütigen und gehorsamen Menschen nachsinnen, Der in völliger
Unterwürfigkeit und Abhängigkeit Sich Selbst zu nichts machte
und, ohne in irgendeiner Weise Sein eigenes Interesse zu
suchen, Sich zur Verherrlichung Gottes und zum Wohl der
Menschen vollkommen hingab. Wir sollten Ihn anschauen als
den gnadenreichen, liebenden, teilnehmenden Freund, Der voll
Mitgefühl immer bereit ist, jedem trauernden Kind den Kelch
des Trostes darzureichen, Der nie versäumt, die Tränen der
Witwe zu trocknen, den Schrei des Unterdrückten zu hören,
den Hungrigen zu speisen, den Aussätzigen zu reinigen und alle
Arten von Krankheiten zu heilen. Mit einem Wort, wir sollten
alle die unzählbaren Strahlen der sittlichen Herrlichkeit auffangen, die in dem kostbaren und vollkommenen Leben Dessen
zum Vorschein kommen, Der Gutes tuend umherging.
Aber wer ist fähig, alle diese herrlichen Dinge ans Licht zu
bringen? Wir können dem christlichen Leser nur sagen: Gehe
106
hin, erforsche selbst Dein großes Vorbild! Richte den Blick
unverwandt auf dein erhabenes Vorbild! Wenn ein auferstandener Christus die Quelle deines Lebens ist, so ist auch der auf
der Erde lebende Christus dein Vorbild. Die Züge deines Lebens seien dieselben Züge, die in Ihm als einem auf Erden
wandelnden Menschen zum Vorschein kamen. Durch den Tod
hat Er bewirkt, daß Sein Leben auch dein Leben geworden ist.
Er hat dich mit Sich Selbst durch ein Band vereinigt, das nie
zerrissen werden kann. Jetzt bist du berechtigt, hinzugehen
und die Geschichten des Evangeliums zu studieren, um zu
sehen, wie Er gewandelt hat, damit durch die Gnade des Heiligen Geistes dein Wandel dem Seinigen gleich sei.
Es ist eine sehr gesegnete, aber auch eine höchst ernste Wahrheit, daß nichts in den Augen Gottes irgendeinen Wert hat, als
nur der Ausfluß des Lebens Christi in Seinen Gliedern hienieden. Alles was nicht eine unmittelbare Frucht dieses Lebens
ist, ist in der Beurteilung Gottes vollkommen wertlos. Die Tätigkeiten der alten Natur sind indessen nicht nur ohne Wert,
sondern auch sündig. Es gibt gewisse natürliche Verhältnisse,
in denen wir uns befinden, die durch Gott geheiligt sind, und
in denen Christus unser Vorbild ist, z. B.: „Ihr Männer, liebet
eure Weiber, gleichwie auch der Christus die Versammlung geliebt hat". Wir werden anerkannt als Eltern und Kinder, als
Herren und Diener, und sind in bezug auf unser Verhalten in
diesen Verhältnissen unterwiesen; aber dies alles auf dem
Boden des Auferstehungslebens in Christus (siehe Kol 3; Eph
5, 22). Der alte Mensch wird durchaus nicht anerkannt. Er wird
als gekreuzigt, gestorben und begraben betrachtet. Wir werden
aufgefordert, ihn für tot zu halten, unsere Glieder, die auf der
Erde sind, zu töten und zu wandeln wie Christus gewandelt
hat. Das ist praktisches Christentum. O würden wir doch in
diese Gedanken tiefer eindringen! Möchten wir uns doch stets
erinnern, daß in den Augen Gottes alles ohne Wert ist, was
nicht das Leben Christi zur Quelle hat und als solches durch die
Kraft des Heiligen Geistes in den Gläubigen zutage tritt. Der
schwächste Ausdruck dieses Lebens ist ein süßer Wohlgeruch
vor Gott, während die mächtigste Wirkung des nur religiösen
Fleisches, die kostbarsten Opfer, die schönsten Gebräuche und
Zeremonien in Seinen Augen nichts als „tote Werke" sind. Ja,
das wahre Christentum ist etwas ganz anderes als Religiosität.
107
Und jetzt noch ein Wort über den Ausgang dieses Lebens, das
wir als Christen besitzen. Wir dürfen in Wahrheit sagen: e i n
Wort, denn dieses eine Wort heißt „Herrlichkeit". Das ist dei
einzige Ausgang des christlichen Lebens. „Wenn der Christus,
unser Leben, geoffenbart werden wird, dann werdet auch ihr
mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit". Jesus wartet auf
den Augenblick der Offenbarung Seiner Herrlichkeit, und wir
warten in und mit Ihm. Er hat Sich gesetzt und wartet, und wir
haben uns gesetzt und warten ebenfalls. „Wie er ist, sind auch
wir in dieser Welt" (r. Joh 4, 17). Tod und Gericht liegen
hinter uns, und nichts als die Herrlichkeit steht vor uns. Unser
„Gestern" ist, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, das Kreuz,
unser „Heute" ist ein auferstandener Christus, und unser
„Morgen" die Herrlichkeit. So steht es mit den wahren Gläubigen. Es verhält sich mit ihnen wie mit ihrem lebenden und
erhöhten Haupt. Wie das Haupt ist, so sind die Glieder. Sie
können in keiner Weise auch nur einen Augenblick von Ihm
getrennt sein. Sie sind unauflöslich miteinander vereinigt in
der Kraft einer Einheit, die durch keine Macht der Erde oder
der Hölle zerstört werden kann. Das Haupt und die Glieder
sind auf ewig eins. Das Haupt hat den Tod und das Gericht
durchgemacht, und ebenso die Glieder. Das Haupt hat Sich
in die Gegenwart Gottes gesetzt, und ebenso die Glieder. Sie
sind mitlebendig gemacht, miterhöht und mitversetzt in dem
Haupt in Herrlichkeit.
Das ist christliches Leben. Sinne darüber nach. Erwäge es
gründlich in deinem Herzen. Prüfe es im Licht des Neuen Testaments. Die Quelle dieses Lebens ist ein auferstandener Christus; seine Eigenschaften sind die Züge des auf der Erde geschauten Christus; sein Ausgang ist eine wolkenlose ewige
Herrlichkeit. Wie anders ist dies Leben als das, was wir als
Söhne und Töchter Adams besitzen! Die Quelle dieses Lebens
ist ein gefallener, ruinierter und hinausgestoßener Mensch; die
Eigenschaften dieses Lebens sind die tausend Formen der
Selbstsucht, mit denen die Menschheit sich selbst geschmückt
hat; sein Ausgang ist der Feuersee! Das ist — wenn wir uns
von der Schrift leiten lassen — die einfache Wahrheit über das
Leben des ersten Adam und seiner Nachkommen und über das
Leben des letzten Adam und Seiner Gläubigen.
108
Zum Schluß laßt uns über das Leben, das die Christen besitzen,
noch bemerken, daß im Worte Gottes nie von einem sogenannten „höheren christlichen Leben" die Rede ist. Wenn jemand
sich dieser Ausdrucksweise bedient, mag er wohl das in der
Schrift bezeichnete Leben des Christen darunter verstehen, aber
die Form ist unrichtig. Es gibt nur ein Leben, und dieses Leben
ist Christus. Ohne Zweifel gibt es verschiedene Grade in dem
Genuß und in der Darstellung oder Verwirklichung dieses Lebens; aber wie verschieden das Maß auch sein mag, es gibt
doch nur ein Leben. Es mögen sich darin höhere und niedrigere
Stufen zeigen, aber es gibt nur ein Leben. Der hervorragendste
Christ auf Erden und das schwächste Kind im Glauben — sie
besitzen ein und dasselbe Leben, denn Christus ist das Leben
des Einzelnen, das Leben beider, das Leben aller Gläubigen.
Alles dies ist sehr einfach, und wir wünschen, daß der Leser es
sorgfältig überdenken möge. Wir sind völlig überzeugt, daß
die klare Entfaltung und treue Verkündigung dieses Evangeliums der Auferstehung eine dringende Notwendigkeit ist.
Viele bleiben stehen bei der Fleischwerdung, andere gehen bis
zur Kreuzigung. Wir aber wünschen ein Evangelium, das alles
enthält, sowohl die Fleischwerdung und Kreuzigung als auch
die Auferstehung. Ein solches Evangelium besitzt die wahre
sittliche Kraft und ist der mächtige Hebel, der die Seele von
jeder irdischen Verbindung lösen und in Freiheit setzen kann,
damit sie in der Kraft des Auferstehungslebens in Christo mit
Gott wandeln kann. Wenn dieses Evangelium doch nach allen
Seiten hin in der bekennenden Kirche mit lebendiger Kraft gepredigt würde, denn hier gibt es Hunderte und Tausende aus
dem Volke Gottes, die es zu kennen nötig haben! Ach, wie
viele Seelen werden durch Zweifel und Fragen gefoltert, die
durch die einfache Annahme der gesegneten Wahrheit von
dem Leben in einem auferstandenen Christus beseitigt werden
würden. Das wahre Christentum schließt alle Zweifel und Befürchtungen aus, obwohl sich leider viele Christen damit herumschleppen. O möchte doch das klare Licht des von Paulus
gepredigten Evangeliums in die Seelen aller Heiligen Gottes
strömen und die sie einhüllenden Nebel und Wolken zerstreuen, damit sie in Wirklichkeit in jene Freiheit eintreten
können, zu der Christus Sein Volk gebracht hat!
109
Die Errettung
des Hauptmanns Kornelius
(Apostelgeschichte 10)
Wie einfach und lieblich ist die Geschichte jeder zu Christus
geführten Seele! Mögen die Umstände, unter denen diese Führung geschah, auch noch so verschieden sein, so gewahrt man
doch bei jeder Bekehrung die Tätigkeit derselben Gnade, desselben Lichtes und desselben Geistes. Nur ein Name ist dem
Menschen zur Errettung gegeben, nur ein Werk der Versöhnung ist vorhanden, nur eine Grundlage des Friedens existiert,
nur ein Ziel ist in Aussicht. Von den Tagen der Apostel bis zu
diesem Augenblick gilt nur die eine Wahrheit, daß der Mensch
ein verlorener Sünder ist und daß Gott in Christus eine vollkommene Gnade anbietet. Wie einst, so wohnt auch jetzt nichts
als Feindschaft gegen Gott im Herzen des natürlichen Menschen; aber wie einst, so richtet auch jetzt das Wort die Mahnung an die Sünder: „Laßt euch versöhnen mit Gott! Den, der
Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, auf daß
wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor 5, 20. 21).
„Ein gewisser Mann aber in Cäsarea, mit Namen Kornelius, —
ein Hauptmann von der sogenannten italischen Schar, fromm
und gottesfürchtig mit seinem ganzen Hause, der dem Volke
viele Almosen gab und allezeit zu Gott betete ... " (Apg 10,
1. 2). Diese Worte zeigen uns den Hauptmann in seiner äußeren Stellung, die scheinbar gar nicht geeignet war, ein Fragen
nach den Dingen des Reiches Gottes im Herzen wachzurufen.
Er war nicht nur ein Kriegsmann, der wie in unseren Tagen
für eine bestimmte Zeit zu einem solchen Dienst gesetzlich verpflichtet ist, sondern Er hatte sich zu dieser Stellung als zu einem Beruf freiwillig anwerben lassen. Es ist einleuchtend, daß
ein solcher Beruf weit eher dazu angetan sein mußte, sein Herz
mit Stolz, Übermut und Kriegsliebe zu erfüllen, als demütig und
friedliebend zu machen. Dazu war er ein Heide, also in natürlicher Verbindung mit denen, die „wandeln in Eitelkeit ihres
Sinnes, verfinstert am Verstände, entfremdet dem Leben Gottes wegen der Unwissenheit, die in ihnen ist, wegen der Ver110
Stockung ihres Herzens, welche, da sie alle Empfindung verloren, sich selbst der Ausschweifung hingegeben haben, alle
Unreinigkeit mit Gier auszuüben" (Eph 4, 17—19). Ja, er war
ein Heide, aufgewachsen unter Menschen, die den lebendigen
Gott weder kannten noch liebten noch Ihm dienten, und die in
Unwissenheit, Irrtum und Aberglauben lebend, ohne Anrecht
und Hoffnung auf irgendwelche Segnungen Gottes, „den Willen des Fleisches und der Gedanken" ausübten. Sowohl seine
äußere Stellung als auch sein religiöser Standpunkt bildeten in
seinem natürlichen Herzen einen Boden, auf dem keine Frucht
für Gott hervorsprießen konnte.
Aber dennoch hatte die freie und unumschränkt wirkende
Gnade einen hellen Lichtstrahl in das tiefe Dunkel der Seele
dieses Heiden geworfen und Bedürfnisse in seinem Herzen geweckt, die nur in dem Wort vom Kreuz völlige Befriedigung
finden konnten. Wir finden diesen Soldaten in einem Zustand,
der selbst manchem Christen die Schamröte ins Gesicht treiben
sollte. Es wird daher nicht ohne Segen sein, etwas näher darauf
einzugehen, und die Herzensstellung des Hauptmanns im
Lichte Gottes zu betrachten.
Wie das Wort sagt, war er „fromm und gottesfürchtig mit
seinem ganzen Hause". Welch ein herrliches Zeugnis aus dem
Munde des Heiligen Geistes! Hier ist nicht von einer pharisäischen Frömmigkeit die Rede, wie man sie damals bei dem
Volk Israel so häufig finden konnte, und wie man heute in der
bekennenden Kirche sie in den verschiedensten Formen finden
kann. Nein, das Auge Gottes, das die verborgensten Winkel
des Herzens durchdringen kann, ruhte mit Wohlgefallen auf
dieser aufrichtigen Frömmigkeit. Gott Selbst sagt: Er war
fromm und gottesfürchtig. Selbst unter den Gläubigen des
Alten Bundes, die Propheten mit eingerechnet, gab es nur eine
geringe Zahl solcher, die sich eines derartigen Zeugnisses von
Seiten Gottes erfreuen konnten. Wie verschwindend klein mag
in unseren Tagen die Zahl der Christen sein, deren Wandel
nach dem Zeugnis Gottes durch Frömmigkeit und wahre Gottesfurcht geziert ist? Was würde der Herr von uns sagen?
Möchten wir doch immer unser Urteil in dieser Sache nach dem
untrüglichen Wort der Wahrheit bilden!
111
hr war „fromm und gottesfürchtig". Frömmigkeit und Gottesfurcht sind unzertrennlich miteinander verbunden. Die eine entspringt aus der anderen, und beide sind Früchte des Glaubens
an Gott. Wer in Wahrheit an den allmächtigen, allwissenden
und gerechten Gott glaubt, der fürchtet Gott; und ein gottesfürchtiger Mensch scheut das Böse und sucht es zu meiden.
Diese heilige Scheu weckt in ihm die Frage: Was kann ich
Gutes tun? — und es ist das Verlangen seines Herzens, durch
wahren Gehorsam gegen Gott, durch die Ausübung dessen,
was Gott wohlgefällt, die Gunst Gottes zu erlangen. So war es
bei Kornelius. Er glaubte an den Allmächtigen, und seine Frömmigkeit und Gottesfurcht waren die Früchte dieses Glaubens.
Was war nun die nächste gesegnete Wirkung eines solchen Betragens? Frömmigkeit und Gottesfurcht übten ihre Herrschaft
über sein ganzes Haus aus. Er war „fromm und gottesfürchtig
mit seinem ganzen Hause". Welch ein I-amiliensegen! Der
himmlische Ton, der so klar, bestimmt und unvermischt aus
dem Herzen des frommen und gottesfürchtigen Soldaten hervorklang, hatte einen Widerhall in den Herzen seiner Angehörigen gefunden. Alle stimmten mit in denselben Ton ein, und
der gemeinschaftliche Klang stieg hinauf „zum Gedächtnis vor
Gott". Kornelius übte durch die Aufrichtigkeit und Gründlichkeit seiner Frömmigkeit und Gottesfurcht einen so gesegneten
Einfluß aus, daß nicht nur sein Gesinde, sondern sogar Kriegsknechte (V. 7) von dieser Macht erfaßt wurden und der Frömmigkeit und Gottesfurcht einen Platz in ihrem Herzen einräumten. Er war wie eine Quelle in der Wüste, die durch das
beständige Fließen ihres erfrischenden Wassers den sie umgebenden dürren, unfruchtbaren Sandboden zu einer fruchtbaren Oase umwandelt. Seine Worte und seine Werke wurden
zu einem hellstrahlenden Licht, das die dunklen Schatten in
seiner Umgebung verscheuchte, das Böse offenbar machte,
strafte und verdrängte, und die Herzen zum Guten erwärmte
und belebte. Welch eine gesegnete Macht ist doch die wahre
Frömmigkeit und Gottesfurcht eines Familienhauptes! Aber
wie ernst und groß ist auch seine Verantwortung in dieser
seiner Stellung! Sein Einfluß erstreckt sich über sein ganzes
Haus, über Frau und Kind und Gesinde, — mag dieser Einfluß
ein guter oder böser sein. Möchten wir doch alle, die wir einen
112
solchen Platz einnehmen, immer die ganze Größe dieser Verantwortung fühlen! Ach, wie groß mag in unseren Tagen die
Zahl christlicher Hausväter sein, die, beschämt über ihr nachlässiges Verhalten in ihren Häusern, zu den Füßen dieses frommen und gottesfürchtigen Heiden sitzen und von ihm lernen
mußten, wie sie ihrem eigenen Hause vorstehen sollen! Wie
gering und unbedeutend ist oft der Einfluß der Väter auf ihre
Kinder! Vielleicht ermahnen und strafen sie viel; vielleicht lassen sie es nicht an Vorschriften und Drohungen fehlen. Aber
nirgends zeigt sich ein guter Erfolg, nirgends eine gesegnete
Frucht. Das Böse keimt und sprießt in den jungen Herzen immer mehr empor, und immer kühner legen Satan und die Welt
ihre Stricke, bis der Einfluß des Elternhauses völlig gelähmt
und das Verderben zu schreckenerregender Größe gewachsen
ist. Und warum dieses alles? Weil das Familienhaupt kein Vorbild ist, zu dessen Nachahmung man sich gedrungen fühlt. Es
fehlt der lautere, treue und entschiedene Wandel, der den
Christen ziert. Ist es daher ein Wunder, wenn das Haus nicht
zu Gott gebracht wird, und das Böse bis zum Gericht fortwuchert? O möchten doch alle das Wort beachten: „Denn wer
für sein eigenes Fleisch sät, wird von dem Fleische Verderben
ernten"!
Doch Gott sei Dank, daß es auch in unseren Tagen noch Väter
gibt, — wie gering ihre Zahl auch sein mag, — die
die Notwendigkeit eines treuen Wandels anerkennen, wenn sie
gesegnete Erfolge durch die Zucht und Ermahnung ihrer Angehörigen erzielen wollen, und daß sie daher in Treue und
Entschiedenheit, aber auch in der Unterwürfigkeit und Abhängigkeit ihres Gottes ihren Weg gehen, und dabei beständig
flehen, daß der Herr ihr ganzes Haus mit Seinem Segen überschütten möge. Wie steht es in dieser Beziehung mit dir, mein
teurer Leser? Bist du ein Familienvater oder wenigstens in
einer Stellung, wo du Einfluß ausüben kannst? Welch ein Zeugnis wird der Heilige Geist über dich aussprechen? Welch einen
Einfluß übst du auf deine Familie oder auf deine nächste Umgebung aus? Erfreust du dich mit Dank gegen den Herrn solcher Erfolge, deren sich Kornelius im Blick auf sein ganzes
Haus erfreuen konnte? Bist du „fromm und gottesfürchtig mit
deinem ganzen Hause"! Oder sind deine Kinder ungehorsam,
113
weltlich, prunksüchtig und gegenüber der Wahrheit feindselig
eingestellt? Blicke auf Kornelius — und blicke auf Eli! Der eine
wandelte treu, fromm und gottesfürchtig, und sein ganzes Haus
folgte seinem Beispiel. Der andere kannte die Missetaten seiner
Söhne, und hatte ihnen nicht gewehrt (1. Sam 3, 13). Er fand
wie sie ein trauriges Ende! Welch eine ernste Tatsache!
Weiter lesen wir in unserem Abschnitt, daß Kornelius auch
„dem Volke viele Almosen gab und allezeit zu Gott betete".
Wie lieblich und beachtenswert ist auch dieses von Gott Selbst
ausgestellte Zeugnis, — ein Zeugnis, das leider nicht allen Christen gegeben werden kann! Ein Herz, das in Gott alle Bedürfnisse befriedigt sieht und mit wahrhaftiger Liebe von Gott
und Seinem Werke eingenommen ist, teilt gern die ihm anvertrauten Gaben auch anderen mit und zeigt sich überhaupt stets
bereit, das vor Gott Wohlgefällige zu tun. „Einen fröhlichen
Geber liebt Gott". Sicher gehörte Kornelius nicht in die Reihen
derer, die mit pharisäischem Dünkel ihre Gaben spenden, um
von den Leuten gesehen zu werden. In diesem Falle wäre sein
Lohn dahin gewesen. Aber im Gegenteil sandte ihm Gott, Der
jede Triebfeder und jede Handlung mit göttlicher Waagschale
abwägt, durch Seinen Engel die Botschaft: „Deine Gebete und
deine Almosen sind hinaufgestiegen zum Gedächtnis vor Gott"
(V. 4). Was jedoch seinen Gaben die wirkliche Weihe verlieh,
und was ihnen den Stempel des Glaubens — ohne den es unmöglich ist, Gott wohlzugefallen — aufdrückte, war, daß er
seine Almosen „dem Volke" gab. Diese Handlung bezeugte
nämlich, daß er, der Heide, das Volk Israel als das Volk des
lebendigen Gottes anerkannte, dem er mit seinen Gaben diente.
Dies ist wohl auch hauptsächlich der Grund, daß seiner Almosen „vor Gott" gedacht wurde, und zwar als eine von Gott
gegebene Antwort auf den Glauben, den er durch seine Gaben
an den Tag legte. Seine Gaben und sein Gebet, beides hatte
seine Quelle in Gott und stieg empor zu Gott. Taten und Worte
standen miteinander in Einklang. Er betete „allezeit". Nachahmungswürdiges Beispiel! Die gefüllte Hand streute reichlich
aus, aber das Herz beschäftigte sich mit Gott, Der diese Hand
gefüllt hatte. Ist das auch unsere Weise? Ach, wie oft schaut
unser Herz mit Selbstgefälligkeit auf das, was wir tun, anstatt
im Gebet mit Gott zu verkehren! Soll aber die Linke nicht
114
wissen, was die Rechte tut, dann müssen wir das Beispiel dieses frommen und gottesfürchtigen Soldaten nachahmen: er
betete „allezeit".
Wie sehr beschämt dieser Heide die gedankenlose Menge der
Christenheit! Bald begegnet man einer erschreckenden, immer
mehr zunehmenden Zahl offenbarer Spötter und Verächter des
Gebets, bald einer unabsehbaren Schar, die nach vorgeschriebenen Regeln und Formen Gebete hersagt, die nie „zum Gedächtnis vor Gott" emporsteigen. Der Unglaube und der Aberglaube erheben in unseren Tagen mächtig ihre Riesenhäupter,
um bis zum Gericht ihren Wettlauf fortzusetzen. Kornelius
dagegen betete allezeit, und seine Gebete erreichten das Ohr
des allmächtigen Gottes. Sie drangen aus einem aufrichtigen
Herzen und stiegen empor zu Gott. Welch eine unendliche
Gnade, daß es dem Menschen zu jeder Zeit und in jeder Lage
gestattet ist, Gott anzurufen und auf Seine Hilfe zu rechnen!
Er ermahnt den Hilfsbedürftigen, indem Er sagt: „Rufe mich
an an dem Tage der Bedrängnis: ich will dich erretten, und du
wirst mich verherrlichen!" Er verweigert nie Seine Hilfe, Seinen
Rat, seine Gnade, Sein Erbarmen. Wie wenig wird dies erkannt
und geschätzt! Wie sehr fühlt sich der Mensch geehrt, wenn er
bei einem König Zutritt hat und ihm seine Angelegenheit vortragen darf! Und wie wenig schätzt er es, daß ihm in Christus
eine Tür bei Gott, dem König aller Könige, geöffnet ist, damit
er dort Rat, Trost und Hilfe holen kann. Kornelius, obgleich
ein Heide, machte Gebrauch von dieser Gnade, dem Thron
Gottes zu nahen. „Er betete allezeit". Und du, mein teurer
Leser? Hast du Gott gesucht als ein mühseliger, beladener Sünder? Dann hast du auch gewiß den Reichtum Seiner in Christus geoffenbarten Gnade kennengelernt und die Kraft der versöhnenden Liebe erfahren, ja, du wirst Gott Selbst als deinen
Vater gefunden haben. Aber wie machst du es jetzt nach solch
herrlichen Erfahrungen. Eilst du in deinen Sorgen und Mühen, in
deinen Leiden und Kümmernissen stets zu Ihm, Der dein Vater
ist? Betest du allezeit, wie Kornelius? Ach, wie wenig ist oft
unter den Kindern Gottes dieses anhaltende Gebet zu finden!
Hast du dich in dieser Beziehung nicht anzuklagen? Vielleicht
versäumst du es nie, dich bei Tisch täglich im Gebet zum Herrn
zu wenden; aber bist du auch häufig allein in deinem Bet115
kämmeriein beschäftigt, dein Herz vor dem Herrn Jesus auszuschütten? Wenn dies fehlt, dann vernachlässigst du sicher
die Ausübung eines großen Vorrechts, das dir in dem Gebet
verliehen ist, und zeigst Trägheit und Gleichgültigkeit gegen
Ihn, Der dich liebt. Auf die uns umringenden Gefahren sehend,
ruft Er uns in Seinem Worte zu: „Betet unablässig!" und
„Haltet an am Gebet!" Was ist aber die Ursache einer sol=
chen Gleichgültigkeit? O, es ist klar, daß die Welt und die
Dinge dieser Welt das Herz erfüllen und beschäftigen; daher
gibt es keinen Platz mehr für andere Bedürfnisse. Möchten wir
doch einen solchen Zustand mit Entschiedenheit richten! Kornelius betete allezeit. Und mit welch einem Ernst! Sein Verhalten muß manchen Christen beschämen!
Aber wenn seine Gebete und Almosen auch bei Gott eine
durchaus gnadenreiche Beurteilung und sogar eine völlige Anerkennung fanden, waren sie doch nicht das Mittel, wodurch
er Versöhnung, Frieden, Leben und Gerechtigkeit — kurz, alles
das erlangen konnte, was er brauchte, um als ein geretteter
Sünder in die Herrlichkeit einzugehen. Weder seine von Gott
anerkannte Frömmigkeit und Gottesfurcht, noch sein Glaube
an den Allmächtigen, noch seine Almosen, noch sein Beten und
Fasten, noch seine gesegnete Wirksamkeit in seinem Hause
— nichts von all diesem, wie wertvoll und wohlgefällig
es auch an und für sich vor Gott war, konnte ihn vom ewigen
Verderben erretten. Anstatt für seine Seele ein Ruheplatz zu
werden, weckten seine Gebete neue Bedürfnisse, — Bedürfnisse nach einer vollkommenen Erlösung von allen Sünden und
nach einem Frieden, den ihm seine Frömmigkeit, seine Gebete
und Handlungen nie verschafft hätten. Wie manche nach Frieden verlangende Seele mag schon gedacht haben: Ach wäre ich
doch auch so fromm und mildtätig, so gottesfürchtig und gebetseifrig wie dieser Kornelius, dann würde ich nicht länger
äD.JI1
?llLe
JLSeligkeit zweifeln! — Doch Kornelius nährte nicht
ipjche Gedanken in seinem Herzen. Sein beständiges Beten,
obwohl es sicher durch die Gnade gewirkt war, verriet nur zu
deutlich, daß in seiner Seele ein Sehnen und Verlangen erwacht
war, worüber er sich vielleicht selbst keine Rechenschaft zu
geben vermochte. Selbst die Erscheinung eines Engels stillte
diese Sehnsucht nicht. Der durch den Geist Gottes wachgeru116
fene Sturm konnte auch nur durch den Geist Gottes Selbst zum
Schweigen gebracht werden.
Wie viele Seelen gibt es selbst noch in unseren Tagen, die, anstatt mit einfältigem Herzen den Aussprüchen Gottes zu
glauben, eine große Neigung verraten, ihre Errettung auf etwas
was sie gesehen oder gehört haben wollen, d. h. auf Erscheinungen zu gründen, die nüchtern beurteilt nichts sind als leere
Trugbilder einer aufgeregten Phantasie und darum sicher der
Seele keinen wahren dauernden Frieden geben können! Ach,
solche Seelen bedenken nicht, daß sie das Werk Christi als die
einzige Grundlage unserer Errettung durch ihre vorgefaßten
Meinungen von seinem wahren Boden rücken, und daß es schon
ein trauriger Beweis von Unsicherheit ist, wenn jemand bis zu
den ersten Anregungen der Gnade zurückgehen muß, um seine
Bekehrung zu beweisen. Ein treuer Jünger des Herrn hat stets
das Zeugnis des Heiligen Geistes in sich. Er ruht auf dem Werk
Christi, und sein praktischer Wandel ist der Beweis seiner Bekehrung.
Die Erscheinung des Engels war jedoch kein Trugbild, sondern
eine Wirklichkeit. Der Engel war der Überbringer einer göttlichen Antwort auf das Gebet des Hauptmanns. Aber sicher
war diese wunderbare Tatsache nicht der Grund, auf den Kornelius später seine Bekehrung gestützt haben wird. Was war
dann der wahre Grund? — Kornelius empfängt von Gott die
Weisung: „Sende Männer nach Joppe und laß Simon holen,
der Petrus zubenamt ist" (V. 5), und nicht lange nachher finden wir die nach Joppe gesandten Männer vor dem Apostel
stehen und wir hören die Worte: „Kornelius . . . ist . . . göttlich
gewiesen worden, dich in sein Haus holen zu lassen und Worte
von dir zu hören" (V. 22). Welch eine gnadenreiche Fürsorge
von seiten Gottes! Eine nach Heil dürstende Seele wird zu den
erquickenden Wassern einer ewigen Heilsquelle, zu jenem
Worte geleitet, das von Christus und Seinem Erlösungswerk
zeugt. Kein anderer Name ist dem Menschen zur Errettung
gegeben worden, als der Name Jesus Christus; kein anderer
Grund kann gelegt werden, als jener unerschütterliche, auf Golgatha gelegte Grund. Als Petrus, ebenfalls göttlich gewiesen,
die Schwelle des Hauses eines Heiden überschritten hatte und
vor Kornelius stand, „tat (er) den Mund auf und sprach: . . .
117
Das Wort, welches er den Söhnen Israels gesandt hat, Frieden
verkündigend durch Jesum Christum, . . . kennet ihr: das
Zeugnis (über) Jesum, den von Nazareth . . . Diesem geben
alle Propheten Zeugnis, daß jeder, der an ihn glaubt, Vergebung der Sünden empfängt durch seinen Namen" (V. 34—43).
Das war etwas ganz Neues. Dem frommen und gottesfürchtigen Mann, der dem Volke reichliche Almosen spendete und
allezeit betete, wird die Vergebung seiner Sünden angeboten,
ein Beweis, daß auch er vor Gott ein Sünder war und daher die
Errettung brauchte. Zugleich aber ertönt von den Lippen des
Petrus jener Name, von dem allein das Heil und die Rettung
des Sünders abhängt, jener köstliche und gesegnete Name,
dessen Bedeutung eine für den Menschen unerforschliche Höhe
und Tiefe hat. Es ist der Name unseres hochgelobten Herrn und
Heilandes, Den Gott als das ewige Fundament unserer Errettung, als den Fels des Heils, als die Gerechtigkeit, Heiligkeit
und Erlösung gegeben hat, und auf Dem das ganze Wohlgefallen Gottes ruht. Ja, Petrus, das Werkzeug des Heiligen Geistes, predigt Jesum, den Heiland der Sünder, und offenbart, wer
Er ist und was Er getan hat. Die begierigen Herzen des Hauptmanns und seiner Angehörigen lauschen auf die holdseligen
Worte des von Gott gesandten Fremdlings, der in der Kraft des
Heiligen Geistes die in Christus verborgenen Schätze der unendlichen Liebe Gottes aufschließt und die dürstenden Seelen
erquickt an der unerschöpflichen, nie versiegenden Quelle des
Lebens.
Und was war die Wirkung? Kornelius glaubte den Worten des
kostbaren Evangeliums, und „der Heilige Geist (fiel) auf alle,
die das Wort hörten" (V. 44), und zwar zur Bestätigung des
Zeugnisses, daß Christus Jesus am Fluchholze alle seine Sünden
getragen und für immer weggetan habe. Zwei wichtige Tatsachen treten hier vor unsere Blicke. Kornelius glaubte den
Worten, die Petrus von Jesus zu ihm redete, und Christus Jesus
ist kraft des auf Golgatha vollbrachten Versöhnungswerkes der
Grund seiner Errettung. Der Heilige Geist, Der Seine Wohnung
in ihm genommen hat, ist das Zeugnis und der Beweis dieser
seiner Errettung.
Wie einfach ist der Weg der Errettung eines Sünders! O möchten doch alle heilsverlangenden Seelen ihre Krücken und fal118
sehen Stützen fallen lassen und allein zu Ihm eilen, Der eine
ewige Erlösung durch Seinen Kreuzestod zuwegegebracht hat,
und Dessen Blut reinigt von allen Sünden! Wie groß wird die
Freude des geretteten Hauptmanns und seines Hauses gewesen
sein, als die Sonnenstrahlen eines ewigen Friedens die finsteren
Schatten des Todes und der Sünde für immer verdrängt hatten!
Das Ende unseres Kapitels zeigt uns etwas davon: „Dann
baten sie ihn, etliche Tage zu bleiben" (V. 48). Ein Herz, das
Jesus kennengelernt und die Kostbarkeit Seines Gnadenwerkes
geschmeckt hat, ist immer begierig, noch tiefer in die Geheimnisse solch einer unendlichen, grenzenlosen Liebe einzudringen.
O möchten doch auch wir alle immer tiefer einzudringen begehren in das, was Er für uns getan hat und was Er für uns ist!
Das Lager in der Wüste
Welch ein bewunderungswürdiger Anblick war das Lager Israels in jener öden, schrecklichen Wildnis! Welch ein Schauspiel
vor den Blicken der Engel, der Menschen und der Teufel! Stets
ruhte das Auge Gottes darauf, dort war Seine Gegenwart. Gott
wohnte inmitten Seines kämpfenden Volkes. Dort befand sich
Seine Behausung. Er schlug Seine Wohnstätte nicht inmitten
der Pracht Ägyptens, Babylons oder Assyriens auf. Das war
unmöglich. Ohne Zweifel boten diese Nationen gar manches,
was das natürliche Auge anzog. Bei ihnen wurden die Künste
und Wissenschaften mit großem Eifer gepflegt, und die Zivilisation hatte unter ihnen einen Höhepunkt erreicht, dem selbst
die jetzige Generation ihre Bewunderung nicht versagen kann,
Aber unter diesen Völkern des Altertums wurde Jehova nicht
erkannt. Sein Name war ihnen nie geoffenbart worden. Er
wohnte nicht in ihrer Mitte. Freilich befanden sich dort tausende von Zeugnissen Seiner Schöpfermacht, und die allwaltende Vorsehung lenkte ihr Schicksal. Er gab ihnen Regen und
fruchtbare Zeiten und erfüllte ihre Herzen mit Speise und
Freude. Die Segnungen und Wohltaten Seiner freigebigen
Hand ergossen sich Tag für Tag und Jahr für Jahr über sie.
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Seine Regengüsse befruchteten ihre Felder, Seine Sonnenstrahlen erfreuten ihre Herzen. Aber sie kannten Ihn nicht und
kümmerten sich nicht um Ihn. Seine Wohnstätte war nicht
dort. Nicht eine dieser Nationen konnte sagen: „Meine Stärke
und mein Gesang ist Jah, denn er ist mir zur Rettung geworden; dieser ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen, meines Vaters Gott, und ich will ihn erheben" (2. Mo 15, 2).
Jehova fand Seine Wohnstätte inmitten Seines erlösten Volkes
und sonst nirgendwo. Die Erlösung war die notwendige Grundlage der bei den Israeliten errichteten Wohnung Gottes. Außerhalb der Erlösung konnte die Gegenwart Gottes nur die
völlige Verdorbenheit des Menschen bestätigen, aber auf dem
Grunde der Erlösung stellt Seine Gegenwart das höchste Vorrecht und die glänzendste Herrlichkeit des Menschen fest.
Gott wohnte inmitten Seines Volkes Israel. Er kam nicht nur
vom Himmel hernieder, um sie aus dem Lande Ägypten zu
erlösen, sondern auch, um ihr Reisegefährte in der Wüste zu
sein. Welch ein Gedanke! Um in der Mitte Seiner erlösten Versammlung zu sein, richtet der höchste Gott Seine Wohnung irn
Sande der Wüste auf. In der ganzen weiten Welt war nichts
Ähnliches zu finden. Dort in einer öden Wüste, wo kein Grashalm, kein Wassertropfen, und kein sichtbares Mittel zum
Unterhalt zu finden war, sah man ein Heer von sechshunderttausend Mann, ohne Frauen und Kinder. Wie wurden sie ernährt? Gott war da. Wie wurde die Ordnung bei ihnen aufrechterhalten? Gott war da. Wie konnten sie durch eine unfruchtbare Wüste wandern, in der sich kein Pfad zeigte? Gott
war da.
Mit einem Wort, die Gegenwart Gottes brachte alles in Ordnung. Die Natur mochte die Achseln zucken und zweifelnd und
argwöhnisch den Kopf schütteln. Der Unglaube mochte sagen:
Wie, leben drei Millionen Menschen von Luft? Wer hat die
Verwaltung in Händen? Wo sind die Kriegsvorräte? Wo ist
das Reisegepäck? Wer sorgt für die Bekleidung? — Nur der
Glaube konnte antworten, und seine Antwort ist einfach, kurz
und bestimmt: Gott war da. Das genügte vollkommen. Was
waren sechshundertausend Pilger für den allmächtigen Gott''
Konnte Er etwa die Bedürfnisse ihrer Frauen und Kinder nicht
120
stillen? Nach menschlicher Berechnung mochten diese Vorgänge
überwältigend sein. Man denke nur an die Kosten und die
Mühe, die für den Unterhalt der kürzlich nach Frankreich gesandten Soldaten erforderlich waren*). Wie viele Eisenbahnzüge waren notwendig, um die Truppen mit allem zu versehen..
was sie täglich brauchten! Hier aber sehen wir sechshunderttausend Pilger mit Frauen und Kindern auf einem vierzigjährigen Marsch durch eine „große und schreckliche Wüste", in
der weder Korn, noch Gras noch eine Wasserquelle waren. Wie
konnten sie versorgt werden? Da gab es keine Lieferungen,
keine Vereinbarung mit befreundeten Völkern bezüglich der
Versorgungen waren getroffen worden, keine Transporte wurden befördert, um den Pilgern an verschiedenen Stationen ihres
Marsches entgegenzukommen, — kurz, nicht eine einzige sichtbare Spur von Unterstützung, nichts von allem, was die Natur
als nützlich betrachten würde, war zu entdecken.
Alles dieses ist der Betrachtung wert. Aber wir müssen es in
der Gegenwart Gottes betrachten. Es ist für die menschliche
Vernunft nutzlos, sich niederzusetzen, um diese gewaltige
Aufgabe durch allerlei logische Schlüsse lösen zu wollen. Nein,
mein Leser, es ist nur der Glaube, der sie lösen kann, und zwar
im Hinschauen auf den lebendigen Gott. Hier liegt die kostbare
Lösung. Gott allein gibt die Antwort. Gott war in der Mitte
Seines Volkes. Er war dort in der ganzen Fülle Seiner Gnade
und Barmherzigkeit, in der vollkommensten Erkenntnis der Bedürfnisse Seines Volkes und der Schwierigkeiten des Weges. Er
war dort in Seiner allvermögenden Macht und mit Seinen nie
versiegenden Hilfsquellen, um diese Bedürfnisse zu stillen und
diesen Schwierigkeiten zu begegnen. Er trat so völlig in diese
Umstände ein, daß Er am Ende der vierzigjährigen Wanderung
sich mit den rührenden Worten an ihre Herzen wenden konnte:
„Denn Jehova, dein Gott, hat dich gesegnet in allem Werke deiner Hand. Er kannte dein Ziehen durch diese große Wüste: diese vierzig Jahre ist Jehova, dein Gott mit dir gewesen; es hat
dir an nichts gemangelt", und: „Dein Kleid ist nicht an dir zerfallen, und dein Fuß ist nicht geschwollen diese vierzig Jahre"
(5. Mo 2, 7 und 8, 4).
*) Ein Jahr vor Erscheinen dieses „Botschafters", am 19. Juli 1870, war der
deutsch=französische Krieg ausgebrochen (Anm. d. Bearb.).
121
In all diesen Dingen war das Lager Israels ein treffendes Vorbild auf die durch diese Welt wandernde Kirche Gottes. Das
Zeugnis der Schrift ist in diesem Punkt so bestimmt, daß für
die Tätigkeit der Einbildungskraft kein Raum besteht und keine
Frage möglich ist. „Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen
als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist" (1. Kor
10, 11). Wir dürfen daher nähertreten und mit vollem Interesse dieses wunderbare Schauspiel betrachten und die kostbaren Lehren sammeln, die so offensichtlich zu unserer Belehrung gedacht sind. Wer könnte diese Lehren gebührend
schätzen? Betrachten wir dieses geheimnisvolle Lager, das aus
Kriegsleuten, Arbeitern und Anbetern bestand! Welch eine
vollständige Trennung von ailen anderen Völkern der Welt!
Welche äußerste Hilflosigkeit! Welche gefahrvolle Lage!
Welch eine gänzliche Abhängigkeit von Gott! Sie besaßen
nichts, sie konnten nichts tun, sie konnten nichts wissen. Sie
hatten weder ein Stück Brot noch einen Trunk Wasser, aber
Tag für Tag empfingen sie beides gleichsam aus der Hand Gottes. Wenn sie abends ihr Lager aufsuchten, besaßen sie nicht
den geringsten Vorrat für den nächsten Tag. Es gab weder ein
Magazin noch eine Speisekammer, noch irgendeine andere
sichtbare Hilfsquelle. Nichts war da, worauf die Natur hätte
rechnen können.
Aber Gott war da, und das war nach dem Urteil des Glaubens
genug. Die Kinder Israel waren auf Gott geworfen. Welch eine
große Wahrheit! Außer dem wahrhaftigen, lebendigen und
ewigen Gott gibt es für den Glauben nichts Wesentlicheres,
nichts Wahres, nichts Bleibendes. Die Natur möchte verlangende Blicke nach den Speichern Ägyptens werfen und nach
Dingen schauen, die mit den Sinnen wahrnehmbar sind, aber
der Glaube schaut empor zum Himmel und findet dort seine
Quellen.
So verhielt es sich mit dem Lager in der Wüste, und ebenso
steht es mit der Kirche in der Welt. Dort gab es kein einziges
Vorkommnis, nichts, wofür die göttliche Gegenwart nicht stets
die allgenügende Antwort gewesen wäre. Die unbeschnittenen
Völker ringsum mochten staunend ihre Blicke erheben; sie
mochten in der Blindheit ihres Unglaubens die Frage erheben,
122
wie es möglich sei, ein solches Heer zu ernähren, zu kleiden
und zu leiten. Aber sie besaßen auch nicht die Fähigkeit zu
sehen, wie dies möglich war. Sie kannten Jehova nicht, den
Herrn, den Gott der Hebräer, und daher mußte ihnen alles., was
Er für diese große Versammlung zu tun verheißen hatte, wie
ein Märchen erscheinen.
In der gleichen Lage befindet sich jetzt das geistliche Lager —
die Versammlung Gottes in dieser moralischen Wüste. Von
dem Standpunkt Gottes aus betrachtet ist diese Versammlung
nicht von dieser Welt, sondern vollständig von ihr abgesondert.
Sie ist ebenso vollständig von der Welt getrennt, wie Israel von
Ägypten getrennt war. Das Wasser des Roten Meeres floß
zwischen dem Lager und Ägypten, und die tieferen und finsteren Wasser des Todes Christi fließen zwischen der Kirche
Gottes und der gegenwärtigen bösen Welt. Es ist unmöglich,
völliger getrennt zu sein. Der Herr Jesus Selbst sagt: „Sie sind
nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin"
(Joh 17).
Was könnte auch hilfloser sein als die Kirche Gottes in dieser
Welt? Von sich und in sich selbst besitzt sie nichts. Siehat ihren
Platz in einer moralischen Wüste, in einer furchtbar öden und
höchst gefahrvollen Wildnis, in der es buchstäblich nichts gibt,
wovon sie sich nähren kann. Nein, auf dieser ganzen Welt findet sich kein Tropfen Wasser und keine der Kirche Gottes angemessene Speise. — Wie vielen Arten feindlicher Einflüsse ist
die Kirche auch bloßgestellt! Alles steht ihr entgegen. Sie
gleicht in dieser Welt einer ausländischen Pflanze, die einem
fremden Klima angehört und in eine Gegend gebracht worden
ist, wo weder die Luft noch der Boden geeignet für sie ist. Ja,
die Kirche Gottes in dieser Welt ist getrennt, hilflos, den Gefahren ausgesetzt, wehrlos und gänzlich abhängig von dem
lebendigen Gott. Unsere Gedanken über die Kirche werden an
Klarheit und Kraft gewinnen, wenn wir in ihr das Gegenbild
des Lagers in der Wüste sehen. In 1. Kor 10 sehen wir, daß
eine solche Betrachtungsweise keineswegs seltsam oder weit
hergeholt ist. Wir sind völlig berechtigt zu sagen, daß das, was
das Lager Israels in buchstäblichem Sinne war, die Kirche in
moralischer und geistlicher Beziehung ist, und daß das, was
die Wüste für Israel in buchstäblichem Sinn war, die Welt für
123
die Kirche Gottes in moralischer und geistlicher Hinsicht ist.
Die Wüste war für Israel die Stätte der Mühsal und Gefahr,
nicht aber ein Ort der Erquickung und des Genusses, und in
demselben Verhältnis steht die Welt zur Kirche.
Es ist notwendig, diese Tatsache in ihrer ganzen moralischen
Tragweite zu verstehen. Die Versammlung Gottes in der Welt
ist wie die „Versammlung in der Wüste" ganz auf den lebendigen Gott geworfen. Natürlich betrachten wir hier die Kirche
vom göttlichen Standpunkt aus; wir betrachten sie, wie sie in
den Augen Gottes ist. Betrachten wir sie von einem menschlichen Standpunkt aus, in ihrem tatsächlichen praktischen Zustand, ach, dann erblicken wir etwas ganz anderes. Es handelt
sich hier um den normalen, wahren und göttlichen Begriff von
der Versammlung Gottes in dieser Welt. Verlieren wir daher
nicht aus dem Auge, daß ebenso wie sich damals ein Lager in
der Wüste befand, sich jetzt die Kirche Gottes, der Leib Christi,
in der Welt befindet. Ohne Zweifel kannten die Nationen der
Welt die Versammlung des Alten Testaments wenig und kümmerten sich noch weniger um sie, aber das berührte die große
Tatsache nicht im geringsten. Ebenso kennen die Menschen der
Welt die Versammlung Gottes, den Leib Christi, wenig und
kümmern sich noch weniger darum, aber das berührt keineswegs die Tatsache, daß wirklich ein solches Gebilde seit der
Ausgießung des LIeiligen Geistes am Tage der Pfingsten auf
der Erde besteht. Sicher hatte die Versammlung des Alten
Testaments ihre Prüfungen, ihre Kämpfe, ihre Trübsale, ihre
Versuchungen, ihre Widersprüche, ihre Streitfragen, ihre inneren Bewegungen, ihre zahllosen und namenlosen Schwierigkeiten und andere Erscheinungen, die die verschiedenen Hilfsquellen erforderten, die in Gott waren. Aber trotz dieser Dinge, die wir aufgezählt haben, trotz der Schwachheit, Mängel,
Sünden, Empörungen und Kämpfe steht die Tatsache fest, daß
Engel, Menschen und Teufel von dieser großen, (nach der gewöhnlichen Art der Berechnung) drei Millionen Menschen zählenden Versammlung Kenntnis nahmen, denn auf einen unsichtbaren Arm gestützt, wurde sie geleitet und versorgt durch den
ewigen Gott, Dessen Augen auch nicht während eines einzigen
Augenblicks von diesem geheimnisvollen vorbildlichen Heer
abgewandt waren, und Der sogar in ihrer Mitte wohnte und
124
sie bei all ihrem Unglauben, ihrer Vergeßlichkeit, Undankbarkeit und Widersetzlichkeit nie versäumte. Gott war da, um sie
Tag und Nacht zu stützen und zu leiten, zu bewachen und zu
erhalten. Er speiste sie mit dem Brot, das vom Himmel kam,
und Er öffnete den Felsen zu einer sprudelnden Quelle. Er
hatte eine Versammlung in der Wüste, die, getrennt von allen
Völkern ringsum, ganz auf Ihn geworfen war. Sicher bot die
Wüste nichts für ihren Unterhalt und ihre Erquickung. Es gab
Schlangen und Skorpionen, Fallstricke und Gefahren; überall
herrschte Dürre, Unfruchtbarkeit und Verlassenheit. Aber dennoch befand sich hier jene wunderbare Versammlung, die in
einer Weise erhalten wurde, die den menschlichen Verstand
verwirrt und zuschanden macht.
Welch ein Glück, nun sagen zu dürfen, daß das Lager in der
Wüste ein Vorbild von der Kirche Gottes in dieser Welt ist,
jener Kirche, die bereits über achtzehn Jahrhunderte besteht
und ihren Platz bis zu dem Augenblick behaupten wird, wenn
der Herr Jesus Seine gegenwärtige Stellung verlassen und zu
ihrer Entrückung in die Luft herniederkommen wird. Wie wichtig ist es, diese Tatsache, die man so lange aus den Augen verloren hatte, zu erkennen! Wie wenig wird sie auch jetzt noch
erkannt! Es sollte das feierliche Bekenntnis jedes Christen sein,
daß sich jetzt in diesem Augenblick etwas auf der Erde befindet, was dem Lager in der Wüste entspricht. Ja, die Kirche
befindet sich in einer Wüste. Die Versammlung durchschreitet
eine Welt, wie Israel einst eine Wüste durchschritt. Was für
Israel buchstäblich und praktisch die Wüste war, das ist für
die Kirche moralisch und geistlich die Welt. Wie Israel keine
Quellen in der Wüste fand, so wird auch die Kirche Gottes
keine Quellen in der Welt finden. Wenn sie es tut, so nimmt
sie nicht ihre wahre Stellung vor dem Herrn ein. Wie Israel
nicht der Wüste angehörte, sondern sie nur durchschritt, so ist
auch die Kirche Gottes nicht von der Welt, sondern sie durchschreitet sie nur.
Wenn der Leserin diese Gedanken sich vertieft hat, dann werden sie ihm die abgesonderte Stellung der Kirche als Ganzes
und ihrer einzelnen Glieder im Besonderen zeigen. Gott bezeichnet sie als ebenso von dieser Welt getrennt, wie Er das
Lager Israels als getrennt von der sie umgebenden Wüste be125
zeichnete. Zwischen der Kirche und der Welt besteht ebenso
wenig Gemeinschaft wie zwischen dem Lager und dem Sand
der Wüste. Die herrlichsten Schönheiten, die größten Reize der
Welt sind für die Kirche Gottes, was die Schlangen, die Skorpione und die tausenderlei Gefahren für Israel waren. Natürlich betrachten wir die Kirche, wie Gott sie betrachtet, und nicht
wie die Menschen sie verunstaltet haben. Es ist unbedingt
nötig, daß wir uns durch Glauben auf den Standpunkt Gottes
stellen, um so die Kirche zu sehen. Nur in diesem Fall können
wir einen richtigen Eindruck von dem haben, was die Kirche ist,
sowie von unserer eigenen persönlichen Verantwortung als
Glieder dieser Kirche. Gott hat in dieser Welt eine Kirche, die
durch den Heiligen Geist bewohnt und mit Christus, dem
Haupt, vereinigt ist. Diese Kirche, die der Leib ist, ist zusammengesetzt aus allen, die in Wahrheit an den Sohn Gottes
glauben, und die durch die große Tatsache der Gegenwart des
Heiligen Geistes vereinigt sind.
Dies ist nicht nur eine bloße Meinung oder eine Lieblingsidee,
die wir unseren Lesern vorhalten. Nein, es ist eine göttliche
Tatsache. Die Kirche ist ein wirklich existierendes Gebilde, und
wir — wenn wir wahrhaft gläubig sind — sind leibhaftige Glieder an ihr, und zwar durch den Heiligen Geist dazu berufen.
Dies ist etwas ebenso Bestimmtes und Wirkliches, wie die
Geburt eines Kindes in einer Familie. Die Geburt hat statt=
gefunden, das Verhältnis ist gebildet, und wir haben es nur
anzuerkennen und demgemäß von Tag zu Tag zu wandeln.
Von dem Augenblick an, da eine Seele wiedergeboren und mit
dem Heiligen Geist versiegelt ist, ist sie auch dem Leibe Christi einverleibt. Eine solche Seele kann sich nicht länger als ein
einzelnes Individuum, als eine unabhängige Person, als ein
isoliertes Wesen betrachten; sie ist das Glied eines Leibes,
wie die Hand und der Fuß Glieder des menschlichen Leibes
sind. Sie ist ein Glied des Leibes Christi und kann daher selbstverständlich nicht ein Glied von etwas anderem sein. Wie
könnte mein Arm das Glied eines anderen Leibes sein? Ebenso kann das Glied des Leibes Christi nicht zugleich das Glied
eines anderen Leibes sein.
Wie herrlich ist diese Wahrheit bezüglich der Kirche Gottes als
des Gegenbildes des Lagers in der Wüste! Diese Kirche ist
126
wirklich vorhanden inmitten des Verderbens und des Abfalls,
inmitten des Widerspruchs und des Zwiespalts, inmitten der
Verwirrung und Uneinigkeit, der Sekten und Parteien. Das ist
in der Tat eine kostbare Wahrheit! Wir sind ebenso verpflichtet durch Glauben diese Kirche in der Welt anzuerkennen, wie
die Israeliten verpflichtet waren, durch Schauen das Lager in
der Wüste anzuerkennen. Der Israelit dachte nicht im entferntesten an ein anderes Lager, an eine andere Versammlung; und
die Christen sollten durchaus nicht an eine andere Kirche, an
einen anderen Leib denken. Dort war ein Lager, eine Versammlung, und der Israelit gehörte dazu; hier ist eine Kirche,
ein Leib, und der wahre Christ gehört dazu.
Aber wie ist dieser Leib gebildet? Durch den Heiligen Geist,
wie geschrieben steht: „Denn auch in einem Geiste sind wir
alle zu einem Leibe getauft worden" (l. Kor 12, 13). Wie wird
er unterhalten? Durch sein lebendiges Haupt mittels des Heiligen Geistes, und durch das Wort, wie geschrieben steht: „Niemand hat jemals sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern er nährt
und pflegt es, gleichwie auch der Christus die Versammlung"
(Eph 5, 29). Ist das nicht hinreichend? Ist der Herr Jesus nicht
genügend? Genügt der Heilige Geist nicht völlig? Verlangen
wir mehr als die mannigfaltigen Kräfte, die in dem Namen
Jesu verborgen sind? Sind die Gnadengaben des ewigen Geistes nicht völlig hinreichend für das Wachstum und die Erhaltung der Kirche Gottes? Sichert uns die göttliche Gegenwart in
der Kirche nicht alles zu, was die Kirche benötigt? Der Glaube
bejaht es mit Bestimmtheit und Nachdruck, der Unglaube, die
menschliche Vernunft, sagt: Nein, wir brauchen noch viele
andere Dinge. Unsere Antwort aber sollte dann immer sein:
Wenn Gott nicht genügend ist, dann wissen wir nicht, wohin
wir uns wenden sollen. Wenn der Name Jesu nicht genügt,
dann wissen wir nicht, was wir beginnen sollen. Wenn der
Heilige Geist in der Gemeinschaft, im Dienst und in der Anbetung nicht all unseren Bedürfnissen begegnen kann, dann
wissen wir nicht, was wir sagen sollen. —
Man könnte jedoch einwenden: Die Dinge sind aber nicht mehr
in dem Zustand, in dem sie zur Zeit der Apostel waren. Die
Kirche hat gefehlt, die Pfingstgaben sind nicht mehr zu entdecken, die blühenden Tage der ersten Liebe der Kirche sind
127
verschwunden, und darum müssen wir die besten Mittel, die
uns zur Verfügung stehen, anwenden, um unsere Kirchen einzurichten und zu unterhalten. — Auf dies alles aber antworten
wir: Gott hat nicht gefehlt, Christus, das Haupt der Kirche,
hat nicht gefehlt, der Heilige Geist hat nicht gefehlt. — Das ist
der unerschütterliche Grund des Glaubens. „Jesus Christus ist
derselbe gestern und heute und in Ewigkeit". Er hat gesagt:
„Siehe, ich bin bei euch" — wie lange? Etwa nur während der
Tage der ersten Liebe? oder während der Zeit der Apostel?
oder so lange, wie die Kirche treu bleiben wird? — Nein. „Ich
bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters" (Mt
28, 20). Selbst damals, als zum ersten Mal in der Schrift die
Versammlung erwähnt wird, lesen wir die denkwürdigen Worte: „Auf diesen Felsen (den Sohn des lebendigen Gottes) will
ich meine Versammlung bauen, und des Hades Pforten werden
sie nicht überwältigen" (Mt 16).
letzt handelt es sich um die Frage: Ist diese Kirche oder Versammlung im gegenwärtigen Augenblick auf der Erde? — Ganz
gewiß. Es ist ebenso wahr, daß es jetzt eine Kirche auf Erden
gibt, wie es einst ein Lager in der Wüste gab; und ebenso wie
Gott Sich im Lager befand, um jedem Bedürfnis zu begegnen,
ist Er auch jetzt in der Kirche, um alles zu ordnen und zu leiten,
wie geschrieben steht: „Ihr (werdet) mit aufgebaut zu einer
Behausung Gottes im Geiste" (Eph 2). Das ist völlig genügend.
Unsere Sache ist es jetzt, durch einfachen Glauben diese große
Wahrheit zu ergreifen. Der Name Jesu ist ebenso genügend
für alle Erfordernisse der Kirche Gottes wie für die Errettung
der Seele. Das eine ist so wahr wie das andere. „Denn wo zwei
oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in
ihrer Mitte" (Mt 18). Hat dies aufgehört, wahr zu sein? Keineswegs. Nun, dann ist die Gegenwart Christi auch für Seine
Kirche völlig hinreichend, und wir haben nicht nötig, über
kirchliche Angelegenheiten Pläne zu machen und auszuführen.
Sicher können wir dabei ebenso wenig tun wie bei der Errettung einer Seele. Was sagen wir dem Sünder? Vertraue auf
Christus. Was sagen wir dem Gläubigen? Vertraue auf Christus! Was sagen wir einer Versammlung von wenigen oder
vielen Gläubigen? Vertraut auf Christus! Gibt es irgend etwas,
das Er nicht tun kann? Gibt es etwas, das für Ihn zu schwierig
128
ist? Ist die Schatzkammer Seiner Gaben und Gnade je erschöpft
worden. Ist Er nicht fähig, Gaben zum Dienst zu verleihen?
Kann Er nicht Evangelisten, Hirten und Lehrer berufen? Kann
Er nicht den verschiedenen Bedürfnissen Seiner Kirche in der
Wüste begegnen? Wenn nicht, ach, wo befinden wir uns dann?
Was sollen wir tun? Wohin sollen wir uns wenden? Was hatte
das Lager, die Versammlung des Alten Testaments, zu tun?
Nichts anderes als auf Jehova zu schauen. Er allein konnte für
Brot, Wasser, Kleidung, Leitung, Schutz — kurz für alles sorgen. Alle ihre Quellen waren in Ihm. Müssen wir uns nun zu
einer anderen Stelle wenden? Gewiß nicht; unser Herr Jesus ist
völlig genügend trotz aller unserer Mängel und Fehler, trotz
unserer Sünde und Untreue. Darum laßt uns auf Ihn vertrauen,
laßt uns Ihm Raum geben, um zu handeln. Laßt uns alle unsere
Sorgen bezüglich der Versammlung auf Ihn werfen, wie wir es
auch taten, als es sich um die Errettung unserer Seele handelte.
Wir sind völlig überzeugt, daß hierin das ganze Geheimnis der
Kraft und des Segens liegt. Leugnen wir den Verfall der Kirche? Ach, das Verderben steht als eine zu greifbare und zu
offenkundige Tatsache vor uns; daher kann man es unmöglich
leugnen. Versuchen wir unsere Mitschuld an dem Verfall,
unsere Torheit und Sünde zu leugnen? Wollte Gott, wir fühlten unsere Mitschuld tiefer! Aber wollen wir unsere Sünde
noch dadurch vergrößern, daß wir die Gnade und Macht unseres Herrn, uns in unserer Torheit zu begegnen, leugnen? Wollen wir die Quelle lebendigen Wassers verlassen und uns
löcherige Zisternen aushauen, die kein Wasser halten? Wollen
wir uns abwenden von dem Fels der Ewigkeiten und uns stützen auf die zerbrechlichen Rohrhalme unserer Pläne? Der Herr
verhüte es! Der Name Jesu ist die einzige wahre Stütze unseres
Herzens.
Jesus-Name! Rettungsquelle,
Ruh' in Mühsal, Trost im Schmerz;
Bist ein Fels in Sturm und Welle,
Heilung für ein wundes Herz.
Der Leser möge jedoch keineswegs dem Gedanken Raum
geben, als wollten wir mit Anmaßung über den Verfall der
Kirche reden. Nein, wir fühlen, daß wir mitschuldig sind. Wir
können sicher keinen zu niedrigen Platz einnehmen. Im Blick
129
auf unsere gemeinschaftliche Sünde und Schande gebührt uns
ein niedriger Platz und eine demütige Gesinnung. Aber mit
allem Nachdruck möchten wir hervorheben, daß der Name Jesu
für die Bedürfnisse der Kirche Gottes zu allen Zeiten und unter
allen Umständen völlig genügt. Wenn zur Zeit der Apostel in
diesem Namen alle Macht verborgen lag, warum dann nicht
auch in unserer Zeit? Hat dieser herrliche Name irgendeine
Veränderung erfahren? Nein — Gott sei dafür gepriesen! Nun,
dann ist er auch in diesem Augenblick für uns völlig genügend. Wir wünschen daher, diesem unvergleichlich kostbaren
Namen — und nichts anderem — völlig zu vertrauen und mit
kühnem Mut alle unsere Hoffnung darauf zu setzen. Der Herr
ist in jeder Versammlung, wie klein die Zahl ihrer Glieder
auch sein mag. „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem
Namen, da bin ich in ihrer Mitte". Hat diese Verheißung ihre
Kraft verloren? Hat Er sie widerrufen?
Nun, mein teurer Leser, wir schließen diese Zeilen mit dem
innigen Wunsch, dein Herz möchte sich weit für die kostbare
Wahrheit öffnen, daß der Name Jesu für die Versammlung
Gottes zu allen Zeiten, in allen Umständen, in denen sie sich
befinden mag, völlig genügend ist. Wir bitten dich, dies nicht
nur theoretisch für eine Wahrheit zu halten, sondern auch
praktisch darin zu leben; denn nur dann wirst du den reichen
Segen der Gegenwart Jesu erfahren und genießen.
Das Lager und die Wolke
(4. Mos e 9, 15—18)
„Und an dem Tage da die Wohnung aufgerichtet wurde, bedeckte die Wolke die Wohnung des Zeltes des Zeugnisses;
und am Abend war es über der Wohnung wie das Ansehen eines
Feuers bis an den Morgen. So war es beständig: die Wolke
bedeckte sie, und des Nachts war es wie das Ansehen eines
Feuers. Und so wie die Wolke sich von dem Zelte erhob, brachen danach die Kinder Israel auf; und an dem Orte, wo die
Wolke sich niederließ, daselbst lagerten sich die Kinder Israel.
Nach dem Befehl Jehovas brachen die Kinder Israel auf, und
130
nach dem Befehl Jehovas lagerten sie sich; alle die Tage, da
die Wolke auf der Wohnung ruhte, lagerten sie".
Ein liebliches Bild völliger Abhängigkeit und Unterwürfigkeit!
In der „großen und schrecklichen Wüste" zeigte sich keine Fußspur, kein Grenzstein. Die Pilger waren bei jedem Schritt auf
dem Wege auf Gott geworfen und befanden sich also immer
in einem Zustand beständigen Wartens auf Ihn. Das wäre für
ein nicht unterworfenes Herz, für einen ungebrochenen Willen
unerträglich, aber für eine Seele, die Gott kennt und liebt, die
Ihm vertraut und sich in Ihm erfreut, kann nichts gesegneter
sein.
Hier liegt der wahre Grund der ganzen Sache. Ist wirkliche Erkenntnis Gottes sowie Liebe und Vertrauen in der Seele, dann
erfreut sich das Herz in der vollständigsten Abhängigkeit von
Ihm. Sonst ist diese Abhängigkeit durchaus unerträglich. Der
nicht wiedergeborene Mensch liebt es, sich als unabhängig und
frei zu betrachten und zu glauben, daß er tun und reden könne,
was ihm beliebt. Welch ein Irrtum! Der Mensch ist nicht frei,
Er ist ein Sklave Satans. Schon vor sechstausend Jahren hat er
sich diesem großen geistlichen Sklavenhalter verkauft und
schmachtet bis zu diesem Augenblick in dessen Fesseln. Ja,
Satan hält den unbekehrten, unbußfertigen Menschen in seiner
Gewalt. Er hat ihm Hände und Füße mit Ketten gebunden, die
in ihrem wahren Charakter nicht gesehen werden können, weil
er sie scheinbar vergoldet hat. Die Lüste, die Leidenschaften
und Vergnügungen — das sind die Mittel, mit denen Satan die
Menschen beherrscht. Er weckt die Lüste im Herzen und befriedigt sie durch die Dinge, die in der Welt sind; und der Mensch
bildet sich ein, frei zu sein, weil er seine Wünsche befriedigen
kann. Aber es ist ein schmerzlicher Betrug, wie er früher oder
später erkennen wird. Es gibt in der Tat keine Freiheit als die,
mit der Christus Sein Volk frei macht. Er sagt: „Ihr werdet die
Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen."
Und wiederum: „Wenn nun der Sohn euch frei machen wird,
so werdet ihr wirklich frei sein" (Joh 8).
Hier ist wahre Freiheit. Es ist die Freiheit, die die neue Natur
findet, wenn sie im Geist wandelt und das tut, was vor Gott
wohlgefällig ist. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit".
Ein Dienst im Geiste aber schließt in allen seinen Teilen eine
131
völlige Abhängigkeit von dem lebendigen Gott in sich. So war
es bei Jesus, dem einzigen treuen und vollkommenen Diener,
der je diese Erde betrat. Er war immer abhängig. Jede Bewegung, jede Handlung, jedes Wort — alles was Er tat und ließ
war eine Frucht völliger Abhängigkeit und Unterwürfigkeit
unter Gott. Er ging und stand, Er sprach und schwieg, je nachdem Gott Ihm das eine oder das andere gebot. Und wir als
Teilhaber Seiner Natur und Seines Lebens und als solche, in
denen Sein Geist wohnt, sind berufen, in Seinen Fußtapfen
zu wandeln und Tag und Nacht in Abhängigkeit von Gott zu
leben. Der Israel Gottes — das Lager in der Wüste, jenes wandernde Heer — folgte der Bewegung der Wolke. Wenn die
Pilger durch sie geführt werden wollten, mußten sie ihren
Blick erheben. Das ist die Aufgabe, die der Mensch hat. Er ist
geschaffen, um den Blick aufwärts zu richten, während das
Tier mit einem nach unten gerichteten Blick geschaffen ist. Die
Israeliten konnten keine Pläne machen. Sie konnten nie sagen:
„Morgen gehen wir da oder dorthin". Sie waren ganz von der
Bewegung der Wolke abhängig.
So war es bei Israel und so sollte es bei uns sein. Moralisch betrachtet, durchschreiten wir eine pfadlose Wüste. Nirgends
findet sich eine Straße. Wohin sollten wir unsere Schritte lenken, wenn nicht der geliebte Herr gesagt hätte: „Ich hin der
Weg"? Das ist die göttliche, unfehlbare Führung. Wir haben
Ihm zu folgen. „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt,
wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht
des Lebens haben" (Joh 8). Wir haben nicht nach irgendwelchen Regeln und Vorschriften zu wandeln, sondern einem
lebendigen Christus zu folgen. Wir haben zu wandeln, wie Er
gewandelt, zu tun, wie Er getan, und Seinem Beispiel in allen
Dingen zu folgen. Natürlich kann das nur unter Aufopferung
unseres eigenen Willens geschehen. Wir müssen der Wolke folgen, d. h. immer auf Gott warten. Auch wir können nicht
sagen: „Wir wollen da oder dorthin gehen; wir wollen morgen
oder in der nächsten Woche dies oder jenes tun". Alle unsere
Bewegungen müssen unter die ordnende Macht jenes leider oft
leichtsinnig gebrauchten Wortes gestellt werden: „Wenn der
Herr will"!
O möchten wir dies besser verstehen! Nur dann erkennen wir
die Bedeutung der göttlichen Führung. Wie oft bilden wir uns
132
ein, die Wolke nach dieser oder nach jener Richtung hin ziehen
zu sehen, weil das gerade zu unseren Wünschen paßt! Wir
möchten einen bestimmten Flan ausführen oder einen bestimmten Weg einschlagen, und hastig reden wir uns ein, daß unser
Wille der Wille Gottes sei. Anstatt uns leiten zu lassen, sind
wir selbst die Führer. Unser Wille ist ungebrochen, und darum
können wir nicht richtig geleitet werden; denn ein vollständig
gebrochener Wille ist die erste Bedingung für eine richtige Leitung von Seiten Gottes. „Er leitet die Sanftmütigen im Recht,
und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg". — „Mein Auge auf
dich richtend will ich dir raten".
Doch laßt uns die Warnung wohl beachten: „Seid nicht wie
ein Roß, wie ein Maultier, das keinen Verstand hat; mit Zaum
und Zügel, ihrem Schmucke, mußt du sie bändigen, sonst
nahen sie dir nicht" (Ps 32). Wenn unser Blick aufwärts gerichtet ist, um dem Wink des göttlichen Auges zu begegnen,
dann benötigen wir „Zaum und Zügel" nicht. Aber gerade
hierin straucheln wir so oft. Wir befinden uns nicht nahe genug
bei Gott um den Wink Seiner Augen zu erkennen, und der
eigene Wille ist in Tätigkeit. Wir möchten unsere eigenen
Wege gehen, und darum werden wir preisgegeben, um die bittere Frucht davon zu ernten. So verhielt es sich auch bei Jona.
Er hatte den Auftrag, nach Ninive zu gehen, aber er versuchte,
nach Tarsis zu entfliehen, und die Umstände schienen dies zu
begünstigen. Aber Jona mußte sich im Bauche eines großen
Fisches, ja „im Schöße des Scheols" selbst wiederfinden, wo
ihn die „Wasser umfingen". Hier in der Tiefe des Meeres
lernte er die bittere Frucht der eigenen Wege kennen und die
Bedeutung von „Zaum und Zügel", weil er der sanfteren Führung des Auges nicht folgen wollte.
Aber wie gnädig und langmütig ist unser Gott! Er will Seine
armen schwachen und irrenden Kinder belehren und leiten.
Ohne zu ermüden, beschäftigt Er Sich stets mit uns, um uns
von unseren eigenen, dornenvollen Pfaden fernzuhalten und
uns in Seinen Wegen der Glückseligkeit und des Friedens wandeln zu lassen. Nichts ist gesegneter, als in der Abhängigkeit
von Gott zu wandeln, an Ihm zu hangen, auf Ihn zu warten
und alle Quellen in Ihm zu haben. Wenn die Seele sagen kann:
„Alle meine Quellen sind in dir", dann hat sie sich erhoben
133
über alle menschlichen Hoffnungen und irdischen Erwartungen. Wohl bedient Gott Sich der äußeren Dinge zu unserem
Nutzen, aber wir sollen uns nicht darauf stützen, denn sonst
werden wir bald eine Dürre in unseren Seelen verspüren. Wenn
Gott Sich ihrer zu unserem Nutzen bedient, dann werden wir
gesegnet und Er wird verherrlicht. Machen wir sie aber zu
unserer Stütze, dann betrügen wir uns und verunehren Ihn.
Ach, wie oft täuschen wir uns in dieser Beziehung! Wir glauben oft, uns auf Gott zu stützen, aber eine Prüfung im Lichte
der Gegenwart Gottes würde zeigen, daß wir in den meisten
Fällen unser Vertrauen auf das Geschöpf gesetzt haben. Wir
reden oft von einem Leben aus Glauben, von Zuversicht und
Gottvertrauen, und doch würde uns ein einziger Blick in die
Tiefe unserer Herzen oft überzeugen, daß wir uns in erster
Linie von den Umständen leiten lassen.
Darum, teure Brüder, laßt uns unsere Blicke unverwandt auf
den lebendigen Gott und nicht auf den Menschen richten! Laßt
uns mit Geduld und Ausharren auf Seine Güte hoffen! Wenn
wir nicht wissen, welche Wege wir einschlagen sollen, dann laßt
uns einfach Ihm folgen, Der gesagt hat: „Ich bin der Weg".
Er wird alles klar und sicher machen. Bei Ihm ist keine Unklarheit, keine Verlegenheit, keine Ungewißheit, und Er sagt: „Wer
mir nachfolgt, wird nicht in Finsternis wandeln". Wenn wir
daher in Finsternis sind, dann hat das seinen Grund darin, daß
wir Ihm nicht nachfolgen. Folgen wir der Wolke, dann ist der
Weg so hell und klar, wie Gott ihn nur machen kann. Hier liegt
die Wurzel der ganzen Sache. Unruhe oder Ungewißheit ist
nicht selten die Frucht der Tätigkeit des eigenen Willens. Wir
sind geneigt, etwas auszuführen, was Gott nicht will, daß wir
es tun. Wir beten deshalb, empfangen aber keine Antwort.
Warum? Weil Gott will, daß wir ruhig sind und nicht handeln
sollen. O möchten wir doch mehr auf Gott warten und ruhig
und still sein, anstatt uns den Kopf zu zerbrechen und die
Seele zu beunruhigen!
Das ist das wahre Geheimnis des Friedens. Wenn ein Israelit
in der Wüste unabhängig von Gott die Leitung der Wolke in
seine Hand genommen hätte, — wenn er die stehende Wolke
hätte bewegen oder die sich bewegende Wolke hätte aufhalten
wollen, welche seltsamen Ergebnisse wären dann erzielt wor134
den! Ebenso wird es auch bei uns sein. Wenn wir gehen, während wir ruhen sollen oder umgekehrt, wie könnte dann die
Gegenwart Gottes mit uns sein? „Nach dem Befehl Jehovas
brachen die Kinder Israel auf, und nach dem Befehl Jehovas
lagerten sie sich". Sie mußten ständig auf Gott warten. Das ist
die gesegnetste Stellung, die man einnehmen kann; aber man
muß sie einnehmen, bevor man des Segens teilhaftig werden
kann. Gebe der Herr uns die Gnade, stets auf Ihn zu warten
und uns durch Sein Auge raten zu lassen! —
Christus im Schiff
(Markus 4, 35—41)
Die Not des Menschen bietet Gott Gelegenheit zur Hilfe. Das
ist eine Wahrheit, an der wir alle gewiß nicht zweifeln. Und
doch sind wir oft, wenn wir in Trübsal und Not kommen, so
wenig vorbereitet, auf die Hilfe Gottes zu rechnen. Eine Wahrheit auszusprechen oder zu hören ist etwas ganz anderes als
die Macht dieser Wahrheit zu verwirklichen. Bei ruhiger See
darüber zu sprechen, daß Gott mächtig ist, uns in einem Sturm
zu bewahren, ist ganz etwas anderes, als den Glauben an diese
Macht zu zeigen, wenn ein entfesselter Sturm um uns wütet.
Und doch ist Gott immer Derselbe, Derselbe im Sturm und bei
Windstille, in Krankheit und Gesundheit, in Beschwerden und
Ruhe, in Armut und Überfluß — „derselbe gestern und heute
und in Ewigkeit" — Derselbe, an Den der Glaube sich unter
allen Umständen und zu allen Zeiten anlehnen und klammern
und auf Den er sich stützen kann.
Aber ach, wir befinden uns oft im Unglauben. Darin liegt die
Ursache für unsere Schwachheit und unser Versagen. Wir sind
bestürzt und erregt, wenn wir ruhig und voll Vertrauen sein
sollten; wir blicken auf die Umstände, wenn wir auf Gott
blicken sollen; wir „winken unseren Genossen", wenn wir
„auf Jesus blicken" sollten. So verlieren wir unendlich viel und
verunehren den Herrn auf unseren Wegen. Ohne Zweifel gibt
es nur wenig, worüber wir uns tiefer zu demütigen haben als
135
über unsere Neigung, dem Herrn zu mißtrauen, wenn wir
Schwierigkeiten und Versuchungen begegnen. Durch dieses
Mißtrauen gegen den Herrn Jesus betrüben wir Sein Herz;
denn Mißtrauen muß ein liebendes Herz stets verwunden.
Denken wir zum Beispiel an die Szene zwischen Joseph und
seinenBrüdern in T.MO 50,15—18: „Und als die Brüder Josephs
sahen, daß ihr Vater gestorben war, da sprachen sie: Wenn
nun Joseph uns anfeindete und uns gar all das Böse vergelten
würde, das wir ihm angetan haben! Und sie entboten dem
Joseph und sprachen: Dein Vater hat vor seinem Tode befohlen und gesagt: So sollt ihr zu Joseph sprechen: Ach, vergib
doch die Übertretung deiner Brüder und ihre Sünde! denn sie
haben dir Böses angetan. Und nun vergib doch die Übertretung der Knechte des Gottes deines Vaters! Und Joseph weinte,
als sie zu ihm redeten". — Das war eine traurige Vergeltung für
all die Liebe und Gnade und zärtliche Sorge, die der beleidigte
Joseph gegen sie geübt hatte. Wie konnten sie voraussetzen,
daß der, welcher ihnen so freiwillig und völlig vergeben und
ihr Leben geschont hatte, als sie ganz in seiner Macht waren,
nach so vielen Jahren der Güte sich rachsüchtig gegen sie erweisen würde? Es war ein schmerzliches Unrecht, und es war
daher kein Wunder, daß „Joseph weinte, als sie zu ihm redeten
. . ." Welch eine Antwort auf ihre Furcht und ihren unwürdigen Verdacht! Eine Flut von Tränen —, doch so ist die Liebe.
„Da sprach Joseph zu ihnen: Fürchtet euch nicht! denn bin ich
an Gottes Statt? Ihr zwar, ihr hattet Böses wider mich im Sinne,
Gott aber hatte im Sinne, es gut zu machen, auf daß er täte,
wie es an diesem Tage ist, um ein großes Volk am Leben zu
erhalten. Und nun, fürchtet euch nicht; ich werde euch und
eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete zu ihrem
ITerzen" (V. ig—21).
So war es mit den Jüngern, wie wir sehen werden.
„Und an jenem Tage, als es Abend geworden war, spricht er zu
ihnen: Laßt uns übersetzen an das jenseitige Ufer. Und als er
die Volksmenge entlassen hatte, nehmen sie ihn, wie er war,
in dem Schiffe mit. Aber auch andere Schiffe waren mit ihm.
Und es erhebt sich ein heftiger Sturmwind, und die Wellen
schlugen in das Schiff, so daß es sich schon füllte. Und er war
im Hinterteil des Schiffes und schlief auf einem Kopfkissen"
(Mk 4, 35-38)-
136
Hier haben wir eine sehr anziehende Szene. Die armen Jünger
sind in äußerste Not geraten. Ihr Verstand weiß nicht mehr
aus noch ein. Ein heftiger Sturm, — das Schiff voll Wasser, —
der Herr eingeschlafen. Das war in der Tat ein Augenblick,
der sie auf die Probe stellte, und wenn wir uns selbst sehen,
brauchen wir uns über die Furcht und Unruhe der Jünger nicht
zu verwundern. Es ist nicht anzunehmen, daß wir es an ihrer
Stelle besser gemacht hätten. Dennoch können wir sehen, wo
es bei ihnen fehlte. Die Geschichte ist zu unserer Belehrung
niedergeschrieben worden, und wir müssen sie studieren, um
das zu finden, was darin für uns enthalten ist.
in Ruhe betrachtet, ist nichts ungereimter und unvernünftiger
als Unglauben. In der Szene, die wir hier betrachten, ist diese
Ungereimtheit augenscheinlich; denn was war unvernünftiger,
als zu glauben, das Schiff könne womöglich mit dem Sohn
Gottes an Bord sinken? Dennoch war es gerade das, was sie
fürchteten. Vielleicht dachten sie in diesem Augenblick nicht
an den Sohn Gottes. Sie dachten an den Sturm, die Wogen,
das gefüllte Schiff, und nach menschlichem Ermessen waren
sie hoffnungslos verloren. So ist das ungläubige Herz, das immer nach Vernunftschlüssen sucht. Es blickt immer auf die
Umstände und schließt Gott aus. Der Glaube dagegen sieht
nur auf Gott und schließt die Umstände aus.
Welch ein Unterschied! Der Glaube ist auch in der größten
Not glücklich, und zwar einfach deshalb, weil er weiß, daß Gott
eine solche Gelegenheit benutzt, um zu trösten und zu helfen.
Es ist seine Wonne, stille zu sein in Gott, und er freut sich, daß
Gott Gelegenheit findet Seine Herrlichkeit entfalten zu können.
So ist der Glaube. Wir können ruhig sagen, daß er die Jünger
fähig gemacht hätte, sich mitten im Sturm neben den Herrn
zu legen und zu schlafen. Der Unglaube machte sie dagegen
unruhig; sie konnten nicht ruhen und weckten wegen ihrer
ungläubigen Befürchtungen sogar den gesegneten Herrn aus
Seinem Schlafe auf! Ermüdet von unaufhörlicher Arbeit, hatte
Er, als das Schiff den See überquerte, wenige Augenblicke,
um auszuruhen. Er wußte, was Müdigkeit war; Er war herabgekommen in alle unsere Umstände. Er lernte unsere Gefühle
und alle unsere Schwachheiten kennen. Er, „der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die
137
Sünde", wurde in jeder Hinsicht als Mensch erfunden, und als
solcher schlief er auf einem Kopfkissen und wurde von den
Wellen des Sees geschüttelt. Der Sturm peitschte das Schiff
und die Wogen rollten darüberhin, obgleich der Schöpfer in
der Person jenes müden und schlafenden Menschen an Bord
war.
Tiefes Geheimnis! Er, Der den See gemacht und die Winde in
Seiner allmächtigen Hand halten konnte, lag schlafend im Hinterteil des Schiffes und erlaubte dem See und dem Wind, Ihn
so rauh zu behandeln, als wenn Er nur ein gewöhnlicher Mensch
gewesen wäre. Das war die Verwirklichung der menschlichen
Natur unseres gesegneten Herrn. Er war müde, Er schlief, und
Er wurde hin- und hergeworfen auf den Wellen des Sees, den
Seine Hände gemacht hatten. O teurer Leser, bleibe stehen und
denke über diese wunderbare Tatsache nach! Keine Sprache,
keine Feder kann eine solche Szene richtig wiedergeben. Wir
können sie nicht genügend erklären; wir können nur staunen
und anbeten.
Aber wie gesagt, der Unglaube weckte den gesegneten Herrn
aus Seinem Schlafe auf. „Und sie wecken ihn auf und sprechen
zu ihm: Lehrer, liegt dir nichts daran, daß wir umkommen?"
Welch eine Frage? „Liegt dir nichts daran?" Wie muß dies das
gefühlvolle Herz des Herrn Jesus verwundet haben? Wie konnten sie nur denken, daß Er bei ihrer Unruhe und Gefahr gleichgültig blieb? Wie vollständig hatten sie Seine Liebe — von
Seiner Macht ganz zu schweigen — aus dem Auge verloren,
wenn sie sagen konnten: „Liegt dir nichts daran?"
Und doch, teurer Leser, sehen wir darin nicht unser eigenes
Spiegelbild? — Wie oft seufzen unsere Herzen in Augenblicken
der Bedrückung und der Trübsal, wenn unsere Lippen auch
nicht aussprechen: „Liegt dir nichts daran?" Vielleicht sind wir
durch Krankheit und Schmerzen ans Bett gefesselt und wissen,
daß ein Wort von dem Gott der Macht uns vollständig gesund
machen kann, — und doch wird dieses Wort nicht ausgesprochen. Oder wir sind vielleicht in Not wegen der täglichen Nahrung und wissen, daß Silber und Gold und alles Vieh auf der
Erde Gott gehört — ja, daß die Schätze des Weltalls in Seiner
Hand sind, — und doch geht ein Tag nach dem anderen dahin,
ohne daß unsere Not behoben wird. Mit anderen Worten, wir
138
fahren hier über tiefe Wasser, der Sturm wütet, Woge auf
Woge rollt über unser winziges Schiff, wir sind in äußerste
Not geraten, unser Wissen reicht nicht aus zu helfen und unsere Herzen sind oft bereit, die schreckliche Frage zu stellen:
„Liegt dir nichts daran?" Dieser Gedanke ist sehr demütigend.
Der Gedanke, daß wir so oft das liebende Herz Jesu durch
unseren Unglauben und unser mangelndes Vertrauen kränken,
sollte uns mit der tiefsten Zerknirschung erfüllen.
Und dann das Unvernünftige des Unglaubens! Wie könnte Er,
Der Sein Leben für uns gab, Der Seine Herrlichkeit verließ und
herabkam in diese Welt voll Mühsal und Elend und den
schimpflichen Tod am Kreuz starb, um uns vom ewigen Zorn
zu befreien, je versäumen, für uns zu sorgen? Und doch neigen
wir dazu, zu zweifeln und werden so leicht ungeduldig bei
einer kleinen Trübsal, wobei wir vergessen, daß die wahre
Trübsal, vor der wir so zurückschrecken und unter der wir so
seufzen, weit kostbarer ist als Gold. Je mehr der wahre Glaube
erprobt wird, desto heller leuchtet er, und folglich ist die Versuchung, wenn auch hart, doch sehr geeignet, ihn in Lob und
Preis ausbrechen zu lassen gegen Den, Der nicht nur den Glauben einpflanzt, sondern ihn auch durch den Schmelzofen der
Trübsal gehen läßt, in dem Er ihn unaufhörlich und unermüdlich bewacht.
Aber die armen Jünger versagten in diesem Augenblick der
Versuchung. Ihr Vertrauen war fort, und sie weckten ihren
Herrn mit der unwürdigen Frage: „Liegt dir nichts daran, daß
wir umkommen?" Ach, was für Geschöpfe sind wir Menschen!
Wir sind geneigt, bei einer einzigen Schwierigkeit, die sich uns
entgegenstellt, zehntausend Liebesbezeigungen zu vergessen
David sagte: „Nun werde ich eines Tages durch die Hand
Sauls umkommen", und doch, wie ganz anders ging es aus!
Saul fiel auf dem Berge Gilboa, und David wurde auf den
Thron Israels erhoben. — Elia floh vor den Anschlägen Isebels,
und was geschah? Isebel wurde auf dem Steinpflaster in Stücke
zerschmettert, und Elia wurde in einem feurigen Wagen in den
Himmel aufgenommen. So auch hier, — die Jünger glaubten
verloren zu sein mit dem Sohn Gottes an Bord, und was war
das Ergebnis? Der Sturm verstummte, und der See wurde
ruhig durch die Stimme, die im Anfang die Wellen hervorge139
rufen hatte. „Und er wachte auf. bedrohte den Wind und
sprach zu dem See: Schweig, verstumme! Und der Wind legte
sich, und es ward eine große Stille".
Welch eine Fülle von Gnade und Majestät! Anstatt diejenigen
zu bedrohen, die Ihn in Seiner Ruhe gestört hatten, bedrohte
Er den Wind und den See, die sie erschreckt hatten. So beantwortete Er ihre Frage: „Liegt dir nichts daran?" Gesegneter
Herr! Wer wollte Dir nicht trauen? Wer wollte Dich nicht anbeten für Deine langmütige Gnade und Deine nie tadelnde
Liebe?
Es liegt etwas vollkommen Schönes in der Art, wie unser Herr
ohne eine Anstrengung aus der Ruhe der vollkommenen
Menschheit in die Tätigkeit der wahren Gottheit übertritt. Als
Mensch schlief Er ermüdet von der Arbeit auf einem Kopfkissen ein. und als Gott erhebt Er Sich und stillt mit Seiner allmächtigen Stimme den Sturm und beruhigt den See.
So war Jesus wahrhaftig Gott und wahrhaftig Mensch, und
so ist Er noch jetzt immer bereit, die Not Seines Volkes zu
lindern, die Niedergeschlagenen aufzurichten und die Furchtsamen zu trösten. Möchten wir Ihm nur immer einfach und
kindlich vertrauen. Wir haben kaum eine Ahnung davon, wieviel wir verlieren, wenn wir uns nicht täglich auf den Arm Jesu
stützen und nicht bei Ihm Rat und Hilfe holen. — Wir sind so
leicht erschreckt. Jeder Windstoß, jede Woge, jede Wolke beunruhigt und beängstigt uns. Anstatt uns ruhig niederzulegen
und neben unserem Herrn zu ruhen, sind wir voll Schrecken
und Bestürzung. Anstatt den Sturm als eine Gelegenheit zu
benutzen, unser Vertrauen gegen Ihn zu zeigen, nehmen wir
ihn zum Anlaß, Ihn durch unsere Zweifel zu betrüben. Sobald
irgendeine unbedeutende Schwierigkeit sich zeigt, fürchten wir
umzukommen, obgleich Er uns versichert hat, daß ohne Seinen
Willen kein Haar auf unserem Haupt gekrümmt werden solle.
Auch zu uns kann Er sagen, wie Er zu den Jüngern gesagt hat:
„Was seid ihr so furchtsam? Wie, habt ihr keinen Glauben?"
Manchmal scheint es wirklich, als ob wir keinen Glauben hätten. Aber dennoch ist Er immer bereit, uns zu bewahren und
zu helfen, während wir so leicht zweifeln. Welch eine zärtliche
Liebe! Er verfährt nicht mit uns nach unseren niedrigen Gedanken über Ihn, sondern gemäß Seiner eigenen vollkomme140
nen Liebe gegen uns. Das ist der Trost und die Stütze unserer
Seele auf dem Wege durch den stürmischen Ozean zur ewigen
Ruhe. Christus ist im Schiff. Möge uns das genug sein! Laßt
uns ruhig auf Ihn vertrauen. Möge in unseren Herzen immer
jene tiefe Ruhe sein, die aus dem wahren Glauben an Jesus
entspringt. Dann werden wir, wenn auch der Sturm wütet und
die Wasser des Sees sich bergehoch auftürmen, nicht versucht
sein zu fragen: „Liegt dir nichts daran, daß wir umkommen?
Wir können unmöglich umkommen mit Christus an Bord, auch
können wir nicht so denken mit Christus in unserem Herzen.
Möge der Heilige Geist uns lehren, einen völligen und freien
Gebrauch von Christus zu machen. Christus muß durch den
Glauben ergriffen und im Herzen genossen werden. Möchte
es doch so sein zu Seinem Preise und zum bleibenden Frieden
und Genuß für uns!
Wir möchten zum Schluß noch hinzufügen, daß die Jünger die
größte Furcht zeigten, anstatt die Ruhe und Macht Dessen zu
verherrlichen, Dessen Glaube den Sturm und den See beschwichtigt hatte. „Und sie fürchteten sich mit großer Furcht
und sprachen zueinander: Wer ist denn dieser, daß auch der
Wind und der See ihm gehorchen?" Gewiß, sie hätten Ihn besser kennen sollen. Das sollten auch wir, teurer Leser, — Ihn,
Der uns, nachdem Er Sein Leben für uns gelassen hat, als wir
noch Feinde und Gottlose waren, Der tausendfache BeweiseSeiner Güte, Liebe und Macht gegeben hat — Ihn, Der uns nie
vergessen noch versäumen kann, weil wir Seinem Herzen unendlich teuer und kostbar sind.
141
Der Sohn Gottes*)
„Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist" (Joh 1,18).
Ich fürchte nichts so sehr wie Vemunftschlüsse, wo Zuneigungen uns beseelen sollten, oder daß wir von der Stätte lebendiger Kraft herabgezogen werden in den Kreis menschlicher
Meinungen und Ansichten. Doch die Geheimnisse Gottes haben
alle den höchsten Wert für das praktische Leben, denn sie verleihen uns entweder Kraft zum Dienst und reichen Trost in
Trübsal oder sie fördern die Gemeinschaft der Seele.
Der Apostel Paulus spricht von sich und anderen als von „Dienern Christi" und zugleich als von „Verwaltern der Geheimnisse Gottes" (1. Kor 4, 1). So sollen auch wir in unserem
Maße „Diener", d. h. Knechte sein, in aller praktischen, persönlichen Bereitwilligkeit und Hingabe: geduldig, eifrig und
dienstfertig, wobei wir sehr wohl fühlen mögen, wie klein wir
sind im Vergleich zu anderen. Zugleich aber sollen wir „Verwalter" sein, und zwar „Verwalter von Geheimnissen", indem
wir die Einzelheiten der göttlichen Offenbarung unverfälscht
und unverletzt bewahren. Vernunftmenschen, die meinen,
alles mit ihrem Verstand ergründen zu können, nehmen diese
Geheimnisse allerdings nicht an. Ihnen war das Kreuz von
jeher eine Torheit; und die „Fürsten dieses Zeitlaufs", die
Männer der Philosophie, die sich selbst für Weise ausgaben,
haben „die Weisheit Gottes in einem Geheimnis" nicht erkannt. Dies Geheimnis darf ihnen auch auf keinen Fall preisgegeben werden. Darin besteht unsere Verwaltung, und „man
sucht an den Verwaltern, daß einer treu erfunden werde".
Die Wahrung und Bezeugung der persönlichen Herrlichkeit des
Sohnes Gottes bildet den wichtigsten Teil unserer hohen und
heiligen Verwaltung. Johannes wachte über diese Herrlichkeit
mit außergewöhnlicher Eifersucht. An anderen Stellen der
Schrift werden Vorschriften und Maßregeln anempfohlen, wie
*) Dieser aus mehreren Teilen bestehende Aufsatz ist von dem Verfasser:
„Die Herrlichkeit Jesu Christi, unseres Herrn, in Seiner Menschheit". Möge der
Herr den köstlichen Inhalt an unseren Herzen segnen, damit wir unseren teuren
Herrn und Heiland mehr und mehr kennenlernen und unsere Gemeinschaft mit
Ihm immer inniger werde.
142
wir das Böse behandeln sollen, das aus der Hinneigung zum
Judentum oder aus anderen Quellen hervorkommt. Im Brief
an die Galater, in dem die Einfalt des Evangeliums verteidigt
wird, begegnen wir eingehenden Erörterungen, verbunden mit
einer eindringlichen und schlagenden Beweisführung. Aber in
den Briefen des Johannes ist alles bestimmt und unbedingt. Da
wird summarisch alles abgewiesen und ferngehalten, was nicht
aus jener „Salbung von dem Heiligen" ist, die sowohl den
Sohn als auch den Vater lehrt, die nicht zugibt, daß eine Lüge
aus der Wahrheit sei, sondern ausdrücklich sagt: „Jeder, der
den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht" (1. Joh 2, 23).
Diese Unterschiede in der Darstellungsweise, die die Weisheit
des Heiligen Geistes zugelassen hat, sind von großem Wert,
und wir sollten sie nicht übersehen. Das Beobachten von Tagen
oder das Nichtessen von Fleisch sind Dinge, die die volle Herr=
lichkeit und Freiheit des Evangeliums zwar schmälern, aber als
Schwachheiten zu tragen sind (Rö 14). Eine Herabsetzung der
Person des Sohnes Gottes jedoch, eine Schmälerung Seiner
Herrlichkeit, darf niemals ertragen werden. Hier steht eine
Nachgiebigkeit, wie sie in jenem Falle angebracht sein mag,
völlig außer Frage.
Eine Reise von Ägypten nach Kanaan war an und für sich noch
keine wirkliche Pilgerfahrt. Mancher hatte denselben Weg zu=
rückgelegt, ohne ein Fremdling und Pilger mit Gott zu sein.
Wäre die Reise auch von allen Schwierigkeiten und Mühsalen
begleitet gewesen, die einer so dürren und pfadlosen Wüste
eigen sind, dann wäre sie doch darum noch keine göttliche und
himmlische Wanderung gewesen. Ein Leben voller Selbstverleugnung und Entbehrung, selbst wenn es mit jenem moralischen Mut ertragen wird, der den Fremdlingen Gottes auf der
Erde geziemt, genügt nicht. Um die Reise zu einer Pilgerfahrt
des Israels Gottes zu machen, mußte die Bundeslade in der
Mitte Israels sein, und zwar getragen von einem Volk, das
durch Blut aus Ägypten erkauft war und nun im Glauben an
die Verheißung nach Kanaan zog.
Das war die Aufgabe der Kinder Israel in der Wüste: sie mußten die Bundeslade tragen, sie begleiten und heiligen. In man=
eher Hinsicht und bei vielen Gelegenheiten mochten sich ihre
143
Schwachheiten offenbaren und Strafe und Zucht über sie brin=
gen; sobald aber ihre eigentliche Aufgabe, die Bewachung der
Bundeslade, vernachlässigt wurde, war alles verloren. Und da=
hin ist es gekommen: sie nahmen die Hütte des Moloch auf
und das Gestirn des Gottes Remphan. Das war eine Verach=
tung der Bundeslade Jehovas, und darum wandte sich der Weg
des Volkes Israel von Kanaan hinweg nach Babylon oder Da=
maskus (Am 5; Apg 7).
Und welche Bundeslade befindet sich jetzt in der Mitte der
Heiligen, damit sie sicher, heilig und ehrerbietig durch die
Wüste dieser Welt geleitet wird? Ist es nicht der Name des
Sohnes Gottes? Welches Geheimnis ist unserer Verwaltung und
unserem Zeugnis anvertraut, wenn nicht dieses? „Jeder, der
weitergeht und nicht bleibt in der Lehre des Christus, hat Gott
nicht; wer in der Lehre bleibt, dieser hat sowohl den Vater als
auch den Sohn. Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre
nicht bringt, so nehmet ihn nicht ins Haus auf und grüßet ihn
nicht" (2. Joh 9. 10). Von den Heiligen selbst muß die Tren=
nungswand zwischen ihnen und denen, die Christus veruneh=
ren, aufgerichtet werden.
Es ist meine Absicht, den Herrn Jesus in Seinem Charakter als
Sohn Gottes zu betrachten; und mit Seiner Hilfe wird uns die=
ser Gegenstand gewiß zum Segen sein.
Wir sind getauft „auf den Namen des Vaters und des Sohnes
und des Heiligen Geistes" (Mt 28, 19). Diese Worte enthalten
die förmliche Erklärung des Geheimnisses der Gottheit. Demzufolge ist der Sohn eine göttliche Person, wie es der Vater und
der Heilige Geist ist. Andere Stellen der Schrift offenbaren uns
dasselbe Geheimnis (daß der Vater, der Sohn und der Heilige
Geist drei Personen in der einen göttlichen Herrlichkeit oder
Gottheit sind), auf eine andere, mehr moralische oder innerliche
Weise, indem sie uns das Geheimnis in seiner Gnade und Kraft,
sowie in seiner Anwendung auf unsere Bedürfnisse, unser
Leben und unsere Auferbauung darstellen. Dies ist vor allem
im Evangelium nach Johannes der Fall, wo das Geheimnis der
Gottheit wie es im Taufbefehl zum Ausdruck kommt, entwik=
kelt und uns, den Heiligen, für unser Verständnis, unser Herz
und unser Gewissen gegeben wird, damit wir es uns im Glau=
ben und in der Ausübung der Gemeinschaft aneignen können.
144
In diesem Zusammenhang möchte ich bemerken, daß in Joh 1,
14 die Heiligen eingeführt werden, und zwar so, als ob sie die
Darstellung der Herrlichkeiten Jesu unterbrächen und die große
Wahrheit: „Das Wort ward Fleisch" durch ihr Zeugnis besie=
geln. Sie sind so begeistert, daß sie den begonnenen Satz nicht
beenden können, sondern in einem Zwischensatz Seine persönliche Herrlichkeit verkünden, die sie, wie sie sagen, angeschaut haben — „eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom
Vater". Von diesem Eingeborenen vom Vater wird gleich dar=
auf gesagt (V. 18), daß Er „in des Vaters Schoß" sei — ein
Wort, das sich tief in unsere Herzen senken sollte*).
Ohne Zweifel wird der Herr in verschiedener Hinsicht der
„Sohn Gottes" genannt. Er trägt diesen Namen als geboren von
der Jungfrau (Lk 1, 35). Er ist es nach göttlichem Beschluß (Ps
2, 7). Dies ist und bleibt wahr, wiewohl uns bezüglich Seiner
göttlichen Sohnschaft noch mehr geoffenbart worden ist. Er ist
der Sohn, und dennoch hat Er den Namen „Sohn" empfangen
(Hebr 1, 1—4). Matthäus und Markus reden von Ihm als „Sohn
Gottes" zuerst bei Seiner Taufe; Lukas beginnt früher, er er=
wähnt Seine Sohnschaft schon bei Seiner Geburt. Doch Johan=
nes geht noch weiter zurück bis zu den unermeßlichen, unnenn=
baren Fernen der Ewigkeit und verkündet Seine Sohnschaft „im
Schöße des Vaters".
Jedenfalls stand die Einsicht in bezug auf Jesus nicht überall
auf derselben Höhe, und es gab ein verschiedenes Maß des
Glaubens bezüglich Seiner Person bei denen, die mit Ihm in Be=
riihrung kamen. Er Selbst bezeugt z. B., daß der Glaube des
Hauptmanns im Verständnis der Herrlichkeit Seiner Person
weit über das hinausging, was Er in Israel gefunden hatte.
Doch das schwächt in keiner Weise die große Tatsache ab, daß
Er, wie wir von Ihm lesen, der Sohn „im Schöße des Vaters"
war, oder „das ewige Leben, welches bei dem Vater war und
uns geoffenbart worden ist" (1. Joh 1).
Wir dürfen dieses kostbare Geheimnis nicht antasten, Geliebte.
Wir sollen uns fürchten, das Licht jener Liebe zu dämpfen, in
") Er ist der Erstgeborene in verschiedenem Sinne, und wir haben Gemein=
bchaft mit Ihm, dem Erstgeborenen unter vielen Brüdern. Aber Er ist auch der
Eingeborene, und als solcher steht Er allein.
145
deren Strahlen wir berufen sind, unseren Weg zum Himmel zu
wandeln. Wir sollen uns fürchten, irgendein Bekenntnis des
Glaubens (oder besser gesagt des Unglaubens) zuzulassen, wodurch der Schoß des Vaters Seines ewigen, unaussprechlichen
Wohlgefallens beraubt und wodurch gesagt würde, daß unser
Gott nicht die Freude eines Vaters, oder daß unser Herr nicht
die Freude eines Sohnes gekannt habe, als Er von Ewigkeit her
im Schoß des Vaters war. Mit solchen Gedanken kann ich mich
nicht vereinigen. Wenn es Personen in der Gottheit gibt, was
wir ja bestimmt wissen, sollten wir dann nicht auch wissen, daß
Beziehungen zwischen ihnen bestehen? Können wir eine solche
Vorstellung überhaupt entbehren? Ist dem Glauben nicht der
Vater, der Sohn und der Heilige Geist geoffenbart? Ganz ge=
wiß. Die Personen in jener Herrlichkeit sind nicht voneinander
unabhängig, sondern stehen in inniger, wechselseitiger Beziehung zueinander. Auch gehen wir wohl nicht zu weit, wenn
wir sagen, daß in diesen Beziehungen das große Urbild der
Liebe, das gesegnete Vorbild aller gegenseitigen Beziehungen
gefunden wird.
Kann ich mich mit der ungläubigen Vorstellung begnügen, daß
es keine Personen in der Gottheit gebe, und daß der Vater,
Sohn und Geist nur verschiedene Namen seien, die auf eine
verschiedenartige Betrachtung ein und derselben Person zurückgehen? Das Wesen, der Kern des Evangeliums würde
durch einen solchen Gedanken zerstört werden. Oder kann ich
durch den ungläubigen Gedanken befriedigt werden, daß diese
Personen nicht zueinander in Beziehung stehen? Die im Evan=
gelium geoffenbarte Liebe würde durch eine solche Vorstellung
verdunkelt werden.
Es wurde einmal die Frage an mich gerichtet, ob Gott nicht
Vater gewesen sei, bevor das Kindlein in Bethlehem geboren
wurde. Ja, gewiß, Er war es von Ewigkeit her. Von Ewigkeit
her war der Schoß des Vaters ein Heiligtum, in dem der Sohn
zur unbeschreiblichen Wonne des Vaters wohnte, der Zu=
fluchtsort jener „unaussprechlichen Liebe, die" — wie einmal
jemand gesagt hat — „die Herrlichkeit überstrahlt, denn die
Herrlichkeit kann geoffenbart werden, nicht aber die Liebe".
Viele Herzen mögen sich mit Gedanken dieser Art nie beschäf=
tigt haben, aber dennoch dürfen die Gläubigen nicht zugeben,
146
daß diese Wahrheit angetastet wird. Nie dürfen sie ein solches
Geheimnis der menschlichen Einbildungskraft preisgeben, son=
dem sie müssen es mit der Waffe des Glaubens gegen jeden
Angriff der „Philosophie und des eitlen Betruges" verteidigen.
Als der Herr Jesus bezeugte, daß Er „Gottes Sohn" sei, fühlten
selbst die Juden sogleich, daß Er Sich dadurch „Gott gleich
machte", so daß der Sohnesname, anstatt eine untergeordnete
und geringere Person darzustellen, vielmehr eine Gleichheit
beanspruchte. Ebenso behandelten sie Jesus bei einer anderen
Gelegenheit als Gotteslästerer, weil Er in einem Gespräch, in
dem Er das Verhältnis des Sohnes zu Seinem Vater erklärte,
Sich Selbst zu Gott machte (Joh 5 und 10). Selbst die Juden
verurteilten also diesen durch die törichte Philosophie der
Menschen hervorgerufenen, unheilvollen Gedanken des Unglaubens.
Die Worte: „Niemand erkennt den Sohn, als nur der Vater"
genügen vollkommen, um jede menschliche Überlegung zum
Schweigen zu bringen. Die Mitteilung, daß uns das ewige Le=
ben geoffenbart ist, damit wir Gemeinschaft mit dem Vater und
dem Sohn hätten (1. Joh 1, 1. 2), spricht ganz klar das un=
schätzbare Geheimnis aus, daß der Sohn Gott ist und das ewige
Leben mit dem Vater hat. Auch wissen wir, daß geschrieben
steht: „Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der
hat ihn kundgemacht". Ich frage: Kann jemand Gott kundmachen, außer Gott Selbst? In gewissem Sinn kann Gott beschrieben werden. Doch die Seele des Gläubigen kann sich nicht
mit solchen Beschreibungen begnügen, obwohl die Weisheit
der Welt nichts anderes kennt. Sie verlangt keine Kundma=
chung oder Offenbarung über Sich Selbst, die nur Er Selbst
geben kann. Daher frage ich nochmals: Ist der Sohn, Der im
Schoß des Vaters ist, keine göttliche Person?
Nur der Glaube kann verstehen, was die Schrift uns über dies
Geheimnis mitteilt, daß der Vater und der Sohn in der Herr=
lichkeit der Gottheit sind und — obwohl an Herrlichkeit ein=
ander gleich — zueinander in Beziehung stehen. Er, Der im An=
fang bei Gott und Gott Selbst war, war zugleich der „Sohn
Gottes". Gott erlaubt, wie jemand einmal gesagt hat, daß viele
Dinge Geheimnisse bleiben, vielleicht aus dem Grunde, um auf
diese Weise den Gehorsam des Verstandes auf die Probe zu
147
stellen, denn Er fordert von uns ebensowohl einen Gehorsam
des Verstandes wie einen praktischen Gehorsam des Lebens.
Diese Unterwerfung des Verstandes unter Gott bildet
einen Teil unserer Heiligung, und sie ist etwas, was
nur der Geist schenken kann. Er allein ist imstande,
die innere Auflehnung unseres Geistes, der sich anmaßt,
die Dinge Gottes zu beurteilen und sich weigert, etwas
anzunehmen, was er nicht begreift (ein Ungehorsam und Hoch=
mut, der nur im Ungehorsam und Hochmut Satans seines»
gleichen findet) zur Ruhe zu bringen und in den Staub zu
beugen. — Das ist wirklich eine heilige und passende Warnung
für unsere Herzen! Der Apostel sagt: „Wer ist der Lügner,
wenn nicht der, der da leugnet, daß Jesus der Christus ist"? —
Und unmittelbar darauf fügt er hinzu: „Dieser ist der Anti=
christ, der den Vater und den Sohn leugnet". Und weiter:
„Jeder, der den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht"! —
Das sind sehr ernste Ausdrücke des Heiligen Geistes. Wie
könnte es auch eine Erkenntnis des Vaters geben als nur in
dem Sohn und durch den Sohn? Wie anders könnte der Vater
erkannt werden? Darum steht geschrieben: „Jeder, der den
Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht". Ich mag durch den
Geist der Sohnschaft sagen: „Abba Vater"! — und ein Dichter
mag gesagt haben: „Denn wir sind auch sein Geschlecht", aber
Gott wird nicht als der Vater erkannt, wenn nicht der Sohn in
der Herrlichkeit der Gottheit erkannt worden ist. Wenn wir
uns auf die göttliche Autorität stützen, können wir völlig überzeugt sein, daß, wenn die Salbung, die wir von Ihm empfangen
haben, in uns bleibt, wir auch in dem Sohne und in dem Vater
bleiben werden.
Kann der Sohn so geehrt werden wie der Vater (Joh 5, 23),
wenn Er nicht in Seiner Gottheit erkannt worden ist? Der
Glaube an Ihn besteht nicht darin, zu glauben, daß Er ein Sohn
Gottes, Der von der Jungfrau geborene oder aus den Toten auferweckte Sohn Gottes ist, wiewohl dies ohne Zweifel heilige
Wahrheiten über Seine Person sind. Nein, der Glaube an Ihn
besteht darin, an Seine eigene Person zu glauben. Ich weiß
nicht, wie ich Jesus anders den „Sohn Gottes" nennen, könnte,
als in dem Glauben an Seine göttliche Sohnschaft. Das uns gegebene Verständnis ist uns geschenkt worden, damit wir den
148
„Wahrhaftigen" kennen möchten, indem wir „in dem Wahr=
haftigen sind, in seinem Sohne Jesus Christus"; und diesen
Worten wird dann hinzugefügt: „Dieser ist der wahrhaftige
Gott und das ewige Leben".
Ist nicht die „Wahrheit", von der im zweiten Brief des Johan=
nes die Rede ist, die „Lehre des Christus" oder die Unterwei=
sung, die wir durch den Heiligen Geist über die Person des
Christus besitzen? Ist in dieser Unterweisung nicht die Wahrheit von der Sohnschaft in der Gottheit enthalten? Denn was
wird uns dort gesagt? „Wer in der Lehre des Christus bleibt,
dieser hat soioohl den Vater als auch den Sohn". Vor jedem
aber, der diese Lehre nicht bringt, muß unsere Tür verschlossen
bleiben.
Derselbe Brief spricht auch von Ihm als dem Sohn des Vaters,
— Worte, die nicht auf Ihn bezogen werden können, als von
der Jungfrau durch Überschattung des Heiligen Geistes gebo=
ren.
Doch ich gehe weiter und frage: Kann die Liebe Gottes, wie sie
in der Schrift geoffenbart ist, verstanden werden, wenn die
Sohnschaft nicht anerkannt wird? Verleiht nicht die Liebe die=
ser Lehre ihren Charakter? Wird nicht auf diesem Grunde der
Aufruf an unsere Herzen gerichtet? „Denn also hat Gott die
Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß
jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges
Leben habe". Auch lesen wir: „Hierin ist die Liebe: nicht daß
wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt und seinen
Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden".— „Hierin ist die Liebe Gottes zu uns geoffenbart worden, daß Gott
seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, auf daß wir
durch ihn leben möchten" — „Wir haben gesehen und bezeu=
gen, daß der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt".
Verliert diese Liebe nicht vollständig ihre unvergleichliche Herr=
lichkeit, wenn diese Wahrheit bezweifelt wird? Was würden
wir einem Menschen zur Antwort geben, der behauptete, daß
Er, Den Gott nicht schonte, sondern für uns alle dahingab, nicht
Sein eigener Sohn sei? Wie würden unsere Herzen erschrecken,
wenn wir hörten, daß unser Herr nur der Sohn Gottes sei, weil
Er von der Jungfrau Maria geboren sei und daß die Worte:
149
„Der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont hat" in mensch=
lichem und nicht in göttlichem Sinne aufzufassen seien!
Wir müssen Sorge tragen, das teure Wort Gottes nicht nach
menschlichen Vorurteilen abzuändern. Ging Abraham mit ei=
nem Knecht, oder mit einem Fremdling, oder mit jemand, der
nur in seinem Hause geboren war, zu dem Berg im Lande
Morija? Trat er diesen Weg mit einem angenommenen Sohn an,
den er so sehr liebte? — Wir wissen es alle! Und ich weiß nicht,
wie ich von dem Sohne sprechen könnte, Der mich geliebt und
Sich Selbst für mich hingegeben hat (Gal 2, 20), wenn ich Ihn
nicht durch den Glauben als den Sohn, Der in des Vaters Schoß
war, als den Sohn in der Herrlichkeit der Gottheit annehmen
darf. — Der Sohn ist der Christus. Gott hat in der Person des
Sohnes das ganze Werk vollbracht, das für uns getan werden
mußte. Alles dies hat Er getan in der Person Jesu. Darum sagen
wir: „Jesus Christus, der Sohn Gottes". Der Eingeborene, der
Christus, Jesus von Nazareth ist Ein und Derselbe. Unter die=
sen verschiedenen Namen nennen wir Ihn in der Herrlichkeit
Seiner Person, in Seinem Dienst und in Seiner angenommenen
Menschheit.
Wenn wir die Spuren des wundervollen Lebens Jesu von dem
Schoß des Vaters bis zu dem Augenblick verfolgen, wo wir Ihn
als den „Erben aller Dinge" sehen, welche Entdeckungen machen
wir dann bezüglich Seiner Person, Geliebte! Man lese in diesem
Zusammenhang Spr 8, 22. 31; Eph 1,10; Kol 1, 13. 20; Hebr 1,
1. 3; 1. Joh 1, 2; Offb 3, 14, — und sinne dann über Ihn nach,
wie Er uns in diesen herrlichen Schriftstellen dargestellt wird.
Man betrachte im Lichte dieser verschiedenen Stellen den
Einen, auf Den wir vertrauen, Der alles für uns hingab, Der
einen solchen Pfad wandelte und noch wandelt, und dann möge
man sagen: Können wir uns von Ihm oder von Seinem Pfade
trennen? Er war im Schoß des Vaters, das ewige Leben bei dem
Vater, Gott Selbst und doch bei Gott. Im Ratschluß Gottes war
Er dort „eingesetzt vor den Uranfängen der Erde, vor dem Be=
ginn der Schollen des Erdkreises". Dann war Er der Schöpfer
aller Dinge in ihrer ersten Ordnung und Schönheit; hernach der
Versöhner aller Dinge in ihrem Zustand der Sünde und des
Verderbens, und schließlich wird Er bei ihrer Wiederherstel=
lung der Erbe aller Dinge sein. So sehen wir Ihn durch den
150
Glauben, und so reden wir von Ihm. Wir sagen: Er war in den
ewigen Ratschlüssen Gottes, in dem Mutterleibe der Jungfrau,
in den Leiden dieser Welt, in der Auferstehung aus den Toten;
Er ist im Himmel mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt und mit
Macht und Ruhm bekleidet als der Erbe und das Haupt aller
Dinge. Beraube Ihn des Platzes, den Er von Ewigkeit her im
Schoß des Vaters eingenommen hat, und dann frage dich, ob
du nichts von deiner Wertschätzung und Freude an diesem
kostbaren Geheimnis verloren hast, das in jener Weise von
Ewigkeit zu Ewigkeit entfaltet worden ist. Ich kann nicht ver=
stehen, wie ein Gläubiger so etwas verteidigen kann, noch mich
mit einem Glaubensbekenntnis vereinigen, das von meinem
himmlischen Vater sagt, daß es nicht Sein Eigener Sohn gewesen sei, Den Er für mich hingegeben habe.
Wie lieblich und gesegnet ist es, — ach, wenn wir nur fähiger
dazu wären! — den Herrn auf Seinem ganzen Wege bis zu dem
Thron der Herrlichkeit zu betrachten! Auf jeder Station dieses
Weges erblicken wir Ihn als Den, Der stets dasselbe vollkommene Wohlgefallen Gottes hervorrief, gleich sehr am Anfang
wie am Ende Seiner Laufbahn, nur mit dem Ihm eigenen Vor=
recht, daß Er es in der gesegnetsten und wundervollsten Verschiedenheit hervorrief.
Die Schrift ermöglicht es uns, dies alles zu verfolgen. Von der
Freude, die Er genoß, als Er Sich vor Grundlegung der Welt im
Schoß des Vaters befand, brauchen wir nicht zu reden, denn
wir vermögen es nicht. Jener Schoß war der „Bergungsort der
Liebe"; und die Freude, die mit dieser Liebe verbunden war, ist
ebensowenig in Worten auszudrücken wie die Liebe selbst.
Aber auch als Mittelpunkt aller göttlichen Tätigkeit und als
Grundlage aller Ratschlüsse Gottes war der Geliebte ebenso die
Wonne Gottes. In dieser Stellung und in diesem Charakter
sehen wir Ihn in Spr 8, 22—31. In dieser wunderbaren Schrift=
stelle wird die Weisheit oder der Sohn dargestellt als der große
Ursprung, der Schöpfer und Erhalter aller Werke und Vorsätze
Gottes, die in dem göttlichen Ratschluß vor Grundlegung der
Welt festgesetzt waren. In ähnlicher Weise wird Er in verschie=
denen Stellen des Neuen Testaments betrachtet (siehe Joh 1, 3;
Eph 1, 9. 10; Kol 1, 15—17). In all diesem kann Er von Sich
sagen: „Da war ich Schoßkind bei ihm, und war Tag für Tag
151
seine Wonne, vor ihm mich ergötzend allezeit" (Spr 8, 30; Joh
17, 5).
Als die Fülle der Zeit gekommen war, lag der Sohn Gottes im
Schoß der Jungfrau. Wer kann dieses Geheimnis ergründen?
Und doch ist es so. Aber es war nur eine neue Veranlassung
zur Freude. Engel kamen, um dieser Freude Ausdruck zu geben
und sie den Hirten auf Bethlehems Fluren zu verkündigen.
Der Sohn der Liebe Gottes mußte jetzt in einer neuen Gestalt
eine andere Laufbahn betreten. Unter Leiden und im Dienste
als Sohn des Menschen erblicken wir Ihn auf der Erde. Doch
überall, und ebenso unvermischt wie in den verborgenen Zeit=
altern der Ewigkeit, rief Er auch hier das unaussprechliche
Wohlgefallen Gottes hervor. „Dieser ist mein geliebter Sohn,
an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe". — „Siehe, mein
Knecht, den ich stütze, mein Auserwählter, an welchem meine
Seele Wohlgefallen hat". Das sind Aussprüche des Vaters, die
von Seiner unveränderten Freude zeugen, während Er den Pfad
Jesu über diese sündenbefleckte Erde hin verfolgt.
Und dieselbe Stimme ertönt zum zweiten Male: „Dieser ist mein
geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe".
Sie wird vernommen auf dem heiligen Berge wie am Ufer des
Jordan, am Tage der Verklärung wie bei der Taufe (Mt 17). Die
Verklärung war das Unterpfand und das Vorbild des Reiches,
wie die Taufe den Eintritt in Seinen Dienst und Sein Zeugnis
darstellte. So wurde in dem Schöße des Vaters, wo der Sohn
Sich befand, stets dasselbe Wohlgefallen hervorgerufen, ob
das Auge Gottes Ihn auf dem einsamen Pfade des Dieners in
einer unreinen verderbten Welt verfolgte, oder Ihn auf der
Höhe des Königs der Herrlichkeit im tausendjährigen Reich er=
blickte. Auf Seinem ganzen Wege von Ewigkeit zu Ewigkeit
fand Gott stets dasselbe vollkommene Wohlgefallen an Ihm.
Nirgends zeigt sich eine Unterbrechung, nirgends ein Stillstand
in der Freude Gottes an Ihm, obwohl diese Freude mannig=
faltig und verschiedenartig war; sie bleibt stets dieselbe an
Fülle und Tiefe, mögen die Umstände und die Veranlassungen
auch wechseln. Er, Der diese Freude hervorruft, bleibt immer
Derselbe, und deshalb auch die Freude selbst; in ihrem Maße
konnte sie nie verschieden sein, obwohl ihre Ursachen sich
verändern mochten. — Und dieser Eine war während Seines
152
ganzen Pfades von Ewigkeit zu Ewigkeit gleich unbefleckt, • -
so heilig im Mutterleibe der Jungfrau wie im Schöße des Vaters,
so rein am Ende wie zu Beginn Seiner Laufbahn, so vol!kom=
men als Knecht wie als König; unbegrenzte Vollkommenheit
kennzeichnete alles, und dasselbe Wohlgefallen ruhte auf allem.
Wenn die Seele nur immer von dem Gedanken durchdrungen
wäre, daß dieser hochgelobte Herr (wo und wie Er auch be=
trachtet werden mag) Derselbe war, Der von Ewigkeit her im
Schöße des Vaters war, — wenn dieser Gedanke durch den Hei=
ligen Geist in der Seele lebendig erhalten würde, dann würde
manche Neigung, die jetzt vielleicht die Seele verunreinigt, in
Schranken gehalten werden. Er, Der im Mutterleibe der Jung=
frau lag, ist Derselbe, Der im Schoß des Vaters war! Welch ein
Gedanke! Der majestätische Jehova des Alten Testaments, Den
die geflügelten Seraphim anbeteten, war Jesus von Galiläa!
Welch ein Gedanke! So fleckenlos als Mensch, wie Er als Gofl
war; so rein im menschlichen Leibe wie im Schöße des Ewigen;
so makellos inmitten der Verunreinigungen der Welt, wie da=
mals, als Er die Wonne des Vaters war, noch vor Grundlegung
der Welt!
Wahrlich, wenn die Seele von diesem Geheimnis durchdrungen
ist, wird mancher Gedanke, der im Herzen aufsteigen will, so=
fort seine Beantwortung finden. Wer möchte angesichts eines
solchen Geheimnisses reden, wie manche geredet haben? Wenn
nur diese Herrlichkeit vor der Seele steht, dann werden die Flü=
gel wieder das Angesicht bedecken und die Schuhe von den
Füßen gezogen werden (Jes 6, 2; 2. Mo 3, 5).
Ich glaube, daß die göttlichen Belehrungen im ersten Johannes»
brief uns erkennen lassen, daß die Gemeinschaft der Seele be=
einflußt wird von der Art und Weise, wie wir den Sohn Gottes
betrachten. Denn in diesem Briefe wird die Liebe in der Gabe
des Sohnes geoffenbart; und die Liebe ist gleichsam unsere
Wohnstätte, der Bereich, in dem wir daheim sind. Wenn ich
deshalb meine, daß der Vater in der Gabe des Sohnes uns nur
den Samen des Weibes geschenkt habe, dann wird der Bereich,
in dem ich mich bewege, ein niedrigerer. Erkenne ich dagegen
in dieser Gabe die Gabe des Sohnes, Der von Ewigkeit her in
des Vaters Schoß lag, dann steigt meine Vorstellung von dieser
Liebe, und damit nimmt dann auch der Platz, den ich einnehme,
153
einen höheren Charakter an. Die Gemeinschaft der Seele wird
dadurch beeinflußt.
Ich weiß allerdings durch den Umgang mit anderen Gläubigen,
daß manche Seelen infolge ihrer Glaubenseinfalt sich an einem
geringeren Maße von Wahrheit weit mehr erfreuen, als andere
an einem höheren Maße. Doch das berührt nicht die Gedanken
und Betrachtungen des Geistes in jenem Briefe. Es bleibt im=
mer wahr, daß die Liebe unsere Wohnstätte ist, und daß des
halb der Charakter unserer Gemeinschaft von dem Verständnis
der Liebe abhängig ist. Warum sollten wir auch die Kraft der
Gemeinschaft zu verringern suchen und dadurch unsere Freude
in Gott aufs Spiel setzen? Der Fehler liegt darin, daß wir oft
so wenig die herrlichen Dinge zu schätzen wissen, die wir in
Ihm besitzen.
Der Sohn, der eingeborene Sohn, der Sohn des Vaters, ernie=
drigte Sich Selbst, um den wohlgefälligen Willen Gottes zum
Heil verlorener Sünder zu tun. Aber wird der Vater zulassen,
daß Sünder, um deretwillen diese ganze Erniedrigung erduldet
wurde, dieselbe zum Anlaß nehmen, den Sohn herabzuwür=
digen? Unmöglich! Vergleichen wir nur Joh 5, 23. Jesus hatte
erklärt, daß Gott Sein Vater sei, und machte Sich so Gott gleich.
Die Frage ist: Wird Gott dieses Wort des Herrn bestätigen? Ja,
der Vater will keine Ehre für Sich annehmen, es sei denn, daß
sie dem Sohne dargebracht werde, wie wir lesen: „Wer den
Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat".
Werfen wir nochmals einen Blick auf den ersten Brief des Jo=
hannes. Der Apostel wendet sich dort an „Väter", „Jünglinge"
und „Kindlein" (Kap 2), und unterscheidet sie in folgender
Weise:
l. Die „Väter" sind solche, die „den erkannt haben, der von
Anfang ist". Sie bleiben „in der Lehre des Christus", indem
sie „sowohl den Vater als auch den Sohn" haben. Die Salbung
ist mächtig in ihnen, wenn ich mich so ausdrücken darf. Sie
haben gleichsam mit gespannter Aufmerksamkeit der Seele auf
die Offenbarung des Vaters durch den Sohn gelauscht (Joh 1,
18). Indem sie den Sohn sahen, sahen sie auch den Vater (Joh
14, 7—11). Sie bewahren die Worte des Sohnes und des Vaters
(Joh 14, 21—23). Sie wissen, daß der Sohn in dem Vater ist,
154
daß sie in dem Sohne sind und der Sohn in ihnen. Sie sind
keine Waisen (Joh 14, 18-20).
2. Die „Jünglinge" sind solche, die „den Bösen überwunden
haben" — jenen Bösen, der die Welt zur Leugnung des Ge=
heimnisses des Christus antreibt (1. Joh 4, 1—6). Jedoch stehen
sie nicht in der vollen, ausgereiften Kraft jenes Geheimnisses,
wie die „Väter", und bedürfen deshalb der Ermahnung, Der
Apostel warnt sie vor allem was der Welt angehört, gleichwie
sie gegenüber jenem Geist in ihr, der Christus leugnete, bereits
als Sieger dastanden.
3. Die „Kindlein" sind solche, die „den Vater erkannt haben".
Doch sie sind noch „Kindlein" und bedürfen der Warnung, Be=
lehrung und Ermahnung. Ihre Erkenntnis des Vaters ist noch
unvollkommen und nicht so verbunden mit der Erkenntnis des
Sohnes, „der von Anfang ist", wie dies bei den „Vätern" der
Fall war. Darum warnt sie Johannes vor Antichristen, die er
als solche schildert, die der „Wahrheit" oder der „Lehre des
Christus" widerstehen. Er belehrt sie darüber, daß jeder, der
den Sohn leugnet, auch den Vater nicht hat; daß sie, wenn die
Salbung, die sie empfangen hatten, in ihnen bliebe, sie sicherlich
auch in dem Sohne und in dem Vater bleiben würden, und
ferner, daß das Haus Gottes einen solchen Charakter trägt, daß
niemand darin bleiben kann, der nicht den Wohlgeruch dieser
Salbung trägt. Er erinnert sie daran, daß die Verheißung, die
der Sohn gegeben hat, das ewige Leben sei. Schließlich ermahnt er sie, in dem, was die Salbung lehrt, zu bleiben, damit
sie (die Apostel) am Tage der Erscheinung des Sohnes nicht
beschämt werden möchten.
Diese Schriftstellen handeln also ausschließlich von der Person
des Sohnes oder von der „Lehre des Christus"; und was die
Väter, Jünglinge und Kindlein unterscheidet, ist nicht ihr all=
gemeiner christlicher Charakter, sondern das Maß ihres Ein=
dringens in diese Wahrheit und ihre Beziehung zu ihr. Der
Apostel behält in diesen Anreden den Hauptgegenstand seines
ganzen Briefes eifersüchtig im Auge; und dieser Gegenstand
ist der Sohn Gottes. Es ist das Blut des Sohnes, das reinigt. Wir
haben einen Sachwalter bei dem Vater, wodurch angedeutet
wird, daß der Sachwalter der Sofm ist. Es ist der Sohn, in Dem
155
wir durch die Salbung bleiben. Der Sohn ist geoffenbart worden, um die Werke des Teufels zu zerstören. Wir werden auf=
gefordert, an den Namen des Sohnes zu glauben. Der Sohn ist
gesandt worden, um kundzumachen, was Liebe ist. Der Glaube
an den Solin gibt uns den Sieg über die Welt. Gott gibt Zeugnis betreffs Seines Sohnes. In dem Sohn haben wir das Leben.
Der Sohn ist gekommen, um uns ein Verständnis zu geben.
Wir sind in dem Sohne. Der Solm ist der wahrhaftige Gott und
das ewige Leben.
Alles das wird uns im ersten Brief des Johannes über den Sohn
Gottes mitgeteilt. Der Sohn ist also der große Gegenstand
dieses Briefes, und die Väter, Jünglinge und Kindlein werden
aufgrund ihrer Beziehungen zu diesem Gegenstand vonein=
ander unterschieden, und zwar, wie ich glaube, nach dem
Maße, in dem sie diesen Gegenstand in ihren Herzen verstanden und erfaßt haben.
In demselben Brief spricht Johannes auch viel über Liehe und
Gerechtigkeit als die notwendigen Bestandteile oder Beweise
unseres Geborenseins aus Gott. Aber zugleich mit dieser Lehre
redet er von wahrem und falschem Bekennen Christi. Behandelt er etwa das erste als einen lebendigen, praktischen Gegenstand und das zweite nur als einen theoretischen? Durchaus nicht. Er behandelt vielmehr alle als solche, die den gleichen
Charakter tragen, und sagt uns, daß die Ausübung der Liebe
und der praktischen Gerechtigkeit ohne die Erkenntnis und
das Bekenntnis des Sohnes kein vollgültiges Zeugnis dafür sein
würde, daß eine Seele aus Gott geboren sei.
Wenn das erleuchtete Auge des Propheten Jesaja Jesus hätte
folgen können, wie Er durch die Städte und Dörfer des jüdi=
sehen Landes wanderte, dann wäre er wohl zu ununterbro=
chener Anbetung hingerissen worden! In einem Gesicht war
ihm Seine Herrlichkeit gezeigt worden. Er hatte den Herrn auf
hohem und erhabenem Throne gesehen. Seine Schleppen er=
füllten den Tempel, und die geflügelten Seraphim bedeckten
ihre Angesichter, indem sie die Herrlichkeit der Gottheit in
Jesus anerkannten. Jesaja sah Seine Herrlichkeit und redete
von Ihm (Jes 6; Joh 12, 41). Auch wir bedürfen eines solchen
Anblickes durch den Glauben an den Sohn, an Jesus, — durch
156
den Glauben an Seinen Namen, durch das Anschauen Seiner
Person, durch das Verständnis für die Herrlichkeit, die
unter der Hülle des demütigen und von der Welt verworfenen
Galiläers verborgen war.
Schließlich möchte ich noch an das erinnern, was der Herr über
die rechtzeitige Austeilung der Speise an das Gesinde (Mt 24;
Lk 12) sagt. Wir müssen uns sorgfältig hüten, diese Speise zu
verderben. „Habet nun acht auf euch selbst und auf die ganze
Herde, in welcher euch der Heilige Geist als Aufseher gesetzt
hat, die Versammlung Gottes zu hüten, welche er sich erwor=
ben hat durch das Blut seines Eigenen", sagt Paulus. „Hütet die
Herde Gottes, die unter euch ist", sagt Petrus. Die Versamm=
Iung Gottes oder die Herde Gottes muß mit dem „Wachstum
Gottes" wachsen. Wunderbare Worte!
Geliebte, laßt uns wachsam sein gegenüber den Anstrengungen
des Feindes, die Speise für das Gesinde zu verderben. Die Be=
lehrungen des Apostels Johannes über den Sohn Gottes und
diejenigen des Paulus über die Kirche oder Versammlung
Gottes sind gerade in unseren Tagen Speise zur rechten Zeit;
und hüten wir uns, die von Gott für Seine Heiligen bereitete
Nahrung dem Geschmack und den Vernunftschlüssen des
Menschen anzupassen! Das Manna muß so gesammelt werden,
wie es aus dem Himmel kommt, und muß heimgetragen wer=
den, um das pilgernde Heer mit der „Speise der Starken" zu
nähren.
„Und nun", sagt Paulus durch den Heiligen Geist, „befehle ich
euch Gott und dem Worte Seiner Gnade, welches vermag auf=
zuerbauen und euch ein Erbe zu geben unter allen Geheiligten"
(Apg 20, 32).
2 .
„Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns" (Joh 1, 14)
Aus der Geschichte von „Fleisch und Blut", wie wir sie in der
Schrift aufgezeichnet finden, lernen wir, daß durch die Sünde
der Tod kam. Für alle, deren Haupt oder Repräsentant Adam
war, galt das Wort: „Welches Tages du davon issest, wirst du
des Todes sterben". Was aber den verheißenen Samen des
Weibes betrifft, der nicht durch Adam repräsentiert wurde, war
157
zu der Schlange gesagt worden: „Du wirst ihm die Ferse zer=
malmen". Der Tod dieses Samens sollte also ebenso außerge=
wohnlich sein wie Seine Geburt. In Seiner Geburt sollte Er
der Same des Weibes sein; in Seinem Tod sollte Ihm die Ferse
zermalmt werden. Als die Fülle der Zeit gekommen war, wurde
dieser Verheißene „geboren von einem Weibe". Der Sohn
Gottes, „der, welcher heiligt" (Hebr 2, 11), nahm teil an Fleisch
und Blut; Er wurde „das Heilige" (Lk 1, 35).
Hatte der Tod irgendeinen Anspruch auf Ihn? Nicht den ge=
ringsten. Wenn ich so sagen darf, besaß Er, der Gesegnete, die
Fähigkeit, dem göttlichen Beschluß, daß Seine Ferse zermalmt
werden sollte, zu entsprechen; dennoch war Er in keiner Weise
dem Tode unterworfen.
In Übereinstimmung mit diesem Vorsatz hat Er Sich nach Sei=
nem eigenen göttlichen Wohlgefallen mit den Worten hinge=
geben: „Siehe, ich komme". Um Gott zu verherrlichen und dem
Sünder Frieden zu bringen, hat Er „Knechtsgestalt angenom=
men". Dementsprechend ist Er zur bestimmten Zeit „in
Gleichheit der Menschen geworden", und während Er „in seiner
Gestalt wie ein Mensch erfunden" wurde, ist Er von Erniedri=
gung zu Erniedrigung geschritten, „ja, bis zum Tode am
Kreuze" (Phil 2)*).
Auf diesem Wege sehen wir Jesus während Seines ganzen
Lebens. Er verbarg Seine Herrlichkeit, „die Gestalt Gottes",
unter dieser „Knechtsgestalt"; Er suchte keine Ehre von Men=
sehen. Er ehrte den Vater, Der Ihn gesandt hatte, und nicht
Sich Selbst. Er wollte Sich nicht zu erkennen geben, Sich nicht
der Welt zeigen, wie das Wort uns mitteilt. Alles dies gehörte
zu der „Gestalt", die Er angenommen hatte, und findet seine
vollkommene Darstellung in den Berichten der Evangelien.
Unter der Gestalt eines steuerpflichtigen Untertanen verhüllte
Er die Gestalt Dessen, Der über die Fülle der Erde und des
*) Wäre Jesus nicht Gott gleich gewesen, hätte Er dies nicht tun können;
denn jedes Geschöpf, jeder, der geringer ist als Gott, ist schon ein Knecht seines
Schöpfers. Ein Jude konnte freiwillig der Knecht eines anderen Juden werden,
ein Knecht mit einem durchbohrten Ohr (2. Mo 21); aber kein Geschöpf könnte
freiwillig ein Knecht Gottes werden, aus dem einfachen Grunde, weil alle Ge=
schöpfe schon durch ihr Verhältnis zum Schöpfer Seine Knechte sind.
158
Meeres gebot. Man forderte Steuer von Ihm; wenigstens wur=
de Petrus gefragt, ob sein Herr sie nicht zahle. Der Herr er=
klärt, daß Er frei davon sei; doch um kein Ärgernis zu geben,
bezahlt Er die Steuer für Petrus und Sich. Und doch war Er
während der ganzen Zeit kein Geringerer als Der, von Dem
geschrieben stand: „Die Erde ist des Herrn und ihre Fülle".
Denn Er gebietet einem Fisch im Meer, Ihm gerade das erfor=
derliche Geldstück zu bringen, das Er dann den Steuereinneh=
mern überreicht (Mt 17).
Welch ein Beispiel jenes kostbaren Geheimnisses, daß Er, Der
„in Gestalt Gottes" war, und es „nicht für einen Raub achtete,
Gott gleich zu sein", so daß Er über die Schätze der Tiefe verfügen und den Geschöpfen der Hand Gottes als Seinen eigenen
gebieten konnte, — daß Er Knechtsgestalt annahm! Welch eine
Herrlichkeit bricht bei diesem vorübergehenden, unscheinbaren
Ereignis durch die Wolken! Alles ereignete sich zwischen dem
Herrn und Petrus; aber es war eine Offenbarung der „Gestalt
Gottes", die aus der Gestalt eines Knechtes oder eines der
Obrigkeit Unterworfenen (Rö 13, 1) hervorstrahlte. Die Fülle
der Erde war Ihm in demselben Augenblick tributpflichtig, als
Er bereit war, anderen Tribut zu zahlen. Wie bei einer anderen
Gelegenheit der unbeachtete Gast die Freude des Hochzeits=
festes erhöhte, nicht nur als wäre Er Selbst der Bräutigam, son=
dem als der Schöpfer von allem, wodurch das Fest herrlich ge=
macht wurde. Auch dort offenbarte Er Seine Herrlichkeit, und
Seine Jünger glaubten an Ihn (Joh 2).
Weiter lesen wir von Ihm: „Er wird nicht streiten noch schreien,
noch wird jemand seine Stimme auf den Straßen hören". Er
wollte ein geknicktes Rohr nicht zerbrechen, sondern Sich lieber
zurückziehen; und das alles, weil Er „Knechtsgestalt" ange=
nommen hatte. Darum wird auch bei dieser Gelegenheit die
Stelle angeführt: „Siehe, mein Knecht, den ich erwählt habe"
(Mt 12).
Die Forderung der Pharisäer, Er möge ihnen ein Zeichen aus
dem Himmel geben, war eine weitere Versuchung für Ihn, Sich
Selbst zu erhöhen (Mt 16). Die Pharisäer versuchten Ihn in
ähnlicher Weise, wie der Teufel es getan hatte, als er Ihn auf=
forderte, Sich von der Zinne des Tempels hinabzustürzen, oder
159
wie Seine Brüder es taten, als sie sagten: „Zeige dich der Welt"
(Joh 7). Doch was erwiderte der vollkommene Knecht? Kein
Zeichen würde ihnen gegeben werden, sagte Er, als nur das
Zeichen Jonas — ein Zeichen der Erniedrigung, ein Zeichen, daß
der Fürst dieser Welt für den Augenblick die Oberhand über
Ihn haben sollte, anstatt eines Zeichens, das die Welt dahin
gebracht haben würde, sich Ihm in schweigender Ehrfurcht zu
unterwerfen.
Wahrlich, wunderbar und herrlich sind diese Fußtapfen des
vollkommenen Knechtes Gottes! David und Paulus, gleichsam
zu beiden Seiten von Ihm stehend, wie Mose und Elia auf dem
heiligen Berge, strahlen in etwa den Glanz dieses Sich Selbst
verbergenden Knechtes zurück. David erschlug den Löwen und
den Bären, und Paulus wurde in den dritten Himmel entrückt;
aber keiner von ihnen sprach von diesen Dingen. Eine solche
Handlungsweise war ein lieblicher Widerschein der Herrlichkeit
des vollkommenen Knechtes. Und doch sind sie und alle ihnen
ähnlichen Männer, die wir in der Schrift oder in den Reihen der
Gläubigen finden, weiter von dem großen Urbild entfernt als
wir zu ermessen vermöchten. Er verbarg die „Gestalt Gottes"
unter der „Knechtsgestalt". Jesus war Davids Kraft, als dieser
den Löwen und den Bären erschlug, und Er war der Herr des
Himmels, in den Paulus entrückt wurde; und doch ging Er um=
her in der Gestalt eines Menschen, der „nicht hatte, wohin er
sein Haupt legen sollte".
Dasselbe sehen wir auf dem Gipfel und am Fuße des heiligen
Berges. Auf dem Gipfel war Er angesichts Seiner Auserwählten
für einen kurzen Augenblick „der Herr der Herrlichkeit"; am
Fuße des Berges war Er „Jesus allein", Der ihnen gebot, nie=
mandem von dem Gesicht zu sagen, bis der Sohn des Men=
sehen aus den Toten auferstanden sein würde (Mt 17).
Betrachten wir Ihn nun, als Er während des Sturmes im Schiffe
auf dem See war. Er lag dort als ein ermüdeter Arbeiter im
sanften Schlaf. Das war Seine sichtbare Gestalt, doch darunter
war die „Gestalt Gottes" verborgen. Er erhob Sich, und als der
Herr, der „den Wind in seine Fäuste sammelt" und die „Wasser
in ein Tuch bindet" (Spr 30, 4), bedrohte Er den Wind und be=
ruhigte den See (Mk 4).
160
Zuweilen steht Jesus in der vollen und vielseitigen Herrlichkeit
des Jehovas Israels vor unseren Augen. In früheren Tagen
hatte der Gott Israels den Geschöpfen der großen Tiefe ge=
boten; Er bestellte einen großen Fisch, um Jona zu verschlingen
und ihm für eine bestimmte Zeit zum Grabe zu dienen. Ebenso
erwies Jesus Sich zu Seiner Zeit als der Herr der Fülle „dieses
Meeres, groß und ausgedehnt nach allen Seiten hin" (Ps 104),
indem Er „eine große Menge Fische" in das Netz des Petrus
gehen ließ (Lk 5). Wir sehen also, daß sowohl die kleinen als
auch die großen Tiere, die sich im Meer tummeln, in früheren
wie in späteren Tagen den Worten des Jehova=Jesus gehorch--
ten.
Der Gott Israels bediente Sich einst als der Herr der Fülle der
Erde und des Meeres eines stummen Esels, um die Torheit des
Propheten zu bestrafen. In noch charakteristischerer Weise gebot Er der Natur, als die Bundeslade aus dem Lande der Philister
zurückgeholt werden sollte, indem Er die Kühe, die den Wagen
zogen, auf dem die Bundeslade stand, zwang, den richtigen und
nächsten Weg nach Beth=Semes einzuschlagen, obwohl ihr
Naturtrieb sich diesem Wege auf das Heftigste widersetzte
(1. Sam 6). In derselben Herrlichkeit und Macht des Gottes
Israels handelte auch der Herr Jesus. Denn zu Seiner Zeit
mußte auch Er, die wahre Bundeslade, heimwärts getragen
werden. Gegen das Ende Seiner Laufbahn kam der Augenblick,
wo Er Jerusalem in Seiner Herrlichkeit besuchen sollte. Es war
notwendig, daß Er als König von Zion in die königliche Stadt
einzog, und die Eselin mit ihrem Füllen steht zum Dienst für
Ihn bereit. Er verfügt über sie und hält Seinen Einzug in der
ganzen Würde und in den Rechten des Herrn der Fülle der
Erde. Die Besitzer der Eselin hatten der Forderung: „Der Herr
bedarf ihrer", zu gehorchen, und entgegen ihren natürlichen
Ansprüchen sandten sie sie Ihm „alsbald" (Mk 11; Lk 19).
So erstrahlt der Herr hier wiederum in der charakteristischen
Herrlichkeit des Gottes Israels. Es war der verachtete Jesus von
Nazareth, der Zimmermann, der Sohn des Zimmermanns, der
jene Forderung stellte (Mt 13, 55; Mk 6, 3). Aber wie dicht
auch der verhüllende Schleier sein mochte, die darunter liegende
Herrlichkeit war unendlich. Es war die volle Herrlichkeit Jehovas; und kein Strahl des ganzen göttlichen
167
Glanzes weigerte sich, diesem Ausdruck zu geben. „Er achtete
es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein", obwohl Er „sich
selbst zu nichts machte". Der Glaube erkennt diese verschlei=
erte Herrlichkeit, und die Liebe umgibt sie schirmend wie mit
einer feurigen Mauer. „Wer ist hinaufgestiegen gen Himmel
und herniedergefahren? wer hat den Wind in seine Fäuste ge=
sammelt? wer die Wasser in ein Tuch gebunden? wer hat auf=
gerichtet alle Enden der Erde? Was ist sein Name und was
der Name seines Sohnes, wenn du es weißt" (Spr 30, 4)?
Wir wollen uns nicht anmaßen, es auszusprechen; aber wie
Mose, als Jehova an ihm vorüberging, wollen wir lernen, unser
Haupt zur Erde zu neigen und anzubeten (2. Mo 34).
Welch schöne Beispiele sind dies, an denen die Schrift uns lehrt,
wie Jesus unter der „Knechtsgestalt" die „Gestalt Gottes" ver=
hüllte! Und ich möchte behaupten, daß auch jene Fälle, wo Er
Sich vor Gefahr zu schützen oder Sein Leben zu sichern scheint,
von gleichem Charakter und gleicher Bedeutung sind. Es wäre
sicherlich eine kostbare Aufgabe für die Seele, so Seine Schön=
heit und Herrlichkeit, die dem menschlichen Auge verborgen
bleiben, aufzudecken. Aber obwohl wir diese Herrlichkeit um
keinen Preis antasten möchten, sind wir doch vielleicht oft
außerstande, sie zu erfassen, und mißverstehen ihre Art oder
die Form, die sie annimmt.
Der Sohn Gottes kam in die Welt als das vollkommenste Ge=
genteil zu dem, der noch kommen wird und über den sich die
ganze Welt verwundern wird. Wie Er Selbst sagt: „Ich bin in
dem Namen meines Vaters gekommen und ihr nehmet mich
nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt,
den werdet ihr aufnehmen" (Joh 5, 43). Und im Einklang hier=
mit wird Er, wenn Sein Leben bedroht wird, nicht gleich ein
Wunder in den Augen der Welt, sondern gerade das Gegenteil.
„Er machte sich selbst zu nichts". Er wollte nichts und niemand
sein. Er schlug es ein für allemal aus, ein Wunder in den Augen
der Menschen zu sein — in herrlichem und erhabenem Gegen=
satz zu dem, „der sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt
oder ein Gegenstand der Verehrung ist, daß er sich in den
Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, daß er Gott sei";
der da „macht, daß die Erde und die auf ihr wohnen das erste
Tier anbeten, dessen Todeswunde geheilt wurde — und daß
162
alle, die Kleinen und die Großen, . . . sich ein Malzeichen geben
an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn, und daß niemand
kaufen oder verkaufen kann, als nur der, welcher das Mal=
zeichen hat, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Na=
mens" (2. Thess 2; Offb 13).
Der Sohn Gottes bildete den vollkommensten Gegensatz zu all
diesem. Er kam in Seines Vaters Namen und nicht in Seinem
Eigenen. Er hatte Leben in Sich Selbst. Er war Dem gleich, von
Dem geschrieben steht: „Der allein Unsterblichkeit hat", aber
Er verbarg diesen Glanz der göttlichen Herrlichkeit unter der
Gestalt eines Menschen, der sein Leben mit den gewöhnlich=
sten Mitteln zu schützen suchte. Wie wunderbar ist das: O
hätten wir nur Herzen, die mehr mit Anbetung erfüllt wären!
Der andere, der „in seinem eigenen Namen" kommen wird,
mag Zeichen und Wunder tun, so daß er selbst Feuer vom
Himmel herabkommen läßt vor den Menschen, ja, er mag zur
Verwunderung aller die ganze Gewalt des ersten Tieres aus=
üben; aber der Sohn Gottes flieht nach Ägypten!
Ist unser geistliches Verständnis so schwach, daß wir dies nicht
erkennen können? Miiß die Betrachtung der so verhüllten
Herrlichkeit uns geradezu aufgedrängt werden? Wenn es so
ist, dann läßt der Herr Sich in Gnaden auch dazu herab. Denn
unter diesem Schleier lag eine Herrlichkeit verborgen, die,
wenn es ihr gefallen hätte, die Feinde sofort, gleich den Flam=
men des chaldäischen Ofens, vernichtet hätte. Denn zuletzt, als
die Stunde gekommen war, und die Mächte der Finsternis
„ihre Stunde" haben sollten, wichen die Diener dieser Mächte
angesichts jener Herrlichkeit zurück und fielen zu Boden. Das
zeigt uns, daß Jesus ein durchaus freiwilliger Gefangener war,
wie Er später ein freiwilliges Opfer wurde*).
*) Wenn ich bedenke, wer Er war; der Same des Weibes, der Sohn Gottes,
geoffenbart im Fleische; wenn ich ferner bedenke, daß der Tod, in welcher Ge=
stalt er auch an Ihn herantreten mochte, keinen Anspruch an Ihn hatte, so kann
ich keinem anderen Gedanken Raum geben. Betrachtet in dem von Ihm ange=
nommenen Fleisch und Blut, hatte der Tod kein Anrecht an Ihn, weil keine
Sünde in Ihm war; betrachtet in Seiner vollen Person, konnte der Tod Ihn nicht
antasten, es sei denn, daß Er Sich ihm unter dem ewigen Bunde freiwillig unter=
warf. Die Seele weist deshalb den Gedanken, daß Er in dem gewöhnlichen Sinn
des Wortes Sein Leben gerettet habe, entschieden zurück.
163
Werfen wir in Verbindung hiermit einen Blick auf Ihn bei der
Gelegenheit in Mt 12, die ich bereits erwähnt habe. Fürchtete
der Herr etwa in jenem Augenblick den Zorn der Pharisäer, und
fühlte Er Sich wie jemand, der für die Sicherheit seines eigenen
Lebens Sorge tragen muß? Sicherlich nicht. Er verfolgte ohne
Zögern Seinen schönen und köstlichen Pfad als Diener, nicht
um Sich in der Welt einen ehrenvollen Namen zu machen, son=
dem um durch seine Erniedrigung und Seinen Tod einen Na=
men zu empfangen, dem die Heiden vertrauen und, an welchen
glaubend, Sünder errettet werden können (Phil 2).
Betrachten wir Ihn bei einer anderen Gelegenheit, als das
Schwert des Herodes Ihn ein zweites Mal bedrohte (Lk 13). Mit
welch einer Würde nahm der Herr diese Drohung auf! Mochte
der König noch so listig sein, mochte er die Macht eines Tyran=
nen mit der Schlauheit eines Fuchses vereinigen, Er Selbst
mußte und wollte Seinen vorgenommenen Weg gehen, das
Ihm übertragene Werk tun und dann „vollendet werden";
und diese Seine Vollendung, von der Er hier spricht, sollte, wie
wir wissen, nicht dadurch erreicht werden, daß Herodes oder
die Juden die Oberhand über Ihn gewannen, sondern durch die
Dahingabe Seiner Selbst, um als Anführer unserer Errettung
durch Leiden vollkommen gemacht zu werden. Bei derselben
Gelegenheit erklärt Er, daß, wenn Er auch als Prophet in Jeru=
salem sterben müsse, dies doch deshalb geschehe, damit Jeru=
salem das Maß seiner Sünden voll mache. War Er doch die
ganze Zeit Jerusalems Gott, Der die Stadt Jahrhunderte lang in
geduldiger Liebe getragen und Sich mit ihr beschäftigt hatte
und sie nun bald dem Gericht der Verwüstung übergeben würde
(V. 31-35).
Ich wiederhole noch einmal: Welche Herrlichkeiten liegen hier
unter der niedrigen Gestalt Dessen verborgen, Der mit dem
Zorn eines Königs bedroht war und zugleich den Spott und die
Feindschaft Seines Volkes erfahren mußte!
Ich möchte indes noch bei einigen Fällen verweilen, die noch
bemerkenswerter sind. Betrachten wir Jesus in der ersten Zeit
Seiner Wirksamkeit in Seiner eigenen Stadt. Derselbe erhabene
Grundsatz tritt hier vor unsere Augen; denn meines Erachtens
164
war der Berg, auf dem Nazareth erbaut war, kein dem Leben
Jesu gefährlicher Ort, sondern bedeutete für Ihn genau das=
selbe wie die Zinne des Tempels in Jerusalem (Lk 4, 9. 29). Der
Teufel dachte gar nicht daran, daß der Herr, wenn Er Sich von
jener Zinne hinabstürzte, sterben würde; durchaus nicht. Er
versuchte Ihn (wie er das Weib im Garten versucht hatte), Sich
Selbst zu verherrlichen und Sich, wenn ich es so nennen darf,
und wie der Teufel zu Eva gesagt hatte, Gott gleich zu machen.
Er trachtete, die Quellen in Christus zu verderben, wie er sie
in Adam verdorben hatte, und suchte den „Hochmut des Le=
bens" als eine der Hauptriebfedern Seines Handelns in Ihn zu
pflanzen. Aber Jesus bewahrte die „Knechtsgestalt". Er wollte
Sich nicht hinabstürzen, sondern erinnerte Sich im Gehorsam
an das Wort: „Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen".
Gerade so war es auf dem Berge von Nazareth. Der Berg war
nicht höher als die Zinne des Tempels. Jesus war an dem einen
Ort nicht mehr in Gefahr als an dem anderen. Er wäre am Fuß
des Berges ebenso unverletzt angekommen wie am Fuße des
Tempels. Aber wie wäre dann die Schrift erfüllt worden, daß
Er nicht gekommen sei, Seine Eigene Ehre zu suchen? Darum,
„durch ihre Mitte hindurchgehend, ging er hinweg". Er zog
Sich unbeachtet und unerkannt zurück, blieb Seiner Knechts=
gestalt treu und offenbarte Seine Gnade.
Es wäre sicher eine Vermessenheit, zu behaupten, daß Er dies
getan habe, um Sein Leben zu retten. Der Gedanke steht in
unmittelbarem Widerspruch zu der Herrlichkeit Seiner Person
als „Gott, geoffenbart im Fleische". Jesus wurde in den Tagen
Seines Fleisches wieder und wieder erquickt, wenn der Glaube
Seine Herrlichkeit unter dem sie verhüllenden Schleier entdek=
ken konnte. Wenn der Sohn Davids, der Sohn Gottes, der
Jehova Israels, der Schöpfer der Welt in der niedrigen Gestalt
des Jesus von Nazareth durch Glauben erkannt wurde, dann
frohlockte Jesus im Geiste. Und so dürfen wir audi heute
sagen, wo die Knechtsgestalt sich wiederum unseren Gedanken
darstellt, daß es Sein Herz erfreut, wenn die Heiligen Seine
hinter der Wolke verborgene Herrlichkeit entdecken.
165
Die „Flucht" nach Ägypten in den frühen Tagen des „Kindleins" von Bethlehem ist eine sehr beachtenswerte und schöne
Begebenheit. Wir erinnern uns, daß zur Zeit des Mose Israel
in jenem Lande einem in Flammen stehenden Dornbusch glich,
daß aber infolge des Mitgefühls und der Gegenwart des Gottes
ihrer Väter der Busch nicht verzehrt wurde. Jehova stand über
dem Pharao; und wenn der Pharao das Volk vernichten wollte,
so erhielt Jehova es und ließ es sich mehren mitten in dem
Lande des Pharao. Dies geschah nicht „durch die Macht und
nicht durch die Kraft", denn Israel war damals nicht mehr als
ein Dornbusch, der durch einen Funken hätte verzehrt werden
können. Aber der Sohn Gottes war in dem Busch; das war das
Geheimnis. Er war mit Israel in Ägypten, wie Er später mit
Sadrach, Mesach und Abednego im Feuerofen war; und obgleich der Busch brannte und der Ofen siebenmal mehr geheizt
wurde als gewöhnlich, kam doch der Geruch des Feuers nicht
an sie.
Es war wirklich ein „großes Gesicht", so daß Mose hinzutrat,
um es anzusehen. Auch wir können heute im Geiste Mose uns
nahen und denselben Ort betreten. Wir können 2. Mo 1—15
lesen und dann einen Blick auf jenes wunderbare Gesicht zurückwerfen und uns fragen, warum der Busch brannte und doch
nicht verzehrt wurde; ja, wir können uns überzeugen, daß der
arme Dornbusch Israel inmitten des ägyptischen Feuerofens
unversehrt blieb, weil der Sohn Gottes gegenwärtig war. Mag
auch das Feuer heißer und heißer gemacht werden, es wird nie
die Oberhand gewinnen. In welcher Weise verließ Israel schließlich Ägypten? Ebenso wie in späteren Tagen die drei Jünglinge
den Feuerofen Nebukadnezars verließen: Im Triumph. Nichts
war verbrannt, als nur die Bande, mit denen man sie gebunden
hatte. Der Pharao mit dem ganzen Heer der Ägypter kam um
im Roten Meer; aber Israel zog aus unter dem Banner des
Herrn.
„Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen", war wahr in
bezug auf Jesus und auf Israel. Sowohl Jesus als auch Israel
waren zu ihrer Zeit brennende, aber nicht verzehrte Büsche; dem
Anschein und dem menschlichen Urteil nach schwach, aber
dennoch unantastbar. Beide erfuhren in dieser ägyptischen
Welt Kummer und Schmerz, aber das Leben beider konnte
166
nicht angetastet werden, und zwar deshalb nicht, weil Israel das
Mitgefühl des Sohnes Gottes genoß, und weil Jesus die Person war, die Er war: Gott, geoffenbart im Fleische.
Geschah denn die Flucht nach Ägypten, um das Leben des
„Kindleins" zu retten? Verließ Israel Ägypten, um sein Leben
zu retten? Gingen Sadrach und seine Genossen aus dem chaldäischen Ofen, um ihr Leben zu retten? Israels Leben war in
Ägypten ebenso sicher wie außerhalb des Landes. Die jüdischen
Jünglinge waren in dem Ofen ebensowenig dem Verbrennen
ausgesetzt wie draußen. Israel verließ Ägypten, um die Herrlichkeit Jehovas, ihres Erlösers, anzuschauen, und ebenso war
es mit den drei israelitischen Jünglingen, und in derselben
Weise und zu dem gleichen Zweck wurde das „Kindlein" dem
Zorn des Königs Herodes entrissen und aus Judäa weggebracht.
Der Sohn Gottes hatte Knechtsgestalt angenommen. Er war
nicht in Seinem Eigenen Namen, sondern im Namen Seines
Vaters gekommen. Er hatte Sich Seiner Herrlichkeit entäußert
und Sich Selbst zu nichts gemacht, und dann begann Er, in der
Verwirklichung dieser Knechtsgestalt, Seine Laufbahn, während Er noch ein „Kindlein" war. In allen Erniedrigungen war
Er gehorsam, selbst bis zur Flucht nach Ägypten, die scheinbar
unternommen wurde, um Sein Leben vor der Rache des Königs
in Sicherheit zu bringen, in Wirklichkeit aber zur Verherrlichung Dessen, Der Ihn gesandt hatte.
Wir müssen wirklich darüber wachen, daß wir diese Beispiele
von Seiner vollkommenen Knechtsgestalt nicht zur Herabsetzung Seiner Person mißbrauchen. Er war unantastbar. Ehe
Seine Stunde gekommen und Er bereit war, Sich hinzugeben,
mochten Oberste mit ihren Fünfzig Ihn immer wieder zu greifen suchen; aber alles war umsonst. Er entging ihrer Hand und
„erniedrigte sich selbst", indem Er bei einer Gelegenheit nach
„Ägypten", bei einer anderen „in eine andere Stadt" ging, Er,
der verachtete, verworfene Menschensohn. — Sollten wir dieses
Geheimnis der Unterwürfigkeit, der freiwilligen Unterwürfigkeit des Sohnes Gottes in leichtfertiger Weise behandeln, Geliebte? Dürfen wir den Schleier unehrerbietig lüften? Und doch,
wenn die eben angeführten Beispiele nebst anderen ähnlichen
dazu benutzt werden, die Sterblichkeit des Fleisches und Blutes,
167
das der Herr annahm, zu beweisen, dann ziehen wir den Schleier mit unehrerbietiger und rauher Hand fort. Ja, mehr noch,
wir begehen ein doppeltes Unrecht an Ihm. Wir würdigen Seine
Person herab aufgrund von Tatsachen, die gerade Seine schrankenlose Gnade und Liebe zu uns und Seine hingebende Unterwerfung unter Gott offenbaren.
Ach, man behauptet heute, daß die Natur oder irgendeine Gewalttätigkeit oder etwas anderes den Sieg über Fleisch und Blut
des Herrn hätte davon tragen können, um ebenso wie bei uns
Seinen Tod zu verursachen. Aber, möchte ich fragen, verbindet
nicht ein solcher Gedanke den Herrn Jesus Christus mit der
Sünde? Man mag dagegen einwenden, so sei es nicht gemeint.
Vielleicht nicht, aber in Wirklichkeit ist es doch so. Denn in der
göttlich inspirierten Geschichte von Fleisch und Blut — und nur
nach dieser können wir uns richten — kam der Tod nur infolge
der Sünde in die Welt. Wenn das Fleisch und Blut in der Person
unseres Herrn aus irgendeinem anderen Grund als der freiwilligen Hingabe Seiner Selbst dem Tode unterworfen oder
zufolge ihrer Natur und ihres Zustandes zu sterben fähig gewesen wäre, hätten sie dadurch doch nur ihre Verbindung mit
der Sünde kundgegeben. Und wenn das so ist, kann dann Christus in Seiner Fülle vor der Seele stehen? Diese Behauptung
behandelt Ihn, als ob Er dem Tode ausgesetzt gewesen wäre.
Demnach wäre Er in einer Weise dem Tode unterworfen gewesen, wie Er es nie hätte auf Sich nehmen können, als Er die
Gestalt eines Knechtes annahm. Aber gottlob! Er war nichts
anderem unterworfen, als was Er, diesem Charakter gemäß,
freiwillig auf Sich nahm.
Solche Behauptungen geben Anlaß zu der Befürchtung, daß
die „Pforten des Hades" sich wieder gegen den „Felsen" der
Versammlung, den Sohn Gottes erheben. Wenn solche Behauptungen unter dem Vorwand aufgestellt werden, daß sie nur
dazu dienen sollen, die wahrhaftige Menschheit des Herrn
deutlicher hervorzuheben, dann gibt gerade diese Behauptung
Anlaß zu noch stärkerem Verdacht. Denn ich frage: Ist es nur
die Menschheit, die uns in der Person Christi entgegentritt?
Gibt es hier nicht unermeßlich viel mehr? Sehen wir nicht Gott
Selbst „geoffenbart im Fleisch"? Christus könnte für mich,
168
einen Sünder, kein Heiland sein, wenn Er nicht der Genosse
Jehovas gewesen wäre (Sach 13, 7). Jedes Geschöpf ist alles
das, was es darzubringen vermag, schuldig. Nur der Eine, Der
es nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu sein, konnte
Knechtsgestalt annehmen, denn jeder andere ist schon Knecht,
wie ich bereits gesagt habe. Kein Geschöpf kann mehr tun, als
es zu tun schuldig ist; denn jeder ist bereits für sich selbst
Gehorsam schuldig. Niemand ist fähig, für den Menschen
Bürge zu sein, außer Ihm, Der ohne Anmaßung auf Gleichheit
mit Gott Anspruch erheben kann und demzufolge unabhängig
ist.
Die Menschheit als solche war fähig zu sündigen. Adam hat
es bewiesen; denn er sündigte. Wir können mit mehr Gewißheit sagen, daß er zu sündigen, als daß er zu sterben fähig war.
Die Geschichte zeigt uns das Erstere, verbietet uns aber das
Zweite festzustellen, indem sie uns mitteilt, daß der Tod allein
durch die Sünde in die Welt gekommen ist. Von Natur gab es
eine Möglichkeit zu sündigen; aber in betreff der Möglichkeit
des Sterbens wird uns nichts gesagt.
Wenn in diesem Augenblick jemand unter dem Vorwande, die
wahrhaftige Menschheit Christi deutlich machen zu wollen,
betreffs Jesu die Möglichkeit oder Fähigkeit des Sündigens
feststellte, was würde das Herz einem solchen erwidern? Wir
wollen jedem, der Jesum kennt, die Antwort selber überlassen.
Doch von einer Sache können wir überzeugt sein, nämlich daß
der Teufel sich hinter allen Bestrebungen verbirgt, welche gegen den Felsen der Versammlung, gegen die Person des Sohnes
Gottes unternommen werden (Mt 16, 18). Denn Sein Werk,
Sein Zeugnis, Sein Leiden, ja selbst Sein Tod würde uns durchaus nichts nützen, wenn Er nicht Gott wäre. Seine Person ist die
Kraft Seines Opfers; und in diesem Sinne ist Seine Person
unser Felsen. Es war jenes die Gottheit Seiner Person betreffende Bekenntnis, welches, abgelegt durch jemanden, der mit
Seinem Werke und Seinem Opfer noch unbekannt war, dem
Sohne Gottes Anleitung gab, den Felsen erkennen zu lassen,
auf welchen die Versammlung gebaut werden sollte, und zugleich die Wahrheit jenes Geheimnisses ans Licht zu stellen,
gegen welches die Pforten der Hölle, die Macht und List des
Teufels ihre äußersten Anstrengungen unternehmen werden.
169
Der Teufel trachtet allezeit, die Herrlichkeit des Sohnes Gottes
zu verringern. Und über nichts wacht der Vater mit solcher
Eifersucht, wie über die Ehre Seines Sohnes. Er widersteht
allem, was den Wert der Person desselben vermindern könnte.
Wenn wir in Joh 5 auf die an die Juden gerichteten Worte des
Herrn lauschen, so entdecken wir alsbald das Geheimnis, daß,
wiewohl der Sohn Sich Selbst erniedrigt hat und, wie Er sagt,
„nichts aus sich selber tun kann", der Vater dennoch darüber
wacht, daß Derselbe dadurch nicht entehrt oder in irgendeiner
Weise geringgeschätzt werde. Er wacht über die Rechte, die
vollen göttlichen Rechte des Sohnes, indem wir die feierlichen
Aussprüche hören: „Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den
Vater nicht, der ihn gesandt hat".
Sicher müssen wir bei unsern Unterweisungen mit den Unwissenden Geduld haben; das ist der göttliche Weg, der Weg des
Geistes der Gnade. Welche Geduld und Sanftmut zeigte der
Herr! „So lange bin ich bei euch, und ihr habt mich nicht erkannt, Philippus?" Aber nimmer dürfen wir zugeben, daß die
Person Christi selbst in der unscheinbarsten Weise geringgeschätzt wird; denn das ist keineswegs der Weg Gottes. Die
Schriften des Johannes beweisen uns dieses; sie bilden die am
meisten ehrfurchtgebietenden und zugleich die lieblichsten Teile
der Heiligen Schrift, weil sie sich mit der Herrlichkeit der Person
des Sohnes beschäftigen. In meinem Auge aber zeigen sie
wenig oder gar keine Barmherzigkeit gegenüber denen, die
Seine Ehre zu besudeln trachten oder treulos darüber wachen.
Man lasse mich hier noch hinzufügen, daß andere in der Geschichte unsers geliebten Herrn aufgezeichnete Erscheinungen,
wie z. B. Hunger, Durst, Müdigkeit usw. uns zu dem Gedanken
an die Sterblichkeit Seines Fleisches und Blutes durchaus keinen
Anlaß bieten. Jesus war hungrig und müde bei dem Brunnen
Samarias. Er schlief im Schiff nach einem Tage anstrengender
Arbeit. Doch mochte Er auch die Dornen und Disteln, den
Schmerz und den Schweiß des Angesichts dieser Erde kennen,
so kannte Er doch nur alles, weil Er alles auf Sich nahm als Der,
Der in unaussprechlicher Gnade „Knechtsgestalt" angenommen
hatte. Mochte bei einer gewissen Gelegenheit der „Mann der
Schmerzen" in dem Alter eines Fünfzigers betrachtet werden
(Joh 8, 57), so zeigt mir dieses, in welcher Weise Er zu unserm
170
Segen und zur Ehre Seines Vaters die Schmerzen und die
Mühen des Dienstes ertrug; und aus diesen Zügen erkenne ich
Ihn, Dessen „Aussehen mehr als irgendeines Mannes entstellt
war" (Jes 52, 14), weil Er um unsertwillen litt und den Widerspruch der Sünder wider Sich erduldete, keineswegs aber weil
die dem Alter eigentümliche Neigung zur Schwäche die Spuren
der Schmerzen und der Erschöpfung zur Schau stellte, als ob
möglicherweise eine solche Neigung Ihm hätte ankleben können.
Die Juden werden beständig beschuldigt, Seine Mörder gewesen zu sein, und zwar mit dem vollsten Rechte (Apg 2, 36; 3,
-15; 7, 52). Wir alle befinden uns unter demselben Urteil. Das
Verbrechen des Mordes liegt auch vor unserer Tür. Im vollen
richterlichen Sinne waren sie Seine „Überlieferer und Mörder".
Es mag dem Verstände seltsam erscheinen; aber was wir in
dieser Beziehung lesen, ist für den Glauben vollkommen wahr.
Der Verstand erblickt nichts als Widersprüche in den Worten:
„Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, auf
daß ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern
ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt es zu lassen, und
habe Gewalt, es wieder zu nehmen. Dieses Gebot habe ich
von meinem Vater empfangen" (Joh 10, 17. 18). Der Herr war
frei und dennoch unter einem Gebot, Das ist sicher höchst
wunderlich für den Verstand und den Unglauben, aber völlig
klar für das Urteil des Glaubens.
Der Sohn Gottes starb an dem Holz, woran die Hand der gottlosen Menschen Ihn genagelt, und zwar in der Weise, wie Gott
in Seiner Gnade und Seinem ewigen Ratschlüsse über Ihn verfügt hatte. Dort starb Er; und Er starb, weil Er Sich dort befand.
Das Lamm ward geschlachtet. Wer möchte es wagen, diesen
Worten zu widersprechen? Böse Menschen haben Ihn getötet;
und Gott bestimmte Ihn zu Seinem eigenen Lamme für den
Altar. Wer könnte ein solch notwendiges und kostbares Geheimnis antasten wollen? Und dennoch läßt das Lamm Sein
Leben von Sich Selbst. Sein Tod war nicht eine Folge der Erschöpfung und des Hinsiechens unter den furchtbaren Leiden
des Kreuzes; Er gab Sein Leben freiwillig hin. Zum Beweise,
daß Er Sich in dem vollen Besitze dessen befand, was Er übergab, „rief Jesus mit starker Stimme", und „übergab den Geist".
171
Die Geschichte dieses Augenblicks gibt keiner andern Meinung
Raum, und ebensowenig, wie ich beifügen möchte, die anbetende Liebe der Heiligen. Pilatus verwunderte sich, daß Er
bereits gestorben war; er glaubte es nicht und mußte davon
überzeugt werden. Unmöglich konnte das Leben in solch' kurzer Zeit am Kreuze vernichtet sein; und darum mußten die
Beine der beiden Schacher gebrochen werden. Doch Jesus war
bereits gestorben, welshalb Pilatus einen Zeugen herbeirief,
bevor er dieser Sache Glauben schenkte. Die von uns hervorgehobene Wahrheit findet also in der buchstäblichen Geschichte
dieser Tatsache selbst ihre deutliche Erklärung. Und unsere
Herzen, wenn anders geleitet durch die Gnade, werden Gott
preisen für solch ein Gemälde in betreff Seines Lammes und
unsers sterbenden, gekreuzigten und getöteten Heilandes. Vernichten wir die Erklärung, daß Er das geschlachtete Lamm war,
oder bringen wir das Lied im Himmel, welches dieses Geheimnis meldet, zum Schweigen, wenn wir sagen, daß das geschlachtete Lamm Sein Leben von Sich Selbst gab? Die durch den Heiligen Geist aufgezeichnete Geschichte von Golgatha predigt uns
diese Wahrheit. Jesus war frei und dennoch unterworfen. Der
Glaube begreift dieses. Als die Stunde gekommen war, lesen
wir in Übereinstimmung mit diesem Geheimnis die Worte:
„Jesus neigte das Haupt und übergab den Geist". Er kannte
das empfangene Gebot; und dennoch gab er Sein Leben von
Sich Selbst. Er war gehorsam bis zum Tode, und dennoch gab Er
Sein Leben freiwillig hin. Der Glaube erkennt, daß darin allein
das wahrhaftige und vollkommene Geheimnis liegt. Jesus starb
nach dem Rate des göttlichen Bundes, wozu Er als der „Genosse" des Gottes der Heerscharen, Sich freiwillig übergab.
Jedoch verbarg der Sohn Gottes, wie wir es bereits zur Ehre
Seines Namens anmerkten, auf Erden stets Seine Majestät —
die „Gestalt Gottes" unter der „Knechtsgestalt". Seine Herrlichkeit war in allen Teilen der Herrschaft Gottes anerkannt
worden. Der Teufel bekannte Seine Macht, die Leiber und die
Seelen der Menschen taten es; Tod und Grab erkannte diese
Macht, und ebenso die Tiere des Feldes, die Fische im Meere,
der Wind und die Wellen, das Korn und der Wein. Ich darf
sagen, daß Jesus Selbst der Einzige war, Der Seine Macht und
Herrlichkeit nicht zu Seinen Gunsten gebrauchte; denn es lag
172
in Seinem Wege, sie zu verhüllen. Er war der „Herr der Ernte";
jedoch trat Er auf als einer der Arbeiter. Er war der Gott des
Tempels, der Herr des Sabbaths; aber Er unterwarf sich den
Herausforderungen und Anfällen einer ungläubigen Welt (Mt
9, 12). In dieser Weise verbarg Er immer wieder Seine Majestät hinter dem Schleier, oder hinter der Wolke und handelte
demgemäß, wie bereits bemerkt, in jenen Umständen, wenn
Sein Leben bedroht war. Ja, man kann sagen, daß Er Seine
Majestät beständig unter den geringsten Formen verbarg. Oft
wird Er durch die Gunst des gemeinen Volkes beschirmt (Mk
n , 32; 12, 12; Lk 20, X9). Oft zieht Er Sich zurück, teils in
gewöhnlicher, teils in wunderbarer Weise (Lk 4, 30; Joh 8, 59;
M}, 39). Oft wird der Feind zurückgehalten, die Hand an Ihn
zu legen, weil Seine Stunde noch nicht gekommen war (Joh 7,
30; 8, 20). Und bei einer besondern, bereits erwähnten Gelegenheit, entzieht eine Flucht nach Ägypten Ihn der Rache eines
Königs, der nach Seinem Leben trachtete.
In diesem allen sehe ich von Anfang bis zu Ende die Tatsache,
daß der Herr der Herrlichkeit sich gleich jemandem verbirgt,
der nicht in seinem eigenen, sondern in dem Namen eines
andern gekommen war. Und dennoch war Er der „Herr der
Herrlichkeit" und der „Fürst des Lebens". Er war, wie bereits
bemerkt, freiwillig ein Gefangener, und ebenso war Er auch
schließlich ein freiwilliges Opfer. „Er gab Seine Seele zum
Lösegeld für viele".
In früheren Zeiten war die Bundeslade des Herrn in der Hand
des Feindes; sie war durch die Philister in der Schlacht bei
Ebeneser in Besitz genommen worden. Damals „gab er in die
Gefangenschaft seine Kraft, und seine Herrlichkeit in die
Hand des Bedrängers" (Ps 78, 61). Dennoch aber war sie unantastbar. Dem Scheine nach war sie ein schwaches, aus Gold
und Holz verfertigtes Ding. Aber ihre Gegenwart beunruhigte
die Unbeschnittenen — ihre Götzen, ihre Leute, ihr Land. Sie
befand sich unbeschirmt und allein in der Mitte der Feinde,
und zwar während der ersten Glut und dem Übermut des
Sieges. Warum zertrümmerte man sie nicht? Hätte man sie
gegen den Felsen gerannt, so wäre sie in Stücke zersprungen.
Sie schien gänzlich der Willkür der Feinde preisgegeben zu sein.
173
Warum entledigten sich diese ihrer nicht? Einfach, weil sie es
nicht vermochten. Das ist die Antwort. Die Bundeslade inmitten der Philister war gleich jenem brennenden, aber unverzehrbaren Dornbusch. Mochte sie dem Anscheine nach von
dem Willen der Unbeschnittenen abhängig sein; aber in Wirklichkeit durfte sie nicht angerührt werden. Die Philister konnten sie von Asdod nach Gath und von Gath nach Ekron senden,
aber keine Hand durfte sie anrühren oder verderben (Siehe
1. Sam 4—6).
Ebenso konnte die wahre Arche oder Bundeslade, der Sohn
Gottes im Fleische, für kurze Zeit den Unbeschnittenen zum
Spielballe dienen. Annas mochte Ihn zu Kajaphas, Pilatus zu
Herodes senden. Die Menge mochte Ihn dem Pilatus vorführen,
und Pilatus Ihn wieder der Menge überliefern; dennoch war
Sein Leben außer ihrem Bereich. Er war der Sohn Gottes und,
ob auch im Fleische geoffenbart, dennoch der Sohn von Ewigkeit her. Welche Leiden Er auch erduldet, welchen Grad von
Müdigkeit, Hunger und Durst Er auch ertragen hat, so diente
doch alles nur zur Darstellung der „Knechtsgestalt", die Er
angenommen hatte. Aber Er war und blieb der Sohn, der das
„Leben in sich selber hatte", die unantastbare Bundeslade, der
Dornbusch, Der selbst inmitten der wütenden Flammen des
ganzen Hasses der Welt unverzehrt blieb. Hierin besteht ohne
Zweifel das Geheimnis.
Doch während ich dieses niederschreibe, während ich diese
Dinge mit inniger Herzensbegierde und, wie ich hoffe, mit
einigem Nutzen erwäge, wünsche ich mit großem Verlangen das
zu fühlen, was ein wahrer Israelit an jenem Tage gefühlt haben
mag, als die Bundeslade Gottes wieder aus dem Lande der
Philister nach Hause gebracht wurde. Sicher wird er mit Anbetung sich gefreut und wenn er auch in einiger Entfernung
von dem Schauplatze lebte, mit Sorgfalt sich überzeugt haben,
ob das große Ereignis denn wirklich stattgefunden habe. Als
Israelit mußte es ihm, welchem Stamme er auch angehören
mochte, von äußerster Wichtigkeit sein, daß die Bundeslade in
Sicherheit war, daß die Unbeschnittenen sie nicht mehr im Besitz hatten und sie nicht mehr hierhin und dorthin in ihren
Städten umhersenden konnten. Doch war er in dieser Hinsicht
174
befriedigt, dann hatte er zu wachen, daß er selbst die Bundeslade nicht unehrerbietig anrühre oder beschaue, und sich nicht
gegen sie versündige gleich jenen Beth-Semitern, selbst nachdem die Lade von den Philistern zurückgekehrt war.
Ich bin davon überzeugt, daß wir wohl daran tun werden, daß
wir keinen Gedanken der oben bezeichneten Art über den
sterblichen Zustand des Leibes unsers Herrn Raum geben.
Solche Vernünfteleien stehen auf gleichem Boden mit der Behauptung, die der Bundeslade unter den Unbeschnittenen oder
Philistern zu Teil wurde. Wir müssen den Irrtum solcher Gedanken ebensowohl als den darin kundgegebenen Mangel an
Ehrfurcht anerkennen. Spekulationen des menschlichen Verstandes sind nicht nach dem Geiste oder der Weisheit Gottes.
Der Leib des Herrn war ein Tempel, und es steht geschrieben:
„Mein Heiligtum sollt ihr fürchten: Ich bin der Herr!"
3 .
„Ich werde mein Vertrauen auf Ihn setzen".
Welch' ein feierlicher Moment mag es für die Umstehenden gewesen sein, als der Herr Jesus auf dem See Genezareth den
Wind und die Wellen zum Schweigen brachte! Mit welchem
Staunen werden sie dieses Wunder Seiner Allmacht angeschaut
haben? Und so wird es auch jetzt noch sein, wenn wir anders
Herzen besitzen, welche fähig sind, sich der Herrlichkeit Christi
erfreuen zu können. Der Mensch mag über die Gesetze der
Natur und über den gewöhnlichen Lauf der Dinge viele Worte
machen; aber sicher ist es das erste Gesetz der Natur, daß sie
ihrem Schöpfer Gehorsam leistet. Und hier in Mk 4 erfuhr das
galiläische Meer in einem Nu die Gegenwart Dessen, Der nach
Seinem Wohlgefallen den Lauf der Natur verändert, und Dessen mächtiger Stimme die Natur gehorcht.
Das war Jesus-Jehova. Das war der Gott, Dem in früheren
Tagen das Rote Meer und der Jordan gehorchten. „Was war
dir, du Meer, daß du flohest? du Jordan, daß du dich zurückwandtest? ihr Berge, daß ihr hüpftet, wie die Widder ?ihr Hügel,
wie junge Schafe? Erbebe vor dem Herrn, o Erde, vor dem Gott
Jakobs" (Ps 114, 5—7)! Das ist die Antwort, mögen wir lauschen auf die Stimme des Roten Meeres in den Tagen Moses,
175
oder auf die Stimme des galiläischen Meeres in den Tagen des
Evangeliums. Die Gegenwart Gottes offenbart uns das Geheimnis. „Er sprach's, und es war; er befahl, und es stand"
(Ps 33,9)-'
Als die Sonne und der Mond am Himmel stillstanden, hörte
der Herr, wie wir lesen, auf die Stimme eines Menschen. Josua
redete damals mit dem Herrn; und der Herr stritt für Israel.
Sicher war dieses Ereignis ein großes Wunder. Der Heilige
Geist, Der es aufgezeichnet hat, verleiht ihm diesen Charakter,
indem Er sagt: „Ist dieses nicht geschrieben im Buche Jaschar?
Und die Sonne blieb stehen mitten am Himmel und eilte nicht
zum Untergänge beinahe einen vollen Tag. Und es war kein
Tag vor ihm und nach ihm, daß Jehova hörte auf die Stimme
eines Menschen; denn Jehova stritt für Israel" (Jos 10, 15—14).
Jesus handelt indes unmittelbar und in eigener Kraft, und es
wird nicht viel Aufhebens davon gemacht. Die Überraschung,
die sich der Jünger bemächtigte, war die Frucht ihrer unvorbereiteten und ungläubigen Herzen, welche die Herrlichkeit des
Gottes Israels nicht kannten. Aber durch die Unterweisung des
Heiligen Geistes, Der von dem, was Christi ist, empfängt, um
es uns zu verkündigen, sind wir in den Stand gesetzt, sowohl
bei dem gespaltenen Roten Meere, dessen Wasser zurückwichen, als auch bei dem gestillten See Genezareth die Herrlichkeit besser verstehen zu können.
Jedoch gibt es am Roten Meere betreffs Jesu noch mehr anzuschauen, als die Zerteilung der Wasser. Die Wolke, die den
Kindern Israel erschien, sobald sie durch das Blut aus Ägypten
erlöst waren, und die ihnen durch die Wüste das Geleit gab,
wurde die Führerin des pilgernden Heeres. Doch zugleich war
sie der Schleier oder der Vorhang der Majestät. In solcher
Weise befand sich das herrliche Geheimnis in der Mitte Israels.
Gewöhnlich war die Herrlichkeit verhüllt; zuweilen wurde sie
geoffenbart; jedoch stets war sie anwesend. Die Wolke war die
Führerin und Genossin Israels; und in der Wolke war ihr Gott.
Er, der zwischen den Cherubim wohnte, zog vor Ephraim,
Manasse und Benjamin her durch die Wüste (Ps 80). Die Herrlichkeit Gottes wir in der Wolke zugunsten Israels und auch
befand sie sich an heiliger Stätte; und während sie auf diese
176
Weise in ihrer verhüllten und unscheinbaren Gestalt das Heer
geleitete, empfing sie die göttliche Ehre des Heiligtums.
Ebenso war es mit Jesu, Gott geoffenbart im Fleische. Gewöhnlich unter Knechtsgestalt verborgen, und nur zuweilen in göttlicher Macht und Gnade ins Licht tretend, war Er für den Glauben und die Anbetung der Heiligen allezeit Gott gleich. —
Als sich die Israeliten dem Roten Meere näherten, bedurften sie
der Beschirmung. Die Wolkensäule verlieh ihnen dieselbe in
Gnade. Sie nahm ihren Platz zwischen den Ägyptern und dem
fliehenden Heere ein; sie war Finsternis für die einen und Licht
für die andern, so daß sie während der ganzen Nacht sich einander nicht nähern konnten; und am folgenden Morgen
schaute der Herr aus der Wolkensäule auf das ägyptische Heer
und erschreckte es. Auf ähnliche Weise handelte der Herr Jesus
bei einer gewissen Gelegenheit. Er stellte sich zwischen Seine
Jünger und ihre Verfolger, indem Er sagte: „Suchet ihr mich,
so lasset diese gehen". Er beschirmte sie durch Seine Gegenwart. Und zugleich strahlte Seine Herrlichkeit durch die Wolke
zum Erschrecken der Schar der Feinde. „Jesus sagte zu ihnen:
Ich bins! Als Er nun zu ihnen sagte: Ich bin's! traten sie zurück
und fielen zu Boden". — Der Gott Israels handelte am Roten
Meere mit derselben Ruhe und Autorität, wie Jesus in dem
Garten Gethsemane (2. Mo 14; Joh 18). Die Götter der Ägypter beugten sich vor Ihm am Roten Meere; die Götter der Römer verehrten Ihn in Gethsemane; und „wiederum, wenn er
den Erstgeborenen in den Erdkreis einführt, sagt er: Und alle
Engel Gottes sollen ihn anbeten".
Doch wir gehen weiter. Im Laufe ihrer Geschichte mußten die
Kinder Israel ebensowohl gestraft, als sichergestellt, und ebensowohl gezüchtigt, als erlöst werden. Wir sehen dieses, sobald
wir das Rote Meer verlassen und die Wüste betreten; und dieselbe Herrlichkeit, die in der Wolkensäule verborgen ist, wird
diese göttliche Arbeit für sie verrichten. Zur Zeit des Manna,
zur Zeit der Kundschafter, in den Angelegenheiten Korahs, an
den Wassern von Meriba und bei andern Gelegenheiten reizte
Israel die Herrlichkeit des Herrn; und die Herrlichkeit wird als
ein Zeugnis des Zornes Gottes in der Wolke geschaut (Siehe
2. Mo 16; 4. Mo 14, 16. 20). Dasselbe finden wir in betreff
177
Jesu. Betrübt (gleich der Herrlichkeit in der Wolke) über die
Herzenshärtigkeit oder den Unglauben Seiner Jünger, gibt Er
ein Zeichen, ein Merkmal Seiner göttlichen Macht mit strafenden Worten. Man denke nur an den bereits oben erwähnten
Vorfall auf dem See Genezareth. Dort sagt Er zu Seinen Jüngern: „Warum seid ihr so furchtsam, ihr Kleingläubigen?" wie
Er noch soeben zu dem Winde und den Wellen gesagt hatte:
„Schweig, verstumme!" Und so macht Er es jedesmal, wenn
die Jünger unverständige und ungläubige Gedanken über Ihn
verraten. So sagt Er z. B. einmal zu Philippus in dem Schmerze
und dem Zorne der Wolke: „So lange bin ich bei euch, und
du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen, der
hat den Vater gesehen; und wie sagst du: Zeige uns den
Vater?" -
Wir sehen hier dasselbe Geheimnis. Oder leuchtete der Herr
nicht auch hier durch den Schleier zur Beschämung des Ungehorsams und des Unglaubens Israels? Hier zeigte sich dieselbe
Herrlichkeit wie jene, die in der Wolke zur Zeit des Manna und
bei andern Umständen gesehen wurde. Diese Offenbarungen
göttlicher Macht stehen zueinander in genauer Übereinstimmung. Die Wolke war die gewöhnliche Erscheinung; die darin
verborgene Herrlichkeit wurde dann und wann geoffenbart,
jedoch stets war sie anwesend. Der Führer und Gefährte des
Heeres war zugleich der Herr desselben. Und ist Jesus nicht
dieses alles? Die Herrlichkeit war der Gott Israels (Siehe Hes
43, 4; 44, 2); und Jesus von Nazareth war der Gott Israels
oder die Herrlichkeit (siehe Jes 6, 1; Joh 12, 41). Der Nazaräer
verbarg und offenbarte eine Herrlichkeit, die in ihrer wesentlichen Fülle ein „unvergängliches Licht" genannt wurde.
Moses verweigerte die Annahme der Herrlichkeit; doch Jesus
verbarg Seine Herrlichkeit. „Durch den Glauben weigerte sich
Moses, als er groß geworden war, Sohn der Tochter Pharao's
zu heißen". Sicher war dieses ein herrlicher Sieg über die Welt.
Wir lassen uns gern ehren; wir brüsten uns gern mit dem, was
wir sind; wir nehmen sogar gern mehr Ehre an, als wir berechtigt sind, wenn die Menschen sich darin täuschen lassen wollen.
Doch Moses erniedrigte sich am ägyptischen Hofe, und das war
ein glänzender Sieg des Glaubens über den Geist der Welt.
178
Aber Jesus tat mehr. Freilich hatte Er keine bei Hof im Dienste
stehende Personen in Seiner Umgebung, denn in Palästen war
Er ein Fremdling. Doch die Bewohner von Nazareth nahmen Ihn
an als „den Sohn des Zimmermanns"; und Er wollte es so. Die
Herrlichkeit der Herrlichkeiten, der Herr der Engel, der Schöpfer der Enden der Erde, der Gott des Himmels war unter dieser
niedrigen Gestalt verborgen und ließ Sich dieses alles Wohlgefallen.
In Hebr 2 öffnet uns der Heilige Geist die Quelle dieses großen
Geheimnisses. Die Gnade Gottes wollte sich offenbaren zur
Verherrlichung Dessen, „um deswillen alle Dinge, und durch
den alle Dinge sind". Dort wird uns das unaussprechliche Geheimnis der Erlösung vermittelst der Erniedrigung des Sohnes
Gottes vor Augen gestellt. Die göttliche Gnade sucht sich zu
befriedigen; und die göttliche Herrlichkeit muß in ihrer ganzen
Fülle zur Schau gestellt werden. Hieraus entspringt alles. Fleisch
und Blut wurden durch Ihn angenommen, „der da heiligt". Er
unterwarf sich dem Tode; Er ward, die Sünde ausgenommen,
in allem versucht, gleich den „Brüdern"; Er war abhängig von
Gott, voll Mitgefühl für die Heiligen; Sein Leben hier auf
Erden war ein Leben des Glaubens mit Gebet und Tränen zu
Dem, der mächtig war, Ihn vom Tode zu erlösen; Er ist jetzt
im Himmel, um für uns zu beten; Er ist ebensowohl ein vollkommenes Opfer, wie ein barmherziger Hoherpriester; Er ist
fähig, uns zu helfen und würdig, uns zu reinigen; Er ist, weil
auferstanden aus den Toten und aufgefahren gen Himmel, unsere Erwartung für die Gegenwart, und unsere Hoffnung für
die herrliche Zukunft.
In Verbindung mit diesem allen nahm der Herr Seinen Platz
hier auf Erden ein. Er war abhängig und gehorsam. Er glaubte
und hoffte, war betrübt und leidend; Er ward verachtet, gekreuzigt, begraben; Er unterwarf Sich allem, was der ewige
Ratschluß für Ihn notwendig gemacht hatte. Er machte sich
Selbst zu nichts; doch alles, was Er tat, war Seiner würdig.
Das Wort im Anfange: „Es werde Licht! und es ward Licht",
war Seiner nicht würdiger, als Sein „Bitten und Flehen mit
starkem Geschrei und Tränen in den Tagen seines Fleisches".
Er konnte Sich unmöglich mit etwas vereinigen, das der Gottheit unwürdig war, obwohl Er Sich auf Kosten alles dessen, was
179
Er besaß, in den trostlosesten Umständen befand, worin unsere
Schuld und Seine Gnade zur Wegnahme dieser Schuld Ihn
gebracht hatte.
Wir sehen dieselbe Person in der Krippe wie am Kreuze. Es war
Gott geoffenbart im Fleische. Nur wenn wir der ausgedehntesten Idee dieser Herrlichkeit ihren Platz ungeschmälert lassen,
dürfen wir von Seiner Erniedrigung sprechen, die wir vom
ersten bis zum letzen Augenblick Seiner bewunderungswürdigen Laufbahn an entdecken. Er wurde in der Krippe angebetet. Die von Gott geleiteten Weisen des Morgenlandes huldigten Ihm. Simeon tat dasselbe im Tempel; und zu unserer
Befremdung sehen wir, daß er die Mutter, nicht aber das Kind
segnete. Er hatte letzteres in seinen Armen; und nichts wäre
bei dieser Gelegenheit natürlicher gewesen, als dasselbe zu
segnen; dennoch geschah es nicht. Warum nicht? Weil er, erleuchtet durch das Licht des Heiligen Geistes, das Bewußtsein
hatte, daß er das Kind nicht als ein schwaches, hilfloses Geschöpf, Das der Sorge Gottes anbefohlen werden mußte,
sondern als das Heil Gottes in seinen Armen trug. In diesem
Charakter nahm er das Kind, in dem Augenblick der größtmöglich natürlichen Schwäche Desselben, in seine Arme und
erfreute sich in Ihm. Mochte er, ohne irgendein Unrecht zu
begehen, die Mutter dieses Kindes segnen, so stand es ihm
doch nicht zu, Jesum zu segnen. „Ohne allen Widerspruch wird
das Geheimnis von dem Bessern gesegnet" (Hebr 7, 7).
Auch Hanna, die Prophetin, empfing Jesum in demselben
Geiste. Und noch früher, ja noch vor Seiner Geburt wurde Ihm,
als beim Gruße Marias das Kind im Leibe der Elisabeth vor
Freude hüpfte, Anbetung dargebracht. Ebenso erkennt der
Engel Gabriel Ihn, noch ehe Er empfangen war, als den Gott
Israels, vor Dessen Angesicht der Sohn des Zacharias vorangehen mußte. Und Zacharias selbst erfüllt mit dem Heiligen
Geiste, erkennt Ihn als den Herrn, Dessen Volk Israel war, und
als den „Aufgang aus der Höhe" (Siehe Lk 1, 76. 78).
Wir sehen daher in jedem Zustand und in jeder Handlung Jesu
einen Gehorsam mit gänzlicher Selbstverleugnung und eine
Unterwürfigkeit der seltensten Art. Und was war der Dienst
nach der Beurteilung Dessen, vor Dem derselbe ausgeübt
180
wurde? Als der zu Bethlehem Geborene, der Beschnittene, der
Getaufte und der Gesalbte, als der Dienende, der Leidende,
der Gekreuzigte, und schließlich als der Auferstandene hat Er
hier auf Erden vor den Augen Gottes gewandelt. In dem
Schöße der Jungfrau, in der Stille von Nazareth, im dem Opfer
Seiner Selbst am Kreuze, sowie in dem Glänze der Auferstehung — kurz in allen Umständen war Er, Dessen Name „Wunder" ist, unter der Sorge Gottes und war fortdauernd das
Wohlgefallen Gottes, In allem vollkommen und fleckenlos erneuerte Er die Wonne Gottes an dem Menschen zu einem weit
höhern Grade, als sie damals gewesen, wo der Mensch zuerst
nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde.
Die Majestät der Person Jesu verlieh Seinem ganzen Leben des
völligsten Gehorsams eine Herrlichkeit, die dasselbe unbe
schreiblich wertvoll machte. Diese Herrlichkeit bestand nicht
nur darin, daß Sein Gehorsam und Sein Dienst freiwillig waren,
sondern vornehmlich in der Majestät Seiner Person, die durch
den Herrn der Heerscharen als „Sein Genosse" bezeichnet wird.
Und wer ist imstande, die Größe dieser Majestät zu ermessen?
Wir werden dieses in etwa aus eigener Erfahrung verstehen. Je
höher der Rang dessen ist, der uns einen Dienst erweist, desto
höher wird der Wert dieses Dienstes in unsern Gedanken steigen. Und mit allem Recht; denn ein solcher hat sich, um unser
Diener zu sein, weit mehr verleugnen müssen, als ein anderer
von geringem Stande. Unser Herz fühlt dann auch, daß nicht
sein eigenes Interesse, sondern unser Vorteil durch ihn gesucht
wird; und er bemüht ist, unsern Wünschen und Bedürfnissen
zu dienen. Wir können nimmer den Wert der Person von
ihrem Dienst trennen. Und so verhält es sich auch mit dem Geheimnis, welches uns jetzt beschäftigt. Der Gehorsam Jesu war
vollkommen und aller Annahme wert. Doch über dem Charakter
Seiner Handlungen steht die Würdigkeit der Person, Die
diese Handlungen vollbrachte und welche dieselben in tausendfältiger Weise verherrlichte.
Ebenso war es in bezug auf Seinen Tod. Es war Seine Person
Selbst, die Seinem Opfer oder Seinem Tode alle Kraft verlieh;
und es war Seine Person, welche allem, was Er in Seinem Leben
des selbstverleugnenden Gehorsams verrichtete, eine ganz besondere Herrlichkeit beifügte Das Sinnbild des zerrissenen
181
Vorhangs zeigt dem Glauben das vollkommene Wohlgefallen
Gottes an jeder Handlung des Lebens Jesu. Möchte Gott, indem
wir den Pfad Jesu von der Krippe bis zum Kreuze verfolgen,
uns Augen geben, um zu sehen, und Ohren, um zu hören! Das
Auge Gottes ruhte während Seines ganzen Erdenlebens voller
Gehorsam, mit unbeschreiblicher Wonne auf allem, was Er tat,
und auf allem, was Er war.
Die „Knechtsgestalt" war in Jesu ebensosehr eine Wirklichkeit
wie die „Gestalt Gottes". Erstere war nur eine angenommene,
die andere hingegen eine Ihm von Ewigkeit her ganz angehörende. Dieses vorausgesetzt waren Seine Handlungen diejenigen eines Dieners, Seine Herrlichkeiten und Vorrechte diejenigen Gottes. Er betete. Er verharrte die ganze Nacht im Gebet. Er lebte durch den Glauben als das vollkommenste Vorbild
für den Gläubigen, sowie Er genannt wird: „Der Anfänger und
Vollender des Glaubens". In den Leiden nahm Er zu Gott Seine
Zuflucht. In Gegenwart Seiner Feinde übergab Er Sich Dem,
Der recht richtet. Er tat nie Seinen eigenen Willen, wie vollkommen dieser Wille auch war, sondern den Willen Dessen,
Der Ihn gesandt hatte. In diesen und allen ähnlichen Wegen
zeigt sich die „Knechtsgestalt" in Jesu in ihrer ganzen Fülle. Es
war eine erhabene und lebendige Wirklichkeit. Von Anfang bis
zu Ende war das Leben dieses Dieners ein Leben des Glaubens.
In dem Briefe an die Hebräer wird Jesus uns als der „Apostel
und Hohepriester des Glaubens" vor Augen gestellt (Kap 3, 1;
12, 2. 3). Als Hoherpriester steht Er vor uns, um unsere beunruhigten Gewissen zu erleichtern, und um uns in unsern verschiedenen Versuchungen zu Hilfe zu kommen; als Anfänger
und Vollender des Glaubens ermutigt Er unsere Herzen zu
dem Leben des Glaubens in Seiner Nachfolge. Im ersten Falle
steht Er allein; im zweiten ist Er mit einer großen Wolke von
Zeugen in Verbindung. Im ersten Falle handelt Er für uns; im
zweiten steht Er als Vorbild vor unsern Augen. Doch selbst in
dieser Beziehung besteht zwischen Ihm und andern Gläubigen
ein großer Unterschied; denn der Heilige Geist fordert uns auf,
„auf Jesum zu sehen", und nicht auf die Wolke von Zeugen,
von denen wir rings umgeben sind.
182
Ferner hat das „Erdulden des Widerspruchs der Sünder gegen
sich" (Kap 12, 3) das Leben Jesu zu einem Leben der Prüfung
und des Glaubens gemacht. Diese Worte sind bemerkenswert.
Eine große Zahl von Heiligen, die, gleich Ihm, zu dem guten
Kampfe des Glaubens berufen waren, hatten Spott und Hohn,
Geißelungen und des Schwertes Schärfe erduldet; sie waren in
den Höhlen der Erde umhergeirrt und in Unterdrückung, in
Banden und Gefängnissen gewesen; doch von ihrem Kampfe
inmitten dieser Dinge, von dem „Erdulden des Widerspruchs
der Sünder gegen sich" wird nichts gesagt. Diese Worte besitzen eine Kraft und Erhabenheit, die allein auf das Glaubensleben Jesu eine Anwendung finden, wovon der Heilige Geist in
Ps 16 eine Beschreibung liefert. Dort wird uns der Sohn Gottes
als Der vorgestellt, für Den „der Glaube eine Verwirklichung
dessen ist, was man hoffte, eine Überzeugung dessen, was man
nicht sieht" (Kap 11, 1). Er genießt das priesterliche Teil und
Los. Er stellt den Herrn beständig vor Sich. Er weiß, daß Er
nicht wanken wird, weil der Herr zu Seiner Rechten ist. Er
richtet Seinen Blick auf die Lieblichkeiten, die zur Rechten
Gottes sind, und auf die Fülle der Freude, die vor dem Angesicht Gottes ist.
Der Ps 116 beschreibt das Ende Seines Glaubenslebens in der
Auferstehung unter „Lob und Anbetung", und der Apostel
Paulus kann in „demselben Geiste des Glaubens" von dem
Anteil reden, den er mit seinem Anführer und Herrn an der
Auferstehungsfreude hatte (2. Kor 4, 13. 14).
„Ich werde mein Vertrauen auf ihn setzen". Das ist die Sprache
Jesu während Seines ganzen Lebens. Aber Sein Glaube war
Gold, reines Gold; durch das Feuer erprobt, kam derselbe ebenso rein aus dem Schmelztiegel wieder hervor, wie er hineingegangen war, und nirgends zeigten sich Schlacken. Es ist nötig,
daß die Gläubigen durch die Feuerprobe geläutert werden. Ihre
Ungeduld, ihre Eigenliebe, ihr Murren etc., alles muß vernichtet und zum Schweigen gebracht werden (siehe Ps 72 und JJ).
Hiob unterlag der Prüfung, wiewohl er selbst oft die schwachen
Arme gestärkt und die Strauchelnden durch Seine Worte aufgerichtet hatte. Der Stärkste fällt oft zuerst. Petrus schläft in
Gethsemane; er spricht Lügen und Flüche aus in der Nähe des
Gerichtshofes. Doch ein Mensch hat hier auf Erden gelebt, bei
183
welchem der siebenfältig erhitzte Ofen nur um so mehr Seine
unaussprechliche Würdigkeit ins Licht stellte.
Man lese Lk 23 und man betrachte dort Jesum in dem Feuer
der Glaubensprüfung. Zuerst sehen wir Ihn gegenüber den
Leiden, die Seiner harrten; danach ist er mit Seinen Jüngern,
dann mit Seinem Vater, und endlich mit Seinen Feinden beschäftigt. Wie unbeschreiblich vollkommen war dieser Glaube,
als er durch das Feuer erprobt wurde, in stets unverfälschter
Reinheit! Das ganze Leben Jesu war das Leben und der Gehorsam des Glaubens. Von der einen Seite betrachtet, war es
sicher das Leben des Sohnes Gottes, Der in „Knechtsgestalt"
Sich Selbst bis zum Tode erniedrigte, wiewohl Er in der Gestalt
Gottes war und „es nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu
sein"; doch andrerseits hat Jesus wahrlich das Leben des Glaubens gekannt, wenn er sagt: „Ich werde mein Vertrauen auf
ihn setzen". „Ich habe Jehova stets vor mich gestellt, weil er
zu meiner Rechten ist, werde ich nicht wanken". Das waren
Seine Gedanken; und wir beten Ihn an in diesem Glauhensleben. Ja, voll Bewunderung heben wir unsere Blicke zu Ihm
empor und preisen Seine unaussprechliche Liebe. Und dieses
kostbare Glaubensleben fand in der Sorge und Bewahrung
Gottes seine Antwort. „Wer im Schirm des Höchsten sitzt, wird
bleiben im Schatten des Allmächtigen" (Ps 91). Der Glaube des
Knechtes auf Erden war ebenso vollkommen, wie die Antwort
Dessen, Der im Himmel wohnt.
Von dem Schöße seiner Mutter an bis in Sein Grab war die
Sorge, die über Jesum wachte, ununterbrochen. Sein Geist hat
dieses bereits durch den Mund Seiner Propheten verkündigt.
„Du ließest mich vertrauen an meiner Mutter Brüsten. Auf
dich bin ich geworfen von Mutterschoße an; von meiner
Mutter Leibe an bist du mein Gott" (Ps 22, 9. 10). — Es war
eine unermüdliche Sorge. „Du erhältst mein Los". „Mein Fleisch
wird in Sicherheit ruhen. Denn meine Seele wirst du dem
Scheol nicht lassen, wirst nicht zugeben, daß dein Frommer die
Verwesung sehe" (Ps 16). Die Hilfe, die Sorge, die Wachsamkeit des Vaters über den Sohn — alles war für Ihn. Gott wachte
über Ihn in jener Nacht, als Joseph durch den Engel gewarnt
und aufgefordert wurde, nach Ägypten zu entfliehen. Es war
184
des Vaters unaussprechliche Freude, in dieser Stunde über den
geliebten Sohn Wache zu halten. Der Wächter Israels konnte
auch damals nicht schlummern.
Doch weit entfernt, den göttlichen Rechten Jesu Abbruch zu
tun, erhalten diese Umstände vielmehr gerade dadurch ihre
Bedeutung. Die Herrlichkeit des Verhältnisses zwischen Vater
und Sohn, sowie die damit verbundene Freude und Wonne sind
verloren, wenn die Herrlichkeit der Person Jesu nicht im Auge
behalten und verehrt wird. Zur Zeit der Flucht nach Ägypten
in den Armen Seiner Mutter war Er ebensowohl „Gott geoffenbart im Fleische", als während des Augenblicks im Garten
Gethsemane, wo die Feinde angesichts Seiner Macht und Hoheit zu Boden stürzten. Er war als Kind zu Bethlehem ebensowohl Immanuel, wie Er es jetzt ist zur Rechten der Majestät
in der Höhe*). Der ganze Weg von dem Schöße Seiner Mutter
bis zum Kreuze war ein Weg der Selbsterniedrigung. Wenn
man hieran zweifelt, dann vergißt man, wer Er war. Betrachten wir aber dieses herrliche Geheimnis aus einem andern
Gesichtspunkte, dann sehen wir seine Abhängigkeit vom Vater,
sowie die zärtliche und vollkommene Sorge, welche der Vater
unaufhörlich zur Schau trägt.
In den vier Evangelien wird uns die Person des Herrn auf verschiedene Weise und in einem verschiedenen Charakter dargestellt. Er war der Gegenstand der fortdauernden Sorge des
Vaters und zugleich der Genosse Jehovas. Und es wird uns
erlaubt, unsern Blick auf den Pfad zu richten, auf welchem Er
durch göttliche Sorge und Wachsamkeit Beschirmung fand,
und voll Bewunderung das helle Licht und die vortreffliche
Herrlichkeit anzuschauen, wo Seine Rechte und Ehren als Sohn
Gottes vor unserem Auge enthüllt werden.
Jesus konnte sagen: „Brechet diesen Tempel ab, und in drei
Tagen werde ich ihn wieder aufbauen"; und zugleich konnte
der Heilige Geist erklären, daß „der Gott des Friedens den
großen Hirten der Schafe aus den Toten wiederbrachte".
Die Feinde, die Sein Leben suchten, stürzten zu Boden, als sie
*) Ich will hierdurch nicht behaupten, daß bei Gelegenheit der Flucht nach
Ägypten das „Kindlein" selbst irgendeinen Willen betätigte. Eine solche Behauptung würde über die Schrift hinausgehen. Aber diese Handlung, wie alles von
Bethlehem bis nach Golgatha hin. trägt den Charakter eines Sich Selbst verleugnenden Gehorsams.
185
Seine Stimme hörten; und nichtsdestoweniger erkannte Sein
völliger Glaube so vollkommen die Sorge und Obhut Gottes
an, daß Er sagte: „Meinest du, daß ich nicht jetzt meinen
Vater bitten könne, und er mir mehr als zwölf Legionen Engeln
stellen werde?" Durch eine Berührung des Ohres heilte Er den
Diener des Hohenpriesters, während Er etliche Augenblicke
später zuließ, daß Sein eigenes Haupt unter der Dornenkrone
blutete. In der Vollkommenheit Seines Zustandes als Der, Welcher Sich Selbst erniedrigt hatte, konnte Er das Mitgefühl der
Seinigen fordern und sagen: „Könnt ihr nicht eine Stunde mit
mir wachen?" — und etliche Stunden später, und zwar in gewissem Sinne in einem Augenblick von größerem Schmerze, konnte
Er das Mitleiden der Töchter Jerusalems von sich weisen und
den Glauben eines sterbenden Missetäters dadurch krönen, daß
Er ihm das Paradies verhieß. Dann selbst in der Stunde der
tiefsten Erniedrigung strahlt uns Seine Herrlichkeit entgegen;
und Er läßt die Sünder verstehen, daß Sein Kreuz nicht das
Mitleiden der Menschen, sondern ihren Glauben erfordert, und
daß Er kein bloßes Gefühl aufzuwecken wünscht, sondern sie
durch den Glauben an das Kreuz mit dem vollen Frieden des
Gewissens segnen will. Er will nicht, daß man Sein Kreuz
beklage, sondern daß man sich darauf stütze und wisse, daß
dasselbe, wiewohl in Schwachheit vollbracht, dennoch ein Strebepfeiler ist, worauf die Schöpfung Gottes in Ewigkeit ruht.
In verschiedenen und dennoch harmonischen Zügen finden wir
das Leben Gottes im Fleische. Weil Seine göttliche Natur wahr
ist, ist deshalb Seine menschliche Natur weniger wahr? Die
Tränen Jesu über Jerusalem waren so wirklich, als ob nichts
anders in Seinem Herzen sei, als der Schmerz über ein widerstrebendes, ungläubiges Volk, das seinen Messias und Heiland
verwarf. Und dennoch war in demselben Augenblicke Seine
Freude an dem Vorsatz der göttlichen Weisheit und Gnade
ebenso ungeteilt. Das „Wehe dir, Chorazin"! war ebensosehr
der Ausdruck der lebendigen und wahrhaftigen Liebe in der
Seele Jesu, wie Seine kurz nachher gesprochenen Worte: „Ich
danke dir, Vater!" So wurden durch die „Knechtsgestalt" in all
ihren Vollkommenheiten sowie durch die „Gestalt Gottes" in
der ganzen ihr eigentümlichen Herrlichkeit, in einer und derselben Person so wahrhaftige und lebendige Geheimnisse geoffenbart.
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Sollten wir nicht oft bei der herrlichen Person Jesu verweilen
und die verschiedenen Handlungen Seines Lebens oder das Geheimnis Seiner Liebe und Wahrheit betrachten? „Die Furcht
des Herrn ist rein"; aber es gibt auch eine unreine Furcht, die
einen Geist des Unglaubens und der Gesetzlichkeit in sich birgt
und uns hindert, in solche Wunder einzudringen. Wahrlich, das
Geheimnis ist „groß". Doch dasselbe konnte man auch von
jenem wunderbaren Schauspiel sagen, zu welchem Moses sich
mit unbeschuhten Füßen nahte, um es zu betrachten. Hätte
er dieses nicht getan, dann wäre er ungesegnet geblieben. Aber
nein, er lauschte bis er entdeckte, daß der große „Ich bin, der
ich bin", der Gott Abrahams, in dem Dornbusch war. Wie seltsam die Weise auch war, in welcher eine Majestät Sich verbarg,
so war dennoch der Herr, Gott, der Allmächtige in dem brennenden Dornbusche.
Und wenn wir auf Golgatha den „geschlagenen Hirten" anschauen, wer anders könnte es sein, als „der Mann, der der
Genosse des Jehovas der Heerscharen" ist (Sach 13)? Und jener
verspottete, angespieene, mißhandelte Mensch inmitten des den
Gerichtshof des Pilatus umringenden Volkes — wer anders
könnte es sein als Er, Der in den vorigen Tagen das Rote Meer
trocken machte und Ägypten mit Finsternis schlug.
Der Heilige Geist liefert in dem Briefe an die Hebräer außer
vielem andern den Beweis, daß die Kraft des Priestertums Christi ganz und gar von der Majestät Seiner Person abhängt. Man
lese die sieben ersten Kapitel.
In unserm Hohenpriester müssen wir einem Menschen begegnen, einem, Der fähig ist, den Brüdern Hilfe zu bringen,
weil Er, gleichwie wir, in allem versucht worden ist. Wir müssen unsern Hohenpriester aus den Schmerzen und Leiden dieser
Erde in den Himmel eingehen sehen. Aber ebenso notwendig
ist es, daß wir in unserm Hohenpriester den Sohn finden, weil
kein anderer, welcher an Fleisch und Blut teil hat, die „Kraft
des unvergänglichen Lebens" besaß. In Übereinstimmung hiermit repräsentiert Melchisedek sowohl die Person, als auch die
Tugenden, die Hoheit, die Rechte und das Ansehen des wahren
Priesters Gottes (siehe Hebr 7, 1—3); indem wir lesen: „Ohne
Vater, ohne Mutter, ohne Geschlechtsregister, weder Anfang
187
der Tage, noch Ende des Lebens habend; aber dem Sohne
Gottes verglichen, bleibt (er) Priester auf immerdar". Welche Einsicht verleiht uns dieses bezüglich des „großen Hohenpriesters
Linsers Bekenntnisses". Er kam aus dem Himmel hernieder in
der vollen persönlichen Herrlichkeit des Sohnes; und Er kehrte
in den Himmel zurück, mit sich führend die Kraft Seines
Opfers für die Sünde, sowie jenes unendliche Mitleiden, wodurch Er den Heiligen auf Erden zu Hilfe kommt.
Der Glaube nimmt Kenntnis von Jesu in allen Seinen Wegen.
Er erkannte in Ihm den Sohn, während Er im Fleische unter uns
wohnte und als Sein Leben der Erniedrigung und der Leiden
hienieden ein Ende genommen, erblickte der Glaube den einmal verworfenen und gekreuzigten Menschen verherrlicht im
Himmel. Er ist eine und dieselbe Person: Gott geoffenbart im
Fleische hier auf der Erde, und der Mensch in der Herrlichkeil
droben. Das Wort sagt von Ihm und Seiner bewunderungswürdigen Laufbahn: „Gott ist geoffenbart worden im Fleische,
gerechtfertigt im Geiste, gesehen von den Engeln, gepredigt
unter den Nationen, geglaubt in der Welt, aufgenommen in
Herrlichkeit".
In der Gestalt Gottes war Er wahrlich Gott; in der Knechtsgestalt war Er wirklich ein Knecht. Er hat es nicht für einen
Raub gehalten, „Gott gleich zu sein", sondern übte alle göttlichen Rechte aus und bediente sich aller göttlichen Schätze und
Hilfsquellen mit völligster Autorität; und ebenso hat Er „sich
selbst erniedrigt" und ist gehorsam geworden. Dies ist das
Geheimnis. Alles, was wir in der Geschichte Jesu finden, wird
durch dieses Geheimnis erklärt. So verhielt es sich mit der Herrlichkeit in der Wolke. Der Gefährte der Pilger, Der alle ihre
Verlegenheiten teilte, war zu gleicher Zeit der Herr des Heeres.
Die Herrlichkeit, welche während der Streifzüge Israels die
Wüste durchzog, war zugleich die Herrlichkeit, welche zwischen
den Cherubim im Allerheiligsten wohnte.
Verweilen wir indes noch einen Augenblick bei Phil 2, 5—11,
wo wir die Worte lesen: „Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben". Hier wird aufs Neue unsere Bewunderung wachgerufen. Denn was konnte Jesum noch mehr erhöhen? Bevor Er
eintrat in Sein Leben des Leidens und der Herrlichkeit, war Er
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schon in sich selbst unendlich groß und erhaben. Nichts war imstande, Ihn persönlich zu erhöhen, weil Er der „Sohn" war
und die unendliche und unermeßliche Herrlichkeit Gottes bereits besaß. Keine andere Ehre hätte je Seine persönliche Herrlichkeit vergrößern können. Und dennoch sehen wir Ihn einen
Pfad betreten, der Ihn zu einer noch höheren und — in gewissem Sinne — noch kostbareren Majestät und Herrlichkeit
führt. Welch ein wunderbares Geheimnis!
Da die Schrift uns erlaubt, göttliche Dinge durch Gleichnisse
zu erklären, so wollen wir uns diese Gedanken auf diesem
Wege zu verdeutlichen suchen. Ein Königssohn zieht aus, um
durch eigenes Verdienst den Rang und die Würde zu erlangen,
die ihm bereits zufolge seiner Geburt zukommt. Diese erworbene Größe wird, wiewohl sie ihn persönlich nicht zu erhöhen
vermag, dennoch einen großen Wert für ihn haben und zugleich der Achtung und Anerkennung seines Volkes den schönsten Stoff bieten. Dieser Vergleich mag einiges Licht werfen
auf das bewunderungswürdige Geheimnis des Sohnes Gottes.
Nach ewigem Ratschlüsse hat Er Sich zum Streit gegürtet; und
die Ehre, die Er Sich erworben, sowie die Siege, die Er erlangt
hat und noch erlangen wird, werden für ewig Seine Wonne
ausmachen. Er wird in dem Lichte und in dem Charakter dieser
Tatsachen erkannt und für immer gerühmt werden, wiewohl
Er, was Sein Wesen betrifft, ein für den Menschen unzugängliches Licht bewohnt.
In 2. Mo 3 teilt Er, redend aus dem Dornbusche, Seinem Knechte Moses den Namen mit, den Er allein besitzt: „Ich bin, der
ich bin". Doch zugleich läßt Er den Namen erkennen, den Er
Sich erworben hat, indem Er Sich als „den Gott Abrahams, den
Gott Isaaks und den Gott Jakobs" bezeichnet; und diesem
zweiten, dem erworbenen Namen fügt Er die Worte hinzu:
„Das ist mein Name ewiglich, und das ist mein Gedächtnis von
Geschlecht zu Geschlecht". Diese Worte verkündigen uns den
Wert, den Er auf die Herrlichkeit setzt, welche Sein — zugunsten armer Sünder — vollbrachtes Werk Ihm erworben hatte.
Ebenso war es auch bezüglich der Stiftshütte oder des Tempels;
nicht der Name, der Seinem Wesen eigentümlich ist, sondern
derjenige, welchen Er Sich erworben hatte, war dort zu lesen
189
und aufgezeichnet. Die Geheimnisse des Heiligtums reden nicht
von der Allmacht, der Allwissenheit, der Ewigkeit oder von
übrigen Herrlichkeiten Seines Wesens, sondern von Einem, bei
welchem „Barmherzigkeit sich wider das Gericht gerühmt",
und der einen Weg gefunden hat, auf welchem Er Seine Verbannten zu Sich heimbringt. — Wahrlich, das sind Zeugnisse
von dem Werte, welchen Jesus auf den Namen setzt, den Er
dadurch erwarb, daß Er Sich uns weihte. Doch „Gott ist Liebe";
dieses ist die Ursache von allem; und dieses ist die Erklärung
des Geheimnisses. Wie vortrefflich und bewunderungswürdig
die Offenbarungen auch sein mögen, so lassen sie doch nur
die verborgenen Quellen erkennen, die in Ihm Selbst geöffnet
sind.
Es geziemt uns ebensosehr, daß wir Jesum als „geboren unter
Gesetz" kennen, wie wir Ihn kennen in Seiner persönlichen
Herrlichkeit, als weit über jedes Gesetz erhaben. Sein ganzes
Leben war das eines gehorsamen Knechtes. Wiewohl Er Gott
über alles, der Jehova Israels und der Schöpfer der Enden der
Erde war, so war Er doch zugleich der Mensch Christus Jesus.
Er war Jesus von Nazareth, Der gesalbt mit dem Heiligen
Geiste, Gutes tuend, sowie Kranke und Besessene heilend, das
Land durchzog; denn Gott war mit Ihm. In dem Lichte dieser
Wahrheiten schauen wir Ihn, und in diesem verschiedenen
Lichte lesen wir Seine Geschichte. Er teilte den Heiligen Geist
mit; und war dennoch Selbst mit dem Heiligen Geiste gesalbt.
Der Sohn kam, um Teil an Fleisch und Blut zu haben. Also
hatte es der Weg und die Gnade des ewigen Ratschlusses Gottes gewollt — und also hatten es unsere Bedürfnisse notwendig
gemacht. „Er ist in Seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden",
ward erprobt in einem Leben gänzlicher Abhängigkeit von
Gott, und vollbrachte ein Sterben, welches, nebst andern großen Zwecken, in vollkommener Unterwerfung unter Gott ins
Werk gestellt wurde. Das war der Zustand, den Er zufolge des
ewigen Bundes auf sich nahm. Und in diesem Zustande war Er
vollkommen im Wirken, im Leiden, im Dienen, vollkommen in
den Schmerzen, den Seufzern, den Tränen, der Arbeit und der
Mühe des Sohnes des Menschen auf Erden. Und noch mehr.
Selbst jetzt, während Er im Himmel ist, hat Er Sich in einem
gewissen Sinne nicht ganz von diesem Zustande getrennt. Er
190
erwartet dort eine Verheißung des Vaters; und nachdem Er
diese Verheißung empfangen, lebt Er darin bis auf diesen Tag.
„Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege zum
Schemel deiner Füße". Dieses ward zu Jesu bei Seiner Himmelfahrt gesagt; und im Glauben an dieses Wort und in der
Hoffnung desselben nahm Er Seinen Platz im Himmel ein und
„hat sich für immerdar gesetzt zur Rechten Gottes, fortan
wartend, bis seine Feinde gelegt sind zum Schemel seiner
Füße". Hier ist die Hoffnung als Antwort auf die Verheißung;
Lind diese wurde im Herzen Jesu sowohl dann gefunden, als Er
hier auf Erden der glaubende, hoffende und gehorsame Sohn
war, als auch dann, wo Er gen Himmel fuhr und Sich zur Rechten Gottes niedersetzte. Und wenn wir den Kreis noch weiter
bis zu Seiner künftigen Herrlichkeit ausdehnen, so sehen wir
Ihn auch dann noch unterwürfig. „Jede Zunge soll bekennen, daß
Jesus Christus der Herr ist", doch es wird „zur Herrlichkeit des
Vaters" sein. Wenn das Reich übergeben werden wird, so lesen
»vir: „Dann wird auch der Sohn selbst dem unterworfen sein,
der ihm alles unterworfen hat, auf daß Gott alles in allem sei".
Und auch in dieser Stellung des Unterworfenseins wird es in
den zukünftigen Kreisen der Herrlichkeit Seine Wonne sein,
den Heiligen zu dienen, sowie wir lesen: „Er wird sich umgürten und sie sich zu Tische legen lassen, und wird hinzutreten
und sie bedienen". Und wiederum: „Der auf dem Throne sitzt,
wird über ihnen wohnen. Sie werden nicht mehr hungern, auch
nicht mehr dürsten, noch wird die Sonne auf sie fallen, noch
irgendeine Glut; denn das Lamm in der Mitte des Thrones
wird sie weiden, und wird sie leiten zu Brunnen der Wasser des
Lebens, und Gott wird abwischen jede Träne von ihren Augen" (Lk 12, 37; Offb 7, 16. 17).
4.
„Aufgenommen in Herrlichkeit" (1. Tim 3, 16).
Die Schrift sagt uns, daß die Engel in die Dinge des Christus
hineinzuschauen begehren (1. Petr 1, 12). Am Tage der Offenbarung und Erfüllung dieser Dinge ist ihr Verlangen befriedigt
worden; denn in der uns durch die Evangelisten mitgeteilten
Geschichte sehen wir die Engel als Augenzeugen dessen, was
191
sie zu sehen gewünscht hatten. Sie haben das Vorrecht, teilzunehmen und Genuß zu finden an dem Leben Christi auf Erden
— an „dem Geheimnis der Gottseligkeit", und zwar in der
Weise, wie sie im Alten Testament an dem Heiligtum Gottes
ihre Freude fanden. Im Heiligtum war alles vorhanden, was
zum Nutzen und Segen der Sünder nötig war. Die Altäre, das
Waschbecken, der Versöhnungsdeckel — kurz alles hatte um
ihretwillen seine Stätte gefunden. Doch ob auch das Werk und
die Gnade des Hauses Gottes nur für Sünder vorhanden war,
so betrachteten die Cherubim doch alles mit großer Bewunderung. Sie befanden sich im Hause, um die Geheimnisse anzuschauen. In eben demselben Zustande finden wir sie an jenem
Tage, als die himmlischen Dinge selbst: „Gott geoffenbart im
Fleische", gesehen wurden. Auch damals diente alles zum Dienste und zum Heile für uns, die Sünder, auf daß Der so geoffenbarte Gott „gepredigt unter den Nationen und geglaubt in der
Welt" werden möchte. Doch geschah sicher alles auch deshalb,
damit Er „von den Engeln gesehen werden würde".
Sie nahmen daher im Heiligtum sowie in dem großen Geheimnis selber einen und denselben Platz ein. Sie schauten an — sie
waren Augenzeugen. Ihr Anschauen des Geheimnisses trug
denselben Charakter eines großen Interesses, wie die Darstellung der Cherubim im Allerheiligsten. Und die Cherubim breiteten die Flügel aus nach oben, den Deckel mit ihren Flügeln
überdeckend, und ihre Angesichter waren einander gegenüber,
die Angesichter der Cherubim waren gegen den Deckel gerichtet" (2. Mo 57, 9). In derselben Weise werden sie in der Geschichte des Christus, der wahren Bundeslade, gesehen.
Der Engel des Herrn kommt mit dem Auftrage aus dem Himmel,
den Hirten zu Bethlehem die Geburt Jesu anzukündigen. Doch
kaum hatte er seinen Dienst erfüllt, so „war bei dem Engel
eine Menge der himmlischen Heerscharen, die Gott lobten und
sagten: Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Friede auf der Erde,
an den Menschen ein Wohlgefallen". Und als später ein anderes großes Ereignis stattfand und „Gott geoffenbart im Fleische" aus den Toten auferweckt wurde, um bald in Herrlichkeit
aufgenommen zu werden, waren auch die Engel wiederum mit
derselben gespannten und teilnehmenden Freude anwesend.
192
Als Maria Magdalene sich niederbeugte, um in die Gruft zu
sehen, „sah sie zwei Engel in weißen Kleidern sitzen, einen zu
dem Haupte und einen zu den Füßen, wo der Leib Jesu gelegen
hatte". Und ebenso erblicken wir sie in dem feierlichen Moment der Himmelfahrt, um den Männern von Galiläa Kunde
zu geben über die ferneren Wege Dessen, Der eben jetzt gen
Himmel aufgefahren war.
Dieses alles ist eine Erklärung des Gebücktseins über den Versöhnungsdeckel, und zugleich ein neues Anschauen der Cherubim. Der Lobgesang der himmlischen Heerscharen auf Bethlehems Fluren bildete keinen Teil ihres zugunsten der Menschen
aufgetragenen Dienstes, sondern war eine Handlung der Gottesverehrung. Sie gaben keine Oberweisung den Hirten, ja,
sie sprachen eigentlich nicht zu ihnen, sondern sie gaben bei
dem Gedanken an Ihn, der damals geboren, der Entzückung,
wovon sie erfüllt waren, lebhaften Ausdruck. Dieselbe Haltung
beobachteten sie in der Gruft. Als Maria kommt, haben sie
für sie allerdings ein Wort des Mitgefühls; jedoch waren sie
bereits vor deren Ankunft in der Gruft und wären also dort
gewesen, auch wenn das weinende Weib nicht gekommen wäre.
Sowie die Cherubim zu beiden Seiten der Bundeslade über dem
Versöhnungsdeckel standen, so saßen die Engel an der Stätte,
wo der Leib Jesu gelegen hatte, einer zu dem Haupte und einer
zu den Füßen.
Welch eine Weise, um Jesum anzuschauen! Ja, „Gott geoffenbart im Fleische — gesehen von den Engeln". O möchten auch
wir die Gnade empfangen, um Ihn also zu verehren und also
anzuschauen! Wir haben sicher große Ursache, über die Kälte
unserer Herzen zu trauern, die hierin so weit zurückbleiben.
Viele unter uns werden erkennen, daß sie durch diese Dinge
mehr angezogen werden müssen. Wie selten wärmen sich
unsere Herzen an der Glut dieser Geheimnisse, welche Bethlehem, Gethsemane und der ölberg den entzückten Engeln offenbarten ! Doch welche Nachteile birgt dieses in sich, und wie sehr
ermangeln wir der Gemeinschaft mit Jesu! Darum ist es mein
Verlangen, die Aufmerksamkeit zu richten auf die herrliche Erscheinung: „Gott geoffenbart im Fleische" und Ihm von der
Krippe bis zum Kreuze, vom Kreuze durch das Grab bis zur
193
Auferstehung und von dort bis in den Himmel und bis in alle
Ewigkeit durch den Glauben zu folgen.
Das Evangelium des Matthäus gibt nur im allgemeinen Zeugnis
von der Auferstehung. Der Engel bekundet dieses feierliche Ereignis; die nach der Stadt zurückkehrenden Weiber umfassen
die Füße des auferstandenen Heilandes und huldigen Ihm; und
die Jünger begegnen Ihm am Berge in Galiläa.
Markus teilt mit, wie der Herr nach Seiner Auferstehung den
Seinigen, der Maria Magdalene, den beiden Jüngern, die aufs
Land gingen, und den „zu Tische liegenden" Elfen erschienen
sei.
Lukas stellt mehr die Beweise ins Licht, wodurch Er Seine Jünger zu überzeugen sucht, daß Er und kein anderer wieder in
ihrer Mitte stand. Er ißt vor ihren Augen; Er zeigt ihnen Seine
Hände und Seine Seite; Er sagt ihnen, daß ein Geist nicht
Fleisch und Bein habe, wie sie sahen, daß Er hatte; Er beweist
ihnen aus den Psalmen und den Propheten, daß alles also geschehen mußte.
Johannes redet in der ihm eigentümlichen Weise über die Auferstehung. In seinem Evangelium wird Jesus stets in Kraft und
als Überwinder dargestellt; und also geschieht es auch am
Grabe. Die herbeigeeilten Jünger sehen dort die Leintücher
liegen, während sie das Schweißtuch, welches um das Haupt des
Herrn gewesen war, besonders an einem Orte eingewickelt finden. Nirgends zeigte sich Verwirrung, nirgends eine Spur von
Kampf und Mühe, nirgends ein Merkmal, als ob etwas Außergewöhnliches geschehen sei. Alles zeugte weit eher von Triumph und Sieg, als von Arbeit und Kampf. „Preis und Ehre
dem Überwinder, der getötet war!" — das ist die Stimme, die
uns aus dem von Johannes beschriebenen Grabe entgegentönt.
In derselben Weise wird der Herr Selbst uns dargestellt. Nicht
wie bei Lukas liefert Er hier Beweise von der Wirklichkeit
Seiner Auferstehung. Er gibt Seinen Jüngern kein tastbares
Zeichen, um sie von Seinem Dasein zu überzeugen. Er ißt und
trinkt auch nicht mit ihnen, wie wir dieses in Lukas finden. In
dem Evangelium Johannes wird die Wahrheit der Auferstehung Jesu in einer erhabenen Weise dargestellt. Er überzeugt
die Herzen und Gewissen Seiner Jünger. Bei Maria bedurfte es
194
nur eines einzigen Wortes, um ihr zu sagen, wer Er war, weil
ihr Herz mit Ihm im Einklang war. Seine durchbohrten Hände
sowie Seine durchbohrte Seite wurden gezeigt, damit sie den
Gewissen der versammelten Jünger in der Gewißheit des angenommenen Opfers Frieden verkündigen möchten; und selbst
das Herz des Thomas war so vollkommen überzeugt, daß er
wie in Entzückung ausrief: „Mein Herr und mein Gott!"
Auch bezüglich der Himmelfahrt Christi finden wir in den
Mitteilungen der Evangelisten eine große Verschiedenheit. Weder Matthäus noch Johannes erwähnen dieses Ereignis. Am
Schlüsse des Evangeliums nach Matthäus sehen wir den Herrn
noch auf dem Berge in Galiläa. Auch Johannes führt uns nicht
nach dem Ölberge oder nach Bethanien. Zwar stellt Er, wie es
mir scheint, durch eine sinnbildliche Handlung am See Tiberias
Seinen Hingang in das Haus des Vaters, sowie das Nachfolgen
Seiner Jünger dar; aber es ist nicht die Himmelfahrt selber —
nicht die feierliche Szene in Bethanien — nicht die Aufnahme
des Herrn von der Erde in den Himmel.
Markus hingegen teilt uns dieses Ereignis in den Worten mit:
„Der Herr nun, nachdem er zu ihnen geredet hatte, ward in
den Himmel aufgenommen, und setzte sich zur Rechten Gottes". Hier wird also der Moment der Himmelfahrt gemeldet;
aber das ist auch alles. Es ist einfach das Auffahren Dessen,
Dem alle Ehre und alle Rechte angehörten, die Seiner im
Himmel harren. Aber wir erfahren hier durchaus nicht, welchen
Anteil die Jünger an diesem Ereignis nahmen, und selbst nicht,
ob sie überhaupt Augenzeuge desselben waren.
Lukas geht einen Schritt weiter. In seinem Evangelium wird
die Himmelfahrt des Herrn durch Menschen angeschaut, welche
fühlten, daß dieses Ereignis für sie persönlich von großer
Wichtigkeit sei. „Er führte sie aber hinaus bis gen Bethanien
und hob seine Hände auf und segnete sie. Und es geschah,
indem er sie segnete, schied er von ihnen, und ward hinaufgetragen in den Himmel. Und sie huldigten ihm und kehrten
zurück nach Jerusalem mit großer Freude. Und sie waren allezeit im Tempel, Gott lobend und preisend" (Kap 24, 50—53).
Also fährt Jesus, als der auferstandene Mensch, auf gen Himmel, indem Er eine Schar hinter Sich zurückläßt, die bezeugen konnte, daß Er wirklich ihr Jesus war. Und wiewohl
195
eine Wolke Ihn aus ihrem Blickfeld hinwegnahm, so erkannten
sie doch in Ihm, Der in die höchsten Himmel eingegangen, Denselben Jesus, Dem sie auf Erden nachgefolgt waren. Jesus, Der
vor Seiner Auferstehung mit ihnen gegessen hatte, hatte auch
nach Seiner Auferstehung mit ihnen gegessen. Jesus, Der ihnen
während Seines Umherwandelns auf der Erde einen großen
Fischfang verschaffte, hatte ihnen auch nach Seiner Auferstehung eine großen Fang zukommen lassen. Jesus, Der früher
die Speise gesegnet und sie ihnen dargereicht hatte, hatte dieses
auch jetzt wieder getan. Und dieser Jesus war Derselbe, Der
nun vor ihren Augen gen Himmel aufgefahren war.
Wie treffend und herrlich stellt der Heilige Geist uns die verschiedenen Einzelheiten der wunderbaren Laufbahn Jesu vor
Augen! In Bethlehem, im Auferstehungsgarten und auf dem
Berge der Himmelfahrt —überall erblicken wir Denselben Jesus.
Im Fleische geoffenbart, pilgert der Sohn Gottes von Bethlehem
nach Golgatha. Auferstanden aus den Toten, ißt und trinkt Er
vierzig Tage hindurch mit Seinen Jüngern; und mit durchbohrten Händen und durchstochener Seite, so wie sie Ihn hienieden
gesehen, fährt Er auch gen Himmel. Er belehrte Seine Jünger
nach Seiner Auferstehung, wie Er es auch vorher getan hatte.
Wie früher, so gab Er ihnen auch jetzt Seine Befehle und vertraute ihnen einen Dienst an. Er kannte sie und nannte sie bei
Namen, wie dieses auch ehedem geschehen war. Und endlich,
da bei der Himmelfahrt ihre Blicke, als hätten sie Ihn für immer
verloren, Ihn verfolgten, erscheint ein Engel, um ihnen zu sagen,
daß derselbe Jesus noch mehr für sie zu vollbringen habe.
„Ihr Männer von Galiläa! was steht ihr und schauet hinauf gen
Himmel? Dieser Jesus, der von euch in den Himmel aufgenommen ist, wird also wiederkommen, wie ihr ihn gen Himmel
habt auffahren sehen" (Apg i, 11).
Dieses ist das Geheimnis des Grundsatzes jedes wahren Gottesdienstes. Es ist „das Geheimnis der Gottseligkeit". Nichts
führt den Menschen zur Erkenntnis und zur Anbetung Gottes,
als das durch den Heiligen Geist gewirkte und mit Glauben
verbundene Verständnis dieses Geheimnisses. Es enthält die
Wahrheit, welche das Haus Gottes bildet und füllt. „Gott ist
geoffenbart worden im Fleische, gerechtfertigt im Geiste, gesehen von den Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt
in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit".
196
Haben wir, Geliebte, die Person Jesu Christi lebendig und anhaltend vor unsern Augen? Er war, wie bereits zu wiederholten
Malen erwähnt, von aller Ewigkeit her in dem Schöße des
Vaters, und als geoffenbart im Fleische lag Er in der Krippe zu
Bethlehem. Er wandelte inmitten der Mühen und Leiden des
Erdenlebens; Er starb am Kreuze, verließ den Bauch der Erde
und stieg empor zu dem höchsten Platze im Himmel. Die Fäden, die diese Ereignisse miteinander verknüpfen, können,
wiewohl sie das Erhabenste mit dem Niedrigsten verbinden,
nimmer zerrissen werden. Der Heilige Geist stellt sie uns vor
Augen, sowie Er sie miteinander verbunden hat, und läßt uns
zuweilen dieses Band mit göttlicher Wonne anschauen. Wir
finden dieses z. B. in der treffendsten Weise in den Psalmen
23 und 24. Der inspirierte Dichter-Prophet stellt uns Jesum in
dem niedrigen Leben des Glaubens, der Abhängigkeit und der
Hoffnung hier auf Erden dar und schildert dann Seinen Eingang als „Jehova, mächtig im Kampf", als „Jehova der Heerscharen" und als „König der Herrlichkeit", durch „die ewigen
Pforten" Jerusalems im tausendjährigen Reiche.
Verweilen wir im Geist auf diesem Wege bei Ihm? Und nehmen wir wirklich den Platz ein, den auch Er in dieser Welt eingenommen hat? Denn noch ist Er in der Welt ein verworfener
Christus. Inwiefern sind wir eins mit Ihm, als einem Verworfenen? Betrachten wir nur diesen Jesus, oder harren wir mit
Ihm aus in Seinen Versuchungen (Ps 41,1; Lk22,28)? „Ihr Ehebrecher und Ehebrecherinnen! wisset ihr nicht, daß die Freundschaft der Welt Feindschaft wider Gott ist" (Jak 4, 4)? Jesus
genoß nach Seiner Auferstehung ebensowenig die Achtung der
Welt, wie vor dieser Zeit. Die Auferstehung verändert nichts
in dieser Beziehung. Die Welt war damals für Ihn nicht mehr,
als in den vorigen Tagen, wovon wir wissen, daß Er nicht hatte,
wohin Er Sein Haupt legen konnte. Er verließ die Erde für den
Himmel, sowie Er sie früher für Golgatha verlassen hatte. Bei
Seiner Geburt nahm die Krippe zu Bethlehem Jesum auf; und
nach Seiner Auferstehung ward der Himmel geöffnet, um Ihn
zu empfangen. Geoffenbart im Fleische stellte Er Sich dem
Glauben und der Annahme Israels dar; doch Israel verwarf
Ihn. Als Auferstandener ließ Er Sich Israel durch den Mund der
Apostel aufs Neue ankündigen; doch nochmals wurde das
197
Zeugnis verworfen, und noch immer ist Jesus ein Fremdling
auf Erden. Auch in unserm Jahrhundert dauert Seine Verwerfung fort. Als der auferstandene Mensch war Er einsam auf
dem Wege von Jerusalem nach Emmaus, wie Er es ehedem auf
dem Wege von Bethlehem nach Golgatha gewesen war. Geliebte! haben wir uns mit Jesu in dem Charakter eines „Verworfenen", eines „Einsamen" auf dem Wege vereinigt?
Mancher Gedanke würde über unser Verständnis hinausgehen,
wenn wir nicht durch die göttliche Weisheit selber unterwiesen
wären. „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es
jetzt nicht tragen", sagt der göttliche Lehrer zu Seinen Jüngern.
Doch wir sind fähiggemacht, größere Mitteilungen betreffs
Seiner zu verstehen. Er kann Entfernungen zu nichts machen,
so wie Er den Widerstand bezähmen kann. Im See Genezareth
wandelte Er auf dem Wasser; doch als Er in das Schiff gekommen war, „kam das Schiff alsbald an das Land, wo sie hinfuhren".
O wenn die Strahlen dieser verborgenen Herrlichkeit durchbrechen und in unsere Herzen scheinen, wie willkommen sind
sie dann! Wie sehr geziemt es uns daher, das ganze Herz zu
öffnen, damit Jesus hinein komme! Der Glaube lauscht. Der
Herr wollte das samaritische Weib von Anfang bis zu Ende
einfach zu einer Zuhörerin machen. Sie durfte sprechen, und
sie tat es; aber was zeugen ihre Worte anders, als daß ihr Verstand, ihr Gewissen und ihr Herz für Jesum geöffnet war. Und
sobald ihre Seele dazu bereit ist, kommt Er Selber, um mit
Seiner Fülle darin zu wohnen. Diese lauschende Stimme des
Glaubens ist es, die wir mehr zu verwirklichen suchen müssen,
und dieses besonders bei Betrachtung dieser bedeutungsvollen
und heiligen Gegenstände.
Wir haben nun in Kürze mit den Evangelisten das gegenseitige
Band zwischen den verschiedenen Teilen dieses großen Geheimnisses in dem Leben unsers Herrn Jesu Christi, des Sohnes
Gottes, betrachtet; oder wir sind, mit andern Worten, mit den
Engeln und den Jüngern zu Bethlehem, am Grabe und auf dem
ölberge gewesen. Und indem wir nun einen Blick in die Apostelgeschichte werfen, wird es uns klar werden, daß die Herzen
der Apostel mit der Tatsache, daß Jesus von Nazareth, Der
198
verachtete und gekreuzigte Mensch auf Erden, nun im Himmel
ist, erfüllt sind, und daß ihre Predigt stets von diesem Gegenstand ausgeht. Vor allem verbindet Petrus die ganze Kraft und
Gnade, die damals dem jüdischen Volke aus dem Himmel geoffenbart wurde, mit dem großen Ereignis: „Die Himmelfahrt
Jesu von Nazareth".
Bei der Ausgießung des Heiligen Geistes führt Petrus in seiner
Predigt die Prophezeiung Joels an. Aber die Art und Weise, in
welcher er darüber spricht, zeigt, daß er Jesum von Nazareth,
den Gekreuzigten, darin erblickt. Er erklärt, daß der Mensch,
Der sich durch Zeichen und Wunder Gottes in ihrer Mitte
geoffenbart habe, jetzt im Himmel sei und als der Gott, von
Dem der Prophet spricht, nun den verheißenen Heiligen
Geist ausgegossen habe. Außerdem sagt er noch, daß dieser
Mensch der Herr sei, in Dessen Warnen nun das Heil verkündigt
und Dessen Tag einmal zum Gericht anbrechen werde. So wie
Johannes in Jesu auf Erden den Sohn aus dem Schöße des
Vaters in Seiner vollkommenen, unbefleckten Herrlichkeit anschaut, so sieht Petrus den Sohn des Menschen, den Nazaräer,
Der auf Erden verachtet und verworfen worden war, im Himmel
sitzen, um Gnade, Kraft und Seligkeit mitzuteilen.
So finden wir auch in dem folgenden Kapitel, daß Petrus im
Namen Jesu von Nazareth, Der von den Menschen verworfen,
aber im Himmel verherrlicht war, den lahmen Bettler an der
schönen Pforte des Tempels durch den Glauben an diesen Namen heilt; und bei dieser Gelegenheit erklärt der Apostel, daß
der Himmel Diesen Jesus bis zu dem Augenblicke empfangen
hatte, wo Seine erneuerte Gegenwart Zeiten der Erquickung
and Wiederherstellung mit sich bringen werde. Und vorgeladen
vor die Hohenpriester und Schriftgelehrten, bezeichnet Petrus
in Diesem verschmähten Jesus von Nazareth den Stein, Der
durch die Bauleute verworfen, im Himmel zu „einem Eckstein"
geworden sei.
Dieses ist der Name und das Zeugnis, wovon die Apostel,
mögen wir sie gegenüber den Mächten der Erde erscheinen oder
inmitten der Leiden der Menschheit handeln sehen, stets erfüllt sind. Darin lag ihre Weisheit, ihre Bewährung, ihre Kraft.
In Diesem Jesus ist der einzige Grund ihres Vertrauens in der
199
Gegenwart Gottes. Er, Der in den Augen der Menschen schwach
und verachtet war, „der heilige Knecht Jesus", gegen Den
Israel und die Heiden, Herodes und Pilatus, die Hohenpriester
und die Könige der Erde Widerstand erhoben, ist der Gegenstand ihres Glaubens und der Grund ihrer Hoffnung vor Gott.
Sie kennen Ihn jetzt im Heiligtum, wie sie Ihn vorher in der
Mitte der Menschen gekannt haben. Und aus welch' verschiedenen Gründen bedienten sie sich dieses Namens! Mit voller
Sicherheit stüzten sie sich darauf zugunsten der Hilfsbedürftigen; mit Unerschrockenheit verteidigen sie diesen Namen vor
der Welt, und mit großem Zartgefühl berufen sie sich in ihrem
Gebet auf diesen Namen „Deines heiligen Knechtes Jesu" vor
Gott. Und es bewegt sich die Stätte, wo sie diesen Namen vor
Gott nennen, und sie sind erfüllt mit dem Heiligen Geiste
(Apg 4, 23—31). Jetzt wird alle Kraft im Himmel diesem Namen zuerkannt, sowie ehedem auf Erden alle Kraft aus demselben hervorströmte. Der Bettler an der Pforte des Tempels
wurde durch denselben geheilt; die Nennung dieses Namens
bewegte die Gebetsstätte, ja, was noch mehr ist, die Welt und
die Hölle werden dadurch erschüttert; denn die Hohenpriester
und Sadducäer waren mit Wut erfüllt und warfen die Zeugen
dieses Namens ins Gefängnis.
Doch alles dieses hindert den Apostel nicht, auch die tiefe Erniedrigung Dieses Jesus ans Licht zu stellen. Dessen Erhöhung
in den Himmel er zugleich aufs Neue verkündigt. Dieses geschieht sehr treffend in seinen ersten Predigten; Jesus war verworfen, überliefert, verleugnet, verschmäht, gekreuzigt, getötet worden. Er scheut sich nicht, alles dieses hervorzuheben.
Doch zugleich rühmt er den verachteten Namen des „Jesus von
Nazareth", und beständig hat er ihn auf seinen Lippen. All die
Leiden und die Schmach, die, unter welcher Form es auch sein
mochte, der „Fürst des Lebens", der „Heilige und Gerechte", in
Seinem Herzen, an Seinem Leibe oder in Seinen Umständen
hienieden ertrug, werden von dem Apostel durchlaufen und in
seinem lebendigen, kräftigen und von der Salbung des Heiligen
Geistes durchdrungenem Stil an den Tag gebracht (Siehe Kap
2 und 6). Er rühmt sich des Namens Jesu und bezeichnet Ihn,
Den sie verworfen hatten, nach dem Ratschlüsse Gottes
als „den Herrn und Christus". Daß ein Mensch im Himmel
200
Davids Herr und dem Samen Abrahams zu einem Segen geschenkt war, daß der verheißene Prophet, Der Moses gleich sein
sollte, nun gen Himmel aufgefahren war — dieses alles verkündigte er mit Freimütigkeit.
Und sowie die Salbung des Heiligen Geistes den Apostel zu
einem solchen Zeugnis befähigt, so besitzt auch Stephanus,
dieser Mann „voll Heiligen Geistes", dieselbe Kraft (siehe Kap
7). Spriclit Petrus von Jesu im Himmel, — Stephanus schaut
Ihn dort. Der Prediger verkündigt Ihn ohne Furcht, der Märtyrer schaut ihn ohne Hülle. „Als er aber, voll Heiligen Geistes,
unverwandt gen Himmel schaute, sah er die Herrlichkeit Gottes,
und Jesum zur Rechten Gottes stehen, und sprach: Siehe, ich
sehe den Himmel geöffnet, und den Sohn des Menschen zur
Rechten Gottes stehen".
Welch eine ausgedehnte, anbetungswürdige Szene ist daher für
das Glaubensauge geöffnet! Wir schauen das Band zwischen
Himmel und Erde, zwischen Gott und den Sündern, zwischen
dem Schöße des Vaters und der Krippe zu Bethlehem, zwischen
dem Kreuz auf Golgatha und dem Thron der Majestät im Himmel. Hätte der menschliche Verstand sich je solche Dinge vorzustellen vermocht? Und dennoch ist dieses Geheimnis eine
lebendige, ewige Wirklichkeit. „Das aber: er ist hinaufgestiegen, was ist es anders, als daß er auch hinabgestiegen ist in
die untern Teile der Erde. Der hinabgestiegen ist, ist derselbe,
der hinaufgestiegen ist über alle Himmel, auf daß er alles erfüllte" (Eph 4, 9. 10). Der Heilige Geist hatte den Gott der
Herrlichkeit in dem Kinde zu Bethlehem geoffenbart; undi nun
bezeugt Er, daß alle Macht und Gnade in dem verherrlichten
Menschen im Himmel gefunden wird und von Ihm herniederkommt. Welch göttliche Geheimnisse! Sicher, sie übersteigen
alle menschlichen Begriffe. „Wer sagen die Menschen, daß ich,
der Sohn des Menschen, sei?" Das war die Frage des Herrn in
den Tagen Seiner Erniedrigung; und die einzig passende Antwort war: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen
Gottes". Und später, als den Aposteln bei ihrer Predigt die
Frage vorgelegt wurde: „In welcher Macht oder in welchem
Namen habt ihr dieses getan?" konnte die göttliche Antwort
nur sein: „Durch den Namen Jesu Christi, des Nazaräers, den
ihr gekreuzigt, den Gott auferweckt hat aus den Toten, in ihm
steht dieser gesund vor euch".
201
Das ist Jesus, allezeit Derselbe Jesus — „in den untern Teilen
der Erde" und „über alle Himmel"! Er erfüllt alle Dinge. Gott
ist auf der Erde offenbart worden, der Mensch ist-im Himmel.
Daß Gott hier auf Erden in Seiner vollen Herrlichkeit gewesen
ist, daß der Sohn aus dem Schöße des Vaters Sich unter den
Kindern der Menschen befand, hat der Glaube in früheren
Tagen verstanden. Daß der Mensch jetzt im Himmel, daß Er
aus aller Verschmähung, Verachtung und Erniedrigung des
irdischen Schauplatzes dorthin gegangen ist, ist dem Glauben
in diesen Tagen geoffenbart. Der Glaube erfaßt das Geheimnis,
daß Er, Der hinabgestiegen und Der aufgefahren, Derselbe
Jesus ist.
Die Vollkommenheit Jesu in betreff Seiner Berufung und Seiner Werke als Mittler findet ihre Erklärung in der Vereinigung
Seiner zwei Naturen in einer und derselben Person. Er, Der von
Maria empfangen und geboren wurde, war Immanuel, das ist
„Gott mit uns". „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn uns
gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und man
nennt seinen Namen: Wunderbarer Berater, starker Gott,
Vater der Ewigkeit, Friedefürst". Er, Der zu den Juden sprach
und als Mensch kaum über dreißig Jahre zählte, war „ehe
Abraham ward" (Joh 8). Die Vollkommenheit Christi in jeder
Handlung Seines Dienstes, in allem, was Er litt und tat, und
in allem, was Er noch tut, ist das Werk Seiner ganzen Person.
Dies ist das Geheimnis. Der Glaube nimmt es an mit voller
Gewißheit des Herzens. Und der Glaube versteht noch mehr
von diesem Geheimnis und lauscht mit Verständnis und Freude
auf die Worte: „Gerechtfertigt im Geiste, gepredigt unter den
Nationen, und geglaubt in der Welt". — Wiewohl Gott im
Fleische geoffenbart ist, so ist Er doch gerechtfertigt im Geiste.
Alles in Ihm zeigte eine völlig moralische Schönheit; alles war
nach dem Herzen Gottes und in der unendlichsten, unbeschreiblichsten Weise Gottes würdig. Was uns betrifft, so bedürfen
wir einer Rechtfertigung außer uns; denn in uns selbst ist nicht
eine Spur von Gerechtigkeit. In Jesu war alles gerecht; jedes
Wort, jeder Gedanke, jede Bewegung, kurz alles war ein Gott
wohlgefälliges Opfer, ein duftender Wohlgeruch. Er war ebenso heilig unter dem Herzen der Jungfrau, wie Er es im Schöße
202
des Vaters war; Er war als Mensch ebenso unbefleckt wie als
Gott; Er war ebenso rein inmitten des Schmutzes der Welt, wie
ehedem, als Er vor Beginn der Welt stets die Wonne des Vaters
war. Der Glaube erkennt und erfaßt es daher, daß die Arbeit
und das Leiden, der Tod und die Auferstehung Dieses gesegneten Erlösers — Des im Fleisch geoffenbarten und im Geist
gerechtfertigten Gottes — nicht Seinetwegen, als ob Er dergleichen bedürfe, sondern nur für Sünder stattgefunden haben,
auf daß Er den „Nationen gepredigt und in der Welt geglaubt
werden möchte". In dem Opfer, welches Er vollbrachte, in der
Gerechtigkeit, die Er bewirkte und befriedigte, wird Jesus den
Sündern — seien es Juden oder Heiden — vorgestellt, auf daß
sie auf Ihn ihr Vertrauen stellen und durch Ihn ihrer Rechtfertigung versichert sein möchten.
Es würde uns zu weit führen, wenn wir bezüglich dieses Geheimnisses jedes einzelne Buch des Wortes Gottes erforschen
wollten; aber nächst der Apostelgeschichte gibt uns der Hebräerbrief in dieser Beziehung die meiste Unterweisung. „Aufgenommen in Herrlichkeit" — das ist es, was wir von Anfang
bis zu Ende in dieser göttlichen Offenbarung finden. Jedes
Kapitel in dieser bewunderungswürdigen Schrift, jeder Punkt
der Betrachtung läßt uns Den aufgefahrenen Jesus erblicken.
Der Brief nimmt alsbald damit seinen Anfang. Der Sohn, „der
Abglanz seiner Herrlichkeit und der Abdruck seines Wesens",
wird uns, „nachdem er durch sich selbst die Reinigung unserer
Sünden gemacht", als „sitzend zur Rechten der Majestät in der
Höhe" dargestellt, und zwar als Besitzer eines „vorzüglicheren
Namens", als der der Engel, und als der Erbe eines in Ewigkeit
bestehenden Thrones, auf welchem Platze der höchsten Gewalt
Er fortan wartet, bis Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße
gelegt sind.
Das zweite Kapitel läßt uns denselben Gegenstand von einem
andern Gesichtspunkte aus betrachten. Er, Der heiligt und Sich
erniedrigt hat, um Sich des Samens Abrahams anzunehmen
und den Platz eines Bruders bei ihnen auszufüllen, ist in Seiner
angenommenen Menschheit in den Himmel zurückgekehrt, um
dort für uns als ein barmherziger und treuer Hoherpriester zu
erscheinen. Ja, der Brief ist mit diesem Gedanken so ganz er203
füllt, daß in diesem Kapitel uns Jesus zum zweiten Mal dargestellt wird, und zwar, nach Psalm 8, als Der, Der „ein
wenig unter die Engel erniedrigt", doch jetzt „mit Ehre und
Herrlichkeit gekrönt" ist.
Die Kapitel 3 und 4 bilden einen auf das Vorhergehende sich
beziehenden Zwischensatz; doch auch hier wird uns Christus
in derselben Weise dargestellt. In Seiner Menschheit hier auf
Erden ist er in allem, gleichwie wir, versucht worden, ausgenommen die Sünde; doch nun ist Er, der Sohn Gottes, durch die
Himmel gegangen, um uns aus dem Heiligtum Barmherzigkeit
und Gnade zur rechtzeitigen Hilfe zu schenken.
In den folgenden drei Kapiteln, die über das Priestertum handeln, finden wir dasselbe. Der Sohn wird als Priester bezeichnet, Der höher ist, als die Himmel. Er war gekommen, um auf
Erden aus dem Stamme Juda geboren zu werden und Sich in
den Tagen Seines Fleisches zu heiligen; doch nun ist Er aufgefahren gen Himmel, um „allen, die ihm gehorchen, der Urheber
ewigen Heils zu werden". Ebenso ist es in den Kapiteln 8 und
9, welche über die Bündnisse handeln. Wir sehen Jesum in der
Stiftshütte im Himmel — in „der wahrhaftigen Hütte, welche
der Herr errichtet hat, nicht der Mensch".
In Kapitel 10, wo das Schlachtopfer der Hauptgedanke ist, wird
uns wiederum Der gen Himmel aufgefahrene Jesus vor die
Augen gestellt. Er, Der sagen konnte: „Siehe, ich komme"!
ist, nachdem Er Sünder in Seinem, Ihm zubereiteten Leibe geheiligt hat, wieder gen Himmel aufgefahren, und hat einen
Weg für uns geöffnet, auf welchem wir mit aller Freimütigkeit
in das Heiligtum durch das Blut Jesu hineingehen können.
Hiermit endet nun zwar der diese Lehre behandelnde Teil
unsers Briefes; aber nichtsdestoweniger hören wir alsbald wieder über Christus und den Himmel reden. In den jetzt folgenden Ermahnungen finden wir Jesum wiederum dargestellt als
den „Anfänger und Vollender des Glaubens, welcher der
Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das
Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones
Gottes". In diesem neuen Charakter ist Er also im Himmel erschienen. Sowohl das Leben des Glaubens, als auch alles, was
Er für uns in göttlicher Gnade litt und wirkte, hat Ihn dorthin
204
gebracht. Im Himmel erscheint Jesus dem Auge des Glaubens.
Hätten wir nur das rechte Verständnis, um solch eine Herrlichkeit
zu erkennen, und ein Herz, um davon zu genießen, dann würden wir erkennen, daß der Himmel mit einem ganz neuen und
früher unbekannten Glänze geziert ist, seit der Herr Jesus dort
mit allen Rechten und allen Eigenschaften, die Er Sich auf
Erden, und zwar für uns Sünder erwarb, Platz genommen hat.
Die Annahme des Fleisches und Blutes durch den Sohn, wodurch Er der Befreier des Samens Abrahams geworden ist, und
dann die Himmelfahrt Dieser gesegneten Person, — das sind die
beiden Lichtpunkte des großen Geheimnisses. „Gott ist geoffenbart worden im Fleische — er ist aufgenommen in Herrlichkeit". Der Heilige Geist stellt uns diese herrlichen Wahrheiten
vor die Augen, wie Er dieselben nach Gottes ewigem Ratschluß
für das Wohlgefallen und die Herrlichkeit Gottes gebildet hat.
Das „fleischgewordene Wort", wovon Johannes spricht, ist das
„Gute, welches aus Nazareth gekommen ist" (Joh 1). In dem
in Matthäus uns vorgeführten Immanuel und dem Kinde, Welches zur Anbetung in der Krippe zu Bethlehem lag, finden wir
ein und dieselbe Person (Mt 1 und 2). Inmitten des Thrones
sieht man ein Lamm stehen wie geschlachtet (Offb 5). In Ihm,
von Dessen Lippen Weisheit sprudelte und Der für die gewöhnlichsten Dinge des tagtäglichen Lebens befähigt war, war Der
zu finden, Der in den Geheimnissen des göttlichen Wesens das
Fundament aller Ratschlüsse Gottes war (Spr 8). In dem Dornbusch am Horeb befand sich der Gott Abrahams; in der Wolkensäule der Wüste war die Herrlichkeit; in dem Gewappneten
bei Jericho erkannte man den Obersten der Heerscharen Jehovas; in dem Fremdling, der den Gideon auf seiner Dreschtenne und Den Manoah auf seinem Acker besuchte, zeigte Sich
der Gott, Dem allein die Anbetung der ganzen Schöpfung gebührt. Dieses sind einzelne Beweise, die in Gnade und zur Verherrlichung Gottes bezeugen, daß das Höchste mit dem Niedrigsten eng verbunden ist. „Niemand ist hinaufgestiegen in
den Himmel, als nur der aus dem Himmel herabgestiegen ist,
der Sohn des Menschen, der im Himmel ist".
Wie schön finden wir diesen Gedanken im Epheserbriefe wieder. „Das aber: er ist hinaufgestiegen, was ist es anders, als
daß er auch hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde".
205
Die Würde Dessen, Der gen Himmel aufgefahren ist, der Platz,
den Er einnimmt, der Dienst, den Er erfüllt — alles trägt einen
solch hervorragenden Charakter, daß es uns deutlich wird, daß
Er, Der herniedergestiegen ist, bereits im Himmel „über
allem" war, wie geschrieben steht: „Der von oben kommt, ist
über alles". Doch bevor Er gen Himmel auffuhr, hat Er durch
Sich Selbst die Reinigung unserer Sünden zuwegegebracht, hat
den zunichtegemacht, der des Todes Gewalt hatte, und hat
alle die erlöst, die dem Teufel unterworfen waren. In diesen
Eigenschaften ging Jesus gen Himmel, und hier erfüllt Er die
wahrhaftige Hütte, das Heiligtum im Himmel, welches Gott
und kein Mensch aufgerichtet hat, um uns dort ein ewiges Erbteil zu sichern und die himmlischen Dinge zu reinigen (Hebr 8
und 9).
Wer vermochte in solcher Herrlichkeit und Macht aufzufahren
außer Ihm, Der bereits im Himmel „über allem" gewesen war.
„Das aber: er ist hinaufgestiegen, was ist es anders, als daß
er auch hinabgestiegen ist". Das durch Jesus vollbrachte Werk
sagt uns, wer Er ist. Selbst Sein Leiden in Schwachheit und Erniedrigung verkündigt uns die göttliche Herrlichkeit Seiner
Person. — Hierauf folgt: „Der hinabgestiegen ist, ist derselbe,
der hinaufgestiegen ist über alle Himmel, auf daß er alles erfüllte". Diese Worte zeugen von der Unermeßlichkeit Seiner
Souveränität, so wie die anderen die Größe Seiner Person offenbaren. In Seinem Werke, in Seinem Umherwandeln auf Erden
und in Seinen Überwindungen hat Jesus die höchsten und niedrigsten örter besucht. Er ist auf der Erde und in den unteren
Teilen der Erde gewesen. Er war im Grabe, dem Sitze der
Macht des Todes; jetzt ist Er in den höchsten Himmeln, erhaben über alle Obrigkeit und Macht. In dieser Weise wird
Sein Reich und Seine Herrschaft vor dem Glaubensauge zur
Schau gestellt.
Es ist Derselbe Jesus, Immanuel, der Sohn, und doch unser
Bruder aus dem Samen Abrahams. Wir dürfen die beiden
Naturen in dem Herrlichen und Vollkommenen nicht miteinander vermengen. Im Glauben beuge ich mich vor der Wahrheit, daß Er, Der heiligt, an Fleisch und Blut teilgenommen
hat. Ich erkenne von ganzem Herzen die wahrhaftige Mensch206
lieit in Seiner Person; jedoch war es keine unvollkommene
Menschheit, die in irgendeiner Weise in dem Zustande oder
unter den Folgen der Sünde lag. Ich erquicke mich an der
Sprache des Heiligen Geistes, Der von dem „Menschen Christus
Jesus" spricht. Der Mensch, Der gehorsam war, ist uns als
Grund und Gegenstand der Gerechtigkeit geschenkt
(Röm 5, 15). Der auferstandene Mensch ist das
Unterpfand unserer Auferstehung (1. Kor 15, 20). Der gen
Himmel aufgefahrene Mensch ist die Bürgschaft, daß unsere
Interessen jeden Augenblick vor Gott im Himmel gewahrt
werden (1. Tim 2, 5). Der Mensch, Der bald aus dem Himmel herniederkommen wird, macht die Festigkeit und Freude
des zukünftigen Königreichs aus (Ps 8). Doch ich wiederhole
es: Die Person Christi muß in ihrer unzerteilbaren Einheit im
Auge behalten werden. Das vollkommene Werk Christi in
jeder Handlung Seines Dienstes, in allem, was Er tat und litt,
und in allem, was Er noch tut, ist das Werk Seiner ganzen Person. Diese Person in all ihren Beziehungen hing am Kreuze,
der Sohn — „Gott über alles, gepriesen in die Zeitalter". — Er
übergab den Geist, wiewohl Er starb unter dem Gericht Gottes
über die Sünde, und wiewohl Er durch die Hände böser Menschen gekreuzigt und getötet ist. Und dieses ist eine unendliche
Barmherzigkeit.
Ja, Geliebte, es war Jesus von Anfang bis zu Ende. Er betrat
den verborgenen Pfad allein und ohne jemandes Hilfe. Niemand als Er — „Gott geoffenbart im Fleische" — vermochte
diesen Pfad zu wandeln. Der Sohn aus dem Schöße des Vaters
wurde hienieden das Lamm für den Altar; und darnach erreichte das geschlachtete Lamm den Platz der Herrlichkeit über
alle Himmel. Es ist Seine Person, die allem Bedeutung und
Kraft verleiht. Weder Sein Dienen, Leiden und Sterben, noch
Seine Auferstehung und Himmelfahrt wären von Nutzen gewesen, wenn Jesus nicht Der gewesen wäre, der Er ist. Seine
Person ist der Felsen; und darum ist Sein Werk vollkommen.
Es ist das Geheimnis der Geheimnisse. Doch bedenken wir, daß
]esus uns nur als ein Gegenstand des Glaubens, der Liebe, des
Vertrauens und der Anbetung vorgestellt wird.
Gott und Mensch, Himmel und Erde werden in diesem Geheimnis gleicherweise dem Glauben dargeboten. Gott war hie207
nieden auf der Erde, und zwar geoffenbart im Fleische; und
jetzt ist der verherrlichte Mensch droben im Himmel. Das
Band dieser erhabenen Wahrheiten habe ich in einzelnen Zügen
dem Leser zur Betrachtung vorzuführen gesucht; und eine solche
Betrachtung ist sicher geeignet, die himmlischen und die ewigen
Dinge uns näher zu bringen und für unsere Herzen wesentlicher zu machen. Das Fleisch mit seinen Begierden und seiner
weltlichen Gesinnung verhindert uns oft, ihre Herrlichkeit zu
genießen; aber die Entfernung selbst ist verschwunden; wir
sind Ihm nahegebracht. Nachdem Jesus gen Himmel aufgefahren war, zeigt Er Sich dem Stephanus außerhalb der Stadt
der Juden, und erscheint dem Saulus von Tarsus auf dem
Wege zwischen Jerusalem und Damaskus; und obwohl uns
nicht solch ein Anblick von Herrlichkeit geschenkt wird, so
gewinnt doch die Nähe und die Wirklichkeit dieser Herrlichkeit
an Frische und Kraft durch die Betrachtung dieser großen Geheimnisse.
Und wird nicht das Königreich Christi auf Erden die Verwirklichung dieser wundervollen Vereinigung Gottes und des Menschen, des Himmels und der Erde sein? Sicher; denn Himmel
und Erde werden in ihrer verschiedenen Weise Zeugen und
Verkündiger dieses Geheimnisses sein. „Laß sich freuen die
Himmel und frohlocken die Erde" (Ps 96, 11)! Die Versammlung, vereinigt mit dem erhöhten und verherrlichten Menschen
im Himmel, wird über alle Hoheiten und Gewalten erhaben
sein. Die von Jakob geschaute Leiter wird aufgerichtet stehen;
und der Sohn des Menschen wird sowohl der Mittelpunkt, als
auch der Stützpunkt aller irdischen und himmlischen Herrlichkeit sein. Die Offenbarung der Kinder Gottes wird die ganze
Schöpfung von der Knechtschaft des Verderbnisses zur Freiheit der Herrlichkeit freimachen. Die himmlische Stadt — die
Braut, das Weib des Lammes — wird aus dem Himmel herniederkommen, und die Könige der Erde werden ihre Herrlichkeit zu ihr bringen, während sie der Erde unter ihren Füßen
die Wasser ihres Stromes, die Blätter ihres Baumes und das
Licht ihrer Herrlichkeit geben wird. Engel rings um den Thron
werden rufen: „Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ist".
Und alle Kreaturen, die im Himmel, auf der Erde und im Meere
ist, wird Ihm, Der auf dem Throne sitzt und dem Lamme
Danksagung, Ehre und Herrlichkeit darbringen. Das Holz Judas
208
und das Holz Ephraims werden zusammengefügt werden, und
sie werden einen einzigen König haben (Hes 37). „Und es wird
geschehen an selbigem Tage, da will ich erhören, spricht Jehova; ich will den Himmel erhören, und er wird die Erde erhören, und die Erde wird erhören das Korn und den Most und
das öl, und sie werden Israel erhören" (Hos 2, 21. 22). Was
sind dies anders als die gesegneten Früchte, die in dem zukünftigen Königreiche von der Vereinigung Gottes mit dem Menschen, deren wir uns jetzt schon erfreuen dürfen, geerntet werden sollen. Der Grund dieser Offenbarung im Himmel und auf
Erden, unter Engeln und Menschen, ja, in der Schöpfung selbst
wird in Bethlehem, in dem Garten Josephs von Arimathia und
auf dem Ölberge gefunden.
Möchte unser Herz diese Unterweisung des Geistes verstehen!
Möchten wir diese herrlichen Geheimnisse mit heiliger Andacht
betrachten, wie einst die Engel in den Fluren Bethlehems und
am Grahe Jesu; möchten wir mehr eintreten in die Gedanken
der Jünger am ölberge, als sie ihre Blicke gen Himmel richteten, um ihrem gen Himmel aufgefahrenen Lehrer nachzuschauen (siehe Lk 24, 44—52). Sie feierten damals, wie Israel
in 3. Mo 23, 9—14, das Fest der „Erstlingsgarbe". Jesus, der
wahre Erstling war jetzt eingesammelt worden. Als ihr göttlicher Lehrer hatte Er ihnen über den geheimen Sinn dieser
Garbe der ersten Früchte, d. h. über die Bedeutung Seiner Auferstehung, eine Erklärung gegeben. Sie sehen ihren auferstandenen Herrn gen Himmel auffahren und halten Festfeier, als
wäre es ein Brandopfer. „Und sie huldigten ihm und kehrten
zurück nach Jerusalem mit großer Freude". Wahrlich, wir
haben Ursache zu sagen: „Anerkannt groß ist das Geheimnis
der Gottseligkeit: Gott ist geoffenbart worden im Fleische, gerechtfertigt im Geiste, gesehen von den Engeln, gepredigt unter
den Nationen, geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit".
Der Herr Jesus trat, als Er in Herrlichkeit aufgenommen wurde,
in das Licht der höchsten Himmel; aber wir sehen Ihn dort in
dem Glänze, der Ihm eigen war; wir sehen Ihn mit einem
herrlichen Leibe sowie auch wir dereinst einen herrlichen Leib
haben werden. Jesus ist im Himmel mit demselben Leibe, in
welchem Er hier auf Erden wandelte. Es ist das „Heilige", Wel209
ches durch den Heiligen Geist im Schöße der Jungfrau gebildet
ist; es ist der „Heilige", Der im Grabe keine Verwesung gesehen; es ist der „Leib", Der für uns geopfert ist, und wohin Er
unsere Sünden auf dem Holze getragen hat. Dieselbe Natur,
worin Er Schmach, Verachtung und Leiden erduldet hat, befindet Sich jetzt verherrlicht im Himmel. Es ist der durchbohrte
Leib, den jedes Auge sehen wird. Diese Hülle wird nimmer beiseite gesetzt werden. Die Person Christi, welche auch Seine
menschliche Natur in Sich schließt, wird ewiglich der Gegenstand göttlicher Verehrung und Anbetung sein.
Der gegenwärtige Zustand Jesu ist derjenige der höchsten Herrlichkeit, und zwar weit erhaben über die ganze Schöpfung Gottes, und über jeglichen Namen, der genannt werden kann.
Er wurde mit unaussprechlicher Liebe und mit unendlicher
Wonne von Seiten Gottes des Vaters aufgenommen, nachdem
Er den Vorsatz der Gnade Gottes bezüglich der Erlösung der
Sünder vollkommen zur Ausführung gebracht hatte.
Er wurde im Triumph aufgenommen, nachdem Er die Gefangenschaft gefangen geführt und die Fürstentümer und Gewalten ausgezogen hatte; und bekleidet mit aller Macht, die Ihm
im Himmel und auf Erden gegeben war, nahm Er dort Platz
zur Rechten der Majestät in der Höhe.
Er wurde aufgenommen als das Haupt Seines Leibes, der Versammlung, so daß diese aus der Fülle der Gottheit, die leibhaftig
in Ihm wohnt, hervorwächst mit göttlichem Wachstum durch
den Heiligen Geist, Der uns gegeben ist.
Er wurde aufgenommen wie in einen Tempel, um dort in der
Gegenwart Gottes für uns zu erscheinen, um dort als der Diener des wahren Heiligtums und als unser Sachwalter Seinen
Platz zu nehmen, und in dieser oder jener Weise der Gnade
uns vor dem Throne zu dienen.
Er wurde als unser Erlöser in dem Hause des Vaters aufgenommen, um den Kindern, die Gott Ihm gegeben hat, Wohnungen zu bereiten, auf daß auch sie seien, wo Er ist.
Fortan im Himmel sitzend, harrt Er dem Augenblick Seiner
Erscheinung entgegen, um Seinen Heiligen in der Luft zu begegnen, damit sie für immer bei Ihm seien. Er wartet auf den
210
Augenblick, wo Er aufs Neue gesandt werden wird, um der
Erde durch Seine Gegenwart Zeiten der Erquickung zu bringen;
und Er wartet, bis Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße
gelegt sind.
Unsere Liebe ist schwach, unsere Kraft ist klein; aber als Grundsatz kenne ich nichts, was auf eine würdigere Weise solche
Blicke des Glaubens beantworten könnte, als den Geist der
Hingabe, welche uns mit Paulus sagen läßt: „Ich weiß sowohl
niedrig zu sein, als ich weiß Überfluß zu haben", — und in
diesem Geiste rufen wir mit Sehnsucht: „Komm, Herr Jesus! Ja,
komme bald!"
Geliebte! Auf diese Weise hat unser Gott und Heiland durch
unauflösliche Bande Seine Menschheit mit Seiner Gottheit verknüpft. Sowohl Seine Wonne und Herrlichkeit, als auch Sein
Ratschluß und Seine Stärke bestätigen uns die Beständigkeit
derselben. Gott — Mensch — wie unerklärbar diese Vereinigung
auch sein mag, so hat Er sie doch in Sich Selbst dargestellt. Der
Glaube erkennt sie an; und der verlorene Sünder ruht in Frieden und Sicherheit auf dem Felsen der Zeitalter.
5.
Alles hast Du Seinen Füßen unterworfen (Hebr 2, 8).
Wenn wir auf das Evangelium des Lukas unsern Blick richten,
so entdecken wir sofort die innige und enge Verbindung zwischen Himmel und Erde. Die Mängel und Gebrechen der Menschen öffnen die Tür des Himmels, die, einmal geöffnet, sich
nicht wieder schließt.
Zacharias und Elisabeth waren beide vor Gott gerecht, indem
sie in allen Geboten und Satzungen des Herrn untadelig wandelten. Sie waren aus priesterlichem Geschlecht, aus dem Samen
Aarons. Doch nicht wegen ihrer Gerechtigkeit, sondern wegen
ihrer Mängel und Gebrechen öffnete sich der Himmel. Elisabeth
war unfruchtbar, und beide waren in ihren Tagen weit vorgerückt; aber gerade in ihrem Kummer und in ihrer Schwachheit lag ihr eigentlicher Segen. Denn zu dem unfruchtbaren
Weibe und zu dem kinderlosen Manne kommt der Engel Gabriel mit einer Verheißung aus dem Himmel. Der Himmel ist
211
geöffnet und alsbald zeigen sich die Engel in voller Tätigkeit
und Freude. Ob es im Tempel, ob es in der Königsstadt, oder
ob es in einem abgelegenen Dorfe des verachteten Galiläa ist,
macht keinen Unterschied. Gabriel besucht alle diese Plätze mit
derselben Bereitwilligkeit. Die Herrlichkeit Gottes erfüllt die
Fluren Bethlehems ebensowohl, als die Heerscharen der Engel.
Der Heilige Geist erfüllt mit göttlichem Lichte und göttlicher
Kraft Seine auserwählten Gefäße; und der Sohn selbst nimmt
Fleisch und Blut an. Himmel und Erde sind also einander sehr
nahegebracht. Die Tätigkeit und Freude, die dort oben ihren
Anfang genommen, werden auf Erden gefühlt und beantwortet. Die Hirten, die bevorzugten Weiber, der alte Priester und
das noch nicht geborene Kind nehmen gemeinschaftlichen Anteil an der heiligen Entzückung des Augenblicks. Und wie innig
ist die Gemeinschaft zwischen Himmel und Erde! Der Engel
nennt den Zacharias und die Maria bei Namen und redet mit
ihnen über Elisabeth. Das Herz versteht diese Sprache; und
sicher würden wir dem Herrn für dieses alles danken, wenn wir
einfältiger und in lebendigerem Glauben in dem Bewußtsein
der Wirklichkeit und der Nähe des Himmels wandelten.
Jakob sah einst den geöffneten Himmel. Eine Leiter zeigte sich
seinem Auge, deren Spitze in den Himmel reichte, während
deren anderes Ende auf dem Platze stand, wo er am Boden lag.
Es war ein elender, unheiliger Platz, der Zeuge seiner Sünde
und seines Unglücks; aber die Leiter stand an diesem Platze,
und die Stimme des Herrn, Der dort oben in Seiner Herrlichkeit stand, redete mit Jakob von Segnungen, von Sicherheit,
von Führung und von dem Erbteil, das seiner wartete.
Ebenso sah Stephamis den Himmel geöffnet und die Herrlichkeit geoffenbart; jedoch sah er auch den Sohn des Menschen
stehend zur Rechten Gottes. Was einst die Leiter dem Erzvater
ankündigte, das ward dem Märtyrer durch diese Erscheinung
gezeigt, nämlich, daß er und die Umstände, in denen er sich
befand, in demselben Augenblicke erkannt und mit Teilnahme
im Himmel betrachtet wurden. Und so ist es auch jetzt. Die
Zeit macht keinen Unterschied. Der Glaube schaut jetzt denselben geöffneten Himmel an und erkennt, daß zwischen dem
Himmel und unsern Umständen Gemeinschaft ist. Für das
Glaubensauge gibt es eine Leiter, und der Himmel ist offen.
212
Der „Mensch Christus Jesus", der Mittler des neuen Bundes,
der Hohepriester, der Sachwalter bei dem Vater, Er, der Mitleiden hat und bis in die Räume der Herrlichkeit uns vorangegangen ist, wird auf ihrer Spitze geschaut.
Doch dieses ist noch nicht alles. Der Glaube beugt sich noch vor
einem andern Geheimnis im Himmel. Er weiß, daß der Herr,
indem Er Seinen Platz im Himmel in solch einem gnadenreichen
Charakter eingenommen hat, dieses auch als Der tut, Der
von den Menschen verachtet und verworfen wurde. Sicher
starb der Herr Jesus unter der Hand Gottes; Seine Seele ist zu
einem Opfer für die Sünde gemacht. „Es gefiel Jehova, ihn zu
zerschlagen". Seine Auferstehung aber zeugte von der Annahme Seines Opfers; und in diesem Charakter fuhr Er gen
Himmel, um dort dem Vorsatz, der mit solch einem Sterben
und Auferstehen verbundenen Gnade weiter dienstbar zu sein.
— Doch starb der Herr auch unter der Hand der Menschen, das
will sagen: die Bosheit der Menschen hat ebenso Anteil an
Seinem Tode als die Gnade Gottes. Er ist von den Ackerbauern
hinweggeschickt, von der Welt gehaßt und verworfen, gekreuzigt und getötet. Ebenso ist auch Seine Auferstehung der Beweis von dem Gerichte dieser Welt (Apg 17, 31); und Seine
Himmelfahrt bringt Ihn zu der Erwartung des einen Tages, wo
„seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt werden sollen"
(Hebr 1, 13). Der Glaube schaut daher Den gen Himmel aufgefahrenen Jesus als den Hohenpriester, Der im Himmel in Gnaden unser Fürsprecher ist, und der zu gleicher Zeit auf das Gericht seiner Feinde wartet.
Bei der Predigt des Evangeliums tritt das erste dieser Geheimnisse in den Vordergrund. Obwohl zwar stets erwähnt wird,
daß der Mensch den Herrn der Herrlichkeit getötet hat, so ist
doch der Tod des Herrn als des Lammes Gottes der Grund der
Gnade, welcher in der Predigt hervorgehoben wird, während
das, was die Mörderhände des Menschen vollbracht haben,
kaum berührt wird. So sehr wir indes Ursache haben, uns der
ersten Wahrheit zu rühmen, so ist es doch ein beklagenswerter
Mangel in den Seelen der Heiligen und in dem Zeugnis der
Versammlung, wenn die Tatsache, daß der Herr durch Menschenhände getötet ist, nicht in ihrer Tragweite erkannt und
behandelt wird. Im Himmel wird sie nicht vergessen werden.
213
Das, was dort gegenwärtig geschieht, ist allerdings die Folge
des Todes Jesu als des Opfers für die Sünde, sowie die Folge
Seiner Fürbitte als des Priesters; doch bald wird der durch
Menschenhände bewirkte Tod des göttlichen Märtyrers, des
Sohnes Gottes, den Handlungen des Himmels einen neuen
Charakter verleihen.
Dieser Unterschied wird in der Schrift stets festgehalten. Der
in Offb 4 geöffnete Himmel trägt ganz andere Grundsätze und
Tätigkeiten zur Schau, als der Himmel, welchen wir im Hebräerbriefe geöffnet sehen. Sie sind ebensosehr voneinander
unterschieden, wie die beiden Gesichtspunkte, unter denen wilden Tod betrachten müssen, nämlich entweder als geschehen
durch Menschenhand, d. h. durch uns, oder durch Gottes Hand,
d. h. für uns. Sowohl im Hebräerbrief als auch in der Offenbarung sehen wir einen Thron und einen Tempel im Himmel.
Doch der Unterschied ist in die Augen fallend. Im Hebräerbriefe ist es der Thron der Gnade, in welchem alle unsere gegenwärtigen Bedürfnisse ihre Befriedigung finden; in der Offenbarung aber ist es der Thron des Gerichts, und zwar umringt von den Werkzeugen und Vollstreckern des Zornes und
Grimmes Gottes. Im Hebräerbriefe ist das Heiligtum oder der
Tempel durch den Hohenpriester unsers Bekenntnisses in Besitz genommen, Der dort als Mittler eines bessern Bundes
in der Kraft Seines eigenen kostbaren Blutes dient, während
aus dem Tempel der Offenbarung schreckliche Stimmen zur
Vorbereitung des Urteils hervorgehen, und Blitze, Donner und
Erdbeben vernommen werden. Dieser Tempel ist gleich jenem,
den Jesaja gesehen, mit Rauch angefüllt, so daß die Türschwellen bebten zum Beweis, daß der Gott, Dessen die Rache
ist, Sich dort in Seiner Herrlichkeit offenbarte (Jes 6).
Das in der Offenbarung in betreff des Himmels dargestellte
Bild ist höchst feierlich. Der Himmel ist hier der Platz der
Macht, welche sich zum Gericht bereitet. Die Siegel werden geöffnet, die Posaunen geblasen, die Schalen geleert; alles birgt
eine schreckenerregende Heimsuchung der Erde in sich. Der
dort stehende Altar ist nicht der Altar des Hebräerbriefes, wo
das himmlische Priestertum von dem Brote des Lebens ißt,
sondern ein Altar, welcher Feuer für die Erde liefert. Auch
wütet dort ein Krieg, bis schließlich sich der Himmel für Ihn
214
öffnet, dessen Name das „Wort Gottes", dessen Gewand in
Blut getaucht ist, und Der ein Schwert in Seinem Munde trägt,
um damit die Völker zu schlagen.
Wahrlich, das ist der Himmel in einem ganz neuen Charakter.
Die Gegenüberstellung ist sehr treffend. Es ist nicht der Himmel, der jetzt durch den Glauben angeschaut wird — ein Heiligtum des Friedens, versehen mit allen Zeugnissen und Mitteln
der Gnade, sondern ein Himmel, welcher uns erklärt, daß das
Gericht zu seiner Zeit von dem Herrn, Der jetzt in Gnade handelt, ausgeführt werden wird. Der Himmel ist jetzt der Platz
der Gnade; am Tage der Offb 4 wird er der Platz des Gerichts
sein, bis wir am Schluß der Handlungen des ganzen Buches,
in den Kapiteln 21 und 22, in den Himmel der Herrlichkeit
gebracht werden.
Die Seele muß sich mit der ersten Wahrheit vertraut machen,
daß das Gericht der Herrlichkeit vorangeht. Ich rede hiervon
unter Bezugnahme auf die Geschichte Gottes mit der Welt. Der
Gläubige ist vom Tode zum Leben hinübergegangen. Für ihn
gibt es kein Gericht. Aber er muß wissen, daß bezüglich der
Regierung Gottes über die Erde oder die Welt das Gericht der
Herrlichkeit vorangeht. Das Königreich wird kommen mit dem
Schwert oder der „eisernen Rute", bevor es mit dem Szepter
erscheint. Wenn der Sohn die Nationen als Untertanen annimmt, wird Er sie zuerst als Töpfergefäß zerschmettern. Der
Alte an Tagen sitzt auf dem von Feuerflammen umringten
Throne, und die Bücher sind vor ihm geöffnet, bevor der Sohn
des Menschen Sich zu Ihm naht in den Wolken des Himmels,
um Macht und Ansehen zu empfangen (Ps 2; Dan 6).
Dieses alles wird uns in der Schrift deutlich vor Augen geführt.
In Offb 4 beschäftigt sich der Himmel — wenn ich mich so
ausdrücken darf — mit einem neuen Gedanken, mit einem
neuen Gegenstand. Es ist Christus als verworfen durch die
Menschen, und nicht Christus als durch Gott zur Erlösung der
Sünder aufgenommen. Darum werden Vorbereitungen getroffen, um das Böse, welches Jesus auf Erden erduldet hat, zu
rächen und Seine Rechte auf Erden zu verteidigen; mit andern
Worten: Gott beginnt dort, jene Handlungen und Taten zur
Ausführung zu bringen, die Jesum, nach dem Gericht über
Seine Feinde, in Sein Königreich einführen werden.
215
Der Herr Jesus beeilt sich indes nicht, in dieser zweiten Eigenschaft, als der durch die Welt Verachtete und Verworfene handelnd aufzutreten; Er hemmt sozusagen Seine Schritte, bevor
Er in dem Charakter der Offenbarung erscheint. Und in diesem
Aufschieben der Gerichte und in diesem Verweilen auf dem
Platze der Gnade erblicken wir wieder einen lieblichen Zug des
Jesus, Den wir durch den Glauben kennen. Wie langsam bewegte Er Seine Schritte, als Er hienieden Sein Urteil über Jerusalem aussprechen sollte! Ehe über Seine Lippen die Worte
kamen: „Dein Haus wird wüste gelassen werden", hörte man
Ihn sagen: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen,
wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel"!
Er verweilte in den Ebenen hienieden, indem Er jede Stadt oder
jedes Dorf in der Gegend in dienender Gnade besuchte, bevor
Er auf dem Olberge Platz nahm und die Gerichte und Verwüstungen aussprach, die über Zion kommen sollten (Mt 24, 1).
Von Ihm nun, Der auf diese Weise so zögernd zur Gerichtsstätte schritt, steht geschrieben: „Er ist langmütig gegen uns,
weil er nicht will, daß irgendwelche umkommen, sondern daß
alle zur Buße kommen" (2. Petr 3).
Er ist derselbe Jesus hier auf Erden und dort im Himmel, wiewohl die Zustände verändert sind. Die Gnade, die während
Seiner irdischen Laufbahn in Ihm war, ist dieselbe, die nun im
Himmel in Ihm ist. Wie trostreich und herrlich! Welch ein
Glück, wenn wir in Wahrheit sagen können: „Wir kennen
Ihn"! Der Glaube erkennt in Jesu im Himmel Denselben, Den
er hienieden gekannt hat. Er, der Diener und Zeuge der Gnade
Gottes bezüglich der Menschen, ist Der, Der einst der Träger der Feindschaft der Menschen gegen Gott war, und Der Sich
zugleich als der Gott der Rache offenbaren wird.
Aber wir entdecken noch mehr in diesem Jesus, und zwar in
unmittelbarer Beziehung zu unserer gegenwärtigen Betrachtung. Als Er auf Erden war, sah Er Sich nach Seinem Königreiche um. Er zeigte Sich der Tochter Zion als ihr König, der
Sohn Davids. Er erschien als Der, Der von altersher durch die
Propheten verheißen war und kam „sanftmütig und auf
einer Eselin reitend" in die Stadt. Schon zu Anfang war Sein
Stern, der Stern des königlichen Bethlehemiten im Morgenlande erschienen, um die Heiden zum Throne Davids zu rufen,
216
der in der Stadt Davids geboren war. Doch was Er damals
suchte, hat Er nicht gefunden; „die Seinigen nahmen ihn nicht
auf". Nichtsdestoweniger hat Er im Himmel dasselbe Verlangen nach Seinem Königreiche. „Ein gewisser Edelmann ging hin
in ein fernes Land, um ein Reich für sich zu empfangen" (Lk
ig). Obwohl auf dem Throne des Vaters, denkt Jesus an Sein
Reich, sowie Er hier auf Erden daran dachte. Auch in diesem
Charakter sind wir mit Demselben Jesus in Gemeinschaft. Auf
Erden war Jesus der König Israels und hatte großes Verlangen
nach Seinem Reiche; doch durch Seine Mitbürger verworfen,
hat Er Sein Königreich im Himmel empfangen. Zu seiner Zeit
wird Er wiederkehren, um in der Wonne Seines Herzens da zu
herrschen, wo Er zu Anfang vergeblich Sein Reich zu gründen
gesucht hat. „Ich sah in diesem Gesicht des Nachts, und siehe,
es kam einer in des Himmels Wolken, wie eines Menschen
Sohn, bis zu dem Alten an Tagen, und ward vor denselben gebracht. Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, daß ihm alle
Völker, Nationen und Zungen dienen sollten. Seine Gewalt ist
ewig, die nicht vergeht, und sein Königreich hat kein Ende"
(Dan 7, 13. 14).
Doch wir entdecken noch mehr. Hier auf Erden war es der
Wunsch Jesu, von Seinen Jüngern gekannt zu sein. Er verlangte, daß sie, die armen Sünder, den Schleier, der Seine Herrlichkeit verhüllte, mit ihren Blicken durchdringen sollten. Auch
war es Seine Wonne, Sich in Seiner Gnade dem Glauben offenbaren zu können. Der Glaube, der, gestützt auf die Person
Jesu, in seinen Erwartungen keine Grenzen kannte und Ihm
mit Freimütigkeit nahte, war Ihm köstlich. Der Sünder, der sich
inmitten der Verachtung der Welt an Ihn klammerte und sich
Ihm, ohne Vermittlung eines anderen, allein anvertraute, war
Ihm stets willkommen. Die Seele, die mit Freimütigkeit Seine
Gegenwart und Gemeinschaft suchte, konnte stets der Erhörung versichert sein.
Jesus verlangte mit Seinen Auserwählten eins zu sein — Er
verlangte ein vollkommenes, persönliches und bleibendes Einssein. Er wollte bei dem Vater mit ihnen sowohl Seinen Namen
und die Liebe, in welcher Er stand, teilen, als auch die Herrlichkeit, deren Erbe Er war. Er suchte völlige Übereinstimmung.
217
Er hatte das Bedürfnis nach Gemeinschaft, sowohl bezüglich
Seiner Freude, als auch Seiner Leiden; und unmöglich können
wir es ermessen, wie schmerzlich die Enttäuschung für Sein Herz
war, als Er dieses Bedürfnis nicht befriedigen konnte; ja
schmerzlicher noch, als jene Enttäuschung, wo Er kam, um ein
Königreich zu fordern, und es nicht empfing. „Könnt ihr nicht
eine Stunde mit mir wachen?" — das war die Sprache eines
alleingelassenen, getäuschten Herzens.
Jesus begehrte, als Er auf Erden war, Seinen Thron mit den
Seinigen zu teilen. Er wollte nicht allein bleiben. Er wünschte
Seine Ehre und Herrschaft mit Seinen Auserwählten zu teilen,
sowie Er verlangte, daß sie an Seiner Freude und an Seiner
Traurigkeit teilnehmen sollten.
Wohlan, dieses alles findet Er in der Versammlung. Die Versammlung ist berufen, den oben angedeuteten Wünschen zu
entsprechen und alles für Ihn zu sein, sei es jetzt im Heiligen
Geiste, oder später im Königreiche; sie ist berufen, jetzt durch
den Geist in Seine Gedanken, in Seine Liebe, in Seine Freude
und in Seine Leiden einzutreten, und hernach in Seiner Herrlichkeit zu erscheinen und auf Seinem Throne zu sitzen.
Welch ein Geheimnis! Daß die Versammlung jetzt mit dem
innewohnenden Geiste beschenkt, und daß sie bestimmt ist,
verherrlicht das Erbe Seiner Herrschaft mit Ihm zu teilen, das
ist die Erfüllung des innigen Wunsches des Herzens Jesu, des
Sohnes Gottes. Er kam hier auf die Erde, um ein Königreich zu
empfangen, und Er suchte die Sympathie der Seinigen; aber
Sein Volk war nicht bereit, Seine Herrschaft anzuerkennen, und
Seine Jünger waren nicht fähig, jene Gemeinschaft mit Ihm
zu verwirklichen. Doch jetzt empfängt Jesus ein Königreich im
Himmel und später kommt Er auf die Erde, um die Herrschaft
zu übernehmen. Jetzt hat Er bereits Gemeinschaft mit den
Seinigen durch den Heiligen Geist, Der in ihnen wohnt; und am
Tage ihrer Vollendung wird ihr Lob vollkommen sein. Das
Königreich wird Seine Herrlichkeit und Freude ausmachen. Dasselbe wird genannt „die Freude des Herrn"; denn zu ihnen, die
es mit Ihm teilen, wird gesagt werden: „Geht ein in die Freude
des Herrn!" Doch die Einheit, in welcher die Versammlung sich
mit Ihm befindet, wird noch köstlicher sein; sie war hier Sein
höchster Wunsch und wird später Sein reichster Genuß sein.
218
Eva war für Adam ein größerer Schatz als alle seine andern
Besitzungen.
Jesus hat ein Anrecht auf Sein Königreich, und zwar zunächst
wegen des Bundes oder des vor Grundlegung der Welt gefaßten Ratschlusses Gottes, und dann weil es Ihm persönlich von
rechtswegen gehört. Er ist der vollkommene Mensch und darum
hat Er ein Anrecht auf die ganze Schöpfung. „Und Gott sprach:
Lasset uns Menschen machen in unserm Bilde, nach unserm
Gleichnis; und daß sie herrschen über die Fische des Meeres
und über das Gevögel des Himmels, und über das Vieh und
über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf der Erde
kriecht" (i. Mo 1, 26). — Ferner wird Er das Reich in Besitz
nehmen, weil Er in allem gehorsam gewesen ist, sowie wir
lesen: „Und in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, hat er
sich selbst erniedrigt und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum
Tode am Kreuz. Darum hat ihn Gott auch hoch erhoben, und
ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist, auf dafe
in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen
und Irdischen und Unterirdischen". Auch wird Er als Folge des
Anrechts, den Sein Tod Ihm verleiht, das Königreich übernehmen; denn wir lesen: „Und durch ihn alle Dinge mit sich zu
versöhnen — indem er Frieden gemacht hat durch das Blut
seines Kreuzes — durch ihn, es seien die Dinge auf der Erde,
oder die Dinge in den Himmeln". Und oben am Kreuze, auf
welchem Er Seinen Tod vollbrachte, standen die in den meist
bekannten Sprachen der Welt geschriebenen und von der starken Hand Gottes unauslöschbar gemachten Worte: „Dieser ist
Jesus, der König der Juden!"
Die Herrschaft über alle Dinge gehört also von rechtswegen
dem Sohne des Menschen kraft des ewigen Bundes, kraft Seines persönlichen Anrechts, kraft der Rechte, die Sein Werk,
Sein Gehorsam und Sein Tod Ihm verliehen und — möchte ich
hinzufügen — kraft des Rechtes der Überwindung; denn die
Gerichte, die Seinen Weg bis zum Throne bahnen und die alle
Ärgernisse aus dem Königreiche entfernen müssen, werden
durch Seine eigene Hand zur Ausführung gebracht. „Erhebet,
ihr Tore, eure Häupter, und erhebet euch, ewige Pforten, daß
einziehe der König der Herrlichkeit! Wer ist dieser König der
Herrlichkeit? Jehova, stark und mächtig! Jehova, mächtig im
Kampf!"
219
Welch starke Grundlagen sind also für die Herrlichkeit des Sohnes des Menschen gelegt! Jeder Anspruch erhöht die Herrlichkeit Seines Namens. Wir sehen dieses in der Offenbarung.
Niemand im Himmel oder auf Erden kann das Buch öffnen
außer dem Lamme, das geschlachtet ist — der Löwe aus Juda.
Er, Der auf dem Throne sitzt, überreicht es Ihm sofort. Und
die Versammlung in Herrlichkeit, die Engel und alle Kreatur
in allen Teilen des großen Gebietes des Lammes Gottes rühmen
Seine Rechte und Seine Hoheit. Und da Seine Rechte, erwiesen
durch tausende von Zeugnissen und Wundern, so sicher sind,
so wird dieses auch bezüglich der Macht und des Reiches, worauf sie sich gründen, der Fall sein. In Jesu Christo, dem Sohne
Gottes, sind — mögen wir Ihn als den „Herrn des Himmels",
oder als den „Sohn des Menschen" betrachten — alle Absichten
Gottes betreffs der Herrschaft über alle Dinge wiederhergestellt und bestätigt. Wir können bezeugen, daß, sowie „alle
Verheißungen Gottes in Ihm Ja und Amen sind", dieses auch
bezüglich der Bestimmung der Menschen unter der Regierung
Gottes seine volle Anwendung findet.
Dem Adam war die Herrschaft, dem Noah die Regierung,
dem Abraham die Vaterschaft über die Gläubigen geschenkt.
David hatte Urteile zu vollstrecken; Salomo repräsentierte das
Königtum. In Christo werden alle diese Herrlichkeiten sich vereinigen und ausstrahlen. In und unter Ihm wird die „Wiederherstellung aller Dinge" stattfinden. Viele Kronen und viele
Namen wird Er tragen. Sein Name „Herr" in Ps 8 und Sein
Name „König" in Ps 72 sind in ihrer Bedeutung verschieden.
Jeder derselben bezeichnet eine besondere Herrlichkeit. Die
Kronen sind verschieden, doch Ihm gehören sie. In Jes 9 wird
Jesus auch „Ewig-Vater" genannt. Er ist König und zugleich
Vater — Er ist der Salomo und der Abraham Gottes. In Ihm
werden alle gesegnet sein; und vor Ihm wird sich jedes Knie
beugen. Sowohl das Schwert oder die „eiserne Rute", als auch
das „Szepter der Gerechtigkeit" wird in Seinen Händen sein.
Er wird richten mit David und herrschen mit Salomo.
Als Sohn Davids übernimmt Jesus die Macht, um dieselbe in
einem Ihm gegebenen Gebiete der Herrlichkeit auszuüben. Als
Sohn des Menschen handhabt Er diese Macht in einem ausgedehnteren Kreise. Er kommt in Seiner eigenen Herrlichkeit, in
220
der Herrlichkeit des Vaters und in derjenigen der heiligen
Engel. Auch als der auferstandene Mensch nimmt Er die Macht
in Seine Hand. Dieses wird uns in 1. Kor 15, 23—27 gezeigt,
und in dieser Eigenschaft hat Jesus auch Seine besondere Ehre.
Er wirft den Tod als letzten Feind unter Seine Füße. Der auferstandene Mensch muß auch den Tod vernichten.
Die Herrlichkeit wird Christum unter verschiedenen Formen
umringen und Ihm unter verschiedenen Charakteren eigen sein.
Das Königreich selbst wird in seinem ganzen Wesen voll der
Herrlichkeiten Christi sein, die, wenn auch in ihrer Art verschieden, in vollkommener Harmonie zueinander sein werden. Bereits hat das Kreuz ein Beispiel dieses vollkommenen
Werkes zur Schau gestellt. Gnade und Wahrheit haben sich
dort einander die Hand gereicht. Gott war dort „gerecht" und
„rechtfertigte dennoch den Gottlosen"; und dieses wird sich
in den kommenden Tagen in voller Kraft erweisen. Sowie
Gnade und Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden einander begegnet sind, so wird auch dereinst Autorität und Gehorsam,
Segen und dennoch Herrschaft, ein Name von Majestät und
aller Kraft, und zugleich ein Name, der wie „ein Regen auf
das Gras" niederfallen wird, zusammen erkannt und gewürdigt
werden. Sowohl die allgemeine Herrschaft des Menschen über
den ganzen ausgedehnten Kreis der Werke Gottes, und die
Ehre des Königtums betreffs der Herrschaft über alle Nationen,
als auch die Gegenwart des „Ewig-Vaters", um Segnungen
auszustreuen, wird dann vorhanden sein. „Er heißt Wunderbarer, Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst".
Alles findet in dieser herrlichen und gesegneten Herrschaft des
Sohnes Gottes seinen Zielpunkt, wiewohl der Weg dorthin
durch ein Meer voller Bedrängnisse und selbst durch die Gerichte über die gegenwärtige böse Welt gehen wird. Gott Selbst
wird alles in Ordnung bringen. Die Menschen werden es nicht
verhindern können, auch wenn sie sich anzuerkennen weigern,
daß die Erde mit ihren Bewohnern der Eitelkeit unterworfen
ist und Christus allein ihre Grundfeste stützt. Mit sicheren
Schritten nahen jene Tage heran, wo die Ereignisse es denen,
die es nicht glauben wollen, ans Licht stellen werden, daß
alles, was nicht in dem „Bündel der Lebendigen" (1. bam 25,
29) mit eingeschlossen ist, erschüttert werden wird.
221
Das Schwert und das Szepter dieses kommenden Tages sind
gänzlich eins in ihrer Herrlichkeit. Denn das Schwert ist „trunken geworden im Himmel" (Jes 34, 5). Welch ein Ausdruck!
Die Sonne wird verwandelt werden in Finsternis, und der
Mond in Blut; die Kräfte der Himmel werden erschüttert werden; Finsternis wird unter Seinen Füßen sein, und dicke Wolken werden Ihn begleiten am Schlachttage. Und die Macht
davon wird sich zeigen in dem Keltertreten des Grimmes
Gottes. Alles, was hoch und erhaben ist, die Fürsten und Gewaltigen, die Beherrscher der Finsternis, das Tier und der
falsche Prophet, sowohl die Könige und Reichen der Erde, als
auch der Drache, die alte Schlange, welche ist der Teufel und
Satan — alle befinden sich dann unter den Feinden, an denen
sich die Kraft der Gerichte erweisen wird.
Zeigt dieses Schwert nicht Seine Herrlichkeit? Würde das
Schwert Josuas oder Davids solche Siege davongetragen haben?
Würden sich die Fürsten der Finsternis damit haben besiegen
lassen? Würden „Tod und Hölle" sich unterworfen haben?
„Ziehst du denLeviathan mit der Angel herbei?" Und in wessen
Hand muß das Schwert sein, welches solche Heere zu vernichten
vermag? Das Werk in jenen Tagen der Rache zeigt deutlich,
Wer der Überwinder ist. In allem — sowohl in Seinen Handlungen, als auch in Seinen Leiden — strahlt Seine Herrlichkeit
uns entgegen. Die Überwindungen dieses Gottes der Heerscharen haben von altersher stets denselben erhabenen Charakter gezeigt. Seine Krieger stellten die Herrlichkeit Seiner
Person zur Schau: und dieses werden sie stets tun. Darum steht
von Ihm geschrieben: „Jehova ist ein Kriegsmann; Jehova
Sein Name!" Diese Ausdrucksweise zeigt uns, daß die Kriegsführung des Herrn Seine Souveränität, Seinen Namen, Seine
Herrlichkeit und Seine Person offenbaren. In Ägypten erfuhren
die Götzen Seine mächtige Hand, sowie sie dieselbe später
unter den Philistern und in Babel fühlten. Dagon fiel vor der
Bundeslade: Bei und Nebo wurden durch dieselbe Macht zu
Boden geworfen.
Und wie das Schwert des Herrn, so hat auch das Szepter seine
volle Herrlichkeit. Salomo war nur ein Vorbild. Die Regierung
Noahs und die Oberherrschaft Adams verschwinden gegenüber
222
der Regierung und Herrschaft Jesu. Das ganze Weltall wird
Ihm unterworfen sein, sowohl die Schöpfung, als alle Nationen. „Singet Jehova ein neues Lied, singet Jehova, o ganze
Erde! Singet Jehova, preiset seinen Namen; verkündet seine
Rettung von Tag zu Tag! Erzählet unter den Nationen seine
Herrlichkeit, und seine Wunderwerke unter allen Völkern"!
Die unterwürfigen und gerechtfertigten Nationen von dem
jinen Ende des Himmels bis zum andern werden unter dem
Schatten dieses Szepters und in dem Lichte dieses Thrones der
Majestät wandeln. Es wird ein Bund sein zwischen den Menschen und den Tieren des Feldes. Die Wüste wird sich erfreuen,
die Lämmer werden hüpfen wie Hirsche; der Mund der Stummen wird sich zum Lobe öffnen. Die Sonne wird in diesem
Reiche nicht untergehen, noch der Mond sich zurückziehen;
denn der Herr wird dort ein ewig leuchtendes Licht sein. Nichts
auf dem heiligen Berge wird geschädigt oder verderbt werden;
denn die Erde wird voll sein von der Erkenntnis der Herrlichkeit des Herrn.
Israel wird wieder aufwachen; seine Totengebeine werden
lebendig werden. Die beiden Stücke von Juda und Ephraim
werden wieder miteinander vereinigt sein. Von der Stadt wird
gesagt werden: „Der Herr ist dort!"; von dem Lande wird
man sagen: „Dieses Land, das verwüstet war, ist wie ein Garten Eden geworden"; und es wird begrüßt werden mit den
Worten: „der Herr segne dich, du Wohnung der Gerechtigkeit,
du Berg der Heiligkeit!"
Die Heiden werden zu einem richtigen Verständnis gebracht
werden. Die unverständige Welt hat Ihn, ihren Schöpfer, nicht
erkannt. Die Fürsten und Könige der Erde haben sich wider
den Gesalbten Gottes erhoben; sie haben das Band zerrissen
und ihre Torheit zur Schau gestellt. Aber ihr Verstand wird
erleuchtet werden. Die Geschichte Nebukadnezars ist hiervon
ein Beispiel. Die Vernunft dieses goldenen Hauptes — des großen Hauptes heidnischer Macht — kehrte zu ihm zurück, nachdem er zum Gericht während eines Zeitraums derselben beraubt gewesen war. Und von da an erkannte und verstand er
die Herrschaft Gottes des Himmels.
223
Also wird auch bald die Welt nicht länger Sein Szepter verkennen, sondern im Gegenteil Ihn, Den sie einst so schändlich
verworfen hat, anbeten und bekennen. Denn „über ihn werden
Könige ihren Mund verschließen" (Jes 52, 15). Das tierische
Herz wird von ihnen genommen und ein Menschenherz ihnen
geschenkt werden. Nicht länger sollen sie durch den Ochsen,
der seinen Herrn kennt, sowie durch den Kranich, die Turteltaube und die Schwalbe, die ihre Zeit merken, beschämt werden, sondern sie werden dann wie „Tauben zu ihren Fenstern
fliegen". — Ja, die ganze Schöpfung wird sich, gleich den Juden
und Heiden, unter diesem göttlichen Szepter ergötzen. „Die
Wölfe werden bei den Lämmern wohnen, und der Pardel bei
dem Böcklein ruhen". Selbst das Land wird wieder den Segen
des Früh- und Spätregens und die Arbeit des göttlichen Landmannes erkennen. „Du besuchest die Erde, gewährst ihr Überfluß, du bereicherst sie viel; Gottes Bach ist voll Wassers; du
bereitest ihr Getreide, wenn du sie also bereitest".
Welch ein Szepter! Ist seine Herrlichkeit nicht gleich der Herrlichkeit des Schwertes? Kann jemand anders als Christus eine
solche Macht in Händen haben? Das, was Adam durch seinen
Fall einbüßte; das, was Israel im Lande der Verheißung verloren hat; das, was Abraham in seiner empörerischen und verworfenen Nachkommenschaft einbüßte; das, wessen sich das
Haus Davids bezüglich des Thrones beraubt sah; das, was die
Schöpfung selbst durch Den verloren, Der sie der „Knechtschaft
des Verderbnisses unterworfen hat, — ja, alles wird wieder
hergestellt, aufgerichtet und offenbar werden am Tage des
Sohnes des Menschen.
Nur „der Sohn" kann solch ein Reich in Besitz nehmen. Bereits
in dem ersten Teile unserer Betrachtung haben wir gesehen,
daß die Kraft des vollbrachten Opfers in der Person des
Schlachtopfers ruht. Der freie Zugang zum Heiligtum, welches
damals völlig geöffnet wurde, gründet sich allein auf die Person des Hohenpriesters und Mittlers, der Sich dort befindet.
Also können die Herrlichkeiten und Kräfte des zukünftigen
Königreichs auch nur durch Dieselbe Person ausgeübt, bedient
und zur Schau gestellt werden. Der Sohn Gottes dient sowohl in
den höchsten, wie in den niedrigsten Umständen — in Reichtum wie in Armut, in Ehre wie in Unehre, als Nazaräer wie
224
als Bethlehemit, auf Erden wie im Himmel, in einer Welt irdischer wie himmlischer Herrlichkeiten. Doch von Anfang bis
zu Ende verkünden uns die verschiedensten Seiten und Veränderungen dieses großen Geheimnisses, Wer Er ist. Der Glaube kümmert sich nicht darum, wo er Ihn schaut, und wo er
Ihm folgt, sondern hat nur diesen einen glänzenden und unaussprechlichen Gegenstand vor Augen und fühlt tief jedes
Wort, welches, selbst aus Unverstand, einen Flecken auf Ihn
werfen könnte.
Doch wir müssen noch bei andern Herrlichkeiten des kommenden Königreichs Jesu einen Augenblick verweilen.
„Der zweite Mensch ist der Herr vom Himmel"; und Seine Erscheinung wird von einer Majestät begleitet sein, vor Der
jeder Glanz des Thrones Salomo erbleichen muß. Ja wahrlich,
in Seiner Gegenwart wird jeder Glanz verschwinden. „Und der
Mond wird schamrot und die Sonne beschämt werden, wenn
Jehova der Heerscharen regieren wird auf dem Berge Zion, und
in Jerusalem und vor seinen Ältesten — Herrlichkeit" (Jes 24,
23). Sowohl himmlische, als auch wiederhergestellte irdische
Dinge werden in Seinem Reiche sein. Adam besaß den Garten
Eden samt der anziehenden Schönheit der Fruchtbarkeit desselben; doch — was mehr als alles war — Gott, der Herr, wandelte mit ihm in dem Garten. Noah, Abraham und andere besaßen eine große Menge von Vieh; und dem Noah gab Gott
die Herrschaft über die Erde; doch — was mehr war — sie empfingen Besuche von Engeln, ja sogar Gesichte und Besuche von
dem Herrn der Engel. Das Land Kanaan war ein vortreffliches
Land — ein Land, wo Milch und Honig floß; doch — was mehr
als dieses war — die Herrlichkeit befand sich dort, und das
Zeugnis der göttlichen Gegenwart war zwischen den Cherubim.
Also wird es sein am Tage der Offenbarung der Macht des
Sohnes Gottes. Der Himmel wird den Schauplatz irdischer
Schönheit ebenso gewiß mit einer neuen und ganz besonderen
Herrlichkeit umstrahlen, wie Gott, der Herr, im Garten Eden
wandelte, und wie die Engel vor dem Auge der Erzväter auf
und nieder stiegen und selbst die göttliche Gegenwart im Heiligtum zu Jerusalem, in dem Lande der Verheißung, geschaut
wurde. Und nicht nur werden dann himmlische Besuche statt225
finden, und nicht nur wird die Herrlichkeit vom Himmel geoffenbart werden, sondern alles wird einen neuen und äußerst
schönen Charakter tragen. Die Erde wird Zeuge jenes wunderbaren, alles übertreffenden Geheimnisses sein, daß sie selbst
aus ihrem Staube und ihrer Sklaverei eine Familie für den
Himmel bereitet hat, welche in Herrlichkeit zu ihr zurückkehren wird und berufen ist, die derselben zuerkannte Macht
und Autorität zu ihrem Segen auszuüben. „Denn nicht Engeln
hat er unterworfen den zukünftigen Erdkreis, von welchem wir
reden. Es hat aber irgendwo jemand bezeugt und gesagt: Was
ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, oder das Menschen
Sohn, daß du auf ihn siehst" (Hebr 2, 5. 6)?
Welch ein Band zwischen den höchsten und niedrigsten Dingen! „Der zweite Mensch ist der Herr vom Himmel". Die heilige Stadt wird, tragend die himmlische Herrlichkeit, aus dem
Himmel herniedersteigen, und vor ihren Blicken wird die Regierung des Königreichs der Macht über die Erde ausgeübt
werden. Und sicher wird dieses die Souveränität Adams und
die Herrlichkeit Salomos weit überstrahlen.
Bei der Szene auf dem heiligen Berge in Mt 17, sowie bei dem
königlichen Einzüge in Jerusalem (Mt 21) wird diese Zukunft
des Sohnes und „die zukünftige Welt", sowohl im Himmel als
auch auf der Erde, sinnbildlich dargestellt. Die himmlische
Herrlichkeit strahlt auf den Berg hinab. Die Gestalt Jesu ist
verändert. Sein Antlitz leuchtet wie die Sonne; Seine Kleider
sind weiß wie das Licht; und Moses und Elias erscheinen mit
Ihm in Herrlichkeit. Ebenso nimmt der demütige Jesus bei Gelegenheit Seines Einzugs in die heilige Stadt einen Charakter
von Majestät an. Er zeigt sich als der Herr der Erde und ihrer
Fülle, und zugleich als der Sohn Davids im Triumph. Er wird
während eines Augenblicks auf dem Wege gesehen, welcher
von Jericho nach Jerusalem führt, und zwar bekleidet mit Seinen irdischen Rechten und Würden, sowie Er in einem andern
Augenblicke auf einem hohen Berge nur in Seiner persönlichen,
himmlischen Herrlichkeit erschienen war. Obwohl die Herrlichkeit der Himmlischen von derjenigen der Irdischen getrennt ist,
so ist doch Jesus bei beiden feierlichen Gelegenheiten verherrlicht, und ist für etliche Augenblicke von dem niedrigen Pfade
226
als der verworfene, verachtete Jesus, abgetreten. Diese Szenen
waren vorübergehend, aber dasjenige, wovon sie das Unterpfand waren und was sie repräsentierten, wird in Kraft und
Glanz an dem kommenden Tage der Herrlichkeit bleibend sein.
Denn an diesem Tage wird die Erde voll sein der Herrlichkeit
des Sohnes Gottes. Ja, diese Fülle ist es, welche ihr den Glanz
und die Größe verleihen wird. Sowie Er die Sonne der himmlischen Herrlichkeit, so wird Er auch der Herr der Erde und
ihrer Fülle sein; und zugleich der König Israels und der Völker.
In der wunderbarsten Weise werden dann alle Sphären der
Herrlichkeit ineinander schmelzen: die untersten Teile der
Erde und das, was weit über allen Himmeln ist. „Gott geoffenbart im Fleische — aufgenommen in Herrlichkeit". Der zweite
Mensch ist niemand anders, als „der Herr vom Himmel".
Welche Geheimnisse, welche Ratschlüsse Gottes! Es sind Ratschlüsse, die in den verborgenen Jahrtausenden vor Grundlegung der Welt von Gott gefaßt sind. Möchten doch die Liebe
und die Anbetung unserer Herzen den Betrachtungen unserer
Seele folgen! Ja, der Sohn, Der von Ewigkeit her im Schöße des
Vaters war, nahm Fleisch und Blut an und war im Schöße der
Jungfrau. Als Sohn des Menschen — Gott geoffenbart im
Fleische — wandelte Er inmitten der schwierigsten Pfade dieses
Lebens — Pfade, die im Tode am Kreuze ihren Ausgang hatten.
Er verließ das Grab für die Herrlichkeit, die untersten örter
der Erde für den höchsten Platz im Himmel. Aber als die
Sonne der Gerechtigkeit wird Er über der Erde aufgehen, und
zwar bekleidet mit Glanz und Herrlichkeit, mit Ehre und Hoheit, um die zukünftige Welt zu erleuchten.
Jedoch gibt es noch ein anderes Geheimnis, das erfüllt werden
muß, bevor der Schauplatz der Herrlichkeit, „die zukünftige
Welt", vorhanden sein wird. Die Versammlung muß im Himmel sein, wie ihr Herr bereits dort ist.
Der Weg der Versammlung ist derjenige eines unbeachteten
Fremdlings. „Darum kennt uns die Welt nicht, weil sie ihn
nicht erkannt hat". Und wie ihr Pfad inmitten dieser Welt, so
wird auch der Weg unbekannt sein, auf welchem sie von hier
hinweggeführt werden wird. Alles, was sich auf die Versammlung bezieht, trägt den Charakter der Fremdlingsschaft hienieden. Die Welt wird die Aufnahme der Versammlung in der
227
Luft nicht wahrnehmen, so wie diese selbst die Zeit ihrer Aufnahme nicht kennt. Doch wissen wir, daß das neue Band, welches uns mit dem Himmel verbindet, geknüpft werden soll, ehe
das Königreich oder „die zukünftige Welt" geoffenbart werden
wird. Die Heiligen werden den König begleiten, wenn Er mil
dem Schwerte des Gerichts in Seinem Reiche erscheint, um die
Erde zu reinigen, damit Er mit dem Szepter des Friedens und
der Gerechtigkeit regieren könne, wie Er verheißen hat. „Wer
überwindet und meine Werke hält bis ans Ende, dem werde ich
Gewalt geben über die Nationen, und er wird sie weiden mil
eiserner Rute" (Offb 2, 26. 27).
„Und ich werde ihm den Morgenstern geben". Diese Worte
schließen etwas ganz besonderes in sich. Die Sonne ist das
Licht am Himmel, welches am meisten mit der Erde, mit den
Werken und den Interessen der Menschen in Verbindung steht.
Die Sonne beherrscht den Tag; der Mond und die Sterne herrschen über Nacht; aber der Morgenstern hat keinen Platz in
diesem System. „Er hat den Mond gemacht zur Bestimmung
der Zeiten; die Sonne weiß ihren Untergang. Du machtest Finsternis, und es wird Nacht; in ihr regen sich alle Tiere des Waldes: die jungen Löwen, die da brüllen nach ihrer Beute, und um
von Gott zu suchen ihre Speise. Die Sonne geht auf — sie
heben sich davon und lagern sich in ihre Höhlen. Der Mensch
geht aus an sein Werk und an seine Arbeit bis an den Abend"
(Ps 104, ig—23). In allen diesen Bestimmungen wird des Morgensterns nicht mit einem einzigen Worte gedacht. Schön und
glänzend ist er, doch leuchtet er nur in einer einsamen Stunde.
Die Kinder der Menschen haben sich niedergelegt; der Schlaf
ist ihnen durch Gottes Gnade noch süß, während der Morgenstern bereits in der Luft blinkt.
Die Zeit, in welcher die Sonne scheint, ist die unsrige, oder mit
andern Worten! die Sonne ist die Freundin und Gefährtin der
Menschen. Aber der Morgenstern ruft nicht also den Menschen an seine Arbeit. Er scheint in seiner eigenen Zeit — es
ist weder Tag, noch Nacht. Das Kind, welches vor dem Anbrechen der Morgenstunde erwacht; der Mann, welcher vor
der Sonne sein Lager verläßt; der Wächter, der die Nacht
durchwacht hat, — diesen leuchtet der Morgenstern, sonst niemandem.
228
In der Sprache der Schrift bezeichnet die Sonne das Königreich. Wir lesen: „Der Herrscher unter den Menschen, der Gerechte, der Herrscher in Gottesfurcht; und er wird sein wie das
Licht des Morgens, wie der Aufgang der Sonne, ein Morgen
ohne Wolken" (2. Sam 23, 3. 4; Mt 13, 43; 17, 4. 5).
Haben wir daher nicht ein Licht zu erwarten vor dem Lichte des
Königreichs? Sind diese Zeichen am Himmel nicht für die bestimmten Zeiten gestellt worden? Gibt es keine Stimmen in
diesen Sphären? Liegt nicht ebensowohl ein Geheimnis in dem
Morgenstern, in der Stunde seines einsamen Scheinens, also auch
in der Sonne, wenn sie über der Erde in ihrer Kraft aufgeht?
Ist dieser Morgenstern nicht das Zeichen am Himmel von Ihm,
dessen erstes Erscheinen nicht für die Welt, sondern für ein
Volk sein wird, welches wartet auf die Ankunft eines Herrn
vom Himmel? Die Hoffnung Israels, des irdischen Volkes, begrüßt „den Aufgang aus der Höhe" (Lk 1, 78). Aber die Versammlung bewillkommt den Morgenstern. „Ich bin die Wurzel
und das Geschlecht Davids, der glänzende Morgenstern". „Und
der Geist und die Braut rufen: Komm!" Alles ist unser; und
unter dieses alles gehört auch der Morgenstern unserer Verwandlung, um Jesu gleichförmig zu sein, sowie die aufgehende
Sonne für den Tag unserer Kraft in Verbindung mit Jesu.
Und nachdem der Morgenstern für einen kurzen Augenblick
geschienen hat, wird die Sonne zu ihrer bestimmten Zeit ihren
Platz einnehmen. „Dann werden die Gerechten glänzen wie die
Sonne in dem Reiche des Vaters". „Und er wird sein wie das
Licht des Morgens, wenn die Sonne aufgeht, ein Morgen ohne
Wolken: von ihrem Glanz nach dem Regen sproßt das Grün
aus der Erde". „Laß sich freuen die Himmel und frohlocken
die Erde! es brause das Meer und seine Fülle! Es juble das
Gefilde und alles, was darauf ist! Dann werden jauchzen alle
Bäume des Waldes vor Jehova; denn er kommt, denn er
kommt, zu richten die Erde" (Ps 96, 11—13).
Es hat jemand gesagt: „Der Glaube hat eine Welt für sich
selbst". O möchten wir doch mehr in der Kraft dieses Glaubens
wandeln! Und diese Kraft liegt in dem Ernst und der Wärme,
welche auch die Einfalt und Wirklichkeit des Glaubens zur
Schau tragen. David und Abigail wandelten, als sie sich ein229
ander in der Wüste Paran begegneten, in jener Welt, die der
Glaube für sich hat. Nach dem Augenschein und nach aller
menschlichen Beurteilung war David damals ein Spielzeug in
der Hand der Bösen. Er mußte sich in den Höhlen und Schlupfwinkeln der Erde verbergen; seine Speise verdankte er einem
reichen Manne. Aber der Glaube erblickte etwas anderes in
David. Der hilfsbedürftige, verfolgte Flüchtling war in seinen
eigenen Augen und in den Augen Abigails der künftige Herr
des Königreichs und der Gesalbte des Gottes von Israel. Abigail beugte sich vor ihm nieder, als vor ihrem Könige; und er
nahm mit königlichem Wohlwollen „ihr Angesicht an". Der
Vorrat, den sie brachte, ihr Brot und Wein, ihre Trauben und
Feigen waren nicht ein Beweis ihrer dem bedürftigen David erwiesenen Wohltätigkeit, sondern die dem König David dargebrachte Steuer eines willigen Untertans. Sie fand sich glücklich und geehrt, wenn sie auch nur seine Knechte bedienen
konnte. Also kam sie bei dieser schönen Gelegenheit in eine
andere Welt — das Zeugnis ablegend, daß der Glaube wirklich
eine ihm gehörende Welt hat. Und diese Welt war für das
Herz Abigails wichtiger als alle Schätze des Hauses Nabais.
Die Wüste hatte für sie einen größeren Wert, als die Herden
und Felder des Berges Karmel; denn dort genoß sie im Geiste
jene herrlichen Dinge, die der Glaube vor ihr Auge brachte.
Glückselig ist es, geliebte Brüder, wenn auch wir, geleitet durch
den Glauben, in unsere eigene Welt eintreten und darin wandeln! Besaß nicht Noah solch einen Glauben, als er das Schiff
baute, welches mehr für das Land als für das Wasser berechnet zu sein schien? Hatte Abraham nicht solch eine Welt im
Auge, als er sein Land, seine Familie, sein Vaterhaus verließ?
Und ruhten nicht auch die Blicke des Paulus auf einer solchen
Welt, als er sagte: „Unser Bürgertum ist in den Himmeln, von
woher wir auch den Herrn Jesum Christum als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur
Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit?" Und besitzen nicht auch wir bereits diese Welt, wenn unsere Seelen
durch den Glauben Zugang haben „zu der Gnade, in welcher
wir stehen?" Diese Gnade ist jetzt der gegenwärtige, erquikkende Ruheplatz des gereinigten und mit Blut besprengten
Gewissens, sowie die glänzende Wohnstätte der Hoffnung, von
230
wo aus diese hinausschaut nach der „Herrlichkeit Gottes" (Röm
5, i. 2). Wenig wird dieser Glaube noch genossen; aber dennoch ist er der unsrige; und inmitten unserer Schwachheit hat
der Glaube nur den Sohn Gottes zu verherrlichen; denn inniger
von Ihm zu genießen, ist geistlicher Fortschritt.
Am Schlüsse dieser Betrachtung, worin wir die „zukünftige
Welt" vor unser Auge führten, wünschte ich noch hinzuzufügen, daß uns in dieser Zeit wenige Dinge so sehr auf dem
Herzen liegen sollten wie die Verwerfung Christi. Es ist sicher
am Platze, dieses hier zu sagen; denn ist Christus, wie wir behaupten, in der „zukünftigen Welt" herrlich, so ist Er der Verworfene in „dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf". Doch dieses
wird so leicht vergessen; und das ist der Wunsch des Fürsten
dieses Zeitlaufs. Die Menschen richten unausgesetzt ihr Streben
dahin, alle gesellschaftlichen, sittlichen und religiösen Zustände zu verbessern; und dieses alles dient nur dazu, um
einen Christus, der nicht von dieser Welt ist, aus dem Auge zu
verlieren. Nur der Glaube schaut einen verworfenen Christus
und eine verurteilte Welt. Der Glaube erkennt, daß, wenn das
Haus auch mit dem Besen gekehrt und geschmückt worden, es
doch nicht durch den Hausherrn oder Besitzer verändert ist.
Es ist ein höchst bedenklicher Irrtum, geliebte Brüder, wenn
man Hand ans Werk legt, um die Welt zu verbessern und sie
für Christum zuzubereiten. War David einmal, als es sich um
das Tragen der Bundeslade handelte, in betreff der Gedanken
Gottes leichtfertig, so zeigte er hinsichtlich dieser Gedanken bei
einer andern Gelegenheit große Unwissenheit, als das Bauen
eines Cedernhauses für die Bundeslade in Frage kam. Er trachtete, dem Herrn eine feste Wohnstätte in einem verunreinigten,
unbeschnittenen Lande zu geben. Er irrte daher zum größten
Teil deshalb, weil er die Reinheit der Herrlichkeit Gottes nichl
kannte. Ebenso verhält es sich mit denen, die den Namen des
Herrn Jesus Christus, des Sohnes Gottes, mit der Erde, sowie
sie jetzt ist, und mit ihren Königreichen verbinden wollen. Wie
aufrichtig das Verlangen ihres Herzens in diesem Punkte auch
sein mag, wie dieses auch bei David der Fall war, so irren sie
doch größtenteils deshalb, weil sie die Heiligkeit der Herrlichkeit des Herrn nicht kennen. Dieses ist eine Unterweisung,
231
deren wir stets bedürfen. Noch ist der Sohn Gottes ein Fremdling auf Erden; Er sucht nicht die Welt, sondern ein von der
Welt auserwähltes Volk, das noch eine Zeitlang mit Ihm die
Fremdlingschaft hienieden teilen soll, und zwar inmitten all
der Eitelkeit und Ehrfurcht, wodurch jetzt die Geschichte der
Welt gekennzeichnet wird.
„Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen; und ich verordne euch, gleichwie mir mein Vater
verordnet hat, ein Reich".
Schaut Ihn! Der unter uns gewohnt,
Der Schmach und Hohn getragen,
Schaut Ihn! Der droben herrlich thront,
Wird Schwert und Szepter tragen!
Im Schiffe und auf dem See.'
Wie leicht ist es den Glauben an die Macht und Güte des Herrn
zu verwirklichen, wenn alles gut geht und keine Schwierigkeiten drohen! Wie oft hält dann das arme Herz Selbstvertrauen für geistliche Gesinnung und glaubt, alles tun zu können. Daß der Herr alles in Seiner Hand hat, ist eine von jedem
Gläubigen erkannte Wahrheit; aber das „Erkennen einer
Wahrheit" für die Kraft zu halten, sich in der Stunde der Gefahr auf sie zu stützen, ist Selbstgefälligkeit und kein Glaube.
Solange Petrus im Schiffe stand und Jesus auf dem Meer wandeln sah, schien ihm dies sehr leicht zu sein. Aber sobald er auf
dem See war, welch ein Unterschied. Im Schiff war er voll
Vertrauen, auf dem See von Schrecken erfüllt. Im Schiff war
er überzeugt, daß der Herr Macht genug habe, ihn zu bewahren, auf dem See schrie er: Ich komme um! Auf dem Schiff rief
er: Befiehl mir zu kommen, auf dem See: Herr rette mich! Im
Schiff war sein Auge auf den Herrn gerichtet, auf dem See sah
er nur Wind und Wellen. Auf dem Schiff war er voll Selbstvertrauen, daher fing er auf dem See an zu sinken. „Darum:
wer zu stehen sich dünkt, sehe zu, daß er nicht falle".
232
Die Glaubensprobe
(Mt 14, 12)
In der gleichlautenden Stelle in Mk 6, 30 lesen wir, daß sich
„die Apostel wieder zu Jesu versammelten und ihm alles erzählten, sowohl was sie getan, als auch was sie gelehrt hatten".
Und hier in Mt 14 lesen wir, daß die Jünger Johannes' de?
Täufers, nachdem sie den Leib ihres Meisters begraben hatten,
„kamen und es Jesu berichteten". Das Heilmittel sowohl gegen
Selbsterhebung, als gegen Traurigkeit ist stets in Seiner unmittelbaren Gegenwart zu finden. Er sagte zu Seinen aus ihrem
Arbeitsfelde zurückkehrenden Jüngern: „Kommet ihr selbst
her an einen wüsten Ort besonders und ruhet ein wenig aus"
(Mk 6). Welche zärtliche Fürsorge zeigt hier der Herr den Seinigen, während Er Sich kaum Selbst Ruhe gönnte, und Er überall, sei es in der Wüste, oder im Schiff, übermäßige Arbeit
fand! Doch als ihre Füße den wüsten Ort betreten hatten, fand
Er es für nötig, den Glauben der Jünger auf die Probe zu stellen. Eine große Volksmenge hatte sich versammelt. Die Schar
war groß; und der Vorrat an Lebensmitteln bestand nur aus
fünf Broten und zwei Fischen. Das Herz Jesu war bewegt beim
Anblick der Menge; Er beschäftigte Sich alsbald mit ihren Bedürfnissen. Wie am Jakobsbrunnen bei der Samariterin, so
vergaß Er auch hier Sich Selbst und dachte nur an andere. Nicht
so die Jünger. In ihren selbstsüchtigen Herzen mochten sich
etwa folgende Gedanken regen: „Der Vorrat reicht gerade für
uns selbst hin; aber was wir haben, müssen wir auch für uns
selbst brauchen"! Und aus solchen Herzen kamen die Worte:
„Der Ort ist wüst, und es ist schon spät an der Zeit. Entlaß sie,
damit sie hingehen auf die Felder und Dörfer ringsum und sich
Brote kaufen; denn sie haben nichts zu essen. Doch der Herr
sagt zu ihnen: „Gebt ihr ihnen zu essen". — Wie selbstsüchtig
zeigt sich hier das Herz, wie schwach über das, was „sie getan
und was sie gelehrt hatten"! Sicher bot das Verfahren des
Herrn ein geeignetes Mittel dar, um die Stimmen der Selbsterhebung zum Schweigen zu bringen, und dann zeigt der Herr
Seine Macht gegenüber ihrer Schwachheit. Er speist die Schar,
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und jeder Jünger behielt noch einen vollen Korb für sich übrig.
Wie beschämend für sie!
Im Lichte Seiner Gegenwart entdecken wir unsere Schwachheit
und unsere Selbstsucht, aber auch Seine Macht und Seine Liebe.
O möchte in dieser Seiner Gegenwart stets unser Platz sein!
Dort machen wir die Probe über das, was wir sind, und was
Er ist.
Der Grund der Errettung
Der einzige große Unterschied vor Gott bezüglich des künftigen Schicksals eines Menschen ist der Glaube an die Wahrheit, oder die Verwerfung derselben. Wer glaubt, ist gerettet;
wer im Unglauben lebt und stirbt, ist zu hoffnungs- und endloser Verdammnis versiegelt. In dem Worte Gottes sind der
wahre Glaube und die sichere Errettung, sowie fortgesetzer
Unglaube und ewiges Elend unzertrennlich miteinander verbunden. Unsere Errettung ist nicht die Folge der Wirkung
irgendeines Sakraments oder einer priesterlichen Absolution,
nicht die Folge einer menschlichen Anstrengung oder Selbstbeschränkung, nicht die Frucht unsers eigenen Verdienstes oder
unserer eigenen Bemühungen, und sicher auch nicht die Frucht
der Verdienste und Bestrebungen unserer Mitmenschen; — wir
sind aus Gnaden mittels des Glaubens errettet. „Wenn du mit
deinem Munde den Herrn Jesum bekennen und in deinem Herzen glauben wirst, daß Gott ihn aus den Toten auf erweckt hat,
wirst du errettet werden. Denn die Schrift sagt: Jeder, der an
ihn glaubt, wird nicht beschämt werden" (Röm 10).