Botschafter des Heils 1873 | Seite |
Jeremias als Beispiel zur Nachahmung | 5 |
Das Ende des eigenen Wirkens | 13 |
Die Stellung und der Zustand des Christen | 25 |
Gedanken über Philipper 3 | 63 |
Der Gläubige - ein Brief Christi | 72 |
Bosheit und Verblendung | 76 |
Der treue Arbeiter | 78 |
Jona | 99 |
Reif für den Himmel | 111 |
Über christliche Erfahrung | 115 |
Die Liebe und Herrlichkeit Jesu | 127 |
Gedanken über die Leiden Christi | 134 |
Gedanken über Psalm 23 | 151 |
Über die Bedienung des Wortes in der Welt und in der Versammlung | 153 |
Unsere Stellung und Verantwortlichkeit | 168 |
Licht - Liebe | 170 |
Abwesenheit und Wiederkunft Christi und die Gegenwart des Geistes | 172 |
Zwei wichtige Tatsachen | 181 |
Stephanus | 187 |
Wie bewirken wir unsere eigene Seligkeit? | 191 |
Leben und Freiheit | 196 |
Leben und Freiheit | 196 |
Die Errettung | 201 |
Hilfeleistungen | 207 |
Gedanken über 2 u. 3 Kapitel des Briefes an die Philipper | 210 |
Der Herr in der Mitte Seiner Jünger | 223 |
Der Magnet | 226 |
Die zwei Häuser | 227 |
Jeremias als Beispiel zur Nachahmung 5
Das Ende des eigenen Wirkens i 3
Die Stellung und der Zustand des Christen 25
Gedanken über Philipper 3 05
Der Gläubige — ein Brief Christi 72
Bosheit und Verblendung 76
Der treue Arbeiter 78
Jona
Reif für den Himmel lix
Über christliche Erfahrung 115
Die Liebe und Herrlichkeit Jesu 127
Gedanken über die Leiden Christi 134
Gedanken über Psalm 23 151
Über die Bedienung des Wortes
in der Welt und in der Versammlung 153
Unsere Stellung und Verantwortlichkeit 168
Licht — Liebe 170
Die Abwesenheit und Wiederkunft Christi
und die Gegenwart des Heiligen Geistes 172
Zwei wichtige Tatsachen 182
Stephanus 1S7
Wie bewirken wir unsere eigene Seligkeit? 19a
Leben und Freiheit 196
Die Errettung 201
Hilfeleistungen 207
Gedanken über das zweite und dritte Kapitel
des Briefes an die Philipper 210
Der Herr in der Mitte Seiner Jünger 223
Der Magnet 226
Die zwei Häuser 223
Die Schriftstellen sind nach der bekannten
Übersetzung, der „Elberfelder Bibel", angeführt
Jeremias als Beispiel zur Nachahmung
Es ist für uns wichtig, die Werkzeuge zu betrachten, deren
Gott Sich bedient, um Seine Ratschlüsse zur Ausführung zu
bringen. Diese Werkzeuge sind meist so beschaffen, daß der
durch die Sünde verdorbene Mensch sie sicher als ungeeignet
ablehnen würde, während sie, wenn Gott sie für Seine Zwecke
zubereitet hat, Seine Macht bezeugen und Seinen Namen ver=
herrlichen.
Hierfür liefert Jeremias ein treffendes Beispiel. Wie ängstlich
und zurückhaltend er auch von Natur sein mochte, der Herr
verlieh ihm einen unerschrockenen Mut und befähigte ihn eine
Aufgabe auszuführen, vor welcher normalerweise selbst das
mutigste Herz zurückgeschreckt wäre.
Es ist in der Tat stets ein mühevolles Unternehmen gegen das
Böse zu zeugen, um damit die Bosheit unserer Umgebung bloßzustellen und die Sünde eines Volkes zu bekämpfen. Schon
der Gedanke an eine solche Arbeit macht uns zittern. Das aber
ist ganz natürlich; denn welche Kraft hat das irdene Gefäß in
sich selbst? Doch wenn der Herr mit einem schwachen Gefäß ist
und es zu Seinem Gebrauch zurichtet, dann wird es in Seiner
Hand „zu einer festen Stadt und zu einer ehernen Mauer"
(Jer 1, 18). Seine Leitung und Zurichtung der Gläubigen gegen
den Strom der Gedanken und Meinungen der Welt zu schwimmen, gegen die Regeln und Gewohnheiten derer anzugehen,
die, was ihr öffentliches Bekenntnis auch sein mag, sich wider
Gott erhoben und unter der Macht und Autorität des größten
Feindes Gottes stehen. „Die Freundschaft der Welt ist Feind=
schaft wider Gott". Dazu gehört Glauben, und dieses Werk
des Glaubens zeugt von der Ohnmacht des Geschöpfes und
von der Macht Gottes. Wenn wir auf unsere eigene Macht vertrauen und den Sieg von unserer Stärke erwarten, dann suchen
wir nach keiner anderen Hilfe; wenn wir hingegen fühlen, daß
die Aufgaben zu welchen wir berufen sind, unsere Kräfte übersteigen, dann können wir nur in der Kraft eines Anderen unseren Weg fortsetzen. Wendet sich dann das Geschöpf von allen
irdischen Stützen ab, und sieht nur auf Gott hin, so wandelt
es durch den Glauben. Der Wandel im Glauben ist geradezu
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das Gegenteil von dem, was der natürliche Mensch zeigt, —
ein Wandel, der gerade das tut, was weltliche Klugheit vermeiden würde.
Jeremias gleicht, als ihn der göttliche Befehl erreicht einem
schwachen und schüchternen Kind. „Ach Herr, Jehova! siehe,
ich weiß nicht zu reden, denn ich bin jung" (V. 6). So
lauten die ersten Worte des künftigen Propheten. Er, der „den
Völkern zum Propheten gestellt" war, erschrickt über den ihm
aufgetragenen Dienst und sagt: „Ich bin zu jung". Wußte denn
der Herr das nicht? Sicher, denn Er hatte bereits gesagt: „Ehe
ich dich bildete im Mutterleibe, habe ich dich erkannt, und ehe
du hervorkamst aus der Mutter, habe ich dich geheiligt, habe
dich den Völkern zum Propheten bestellt". Der Auftrag entsprang also nicht dem eigenen Gedanken, sondern dem Willen
Dessen, Der ihn zu den Völkern sandte und ihn schon vor
seiner Geburt für dieses Werk gebildet und abgesondert hatte.
Bevor Jeremias die Laufbahn seines prophetischen Dienstes
betrat, hatte der Herr ihn geheiligt und den Völkern zum Propheten gestellt.
Wie trostreich und ermutigend eine solche Ankündigung für
den auch sein mag, der gelernt hat, sein Vertrauen auf den
lebendigen Gott zu setzen, bei Jeremias blieb sie wirkungslos.
Er war nur mit seiner Schwachheit beschäftigt; allein diese sah
und fühlte er, und darum entgingen ihm die Worte: „Ich habe
dich gekannt; ich habe dich geheiligt". Daraus erklärt sich sein
Einwurf: „Ich bin jung". Seine Jugend und sein Mangel an
Beredsamkeit sind in seinen Augen wesentliche Hindernisse
für eine göttliche Sendung.
Wie oft begegnen wir bei Kindern Gottes ähnlichen Bedenken,
haben vielleicht bei uns selbst schon solche Erfahrungen gemacht. Wir tun oft so, als gäbe es Schwierigkeiten, die Gott
übersehen habe, und die uns in der Tat verhindern, dem Willen Gottes Gehör zu geben. Gott ruft, und wir machen allerlei
Einwendungen: unsere Jugend, unseren Mangel an Beredsamkeit, wie Jeremias und Moses. Hat Gott Sich etwa getäuscht?
Wie wäre das möglich? Er kennt unsere Unfähigkeit und es ist
gut, wenn auch wir von der eigenen Schwachheit überzeugt
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sind und fühlen, daß wir aus uns selber nichts vermögen. „Bin
ich schwach, so bin ich stark". Aber ist es nie gut, unsere
Schwachheit zum Vorwand für unseren Ungehorsam gegen
Gott zu gebrauchen? Wir können sicher nicht tief genug von
unserer Nichtigkeit überzeugt sein, aber wir bedürfen ebenso=
sehr des Bewußtseins, daß Gott allmächtig ist. Gehorsam gegen
den Herrn geziemt sich allezeit. Gott hatte den Propheten zu
einem Dienst berufen, wie unfähig sich dieser auch dazu fühlen
mochte, und menschlich gesprochen eignete er sich dafür nicht.
Deshalb hätten Menschen auch eine andere Wahl getroffen.
Isai beispielsweise dachte nicht daran, den kleinen David vor
Samuel zu bringen, und selbst Samuel hielt den Eliab für den
Auserwählten Gottes. Aber erst als David kam, stand der Gesalbte des Herrn vor ihnen.
Jeremia beging einen Irrtum, als er dem bestimmten Befehl
Gottes widersprach. Er konnte damit die Absicht Gottes nicht
vereiteln, sondern mußte früher oder später doch gehorchen.
Was nützte Jonas der Versuch sich dem Auftrag Gottes durch
die Flucht nach Tarsis zu entziehen? Durch seinen Ungehorsam
konnte er das Werk nur verzögern, jedoch nicht den Rat Gottes verändern. Er mußte gehen, und er ging später auch. Israel
in der Wüste schrak vor dem Kampfe mit den Kanaartitern
zurück. Ja es verschob diesen Kampf vierzig Jahre lang; aber er
mußte dennoch ausgeführt werden. Dieselben Feinde, vor denen
die Väter sich gefürchtet hatten, mußten von den Kindern überwältigt werden. — Vergeblich bemühte sich Jeremias, den Sinn
des Herrn zu ändern (Jer 14). „Der Herr der Heerscharen hat es
in seinem Rat beschlossen, wer wird es brechen"? Die Schwachheit des Propheten offenbart nur die Gnade des Herrn, Der
durch die Zusage Seiner Hilfe und Beschirmung den ängst=
liehen Diener zu ermutigen sucht. „Sprich nicht: Ich bin jung;
denn zu allen, wohin ich dich senden werde, sollst du gehen,
und alles was ich dir gebieten werde, sollst du reden. Fürchte
dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir, um dich zu erretten,
spricht Jehova" (V. 7. 8). Weder seine Jugend, noch der Mangel
an Beredsamkeit waren in den Augen des Herrn triftige Gründe zur Ablehnung des Prophetenamtes. „Und Jehova streckte
seine Hand aus und rührte meinen Mund an, und Jehova
sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.
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Siehe, ich bestelle dich an diesem Tage über die Nationen und
über die Königreiche, um auszurotten und abzubrechen und zu
verderben und zu zerstören, um zu bauen und zu pflanzen"
(V. 9, 10). Welch ein Befehl! Entsetzlich für die Natur des
Menschen! Aber der Glaube erkannte hier den Willen Gottes,
und das genügt.
Doch hiermit endigte das Werk des Propheten nicht. Er hätte
seine Prophezeiungen an die in Betracht kommenden Völker
durch Beten kund tun können, wie er es in anderen Fällen auch
getan hat (siehe Kap 27, 3; 51, 59—64). Doch das ward ihm
hier versagt; er mußte persönlich zu den Betroffenen gehen,
über Juda weissagen und über Jerusalem Gerichte ankündigen.
„Du aber umgürte deine Lenden und mache dich auf und
rede zu ihnen alles, was ich dir gebieten werde; sei nicht verzagt vor ihnen, damit ich dich nicht vor ihnen verzagt mache.
Und ich, siehe, ich mache dich heute zu einer festen Stadt und
zu einer eisernen Säule und zu einer ehernen Mauer wider das
ganze Land, wider die Könige von Juda, ihre Fürsten, ihre Priester und das ganze Land, wider die Könige von Juda, ihre
Fürsten, ihre Priester und das ganze Volk des Landes. Und sie
werden wider dich streiten und nichts wider dich vermögen;
denn ich bin mit dir, spricht Jehova, um dich zu erretten" (V.
37—19). Hier war also kein Ausweichen möglich. Trat er zurück, dann wollte der Herr ihn in ihren Augen beschämen,
schritt er vorwärts, so begegnete er ihrem Widerstand und
ihrem Haß. Ein Stillstehen war also unmöglich, ein Zurückkehren nicht in Erwägung zu ziehen. Es blieb ihm nur übrig
voranzuschreiten und auf die Zusage zu vertrauen, denn diese
Zusage war das Wort seines Gottes.
Seine Botschaft war Ankündigung von Strafe und Gericht. Ankündigung des zukünftigen Zorns, allerdings vermischt mit
einzelnen besonderen Verheißungen. Es gibt Menschen, die ein
Vergnügen daran finden, das Böse unter ihren Mitmenschen
herauszustellen und die über ihrem Haupte schwebenden Gerichte anzukündigen. Hätte Jeremia dazu gehört, so würde ihn
die Voraussicht der Verwirrung und des Elends seiner Wider=
sacher für seine Mühsale entschädigt haben. Aber er war nicht
ein Mann dieser Art. Zwar konnte er — das entsprach dem
Charakter der jüdischen Haushaltung — um die Bestrafung
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seiner Feinde bitten (s. Kap 15, 15), aber sein Herz ist betrübt
über das Übel, das er ankündigen muß (Kap 4, 19—26; 8, 18—
22; 9, 1; 13,17). Sein prophetischer Dienst stand daher keineswegs in Übereinstimmung mit seinen natürlichen Gefühlen.
Von Natur schüchtern, sträubte er sich gegen den Streit mit
den Missetätern und die Prophezeiung des Elends und der Gerichte über sein Volk bewegten sein zartes Gemüt so stark, daß
nur der bestimmte Befehl seines Herrn die aus der Tiefe seiner
Seele aufsteigende Fürbitte zurückzuhalten vermochte (Kap 7,
16; 11, 14. 15; 14, 11; 15, 1).
Vom Anfang bis zum Ende seines Dienstes mußte er sich mit
dem gottlosen Teil seines Volkes befassen, ja mußte selbst das
Haus des Königs betreten, um den kommenden Jammer zu verkündigen. Der Herr stellte ihn beständig in den Vordergrund
und bedachte ihn mit einem in die Augen fallenden Platz in
der Geschichte seines Landes. Und wie verhält sich Jeremias in
dieser nicht von ihm gewünschten Stellung?
Er beginnt seine öffentliche Laufbahn damit, daß er zu dem
Gewissen redet und die Volksmenge von der Größe ihrer
Schuld zu überzeugen trachtet. Vom zweiten bis zum zwölften
Kapitel stellt er ihnen ihre Ungerechtigkeit vor Augen, die in
drei Punkten zusammengefaßt werden; er zeigt ihnen ihr allgemeines Verderben, ihre Abgötterei und ihre Bundbrüchigkeit.
In den Kapiteln 2—6 entfaltet er ihre allgemeine Verdorbenheit, indem er Jerusalem an alles Gute erinnert, das Gott dem
Volke von Anfang an erwiesen hat, aber das es stets mit Undank belohnt hat. Hatten doch die Kinder Israel Ihn, „die
Quelle des lebendigen Wassers, verlassen, um sich selbst Gruben auszuhauen, geborstene Gruben, die kein Wasser halten".
Hatten sie sich doch von dem Herrn abgewandt und zu den
Assyrern hingewandt und schließlich, da diese sich als gewalttätig erwiesen, die Hilfe der Ägypter gesucht. In ihrer Mitte
hatte die Abgötterei samt den damit verbundenen Untugenden
eine feste Stätte gefunden (Kap 2, 27; 3, 9; 5, 7—9), während
das Wort des Herrn keinen Glauben fand. Dazu erwiesen sie sich
als Ausführer, so daß die Handlungen Gottes in Seiner Vorsehung wirkungslos blieben (Kap 3, 3). „Gleichwie ein Brunnen
sein Wasser quellen läßt, so läßt sie ihre Bosheit quellen. Sie
schämen sich gar nicht; ja, sich zu schämen, kennen sie nicht. . .
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Man nennt sie verworfenes Silber; denn Jehova hat sie verworfen" (Kap 6, 7. 15. 30). Inmitten eines solchen Zustandes
war Jeremias als „Warte und Feste" gesetzt.
In den Kapiteln 7—10 wird der Prophet zu den Männern von
Juda in das Haus des Herrn gesandt, um ihre scheußlichen Sünden kundzutun — Sünden, die sie unter dem Rufe begingen:
„Jehovas Tempel, Jehovas Tempel ist dies"! Sie waren Scheinheilige, konnten stehlen, morden, Hurerei treiben, auf den Al=
tären Baals räuchern und dennoch das Haus des Herrn unter
dem Vorgeben betreten, daß sie erlöst seien, um all diese Dinge
zu tun. Sie trieben Abgötterei wie die Nationen, zu denen
durch ihn, der „den Völkern zum Propheten gestellt war", die
Botschaft gesandt wurde: „Die Götter, die den Himmel und
die Erde nicht gemacht haben, werden vertilgt werden von der
Erde und unter diesem Himmel hinweg" (Kap xo, 11). Aber
der Herr, Gott, wird diesen Abgöttern gegenübergestellt (V.
14—16) und Sein Grimm über die Nationen herabgerufen. Denn
sie haben Jakob aufgezehrt, ja, sie haben ihn aufgezehrt, ihn
vernichtet und seine Wohnung verwüstet" (V. 25).
Doch neben der mit den Nationen gemeinsamen Abgötterei
und den damit verbundenen Verfehlungen gab es eine ganz
spezielle Sünde der Kinder Israel: sie hatten den Bund gebrochen. Diese Sünde wird ihnen im elften und zwölften Kapitel vorgehalten. Darum hatte Gott Sein Haus verlassen und
Sein Erbe verworfen (Kap 12, 7). Doch danach verheißt Er,
Sich ihrer zu erbarmen. Das Volk sollte wieder hergestellt werden, während alle, die Seinen Zorn erweckt hatten, ausgerottet
werden sollten.
Nach diesen drei Anklagen wird dem Propheten unter verschiedenen Bildern die Gewißheit der Verwerfung des Volkes
angedeutet. Der verdorbene Gürtel am Ufer des Euphrat (Kap
13) bezeichnet die erniedrigte Hoffart. „Ich werde sie zerschmettern einen gegen den anderen, Väter und Kinder zu=
gleich, spricht Jehova". Der Herr wird niemanden verschonen
und sich ihrer nicht erbarmen. Im Zusammenhang mit einer
Dürre muß der Prophet wiederholt erfahren, daß der Herr
keine Fürbitte annehmen will. Schwert, Hunger, Tod und Gefängnis sollten das Los der Gesetzlosen sein; von diesen aber
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hatten sich die Treuen zu trennen (Kap 14, 15). Die beiden
folgenden Kapitel zeigen, wie weit diese Absonderung gehen
muß; nicht nur mit dem Herzen, sondern auch durch die Tat
müssen sie sich von ihnen scheiden (Kap 16, 1—8). Ein solcher
Pfad ist immer mühevoll, aber der Herr reicht Stärkung dar.
Die Treuen erhalten die Zusicherung des Segens, der auf jedem
ruhen wird, dessen „Vertrauen Jehova ist", während der Fluch
denen folgt, welche sich auf Menschen stützen (Kap 17, 5—8).
Das Gefäß, das unter der Hand des Töpfers verdorben, sowie
der Krug, der von dem Propheten vor den Augen der Ältesten
des Volkes und der Ältesten der Priester zerbrochen wird, bezeichnen die Macht Gottes und Sein Recht, mit Seinem Volk
zu machen, was Er will (Kap 18,1—6; ig, 1).
Die Kapitel 21—24 beschäftigen sich mit dem königlichen
Hause Davids, mit dessen Züchtigung und der zukünftigen
Herrlichkeit, die sich an dieses Haus knüpft. Sallum, der Sohn
Josias, soll nicht mehr zurückkehren, soll sein Vaterland nicht
wiedersehen (Kap 22,11). Jojakim soll „mit eines Esels Begräbnis begraben werden" (V. 19). Konja, ein verachtetes, zerbrochenes Gefäß (V. 19) soll in Babel kinderlos sterben. Dennoch sollte das Haus Davids nicht für immer beiseitegesetzt
werden. „Siehe, Tage kommen, spricht Jehova, da ich dem
David einen gerechten Sproß erwecken werde, und er wird als
König regieren und verständig handeln, und Recht und Gerechtigkeit üben im Lande. In seinen Tagen wird Juda gerettet werden und Israel in Sicherheit wohnen; und dies wird sein Name
sein, mit dem man ihn nennen wird: Jehov a unser e
Gerechtigkeit " (Kap 23, 5. 6). Aber diese Verheißung
gehört der Zukunft an. In den Tagen Jeremias erschien sie als
Lichtblick inmitten der Ungerechtigkeit der Könige, der Propheten und der Priester. Bevor sie jedoch verwirklicht werden
und die Herrschaft der Gerechtigkeit beginnen konnte, mußte
ein allgemeines Gericht über die Völker ausbrechen. Der Becher,
der zunächst von Juda getrunken wurde, mußte später von
allen Völkern und selbst von Babel — dieser Rute, deren Gott
Sich zur Ausführung Seiner Ratschläge bediente — geleert werden (Kap 25).
In dem folgenden Teil des Buches geht es darum, daß die Herrschaft, die von Juda gewichen war, den Händen der Nationen
überliefert werden mußte, und alle hatten sich zu unterwerfen,
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weil Gott es so wollte. Dem Propheten erwuchs hieraus eine
schwierige Aufgabe; er mußte seine Landsleute — soweit sie
sich noch in Judäa befanden, aber auch soweit sie bereits gefangen weggeführt waren — und die umwohnenden Nationen
ermahnen, sich der Herrschaft Nebukadnezars zu unterwerfen.
Diese Herrschaft sollte sich jedoch auf eine bestimmte Zeit beschränken. Später sollte Israel wieder hergestellt werden, seine
eigenen Herrscher haben und David, der König Israels, wieder
in seiner Mitte sein. Das ist der Inhalt der Kap 26—33. In den
Kapiteln 35—45 ist das unterschiedliche Los derer aufgezeichnet,
die nur zum Schein, und derer, die in Wirklichkeit gehorsam
sind. Jene werden vertilgt; diese retten ihr Leben. Die letzten
Kapitel des Buches beschäftigen sich mit Weissagungen über
verschiedene Völkerschaften.
Jeremias mußte nach alledem während seines ganzen Dienstes
eine in die Augen fallende Stellung bekleiden, die zugleich
schwerwiegende Folgen mit sich brachte. Viermal war sein
Leben in Gefahr (s. Kap 11, 19—21; 26, 11; 36, 26; 38, 4). Einmal finden wir ihn im Gefängnis (Kap 20). Zweimal wird er in
das Haus der Grube und in die Zellen, dann in die Grube Mal=
chijas und schließlich in den Hof des Gewahrsams gebracht
„bis auf den Tag, da Jerusalem eingenommen ward" (Kap 37,
16; 38, 6. 13; 39, 14). Das Buch endet mit der Wegführung des
Propheten nach Ägypten durch Jochanan mit dem Überrest des
Volkes. In der Tat, Jeremias war ein Mann der Schmerzen.
„Wehe mir, meine Mutter, daß du mich geboren hast, einen
Mann des Haders und einen Mann des Zanks für das ganze
Land! Ich habe nicht ausgeliehen und man hat mir nichts geliehen; doch alle fluchen mir" (Kap 15, 10).
Welch eine Stellung hatte Jeremias einzunehmen! Vom 13.
Jahre des Königs Josia an bis zur Flucht Jochanans nach Ägypten, also während eines Zeitraums von vierzig Jahren, strafte
Jeremias sein Volk und warnte es vor den kommenden Gerichten. Bei verschiedenen Gelegenheiten brach die Wut seiner
Landsleute in hellen Flammen gegen ihn aus; aber dennoch
blieb er standhaft. In Kapitel 26 Vers 14 wird uns ein herrliches Beispiel von seiner Unerschrockenheit und Treue gezeigt.
Die Priester, sowie die Propheten und ihre Anhänger bringen
ihn in die größte Gefahr, aber nirgends zeigt sich bei ihm ein
Zurückweichen, feige Unterwürfigkeit, oder ein Nachgeben.
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„Aber ich, ich bin in euren Händen, tut mir, wie es gut und wie
es recht ist in euren Augen"! Er will lieber in den Tod gehen,
als seine Worte zurücknehmen, als sich weigern, das auszusprechen, was Gott befohlen hat. Wie sehr unterscheidet sich
jetzt seine Sprache von früher (Kap i). Damals fürchtete er sich
vor den Menschen; jetzt fürchtet er Gott allein. Er spricht ohne
Scheu alles aus, was ihm zu sagen aufgetragen ist, und überläßt die Folgen dem Herrn. Er hatte vielfältig zu leiden. Er litt
unter der Voraussicht der Leiden, die über sein Land kommen
sollten, durch das Hinweisen auf diese Leiden; er litt unter der
Hand seiner Landsleute, die ihm das Gute mit Bösem, die Liebe
mit Haß vergalten. Während ihm der heidnische Monarch, dem
er die Verwüstung seines Reiches und die Einnahme seiner
Hauptstadt vorhergesagt hatte, mit Güte behandelte (Kap 39,
11. 12; 40, 4), begegneten ihm seine eigenen Mitbürger — mit
Ausnahme einiger ausgezeichneter Personen, wie Ahikan und
Ebed-Melech — nur mit Bitterkeit, Feindschaft und Verfolgung.
So wird uns also in Jeremias die Schwachheit des Geschöpfes
und die Kraft, die Gott schenken kann, vor Augen gestellt.
Zuweilen strauchelte er. Nur Einer lebte auf Erden, der Seinen
Pfad ohne Straucheln wandeln konnte. Wenn wir aber auf die
Schwachheiten des Propheten hinweisen, so geschieht es nicht,
um ein Urteil über ihn zu fällen oder um menschliche Gebrechen hervorzukehren. Seine Fehler, seine Schwachheit und seine
natürliche Schüchternheit gereichten vielmehr dazu, die Kraft
Gottes überzeugend zu veranschaulichen. Wir sehen wie Gott
ein Werkzeug, das in den Augen der Menschen höchst untauglich erscheint, zu größten Taten zu befähigen vermag, und wie
Er eine dem Ansehen nach gänzlich ungeeignete Person für ein
großes Werk tatkräftig zubereiten kann.
Was aber war das Geheimnis der Kraft, die wir bei dem Propheten entdecken? Er gehorchte Gott ohne Säumen und trug
Ihm alle seine Schwierigkeiten mit kindlicher Einfalt vor. Anfangs freilich, als er berufen wurde, brachte er seine Zweifel
zur Sprache, bevor er gehorchte; später aber gehorchte er sofort
und berichtete hernach über seine Schwierigkeiten. Den Weg
des Gehorsams hatte er also beim Beginn seiner Laufbahn gelernt. Sind auch wir im Gehorsam geübt? Oft verwundeten die
Aufträge, die er zu überbringen hatte, sein Herz; dennoch
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überbrachte er sie, wie sie ihm aufgetragen waren. Das war das
Geheimnis seiner Standhaftigkeit. Überzeugt, daß er das Wort
Gottes besaß, trat er dem Widerstände der Priester, der Propheten, der Könige und des Volkes entgegen. Wer ihm auch
widerstehen, wer ihn auch bedrohen mochte — gleichviel, Jeremias mußte sprechen, und er sprach. Bezeichnend in dieser Beziehung ist sein Auftreten, nachdem er die Verwüstung der
Stadt geweissagt hatte und deswegen von Paschchur, dem
Oberaufseher des Hauses des Herrn in das Gefängnis geworfen
worden war (Kap 20). Er hatte also wegen seiner Treue zu
Gott bereits die Macht der Menschen erfahren. Aber kaum
hatte man ihn am folgenden Tage aus dem Gefängnis entlassen, so wiederholte er jene unangenehme Wahrheit, beschuldigt den Paschchur, mit Lügen geweissagt zu haben, und nennt
ihn deshalb „Mager=Missabib" (Schrecken ringsum).
Gott gegenüber findet der Prophet hiergegen ganz andere
Worte: „Jehova, du hast mich ergriffen und überwältigt. Ich
bin zum Gelächter geworden den ganzen Tag; jeder spottet
meiner. Denn so oft ich rede, muß ich schreien, Gewalttat und
Zerstörung rufen; denn das Wort Jehovas ist mir zur Schmach
und zum Spott den ganzen Tag. Und spreche ich: Ich will ihn
nicht mehr erwähnen, noch in seinem Namen reden, so ist es in
meinem Herzen wie brennendes Feuer, eingeschlossen in meinen Gebeinen; und ich werde müde, es auszuhalten, und vermag es nicht" (V. 7—9). Während er also mutig wie ein Löwe,
gleich einer ehernen Mauer und einer eisernen Säule vor den
Menschen steht, entfaltet er seine Gedanken und seine Furcht
vor dem Herrn. Vor Ihm schüttet er seine Klagen aus, bekennt
sein Säumen und nennt seine Beschwerden. Dem Herrn öffnet
er sein Herz, und das bewirkt Vertrauen; denn der Herr, vor
Dem und zu Dem er redet, war mit Jeremias „wie ein gewaltiger
Held"; darum konnte er ausrufen: „Meine Verfolger werden
straucheln und nichts vermögen; sie werden sehr beschämt
werden, weil sie nicht verständig gehandelt haben: eine ewige
Schande, die nicht vergessen werden wird" (V. 11).
In diesem Vertrauen kann er den Herrn preisen und andere
ermahnen, dasselbe zu tun, und zwar auf Grund einer beschlossenen Befreiung. „Singet Jehova, preiset Jehova! denn er hat
die Seele des Armen errettet aus der Hand der Übeltäter"
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(V. 13). Für Jeremias ist der Pfad des Gehorsams der einzig
sichere und im Glauben wandelt er auf diesem Pfad. DerGehor=
sam treibt Ihn vorwärts; der Glaube hält ihn aufrecht. Aber der
Weg des Gehorsams bringt nicht Ruhe und Gemächlichkeit.
Er räumt Schwierigkeiten nicht hinweg; sondern scheint sie
erst recht hervorzurufen. Es ist der Glaube, der den Weg eröffnet diese Schwierigkeiten zu überwinden; er stützt sich auf
den berufenden Gott, und überläßt sich selbst und alles Seiner
weisen und gütigen Hand.
In früheren Tagen als die Kinder Israel vom Roten Meer und
von den Feinden auf allen Seiten eingeschlossen waren, erhielten sie den Befehl weiterzumaschieren. Ihr Gehorsam wurde
damit auf die Probe gestellt, es war die Frage, ob sie dem Herrn
vertrauten, daß Er ihnen den Weg öffnen werde. Ebenso war
es mit Jeremias und ist es mit dem ganzen Volk Gottes. Der ein=
zig fundierte Grundsatz ist der auf dem Glauben gegründete
Gehorsam. Jeremias hatte vielen Schwierigkeiten Trotz zu
bieten. Sein Gehorsam führte ihn ins Gefängnis, wo
seine Füße gefesselt wurden, er mußte einige Zeit
in einer Grube zubringen, wo er tief in den Morast hineinsank
und das alles und noch mehr hatte er wegen seines Gehorsams
gegen Gott durchzumachen. Aber er konnte dem Herrn vertrauen, daher jeder Schwierigkeit ins Auge sehen und seinen
Weg unbeirrt fortsetzen. Das schloß nicht aus, daß sein Glaube
mitunter schwach war — dieses Kapitel liefert ein Beispiel von
dieser Schwäche (V. 14—18). Doch der Grundsatz seines Wirkens war Gehorsam, und dieser Grundsatz ließ ihn erfahren,
daß Kraft genug vorhanden war, jede Probe zu bestehen, der
er unterworfen wurde. Das zeigt sich, als er den Auftrag erhielt, von Hannamel, dem Sohne seines Oheims Schallum ein
Feld zu kaufen (Kap 32). Jeremias begreift den Auftrag nicht;
aber er kauft den Acker nach dem Worte des Herrn und befragt den Herrn dieserhalb erst, nachdem der Kauf vollzogen
ist. Und der Herr, Gott, Der allezeit dem Glauben Seiner Kinder begegnet, antwortet ihm mit Worten des Trostes, indem
Er ihm die Segnungen vorstellt, die für das Volk und für das
dem Propheten so teure Land vorgesehen waren.
Das ist sehr lehrreich für uns. Ist der Prophet gehorsam, so
begegnet er stets der Treue Gottes. Der Herr hatte ihm ver15
heißen, daß seine Feinde nicht die Oberhand über ihn haben
sollten und das erfüllte sich immer wieder. Sie konnten ihn
bedrängen, ihm Schmerzen bereiten, ihn bedrohen und gefangennehmen; sie konnten ihm nach dem Leben trachten; aber
sie vermochten ihm das Leben nicht zu nehmen. Paschchur
sollte in Babel sterben. Hananja sollte in demselben Jahr, in
welchem er fälschlich geweissagt hatte, aus dem Leben scheiden; tatsächlich starb er zwei Monate nach seiner Prophezeiung,
weil er Aufruhr gegen den Herrn gepredigt hatte (Kap 28,
1—17). Schemaja, der Nechlamiter, sollte das Gut nicht schau=
en, welches der Herr den Kindern Israel verheißen hatte, und
niemand aus seinem Samen sollte in der Mitte des Volkes wohnen (Kap 29, 32). Doch unserem Propheten hatte Gott Selbst
zugesagt: „Ich bin mit dir, dich zu erretten, spricht Jehova". Es
sind nur wenige, aber bedeutungsvolle Worte; denn sie versichern ihm die Gegenwart Gottes und erfüllten sich vollständig. Er mußte in ein fremdes Land gehen und mit dem Überrest seines Volkes die Leiden der jüdischen Nation teilen. Der
Herr machte ihn zu einer ehernen Mauer, und wer konnte „das
Eisen des Nordens und das Erz zerbrechen" (Kap 15, 12)?
In der Tat. Jeremia war ein Mann der Schmerzen. Und dennoch genoß er die Freude — trotz der Umstände und selbst inmitten seiner schwersten Prüfungen. Diese Freude hatte ihre
Quelle in dem Worte seines Gottes. Was dem äußeren Auge
die Ursache seiner Beschwerden zu sein schien, das eben brachte ihm Linderung in den Leiden. „Waren deine Worte vorhanden, ich habe sie gegessen und dein Wort ist mir zur Wonne und zur Freude meines Herzens gewesen; denn ich bin nach
deinem Namen genannt, Jehova, Gott der Heerscharen" (Kap
15,16). War nun einerseits das von ihm in seinem Herzen aufgenommene Wort Gottes eine Quelle an Freude, so war es
andererseits auch das Mittel, wodurch er sich von dem ihn umringenden Bösen trennen mußte: „Ich saß nicht im Kreise der
Scherzenden und frohlockte; deiner Hand wegen saß ich allein,
weil du mich mit deinem Grimm erfüllt hast" (V. 17). Als Repräsentant des treuen Überrestes drückt er hier seine Leiden
aus. Doch welchen Kummer er auch in seiner Stellung durchzumachen hatte, so war diese Stellung doch der Platz des Zeugnisses. Das ergibt sich aus den Worten: „Wenn du das Köst16
liehe vom Gemeinen ausscheidest, so sollst du wie mein Mund
sein. Jene sollen zu dir umkehren; du aber sollst nicht zu ihnen
umkehren. Und ich werde dich diesem Volke zu einer festen
ehernen Mauer machen, und sie werden wider dich streiten,
aber dich nicht überwältigen; denn ich bin mit dir, um dich zu
retten und dich zu befreien, spricht Jehova. Und ich werde dich
befreien aus der Hand des Bösen und dich erlösen aus der
Faust der Gewalttätigen" (V. 19—21).
Wir sehen also, was das Wort des Herrn für Jeremias war.
Nach diesem Wort wandelte er in Gehorsam; aus diesem Worte empfing er Trost und Freude, und mittels dieses Wortes
schied er sich von der Sünde, die ihn umringte. Und was das
Wort des Herrn für den Propheten war, das ist es zu allen
Zeiten für das Volk Gottes. Begreifen wir es so? Jeremias wandelte nicht nach seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen. Er wandelte nach dem geoffenbarten Worte, sobald er versichert sein konnte, daß es Gottes Wort war. Nichts
anderes wird von uns gefordert. Wir haben auf das Wort und
die Lehre zu achten, auf die Lehre, die nach der Gottseligkeit
ist, auf das Wort der Gnade Gottes. Das Wort bewirkte die
Trennung zwischen dem Propheten und dem Bösen, das ihn
umgab. Übt es auch bei uns diese Kraft aus? Es sollte so sein.
Dann wollen wir in Gehorsam gegen das Wort Gottes wandeln
und uns von allem trennen, was mit diesem Worte im Widerspruch steht. Das Wort wird immer eine Quelle des Trostes
sein, und zwar durch die Versicherung der Nähe des Herrn und
durch die Freude, die das Herz genießt und womit die Seele
genährt wird. Doch es muß auch eine Trennung von jeder Art
des Bösen stattfinden. Wie ernst sind die Worte: „Wenn du
das Köstliche vom Gemeinen ausscheidest, so sollst du wie
mein Mund sein" (V. 19). „Wenn nun jemand sich von diesen
reinigt, so wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich
dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet" (2. Tim 2, 21).
Doch das vermag nur, wer sich von allem fern hält, was gegen
den Willen Gottes ist. Gehorsam gegen Gott ist der einzige
Schirm in bösen Tagen und führt zur Trennung von vielen
Dingen. Ein solcher Pfad ist beschwerlich. Doch inmitten der
Schwierigkeiten wird eine Freude aus dem Worte Gottes hervorstrahlen, die das Herz vordem nicht kannte. Sicher, wir kön17
nen nur dann glücklich und stark sein, nur dann einen gesegneten Einfluß haben, wenn wir in kindlichem Gehorsam gegen
den geoffenbarten Willen des Herrn unseren Pfad wandeln.
Das Ende des eigenen Wirkens
Schon von frühester Kindheit an wurde ich belehrt, daß ich
und alle Menschen Sünder seien, und daß Jesus Christus, der
Sohn Gottes, in die Welt gekommen und ans Kreuz geheftet
worden sei, damit Sünder errettet würden, so daß sie, wenn sie
fleißig beteten und ein gottseliges Leben führten, der ewigen
Verdammnis entrinnen und in den Himmel gelangen könnten.
Diese meine erste Unterweisung ließ einen tiefen Eindruck in
meiner Seele zurück, und das war wohl die Ursache, daß ich
schon in früher Jugend begann, mir durch eigenes Wirken einen
Weg in den Himmel und zu Gott zu bahnen. Ich war belehrt
worden, daß ich nach dem Tode vor Gott ins Gericht treten und
wegen jeder begangenen Sünde Rechenschaft ablegen müsse
und daß ich, falls ich unvorbereitet die Erde verlasse, in die
Hölle kommen werde. Natürlich erfüllten diese Aussichten
meine Seele mit Furcht und Schrecken.
Jahre reihten sich an Jahre und ich fand, daß sich auch Sünde
an Sünde reihte. Die Vergehungen in meinen Jünglingsjahren
fügten sich zu denen in meiner Kindheit; und das war zuviel
für mich. Bei alledem war mir die Tatsache entgangen, daß
mein ganze Natur Sünde ist und daß in mir, das ist in meinem
Fleische, nicht s Gute s wohnt . Weil ich das nicht erkannt hatte, ging mein Streben stets dahin, das, was einfach
die Frucht der verderbten Natur war, zu überwinden und zu
unterwerfen. Gott sei gepriesen! Ich habe später gelernt, daß
in dem vollkommenen Opfer Christi am Kreuze diese verderbte
Natur für den Glaubenden gerichtet, beiseitegesetzt und von
dem Angesicht Gottes entfernt worden ist.
Ich muß hier bemerken, daß die Christen, mit denen ich zu jener
Zeit verbunden war, lehrten, man müsse bei der Bekehrung
einen mächtigen und überwältigenden Wechsel erfahren, in18
dem die alte, sündenbefleckte und gottlose Natur plötzlich beseitigt werde und ein neues reines Herz an ihre Stelle trete. Da
ich diesen grundlegenden Wandel als unumstößliche Wahrheit
betrachtete, prüfte und untersuchte ich mich täglich, ob eine
solche Veränderung auch bei mir eingetreten sei. Das führte
zwangsläufig dazu, nach innen auf mich selbst zu schauen.
Aber was für schreckliche Regungen sah ich da! Ich schrack
vor meinen bisherigen Anstrengungen zurück, wagte aber dennoch nicht, sie aufzugeben. Jemehr ich nach innen blickte, desto
mehr erkannte ich meinen gefallenen Zustand als Kind Adams,
und es wurde mir jetzt wirklich klar, daß ich ein verlorener
Sünder war. Ich sah mich in meinen Sünden und die Sünde in
mir, und diese Sicht brachte mir das Bewußtsein, daß, wenn
ich mich nicht meiner Sünden entledigen konnte, ich eines
Tages für ewig in den Feuersee gestürzt werden würde. Während ich der Wahrheit in dieser Weise ins Auge schaute, begann
ein anderer Kampf! Mein stolzes Herz wollte sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterwerfen. Ich war während dieser Zeit
damit beschäftigt, meine eigene Gerechtigkeit hervorzukehren
und da ich nichts als ein „unflätiges Kleid" sei und daß mein
bisheriges Wirken in religiösen Dingen durchaus nutzlos war,
fühlte ich einen Schlag, der für meinen Stolz zu stark war. Ich
widersetzte mich dem Zeugnis des Geistes Gottes über meinen
wahren Zustand vor Ihm und setzte meine Anstrengungen in
der Hoffnung fort, daß ich nach und nach errettet werde oder
doch wenigstens in eine Stellung gelange, die sich für die
Errettung eigne. Ich hatte zwar das Evangelium oft verkündigen hören, und es war mir bekannt, daß Christus als das
Heilmittel Gottes für die Sünde dargestellt war; aber Satan
hatte mein Herz so sehr mit meinen eigenen Wegen und mit
meinem eigenen Tun und Handeln erfüllt, daß mein Auge für
das einzig wahre Heilmittel zu sehr verblendet war.
So verging ein Jahr nach dem anderen in dem Gefühl, daß die
große Frage zwischen meiner Seele und Gott notwendig bald
in Ordnung gebracht werden müsse.
Ich befand mich damals in einer großen Stadt und sah mich als
Fremdling ihren Fallstricken und Gefahren preisgegeben. Ich
fand keine Ruhe, sondern suchte den Frieden, nach dem meine
Seele so sehr dürstete. Ich fühlte, daß nur die Befreiung von den
19
Banden der Sünde diesen Frieden bringen könne. Ach! nur
e i n Blick im Glauben auf das Kreuz Christi würde die ganze
Frage in Ordnung gebracht haben — nur ein Blick im Glauben.
Wunderbar, höchst wunderbar! Aber ich war zu sehr eingenommen von dem , was ich war, und zu sehr mit meinen Sünden beschäftigt, als daß mir der naheliegende Gedanke gekommen wäre, einfach auf Jesum, das Lamm Gottes, zu blikken — auf jenes von Gott angenommene Opfer für die Sünde
— auf Ihn, den gepriesenen Herrn, Der bereits alles getan hatte,
was ich mich zu tun vergeblich bemühte.
Da ich nun fand, daß alle meine Anstrengungen mir nicht die
gewünschte Ruhe brachten, sondern vielmehr immer neue Bürden auf mich wälzten, begann ich mehr und mehr zu ermatten
und versank schließlich in einen Zustand der Gleichgültigkeit.
Da empfing ich eines Morgens den Besuch eines jungen Mannes, der im gleichen Haus mit mir wohnte. Mit heiteren Blicken
stürzte er auf mich zu, und mit einem von Freude überströmenden Herzen teilte er mir mit, daß er Frieden gefunden habe
durch den Glauben an das Blut Christi, das ihn für immer von
allen Sünden gereinigt habe. In freudiger Erregung lobte und
pries er die unvergleichliche Liebe Gottes in Christo Jesu —
jene Liebe, die seiner Seele einen Genuß bereitet hatte, wie sie
dergleichen nie erfahren hatte. —
Dieses Erlebnis gab mir einen neuen Anstoß eine alte Frage
endlich in Ordnung zu bringen und ich beschloß, meine Anstrengungen von neuem zu beginnen, wiewohl ich nicht wußte,
wie ich die Sache angreifen sollte. Ich überschaute die Sünden
meines ganzen Lebens, so vieler ich mich' entsinnen konnte,
wohl wissend, daß Tausende meinem Gedächtnis entwischt und
Tausende mir gänzlich unbekannt geblieben waren, wobei ich
völlig übersah, daß meine ganze Natur Sünde war. Das Resultat meiner Prüfung war noch tieferes Elend. Ich erkannte
mit einem durch die Gnade Gottes erleuchteten Gewissen meinen wirklichen Zustand ganz und gar und da ich den Weg der
Befreiung von der Sünde nicht kannte und darum ohne Ruhe
und Frieden war, war ich höchst traurig und so niedergeschlagen, daß nur der sich meinen Zustand vorstellen kann, der eine
ähnliche Erfahrung gemacht hat. Sünde und Tod, Himmel und
20
Hölle standen in ihrer schauerlichen Wirklichkeit vor meinen
Blicken. Selbstredend war diese Unruhe hauptsächlich eine
Folge der Predigten und Belehrungen, denen ich beigewohnt
hatte und in denen der Sünder immer wieder zu eigenem Wir=
ken angetrieben wurde, anstatt ihm Christum vorzustellen, wie
Er jedes notwendige Werk in göttlicher Weise vollbracht hat,
so daß die Seele, die sich verloren und unfähig fühlt, etwas für
ihre eigene Errettung zu tun, im Glauben an den gekreuzigten
und auferstandenen Herrn und Heiland Vergebung und Frieden finden kann. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß
er seinen eingeborenen Sohn gegeben hat, auf daß alle, die an
ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben" (Joh 3, 16).
Sicher war die Belehrung nicht verkehrt, daß ich ein Sünder
sei — ich preise den Herrn vielmehr für diese Unterweisung —
aber es ist verkehrt, den Sünder zu dem Bestreben anzuspornen, sich durch eigenes Wirken einen Weg zu Gott zu bahnen.
Wenn doch jene Christen, die sich als Prediger des Evangeliums berufen glauben ihren Eifer darin zeigen würden, Jesum
vor die Seele des Sünders zu stellen, statt dessen Blicke immer
wieder auf sich selbst und seine Sünden zu lenken.
Damit soll nicht etwa das Gefühl für die Häßlichkeit der Sünde
abgeschwächt werden. Die Sünde kostete dem Herrn Jesus
alles, was Er hatte, um Seine armen und geliebten Schafe zu
erretten und sie für immer aus der Macht der Sünde zu befreien. Um der Kirche willen gab Er alles hin, was Er besaß,
um jenen Acker zu erwerben, in dem die kostbare Perle verborgen war. Die Sünde war die Ursache, um deretwillen der
Herr Jesus Sein Leben hingab; und nichts würde daher verwerflicher sein, als das Gefühl eines aufrichtigen Herzens für
die Häßlichkeit der Sünde schwächen zu wollen. Wie beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Worte: „Denn
die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen, und unterweist uns, auf daß wir die Gottlosigkeit und
die weltlichen Lüste verleugnend, besonnen und gerecht und
gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf, indem wir erwarten die
glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres
großen Gottes und Heilandes Jesus Christus, der sich selbst
21
für uns gegeben hat, auf daß er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentumsvolk, eifrig in
guten Werken" (Tit 2,11—14).
Doch kehren wir zu unserer Schilderung zurück. In diesem
meinem unglücklichen Zustande wurde meine Aufmerksamkeit auf einen Prediger des Evangeliums gelenkt, der, wie man
mir sagte, durch seine ernsten und gediegenen Predigten viele
Menschen anzog. Fest entschlossen, meine Neugierde zu befriedigen, ging ich eines Tages hin, um ihn zu hören. Der Raum
war voll von Zuhörern; aber durch die offene Tür konnte ich
fast jedes seiner Worte verstehen. In seinem Vortrag verkündigte er der horchenden Menge den Heilsweg Gottes, sowie
Sein für die Sünde dargebotenes Heilmittel. Ich lauschte mit
größter Spannung und vernahm plötzlich die Worte: „Was der
Sünder nötig hat, ist Jesus; ja Jesus und nur Jesus." Wie durch
göttliche Gewalt drängten sich die Worte in mein unruhig klopfendes Herz. In eindringlichster Art schob der Prediger alles
andere beiseite, bezeichnete jedes andere Hilfsmittel, worauf
die Menschen ihr Vertrauen setzen, als die größte Lüge des
Feindes Gottes und der Menschen und stellte Christum, als die
einzige von Gott bereitete Zufluchtsstätte dar, eine Zufluchtsstätte, die nicht mehr beseitigt werden könne. Wußte ich dies
denn nicht schon lange? Gewiß. Und dennoch war es mir, als
hätte ich heute die köstliche Wahrheit zum ersten Male vernommen, daß der Herr Jesus der Einzige ist, Der zu retten und
auch meine Seele mit Frieden und Freude zu erfüllen vermag.
Ja, Er ist der Einzige, und Sein kostbarer Name fiel wie ein
vortrefflicher Balsam auf mein sündenbeladenes, unruhiges
Herz, so daß ich alles andere überhörte, was der Prediger sagte.
Obgleich ich aus Unkenntnis über das vollkommene Werk Jesu
Christi damals noch nicht jenen Frieden erlangte, dessen sich
jeder wahrhaft Glaubende an Jesum zu erfreuen das Vorrecht
hat, so fand ich doch Ihn, Der mir diesen Frieden geben konnte
und wollte, und in Ihm den Frieden. Ja, nur Christus ist der
Friede der Gläubigen. Ermüdet und niedergebeugt unter der
Last meines eigenen Wirkens, gab ich jetzt hocherfreut meine
hoffnungslose Arbeit auf — eine Arbeit, die nur zu eigenem
Verderben gereichen kann. Ich ruhte nun in dem vollendeten
Werke Christi, Der für mich Sein kostbares Blut vergossen hat,
22
für mic h in den Tod gegangen, auferstanden und in den
Himmel aufgefahren ist, wo Er — nachdem Er die Frage der
Sünde, sowohl hinsichtlich ihrer Wurzel als auch ihrer Zweige
für immer zur vollkommenen Befriedigung Gottes und zu meiner vollkommenen Freude beantwortet hat — zur Rechten Gottes sitzt, um für mich ein barmherziger Hoherpriester und mein
Sachwalter zu sein. Ja, dort ist jetzt Sein gesegneter Platz, und
dorthin werde auch ich Ihm, mit allen, die Seine Erscheinung
lieben, bald folgen, um Seine Herrlichkeit zu teilen, „wenn er
kommen wird, verherrlicht zu werden in seinen Heiligen und
bewundert in allen denen, die geglaubt haben" (2. Thess 1,10).
Hat einer meiner Leser erkannt, daß er ein verlorener Sünder
ist? Wenn ja, dann laß dir sagen, daß auch du es nur mit Jesu
zu tun hast. Er kam in die Welt, um „Sünder zu erretten" und
nicht Gerechte, und je früher du mit Ihm in Berührung kommst,
desto gesegneter wird der Erfolg sein. Vielleicht hast du dich
nicht wie ich durch eigenes fruchtloses Wirken abgemüht, das
ja, fern von dem Blute Christi, nur im Gericht enden kann;
gleichviel — auch für dich gilt das Wort jenes Predigers: „Was
der Sünder nötig hat, ist Jesus, ja Jesus und nur Jesus"! Dort
hat meine Arbeit ihr Ende gefunden, und dort muß jedes andere Mühen sein Ende finden, mögen es tote , religiöse ,
oder gottlos e Werke sein. Das Kreuz zeigt uns das göttliche Urteil über all diese Dinge.
Die Stellung und der Zustand
des Christen
(Epheser 1, 15—23; 3, 14—20)
Es gibt zwei wichtige Begriffe, die jeder, der an Christum
glaubt, erfaßt haben sollte: die Stellung und den Zustand des
Christen — seine Stellung vor Gott in Christo und seinen Zu=
stand, der dieser hohen und heiligen Stellung entspricht.
Der Heilige Geist allein kann die Person und die Stellung
Christi offenbaren und uns ihren Platz in Ihm bewahren. Vertrauen wir in aller Einfalt darauf, daß Er es tun wird. „Da wir
23
nun gerechtfertigt worden, sind aus Glauben, so haben wir
Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus, durch
welchen wir mittels des Glaubens auch Zugang haben zu dieser Gnade, in welcher wir stehen, und rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes" (Röm 5, 1. 2). In Christo besit=
zen wir alles. Das verdeutlicht diese Stelle. Wir sind gerechtfertigt, haben Frieden und Zugang zu der Gnade und rühmen
uns in Hoffnung der Herrlichkeit, ja der Herrlichkeit Gottes.
Mit diesen Dingen sind wir jetzt in der gesegnetsten Weise
verbunden, indem wir Christum, die Hoffnung der Herrlichkeit im Herzen haben, „Denen Gott kundtun wollte, welches
der Reichtum der Herrlichkeit dieses Geheimnisses sei unter
den Nationen, welches ist Christus in euch, die Hoffnung der
Herrlichkeit" (Kol i, 27).
Die Person und das Werk Christi rücken damit in den Mittelpunkt unseres Nachsinnens. Die Erniedrigung und die Herrlichkeit des vom Vater geliebten Sohnes erfüllen das Herz ganz
und gar, und man freut sich der Gemeinschaft mit dem Vater
und dem Sohne. Die Betrachtung Seiner Liebe weckt auch in
unserem Herzen Liebe. Geht es um die Stellung und den Zustand des Gläubigen, so muß Christus Selbst der Mittelpunkt
unserer Gedanken und unserer Anbetung sein; das Herz muß
durch innige Gemeinschaft mit Ihm von dankbarem Lob überfließen. Wenn wir in Seiner Gnade stehen, müssen wir auch
Seine Stellung kennen, um unsere eigene zu beachten, und wenn
wir in Ihm geliebt sind, müssen wir auch die Liebe des Vaters
zu dem Sohne kennen, um Seine Liebe zu uns zu verstehen.
Und in dem Maße, wie wir in diese gesegneten Wahrheiten
eindringen und uns mit Christo beschäftigen, wird auch unser
Zustan d hier unten der Abdruck unserer Stellun g
dort oben sein.
Die zwei Gebete des Apostels Paulus in seinem Brief an die
Epheser stellen uns den Gegenstand unserer Betrachtung ganz
deutlich und klar vor Augen. Gebe der Herr, daß wir die wun=
derbare Tiefe und Höhe Seiner Wege und Seiner Herrlichkeit,
die des einst leidenden, jetzt aber verherrlichten Jesus ergrün=
den, sowie auch die Lieblichkeit Seiner Liebe und die innere
Kraft des Heiligen Geistes kennenlernen.
24
Zunächst betet der Apostel (Kap l, 15—23), daß die Heiligen
ihren Platz oder ihre Stellung in dem auferstandenen und verherrlichten Haupte, Jesu Christo, kennen und einen tiefen und
richtigen Begriff ihres Platzes vor Gott in Ihm, Der alles Seinen Füßen unterworfen hat, bekommen möchten. Im Zusammenhang hiermit werden die Heiligen im letzten Kapitel aufgefordert, ihre Stellung gegen jeden Feind zu behaupten. „So
stehet nun", sagt der Apostel — er sagt nicht: „machet Fortschritte" — denn es gibt keinen höhern und bessern Platz. Wiederum betet Paulus (Kap 3, 14—21) und drückt nun den
Wunsch aus, daß ihr Zustand ihrer Stellung entsprechen möge.
Er bittet, daß sie mit Macht durch Seinen Geist an dem inneren
Menschen gekräftigt würden, daß Christus durch den Glauben
in ihren Herzen wohnen und sie in Liebe gewurzelt und gegründet seien.
Höchst bedeutsam — auch für ein besseres Verständnis des ganzen Briefes — ist die Unterscheidung der beiden Beziehungen,
in welchen Gott zu Christo, und folglich in Ihm auch zu uns
steht.
Diese zweifache Beziehung kommt schon bei Beginn des Briefes
zum Ausdruck: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres
Herrn Jesus Christus". Sie durchstrahlt den ganzen Brief. Er ist
unser Gott und Vater in Christo. Sobald unser Herr auferstanden war, machte Er diese köstliche (auf die vollbrachte Erlösung
gegründete) Wahrheit bekannt. „Gehe hin zu meinen Brüdern
und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu
eurem Vater und zu meinem Gott und zu eurem Gott" (Joh 20,
17). Welch eine gesegnete Frucht des Todes und der Auferstehung unseres Heilandes!
Das erste Gebet ist zu „dem Gott unseres Herrn Jesus Christus" gerichtet, das zweite dagegen „zu dem Vater unseres
Herrn Jesus Christus". In jedem Gebet entspricht auch der
Hauptgedanke den beiden verschiedenen Titeln. In jenem
drückt sich die Macht und Herrlichkeit aus, welche sich in Dem
auferstandenen Christus entfalten, in diesem die Verwandtschaft
und die Liebe. Der Vater liebt den Sohn, und als Solcher hat
der Herr Seine besondere Stellung, die in keiner Beziehung zu
Seiner Erhöhung steht. Als Mensch hingegen, Der einst
unserer Sünden wegen erniedrigt wurde und Gott dadurch verherrlichte; daß Er diese hin wegnahm, ist Er erhöht worden und
25
folglich auch wir in Ihm. Lieb e und Herrlichkei t stellen sich damit den sehenden Augen dar — Liebe zu dem Sohne,
Herrlichkeit für Christum — und also sind auch wir geliebt und
verherrlicht in Ihm. Gesegnete Wahrheit! Wie köstlich für
unsere Seelen! Welche Gnade! Welche Liebe! Welche Herrlich=
keit! Wir werden Ihn ewig dafür loben und preisen.
Aber bei näherer Betrachtung der beiden Gebete treten die
Fülle und der Reichtum dieser wunderbaren Wahrheiten noch
deutlicher hervor.
„Weshalb auch ich, nachdem ich gehört habe von dem Glauben
an den Herrn Jesus, der in euch ist, und von der Liebe, die ihr
zu allen Heiligen habt, nicht aufhöre, für euch zu danken, euer
erwähnend in meinen Gebeten" (Vers 15 und 16). Von welcher
Versammlung der Gläubigen würde der Apostel jetzt wohl
dasselbe sagen können? Bei den Ephesern nahm Christus den
rechten Platz in ihren Herzen ein, und folglich standen die Heiligen auf dem richtigen Boden. — Der Glaube an Christum
und die Liebe zu den Heiligen gehören zusammen;
eins ist sozusagen die Frucht des anderen. Wenn Christus nicht
den gebührenden Platz in unseren Herzen hat, so werden auch
die Gläubigen nur einen unangemessenen Platz darin einnehmen. Die Epheser liebten nicht nur die Heiligen, deren Charakter und deren Gewohnheiten ihnen angenehm waren; nein, sie
besaßen „Liebe zu alle n Heiligen". Hieraus ist nicht zu
schließen, daß wir alle Gläubigen in gleichem Maße lieben
müssen; dies wäre unmöglich. Wir sollen sie aber alle als Kinder Gottes lieben; von Seinem und nicht von unserem Gesichtspunkt aus müssen wir sie betrachten. Wohl können wir unter
Gottes Kindern unsere besonderen Freunde haben; dies kann
sogar oft nützlich für uns sein aber wir müssen darauf bedacht
sein anderen Christen durch unsere speziellen Zuneigungen
keinen Anstoß zu geben.
Wie aber können wir diese Liebe zu allen Heiligen verwirklichen? Ist es nicht unmöglich, allen Heiligen ohne Ausnahme
Liebe zu erweisen? O, nein! wir können es, wenn wir sie in
dem Lichte des Herrn betrachten, wenn wir Seine Gedanken
über sie kennenlernen. Das allein wird uns über alles das hinwegsehen lassen, was nicht liebenswürdig ist und uns bewah=
ren vor Eigenliebe und Selbstsucht, die unserer Liebe zu ande26
ren immer so sehr im Wege stehen. „Wenn wir aber in dem
Lichte wandeln, wie er in dem Lichte ist, so haben wir Gemein=
schaft miteinander" (i. Joh 1, 7). Gott muß den ersten Platz
einnehmen, wenn wir einander lieben wollen.
Als Paulus, der große Apostel der Heiden, Gefangener in Rom
war, alt und schwach, getrennt von seinen Freunden, gehindert
am Besuche der Versammlungen und an seiner Arbeit für das
Evangelium, als etliche sogar „seinen Banden Trübsal zuzufügen gedachten", indem sie „Christum nicht lauter verkündigten", ließ er sich durch diese Umstände nicht beunruhigen; denn
die Ehre Christi und die Bekehrung von Seelen war ihm mehr
wert, als seine persönliche Freiheit und sein Anteil an dem
Werke. Deshalb konnte er sagen: „Was ist es denn? Wird
doch auf alle Weise, sei es aus Vorwand oder in Wahrheit,
Christus gepredigt, und darüber freue ich mich, ja ich werde
mich auch freuen". Mochte man Christum als Vorwand — damit seinen Banden noch Trübsale zugefügt würden — oder
in Wahrheit und Lauterkeit verkündigen, stets floß das Herz
des Apostels von Freude über. Seine Freude in Gott und seine
Liebe zu den Heiligen waren unerschütterlich. „Ich danke meinem Gott", schrieb er „hei aller meiner Erinnerung an euch, indem ich allezeit in jedem meiner Gebete für euch alle das
Gebet mit Freuden tue". Ein Strom von Liebe ergoß sich aus
jenem Kerker zur Erquickung aller Versammlungen — aller
Heiligen, und noch immer erquickt diese unvergleichliche Liebe
viele Gläubigen. Er ließ sich von seinen Feinden nicht erschrekken oder entmutigen, denn er hatte seine Augen auf Christum
gerichtet und war von Freude über seine Brüder in Christo
erfüllt. Die innige Gemeinschaft mit dem Herrn verlieh ihm
einen so herrlichen Sieg. Der Feind konnte ihm wohl die Frei=
heit nehmen und ihm einen gemeinen Verbrecher zugesellen;
aber Christum konnte er ihm nicht nehmen, noch seine Liebe
zu den Heiligen. Kostbares Vorbild! Gesegnete Lehre für
unsere Herzen! Möchten wir sie zu verstehen und ihm in treuer
Weise nachzufolgen suchen!
„Auf daß der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der
Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und der Offenbarung in der Erkenntnis seiner selbst" (V. 17). Der Apostel
ist hier Lehrer und Fürsprecher; sein Gebet steht in vollkom27
menem Einklang mit den eben erwähnten Wahrheiten. Oft
wird im Gebet das zerstört, was durch Belehrung aufgebaut
wurde. Paulus hingegen greift seine Belehrung auch im Gebet
auf. Nachdem er die Heiligen in Ephesus als Kinder Gottes und
„gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen
Ortern in Christo" angeredet hatte, konnte er unmöglich beten,
daß sie die Liebe Gottes und die Vergebung ihrer Sünden erkennen möchten. Er hatte sie zuvor über diese gesegneten
Wahrheiten belehrt, ihnen die Versicherung gegeben, — ja, er
gibt sie den ganzen Brief hindurch allen Heiligen — daß sie
Kinder Gottes sind, nach dem Wohlgefallen Seines Willens,
die Freude Seines Herzens., daß sie begnadigt sind in dem Geliebten, daß der Heilige Geist in ihnen wohnt, und zwar als
Siegel ihrer Errettung und als Pfand ihrer zukünftigen Herrlichkeit. „In welchem ihr auch, nachdem ihr geglaubt habt,
versiegelt worden seid mit dem Heiligen Geiste derVerheißung,
welcher das Unterpfand unseres Erbes ist, zur Erlösung des
erworbenen Besitzes, zum Preise seiner Herrlichkeit". In schöner Übereinstimmung mit diesen und anderen großen Wahrheiten bittet er, daß Gott ihnen den Geist der Weisheit geben
möge, um diese wunderbaren Offenbarungen Seiner Gnade zu
verstehen, und daß sie im Glauben wachsen möchten hinsichtlich Seiner wundervollen Gedanken und Ratschläge über sie.
Müssen wir als Christen nicht aber unsere Sünden und Fehler
bekennen? Ohne Zweifel; wir sollten es beständig tun, weil
wir sonst nicht mit Gott wandeln können. Andererseits sollen
wir den Boden, auf welchem wir vor Gott stehen, nicht untergraben. Unsere Stellung in der Gegenwart Gottes ist in Christo
nach dem Reichtum der Gnade Gottes, und da insofern Fehlgehen nicht in Betracht kommt, können wir auch den uns gegebenen Platz nicht verlieren. Wir stehen hier „zum Preise der
Herrlichkeit seiner Gnade". Obwohl wir uns als Gläubige unserer Fehler tief bewußt sein sollen, dürfen wir dennoch nicht die
Ebene armer, verlorener Sünder einnehmen. Dies würde unserer
Stellung ganz und gar widersprechen; denn nach der Aussage
des Heiligen Geistes sind wir Kinder Gottes und begnadigt in
dem Geliebten. Aber wie sollen wir dann unsere Sünden, unsere
bösen Gedanken bekennen? Die Antwort ist sehr einfach: als
Kinder des Vaters, nicht aber als Sünder vor Gott. Unsere Feh28
ler und Übertretungen wiegen deshalb nicht weniger schwer —
im Gegenteil, sie sind für Gott viel schmerzlicher; denn wir
sündigen als Kinder trotz unserer Erkenntnis der Liebe und
Gnade. Wir können gewiß sein, daß, je besser wir unseren
Standpunkt vor Gott verstehen, desto tiefer auch unsere Demütigung wegen eines Vergehens sein wird. Des Christen
Wandel sollte eigentlich seiner Stellung vollkommen entsprechen, wie geschrieben steht: „Seid heilig, den ich bin heilig".
Aber leider ist dies oft nicht so, und dann ist es unsere Pflicht,
uns zu demütigen und unsere Fehler vor Gott zu bekennen.
Die Frage ist daher nicht, ob der Christ besser ist als je zuvor,
sondern ob sein Standpunkt verändert ist. Seine Stellung vor
Gott ist nicht mehr in dem alten Adam, sondern in dem zweiten Adam — dem auferstandenen Christus. Nachdem man gläubig geworden ist, wird ein Gott wohlgefälliger Wandel gefordert. „Wer da sagt, daß er in ihm bleibe, ist schuldig selbst
auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat" (1. Joh 2, 6). Dennoch ist ein Christ nicht ohne Sünde: „Wenn jemand gesündigt
hat, so haben wir einen Sachwalter bei dem Vater, Jesum
Christum, den Gerechten" (V. 1). In solcher Weise spricht die
Heilige Schrift von den Geliebten Gottes. Wenn hingegen von
der alten Natur die Rede ist, so wird gesagt, daß in uns nichts
Gutes wohne. Durch unseren Sachwalter — durch Sein Blut —
werden alle unsere Fehler ausgetilgt und kommen nicht vor
den Thron Gottes. Welch eine Gnade, daß Christus alle unsere
Angelegenheiten wahrnimmt. Seinem Namen sei Lob und
Dank!
Der Apostel wendet sich in seinem ersten Gebet also an den
„Gott unseres Herrn Jesus Christus, den Vater der Herrlichkeit". Die Macht Gottes, welche in der Erhöhung Christi und
des Christen in Ihm dargestellt wird, ist der Hauptgedanke in
diesem Gebet. Die durch den Ausdruck „Vater der Herrlichkeit" hervorgebrachte Empfindung ist für das Herz eines Kindes sehr köstlich; denn mit dem Namen „Vater" ist der Begriff
„Liebe" unzertrennlich verbunden, wie mit dem Titel „Gott"
der Begriff „Macht". Diese Liebe des Vaters ist die Quelle
jener Herrlichkeit, aller jener vollkommenen Segnungen. Er ist
der „Vater der Herrlichkeit".
29
Groß und wunderbar entfaltet sich hier in der Tat die Macht
Gottes dem Glaubensauge: „Die überschwengliche Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der
Macht seiner Stärke, in welcher er gewirkt hat in dem Christus,
indem er ihn aus den Toten auferweckte und ihn setzte zu
seiner Rechten in den himmlischen Örtern". Aber stehen Liebe
und Herrlichkeit nicht in Verbindung miteinander? Ohne Zweifel! Nur ist die Liebe größer und schöner als die Herrlichkeit;
denn letztlich ist selbst die glänzendste Herrlichkeit bloß die
äußere Offenbarung der Liebe. Beide werden im Tausendjährigen Reiche gesehen werden. Dann wird der Himmel, im
übertragenen Sinne, der Erde näher gerückt sein, so wie Jakob
die Erde durch eine Leiter mit dem Himmel verbunden sah;
dann aber wird auch die Kirche mit Christo vereinigt sein,
wovon der Herr Selbst in Joh 17 spricht: „Die Herrlichkeit,
die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, auf daß sie
eins seien, gleich wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir,
auf daß sie in eins vollendet seien, und auf daß die Welt erkenne, daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie du
mich geliebt hast".
Wunderbare, gesegnete Wahrheit! Die Herrlichkeit, welche der
Vater dem Sohne gibt, wird uns von dem Sohne gegeben, damit die Welt einsehe, daß Gott Seinen eigenen Sohn gesandt
und der Vater uns geliebt hat, wie Er den Sohn liebt. Welche
Liebe, welche Gnade! Die Welt wird uns also mit Christo in
derselben Herrlichkeit sehen und wird dann erkennen, daß wir
auch mit derselben Liebe geliebt sind. Wird sie auch unsere
Freude im Hause des Vaters erkennen? O nein! Dies ist allein
der Ort für Seine Kinder, die Heimat, wo alle, die hier unten
an Christum geglaubt haben, einst ausruhen werden. Dies ist
deine gesegnete Hoffnung. Es ist besser, alles einzubüßen, als
diese Heimat der Liebe, diese ewige Herrlichkeit zu verlieren.
„Der Vater liebt den Sohn und hat alles in seine Hand gegeben.
Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben, wer aber dem
Sohn nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der
Zorn Gottes bleibt auf ihm" (Joh 3, 35. 36). Gebe der Herr,
daß alle Leser dieser Zeilen einst für ewig in jene glückselige
Heimat einziehen!
30
„Damit ihr, erleuchtet an den Augen eures Herzens wisset, welches die Hoffnung seiner Berufung ist und welches der Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen, und welches
die überschwengliche Größe seiner Kraft ist an uns, den Glaubenden" (V. 18. 19). Der erste Gedanke, welcher beim Lesen
dieser Verse in uns aufsteigt, ist gewiß, daß Gott die Quelle
aller Segnungen ist. Wie schön und köstlich ist dieser Gedanke
für das Herz!
Wenn der Apostel im Anfang seines Briefes an die Römer von
dem Evangelium spricht, nennt er es „das Evangelium Gottes
über seinen Sohn Jesum Christum, unseren Herrn". Dort ist die
Quelle und Christus der Gegenstand des Evangeliums. Hier,
in den himmlischen örtern aber ist es die herrliche Darstellung Seiner Gnade und Liebe, welche Er denjenigen erweist,
die durch das Evangelium zu Ihm geführt worden sind. Ob es
nun Gnade und Liebe zu Sündern auf der Erde, oder zu Heiligen im Himmel ist, die Quelle ist stets dieselbe. Wunderbar
und anbetungswürdig, wenn wir daran denken, welche Geschöpfe wir sind!
Was könnte auch kostbarer und ermutigender für uns sein,
als sich mit den Gedanken und Ratschlägen Gottes, der Quelle
aller unsrer Segnungen, zu beschäftigen? Diese Grundlagen
sind bleibend und unveränderlich. Schon vor Grundlegung der
Welt gedachte Gott an unsere Erlösung, und jetzt sind der auferstandene Christus und die Kinder Gottes als Auferstandene
in Ihm die vollkommene Antwort auf die ewigen Ratschlüsse
der Liebe. „In welchem wir die Erlösung haben durch sein Blut,
die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner
Gnade" (V. 7).
Aber laßt es uns wohl beachten, die Quelle ist nicht nur der
Ursprung der Freude für uns selbst, sondern auch die Triebfeder reicher Segnungen für andere. Wenn wir in richtiger
Verbindung mit der Quelle stehen, so werden wir ein Kanal
des lebendigen Wassers für andere werden; wir werden dann
das Vorrecht haben, die Herde des Herrn zu tränken, wo sie
sich versammelt hat. Möchten wir doch nahe bei dem geliebten
Herrn — der Quelle aller geistlichen Segnungen — bleiben, damit wir auch anderen Heiligen von dem lebendigen Wasser
mitteilen können!
31
Befassen wir uns nun etwas näher mit der Berufung des Christen (V. 18). Wozu hat der Herr den Christen nach dem Reichtum Seiner Liebe berufen? Dies ist eine sehr wichtige Frage.
Ist es eine Berufung zu der Hoffnung auf Errettung d. h. mit
einem gewissen Grad von Ungewißheit? Keineswegs — unsere
Erlösung ist eine sichere Tatsache: „Durch Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens" (Kap 2, 8). Die Hoffnung Seiner
Berufung ist das, wozu wir in Christo Jesu, als Kinder Gottes,
berufen sind. Wir sollen uns freuen in dem auferstandenen
Christus, Der, über alle Feinde triumphierend gen Himmel ge=
fahren ist und jetzt zur Rechten Gottes sitzt. Das ist unsere
Berufung durch den Glauben.
In diesem Teil seines Gebets denkt der Apostel ohne Zweifel
an die Worte, welche er am Anfang des Briefes gebraucht hat:
„Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den
himmlischen örtern in Christo, wie er uns auserwählt hat in
ihm vor Grundlegung der Welt, daß wir heilig und tadellos
seien vor ihm in Liebe und uns zuvorbestimmt hat zur Sohnschaft durch Jesum Christum für sich selbst, nach dem Wohlgefallen seines Willens" (V. 3—5). Alles ist hier Gnade — vollkommene, aus der Liebe Gottes hervorgegangene Gnade. Gott
wird hier allein als der Segenspender vorgestellt; in Seinem
Herzen befindet sich die Quelle aller Segnungen — aber Christus ist die Grundlage von allem. In Ihm sind wir gesegnet,
durch Ihn ward uns Vergebung aller Sünden.
Das Herz des Apostels ist von diesem köstlichen Gedanken
so erfüllt, daß er lobend und anbetend ausruft: „Gepriesen sei
der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen
örtern in Christo". Alle unsere Segnungen gehen von dieser
zweifachen Beziehung — Gott und Vater — aus. In den ersten
Worten, welche der Herr nach Seiner Auferstehung Seinen
Jüngern sagen ließ, entfaltete Er diese gesegnete Wahrheit.
„Gehe hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: ich fahre
auf zu meinem Vater und eurem Vater, und zu meinem Gott
und eurem Gott". Seine Jünger konnte Er Brüder nennen. Er
32
konnte sie auf denselben Platz stellen, auf dem Er stand. Wun=
derbare Wahrheit! Zu der Erkenntnis und dem Glauben dieser
Wahrheit — zu deren praktischen Offenbarung bist du, christlicher Leser, berufen. Laß es nicht unbeachtet, sondern betrachte
es als Gottes Wahrheit; denn es ist nicht nur eine Meinung,
ein Gefühl, sondern echte Wirklichkeit.
„Wie er uns auserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt,
daß wir heilig und tadellos seien vor ihm in Liebe" (V. 4).
Dieser Vers stellt uns die Segnungen der Berufung Gottes in
Verbindung mit der göttlichen Natur dar, während uns dagegen im fünften Vers die herrliche Verwandschaft zwischen
dem Vater und uns — Seinen Kindern — offenbart wird. „Heilig und tadellos in Liebe" —nur in einem solchen Zustand passen wir in die Gegenwart Gottes; als ein heiliger und gerechter Gott kann Er nur diejenigen in Seiner Gegenwart dulden,
welche gleich Ihm, heilig und ohne Sünden sind. Als Vater aber
erinnert Er uns durch den Heiligen Geist an die gesegneten
Vorrechte einer innigen Verwandtschaft. Er, der Schöpfer des
Himmels und der Erde, nennt uns Seine Kinder. Welche Gnade!
Welch reiche Segnungen! Möchte doch jeder Gläubige einsehen,
daß diese zwei Hauptsegnungen — die göttliche Natur und die
Sohnschaft — in Ihm vereinigt sind; möchte er doch wünschen,
eine vollkommene Kenntnis von dem zu erhalten, wozu Seine
Gnade uns erwählt hat!
Gott Selbst ist es, Der uns in Christo zu dieser segensreichen
Berufung erwählt hat. Der Vorsatz, die Auserwählung, die
Liebe — alles ist von Ihm. Er ist die Quelle und der Ursprung
all' dieser Segnungen; ja sogar vor Grundlegung der Welt
dachte Er schon an uns — an uns, die von Gott abgefallen und
in die Sünde gefallen waren. Mit unseren Sünden können wir
aber nicht vor Seinem Angesicht bestehen; denn Gott kann
keine Gemeinschaft mit dem Bösen haben. Deshalb mußten
wir Ihm gleichgemacht und unsere Sünden weit von uns ent=
fernt werden; wir mußten Seiner Natur teilhaftig werden, da=
mit wir vor Seinem Antlitz als Heilige und Tadellose in Liebe
bestehen können.
33
O! Möchte doch der Ungläubige und noch ungereinigte Sünder
daran denken, daß Gott die Ungerechtigkeit unmöglich dulden
kann, daß Er das Böse einmal richten und alle Gottlosen in
den See werfen wird, der mit Feuer und Schwefel brennt (Offb
2i;
8). Jetzt ist noch die Zeit der Gnade; vielleicht wird es bald
für ewig zu spät sein. Jetzt fließt die Quelle des Wassers noch
für jeden, der mit dem Wunsche naht, von seinen Sünden abgewaschen zu werden. „Ich will dem, der dürstet, aus der
Quelle des Wassers des Lebens geben umsonst". Geliebter
Leser, wenn du dieses lebendige Wasser noch nicht hast, beachte dann doch diese Worte. Aus freier Gnade — umsonst —
bietet Gott dir völlige Vergebung deiner Sünden an; aber wenn
du Seine einladende Stimme nicht beachtest, so wird dein Teil
in dem See sein, der mit Feuer und Schwefel brennt. Ernste
Warnung für jeden, der sich der freien Gnade noch nicht ergeben hat.
Der Gedanke an eine völlige Trennung von Gott an diesem
Ort der Qual ist furchtbar, überwältigend. Abgeschieden von
Gott und Christo, von allen Guten und Heiligen, von allen
Reinen und Glücklichen; verurteilt, für ewig seinen Platz bei
den Bösen einnehmen zu müssen ist schlimmer als wir jetzt
verstehen können. Wer könnte es ergründen? Wer ist fähig,
das Furchtbare der Worte Jesu am Kreuze zu begreifen: „Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Dieses „Verlassensein" werden einst alle verstehen, die hier auf Erden die
einladenden Worte Jesu nicht beachtet haben. Verlassen von
Gott und all Seiner Güte, verlassen von Jesu und Seiner versöhnenden Liebe, verlassen von dem Heiligen Geist und all
Seinen Bemühungen, verlassen von aller Liebe und Freude,
werden ihre armen, verlorenen Seelen in die äußerste Verzweiflung geraten. Darum, unbekehrter Leser, geh zu dem liebreichen Heiland, der dich so freundlich einladet: „Kommet her zu
mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch
Ruhe geben." —
Nach dieser kurzen Abschweifung kehren wir zum Gegenstand
unserer Betrachtung zurück.
Dies Verweilen in der Nähe Gottes setzt also voraus, daß wir
Ihm gleich sind, d. h. wir müssen „heilig und tadellos in Liebe"
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sein. Steht damit aber nicht vieles in uns völlig in Widerspruch?
Die Antwort auf diese Frage ist einfach und dennoch sehr bedeutsam. Der Apostel spricht hier nämlich von dem, was wir
in Christo sind, nicht von unserer eigenen Natur, welche noch
immer dieselbe geblieben ist und sich immer wieder mit neuen
Sünden beflecken kann. Wir sind auserwählt und berufen in
Christo — Er ist unser Leben und in Ihm stehen wir, abgewaschen von allen Sünden, vor Gott. Christus ist heilig und
tadellos in Liebe, und da Gott uns in Seinem Sohne sieht, so
kann Er mit Wohlgefallen Seine Augen auf uns ruhen lassen.
Welches unaussprechliche Vorrecht! Schon jetzt stehen wir rein
und heilig in dem auferstandenen und verherrlichten Christus
vor Gott, während wir einmal „ihm gleich sein werden; denn
wir werden ihn sehen wie er ist".
Aber inwiefern entsprechen wir dieser herrlichen Stellung in
Christo? Unser praktischer Wandel stimmt doch häufig mit
diesen köstlichen Segnungen und Vorrechten nicht überein. Nur
zu oft entsprechen wir dem nicht, was uns als Kindern Gottes
geziemt. Wir erlauben uns viele Dinge, die unserer göttlichen
Natur zuwider sind. Woher kommen Stolz, Eitelkeit und Weltsinn? Gewiß nicht aus unserer göttlichen, sondern aus unserer
alten Natur, in der nichts Gutes wohnt. Mit dieser Überzeugung, daß nämlich in unserem Fleische nichts Gutes zu finden
ist, sollen wir uns aber nicht abfinden, sondern das Fleisch vielmehr zu unterdrücken suchen und gegen alle seine Bemühungen
angehen. Möge der Herr es uns in Seiner Gnade geben, daß wir
uns tagtäglich von Ihm unterweisen lassen, damit wir immer
mehr gekräftigt werden, Seinen Willen auszuführen.
Haben wir wohl schon einmal bedacht, welch ein wunderbarer
Tausch es sein wird, wenn wir unserer heiligen, göttlichen
Natur in Wirklichkeit teilhaftig, wenn wir Christo vollkommen
gleich sein werden und kein Gedanke, kein Wunsch mehr im
Widerspruch zu Gott stehen wird? Dann ist kein Wort, keine
Tat länger Seiner heiligen Gegenwart unwürdig, und unsere
Freude wird kein Ende haben. O, welch ein wunderbarer Gedanke, welch eine vollkommene Segnung! Laßt uns doch daran
denken, was für ein herrliches Los uns noch bevorsteht, wie
vollkommen wir uns der Liebe und Gnade des Herrn erfreuen
werden!
35
Wenn wir nun richtig verstehen wollen, „was die Hoffnung
seiner Berufung ist", so müssen wir von unserer Verwandtschaft
mit Gott, wie von unserer Natur völlig überzeugt sein; denn
man kann heilig und tadellos in Liebe und doch nur Diener
sein. Die hervorragendsten Engel nehmen keine höhere Stellung ein. Aber wir, die wir durch Seine Gnade vom niedrigsten
zum höchsten Platz erhoben sind, werden Söhne genannt.
„Also bist du", sagt Paulus, „nicht mehr Knecht, sondern Sohn,
wenn aber Sohn, so auch Erbe Gottes durch Christum". Und
am Schluß der Heiligen Schrift wird diese für unsere Herzen so
unaussprechlich köstliche Wahrheit noch einmal wiederholt:
„Wer überwindet, wird dieses ererben, und ich werde ihm
Gott sein, und er wird mir Sohn sein". Dieses herrliche Vorrecht — unsere Kindschaft — ist der zweite Teil der Berufung
eines Christen.
„Der uns zuvorbestimmt hat zur Sohnschaft durch Jesum Christum für sich selbst, nach dem Wohlgefallen seines Willens"
(V. 5). Während die Juden im Alten Testament „das Volk
Gottes" genannt wurden, nennt der Herr uns Kinder. Ohne
Zweifel waren die alttestamentlichen Heiligen wiedergeboren,
und in dem Sinne waren sie Kinder Gottes; aber wenn Er von
ihnen spricht, so sagt Er „mein Volk" und nicht „meine Kinder". Sie hatten auch das ewige Leben; dennoch wird im Alten
Testament nie davon gesprochen; erst Christus offenbarte dies.
Auch hören wir erst nach der Auferstehung Christi, daß Er
Seine Jünger als Seine Brüder bezeichnet (Joh 20, 17), und von
diesem Augenblick an nehmen wir den Platz als
Söhne Gottes ein. Christus ist zwar der Sohn des
Vaters von Ewigkeit her, und in dieser Beziehung kann Ihm
niemand an Herrlichkeit gleichkommen; aber wir sind mit Ihm
als mit dem auferstandenen und verherrlichten Sohne Gottes
einsgemacht, eins mit Ihm durch Sein Werk am Kreuz und nach
dem wohlgefälligen Willen des Vaters.
Zu aller Zeit segnete Gott den Gläubigen nach der Offenbarung, welche Er ihm von Sich Selbst gab. Dem Abraham offenbarte Gott Sich als Allmächtiger und überschüttete ihn als den
Bewahrer der Verheißung mit Segnungen. Von Gott gerufen,
verließ er sein eigenes Volk und Land, um in ein ihm völlig
unbekanntes und fremdes Land zu gehen. Obwohl er nicht
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wußte, wohin der Herr ihn führen würde, gehorchte er Ihm
dennoch in dem vollen Vertrauen, daß alles, was der Herr ihm
befahl, zu seinem Besten gereichen würde. Und dieses Vertrauen sollte nicht beschämt werden, denn in jenem fremden
Land, in der Gegenwart des Königs von Sodom, wurde sein
Herz näher zu Gott geführt; dort bekannte und ehrte er den
Herrn als „den höchsten Gott, der Himmel und Erde besitzt".
Die Verheißung Gottes war für sein Herz völlig genug, an sie
glaubte er. Außer dieser Verheißung hatte er nichts; denn Gott
gab ihm kein Erbteil in jenem fremden Lande, „auch nicht einen
Fuß breit, und er verhieß, daß er es ihm zum Besitztum geben
würde und seinem Samen nach ihm, als er kein Kind hatte"
(Apg 7, 5). Abraham glaubte, und Gott Ließ seinen Glauben
nicht zuschanden werden. Von welchem Gläubigen könnte der
Heilige Geist jetzt wohl sagen, daß alle seine Werke durch
Glauben geschehen, wie uns von Abraham mitgeteilt wird
(Hebrn) ?
Die Verwandtschaft zwischen dem Volke Israel, den Nachkommen Abrahams, und ihrem Gott, war durch einen Bund festgesetzt, der ihnen zeitliche Segnungen in einem bevorzugten
Land zusicherte, aber durch ihre Empörung wider ihren Herrn
sind sie jetzt Seiner züchtigenden Hand unterworfen. Dennoch
bleiben sie Sein auserwähltes Volk, das einst, wenn die Zeit
Seiner Trübsal vorüber ist, in alle seine Rechte wieder eingesetzt und sich Seiner Segnungen reichlich erfreuen wird. Der
Christ dagegen hat weit herrlichere als jene irdischen Segnungen; er kennt Gott nicht nur als einen allmächtigen Gott, als
den Jehova, sondern auch als einen Vater. „Ich werde euch zum
Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein,
spricht der Herr, der Allmächtige" (2. Kor 6,18). Die Israeliten
konnten sich auf die Verheißungen ihres treuen Gottes stützen,
aber wir ruhen in einer vollbrachten Erlösung. Nichts kann der
Segnung nach Vers 5 noch hinzugefügt werden — ein größeres
Vorrecht kann man sich nicht denken. Er hat uns nicht allein
auserwählt, um Ihm gleich zu sein, sondern auch bei Ihm, in
Seiner Nähe zu wohnen. Wie zärtlich, wie wunderbar drückt
der Herr uns dadurch Seine innige Liebe aus! Ja, für Sich
Selbst hat Gott uns auserwählt, damit wir in Seiner unmittelbaren Nähe, dort wo Christus Seinen Platz hat, verweilen. Das,
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geliebter Leser, ruft Gott dir und jedem Christen zu, wie
schwach er auch sein mag. Du bist berufen, Ihm gleich zu sein
und für ewig in Seiner Nähe zu verweilen, und zwar — beachten wir es wohl — „nach dem Wohlgefallen Seines Willens".
„Zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade, worin er uns begnadigt hat in dem Geliebten" (V. 6). Dieser Vers stellt uns
die Fülle der göttlichen Liebe zu Seinen Kindern deutlich vor
Augen. Wir sind gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in
Christo — wir sind auserwählt in Christo — wir sind Kinder
durch Jesum Christum; aber begnadigt sind wir in dem Geliebten. Weshalb dieser Wechsel im Ausdruck? Weil der Heilige Geist hier andeuten will, daß uns die zärtlichste Liebe
Gottes gilt. Christus ist der vielgeliebte Sohn Gottes. Niemandem konnte Gott größere Liebe erzeigen als Ihm, und dennoch
sind wir begnadigt, geliebt und gesegnet in Ihm, dem Geliebten. Größere, herrlichere Liebe kann uns nicht erwiesen werden; wir können uns nur beugen und angesichts einer solchen,
unaufhörlichen, unermeßlichen Liebe anbeten.
Dir wir Ruhm und Ehre bringen,
Dank, Anbetung allezeit;
Ewig werden wir besingen,
Gott, dein Lob in Herrlichkeit.
„Damit ihr wisset, welches der Reichtum der Herrlichkeit seines
Erbes ist" (V. 18). Diese Worte enthalten den zweiten Teil des
Gebetes, das der Apostel für seine geliebten Epheser zum
Thron der Gnade emporsendet. Den ersten Teil, daß die Gläubigen die Art ihrer Berufung verstehen möchten, haben wir
bereits betrachtet und gesehen, wie alle unsere Segnungen in
Christo Jesu sind, wie innig unsere Verwandtschaft mit Gott ist
und welch eine köstliche Stellung wir einnehmen. Der dritte
Teil schließlich befaßt sich mit der Kraft, welche sie in den
Besitz alles dessen setzt, was die Gnade verliehen hat. Doch
betrachten wir zunächst den reichen Inhalt des zweiten Teiles.
Die Segnung, die uns in diesen wenigen Worten mitgeteilt
wird, war bis zur Zeit des Apostels verborgen; deshalb wird
uns im neunten Verse gesagt, daß „Gott das Geheimnis seines
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Willens uns kundgetan hat". Welche Gnade, daß Er es uns
geoffenbart hat! Er hat uns zu Seinen Erben, zu Miterben
Seines vielgeliebten Sohnes gemacht. Mit Christo werden wir
alles, „was in den Himmeln und was auf der Erde ist", erben.
Welche Zukunft! Aber das Erhabenste wird sein, daß
wir in Gottes unmittelbarer Nähe verweilen und den
Mittelpunkt bilden werden, weil dies der Platz unseres
Heilandes ist. Über uns, neben uns, bei uns wird
die Gegenwart des Vaters sein. Aber was ist außerhalb dieses
Kreises — außerhalb des Hauses unseres Vaters? Da ist Seine
Ehre und Herrlichkeit. Von dem niedrigen Grabe Josephs von
Arimathia, wo der Herr einst lag, bis zu dem Throne Gottes,
wo Er jetzt sitzt, wird alles mit Seinem Ruhm erfüllt sein. Der
verachtete Nazaräer und Seine einst verachteten Nachfolger
stehen verherrlicht inmitten göttlicher Herrlichkeit da! Welch
ein wunderbares Gemälde für das Auge des Gläubigen! Möchte
er es doch mehr in Erinnerung behalten und danach wandeln!
Im Alten Testament finden wir etwas, das diesem Erbteil der
Heiligen sehr ähnlich ist. Dort lesen wir, daß Kanaan das Erbe
Gottes in Israel war. Er gab es dem Abraham und seinen Nachkommen zu einem ewigen Besitztum. Aber unter dem Gesetz
konnte es nicht verkauft werden, denn Gott nahm es für Sich
in Anspruch. „Und das Land soll nicht für immer verkauft
werden, denn mein ist das Land" (3. Mo 25, 23). Deshalb wird
es das „Land Immanuels" genannt (Jes 8, 8). Jehova ergreift
von dem Lande nicht durch einen direkten Akt Seiner Macht
Besitz, sondern in Seinem Volke, so daß es Sein Erbe in Seinem
Volke ist. Wie lieblich ist eine solche Handlung! O, hätten
Seine Auserwählten doch Seine Liebe und Fürsorge erkannt
und zu würdigen gewußt!
Aber einmal kommt die Zeit, wo Gott nicht nur das Land
Kanaan, sondern das ganze Weltall unter Sein Szepter bringen
wird, und zwar mittels der Heiligen — der Miterben Christi.
In dem Gebet des Apostels wird hierauf nur hingedeutet; die
Ratschlüsse Gottes hierüber finden wir in den vorhergehenden
Versen. „Er hat uns kundgetan das Geheimnis, das er sich vorgesetzt in sich seihst, für die Verwaltung der Fülle der Zeiten:
alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus,
das was in den Himmeln und das was auf der Erde ist, in ihm,
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in welchem xvir auch ein Erbteil erlangt haben, die wir zuvorbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt nach
dem Rate seines Willens". Diese Worte sind einfach, können
aber — wie das Kommen des Herrn, das Verlassen alles Irdischen und die zukünftige Herrlichkeit der Heiligen — nur von
denen verstanden werden, die erlöst sind.
„In welchem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade"
(V. 7). Im zweiten Kapitel wird der Zustand des Menschen
unter der Sünde vollkommen dargestellt, während hier nur so
im Vorbeigehen darauf hingewiesen wird. Dort wird uns das
Urteil Gottes ganz klar vor Augen gestellt. Der Mensch ist tot
— tot in Vergehungen und Sünden. Er ist nicht nur krank, wie
manche gern glauben möchten, sondern tot — moralisch und
geistlich tot. Nichts kann hoffnungsloser sein. Beim Bösen gibt
es verschiedene Grade, aber der Tod kennt keine Grade. In
einem solchen Zustand waren die Epheser, auch wir sind es und
alle Menschen von Natur. Wenn wir bedenken, daß dies der
Ausgangspunkt der Epheser war, brauchen wir uns dann über
die Worte „nach dem Reichtum seiner Gnade" zu wundern?
Gewiß nicht. Unserer tiefen Armut kam der Reichtum Seiner
Gnade entgegen. Wenn von Gläubigen die Rede ist, so gebraucht der Heilige Geist die Worte „Herrlichkeit seiner Gnade", wenn Er aber von verlorenen Sündern spricht, wählt Er
die Worte „Reichtum seiner Gnade". Er zeigt Sich herrlich in
Gnade und reich an Gnade. Welche Liebe, welches Erbarmen
können wir darin sehen! Gehen wir jetzt noch etwas näher auf
die Einzelheiten ein.
1. „Die Erlösung des erworbenen Besitzes" (V. 14) und die
Erlösung des Leibes werden uns erst zuteil werden, wenn
Christus kommt; aber die Erlösung der Seele, welche für uns
viel wichtiger ist, ist uns jetzt schon völlig zugesichert. Sie ist
jetzt unser Teil; „wir haben die Erlösung durch sein Blut"
(V. 7). Wir werden sie nicht erst später erlangen, sondern wir
haben sie jetzt schon, und zwar in Ihm. Alles findet sich in
Christo; Sein Name sei dafür gepriesen!
2. Wir bedurften der Vergebung, der völligen Vergebung aller
unserer Sünden, und, Gott sei gelobt, durch das Blut Christi ist
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uns vollkommene Vergebung geworden; es ist nicht etwa nur
teilweise geschehen — denn dadurch würde das Blut Christi
seinen vollen Wert verlieren — noch ist uns irgendeine Bedingung auferlegt, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter
der Gnade sind. Unsere Sünden sind weder beschränkt noch
bedingt sondern vollkommen und unbedingt vergeben, nach der
Würdigung, die Gott dem Blute Christi beilegt. Konnte mehr
getan werden? Bedürfen wir noch mehr? Gott hat Seinen Sohn
gegeben, und Dieser hat für uns Sein Blut vergossen, so daß
wir von allen Sünden befreit sind. Größeres kann nicht geschehen, um uns von Sünden zu reinigen. Welch ein unaussprechlicher Trost — welch ein fester Grund des Friedens und
der Ruhe für unsere Herzen! Ihm allein gebührt aller Ruhm
und alle Ehre!
3. Nicht nach unseren Gedanken und Gefühlen, sondern nach
den Gedanken und Ratschlüssen Gottes hatten wir Erlösung
und Vergebung nötig, und durch Seine Gnade haben wir sie
jetzt, und zwar in Verbindung mit der Person Christi. Aber
wie kommt es dann, daß die Sünde noch immer in meinem
Herzen wirkt, nachdem sie vollkommen vergeben ist, wenn ich
so reichlich gesegnet bin? Ohne Zweifel wohnt die Sünde noch
in meinem Herzen; aber hat Gott uns je gesagt, daß Er die
Sünde aus dem Herzen des Gläubigen wegnehmen würde?
Gewiß nicht. Aus unserem Herzen ist sie nicht entfernt, wohl
aber auf dem Kreuze hinweggetan worden, und gerade deshalb
ist allen Gläubigen völlige Vergebung geworden. Gottes Auge
ruht mit Wohlgefallen auf dem vollbrachten Werke am Kreuze,,
und auch wir sollten dort alle unsere Befriedigung finden. Für
eine verlorene Seele gibt es keine andere Grundlage des Friedens
als nur den Glauben an das Kreuz; was sich nicht darauf gründet, kann Gott nicht gutheißen, es wird zuschanden werden.
Laßt uns deshalb damit zufrieden sein, daß Gott mit unseren
Sünden in der Person des Stellvertreters auf dem Kreuze abgerechnet und sie hinweggenommen hat durch Sein kostbares
Blut.
Eine unruhige Seele wird vielleicht einwenden: „Ich bin gewiß,
daß ich täglich sündige, immer wieder sündige, wie sehr ich
auch wache und dagegen angehe; was soll ich davon halten?"
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Nichts anderes, als daß deine Vergehungen von Gott in der
Person Seines Sohnes auf dem Kreuze gerichtet sind. „Er selbst
hat unsere Sünden an seinem Leibe auf dem Holz getragen"
(i. Petr 2, 24). Wer das einsieht, wird — in einem größeren
Maße von Seiner Liebe erfüllt — alle seine Fehler in Seiner
heiligen Gegenwart offen bekennen und sorgfältig richten. Das
Selbstgericht müssen wir ausüben, solange wir in dieser Welt
sind, denn so lange wird auch die Sünde in uns wohnen; aber
das göttliche Gericht ist schon ausgeführt und auf dem Kreuze
vollendet. Wer in der Gegenwart Gottes wirklich glücklich sein
will, muß beides — das Selbstgericht und das göttliche Gericht
der Sünde und der Sünden auf dem Kreuze — wohl verstehen.
Das ist Voraussetzung, wenn du die Schrift im Blick auf die
Ankunft des Herrn oder Seine tausendjährige Herrlichkeit verstehen willst. Wie könnte auch eine Seele, die sich ihrer Errettung nicht völlig gewiß ist, in die Ratschlüsse Gottes über die
Zukunft eindringen? Deshalb machte Paulus den Ephesern
auch diese Zusammenhänge völlig klar, bevor er ihnen die Geheimnisse des göttlichen Willens über die zukünftige Herrlichkeit mitteilte. Der Herr gebe auch uns Klarheit darüber, daß
unsere Sünden auf dem Kreuze, nicht aber aus unseren Herzen
hinweggetan sind, und daß das Selbstgericht über alle unsere
Sünden und Fehler nötig ist, nicht nur wegen der Abscheulichkeit der Sünde an und für sich, sondern auch weil Gott sie ein
für allemal auf dem Kreuze Seines geliebten Sohnes gerichtet
hat!
Nachdem nun der Apostel die Wahrheit der Erlösung durch das
Blut Christi und der Vergebung unserer Sünden den Ephesern
noch einmal klar vor Augen gestellt hat, kann er nun die Ratschlüsse Gottes über Seinen Sohn entfalten. Das Ziel dieser
Ratschlüsse ist die Herrlichkeit und Ehre Seines geliebten Sohnes, die Ihm sogar auf dem Schauplatz Seiner früheren Erniedrigung dargebracht werden sollen. Aber haben wir schon einmal ernstlich darüber nachgedacht, daß die Kirche, weil sie eins
mit Christo ist, auch zusammen mit Ihm verherrlicht werden
wird? Paulus sagt in demselben Brief: „Dieses Geheimnis ist
groß, ich aber sage es in bezug auf Christum und auf die Versammlung". Dieses Geheimnis gilt nicht Christo allein, sondern
Christo und der Versammlung. Diese wird teilhaben
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an der Ehre und Herrlichkeit Christi, nicht weil sie etwas getan
hat, sondern weil sie Sein Eigentum ist. Ja, sie ist Sein Eigentum, — kostbare Worte! Was für eine unaussprechliche Liebe
hat unser gesegneter Herr uns bewiesen! Wer möchte wohl
nicht danach streben, ein Glied Seines Leibes zu werden? Und
dennoch lassen viele diese himmlischen Segnungen unbeachtet,
um den vorübergehenden Vergnügungen dieser Welt nachzujagen! Möchte der Herr in Seiner Gnade noch viele der Hand
des Teufels entreißen, damit sie Seine Stimme hören und Ihm
folgen! Die Tür steht — gelobt sei Sein Name — noch immer
offen — jene Tür, die zu Seiner Heimat, zu Seinem Herzen und
zu der Herrlichkeit führt.
Dieses Wort „Geheimnis" kann aber nicht als Entschuldigung
für Unwissenheit in dem Sinne gedeutet werden, daß es gar
nicht oder nur schwer zu verstehen wäre, sondern es besagt
nur, daß es bis dahin, bis zu dem Augenblick, wo der Apostel
spricht, noch nicht offenbar war. So wird im Alten Testament
zum Beispiel viel über das tausendjährige Reich und über die
Segnungen Israels in einem von Milch und Honig fließenden
Lande gesprochen; aber von der Stellung der Kirche, als eins
mit Christo in den himmlischen örtern, oder von ihrer zukünftigen Herrlichkeit und Regierung mit Christo wird uns nichts
gesagt. Dies war eine verborgene Sache — ein Geheimnis bis zu
den Tagen des Apostels Paulus. Da deckte Gott das ganze
Geheimnis auf und zeigte Seinen Kindern die herrlichen und
gesegneten Offenbarungen. Nach dem Wohlgefallen Seines Willens tat Er uns das Geheimnis kund, „das er sich vorgesetzt hat in sich selbst, für die Verwaltung der Fülle der
Zeiten: alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem
Christus, das was in den Himmeln und das was auf der Erde
ist, in ihm, in welchem wir auch ein Erbteil erlangt haben".
Damit wird deutlich, daß es Gottes Absicht ist, einmal alles
unter die Herrschaft Christi zu bringen, und zwar alles, war,
im Himmel und auf Erden ist. Dann wird zwischen dem Himmel und der Erde eine stete Verbindung sein, wie sie einst
durch die Leiter Jakobs vorgebildet war und aufgezeigt wird
durch die Worte des Herrn Selbst zu Nathanael: „Ihr werdet
den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf- und
niedersteigen auf den Sohn des Menschen".
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Und in dieser gesegneten Zeit des tausendjährigen Reiches
werden wir mit unserem geliebten Herrn vereinigt sein und
werden mit Ihm die Herrlichkeit und Regierung teilen, die Ihm
als „Sohn des Menschen" von dem Vater gegeben worden ist.
Wunderbarer Gedanke! Als „Sohn des Menschen" wird Er
während der tausendjährigen Herrlichkeit, vereinigt mit Seinen
Auserwählten, herrschen. Die ausgedehnte, grenzenlose Herrschaft im Himmel und auf Erden wird unter dem Szepter eines
Menschen — des zweiten Adam — stehen. Und wir — die Gläubigen, die Braut des Herrn — werden gesehen und anerkannt
werden als die zweite Eva, das Weib des himmlischen Adam.
Die Himmel und die Erde gehören zwar dem Vater, aber Er
besitzt sie in Seinen himmlischen Heiligen. Welch ein Reichtum
von Gnade und Liebe! Ja wahrlich, unser Erbteil ist groß! Aber
in diesem Charakter wird Christus nur während des tausendjährigen Reiches mit uns regieren. Am Ende dieses Friedensreiches, wenn Er jedes Fürstentum und alle Gewalt und Macht
weggetan haben wird, wird Er das Reich dem Gott und Vater
übergeben, auf daß Gott alles in Allem sei (1. Kor 15, 24—28).
Aber dennoch werden wir in einem anderen Sinne ewig mit
Ihm herrschen — „im Leben herrschen durch den Einen, Jesum
Christum" (Röm 5, 17).
Bevor wir nun zum dritten Teil des Gebets des Apostels übergehen, wollen wir die Worte „für die Verwaltung der Fülle der
Zeiten" etwas näher betrachten. Das Wort „Verwaltung" bezieht sich auf jene Zeit, wo alles unter der Herrschaft Christi
sein wird: auf das tausendjährige Reich. Wie anders wird dann
alles in der Welt sein! Der Teufel, dem es jetzt erlaubt ist, als
der Gott und der Fürst dieser Welt zu herrschen, wird dann in
den Abgrund geworfen sein (Offb 20,1—3),
ur>d Christus wird
an seiner Statt als der Fürst des Friedens regieren. In der Tat,
dann wird die Erde das wahre Freudenfest feiern können. Vor
dieser Zeit kann sie weder frohlocken noch freudig sein. Satan
muß zuerst aus dieser Welt entfernt sein und Christus die
Zügel der Regierung in Händen haben, ehe die Bewohner der
Erde sich des Friedens und der Ruhe erfreuen können. Dann
aber wird Ruhe und Sicherheit sein. Das ist keine leere Behauptung; es ist die Wahrheit. Die Bibel selbst sagt es: „Siehe, ein
König wird regieren in Gerechtigkeit und die Fürsten werden
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nach Recht herrschen. Und das Werk der Gerechtigkeit wird
Friede sein und das Ergebnis der Gerechtigkeit Ruhe und
Sicherheit ewiglich. Und mein Volk wird wohnen in einer
Wohnstätte des Friedens und in ganz sicheren Wohnungen und
in stillen Ruhestätten" (Jes 32, 1. 17. 18). Und welche Stellung
werden die Heiligen während dieser Zeit einnehmen? „Sie werden leben und herrschen mit dem Christus tausend Jahre"
(Offb 20, 4). Diese Regierung Christi liegt zwischen der Aufnahme der Heiligen und der ewigen Herrlichkeit. Erst nachdem
die Kirche aufgenommen und die Erde von ihren Verderbern
gereinigt sein wird, kann diese segensreiche Änderung aller
irdischen Verhältnisse eintreten. Aber welch kostbares Bewußtsein ist es für unsere Herzen, daß Er jeden Augenblick kommen
kann, um uns von dieser Erde hinwegzunehmen und in Seine
Nähe zu bringen. Es gibt kein Ereignis, das noch geschehen
müßte, bevor Er kommt. Seine letzten Worte an uns waren:
„Der diese Dinge bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald"! Wenn
wir diese Worte richtig verstehen, werden wir mit wahrer Liebe
im Herzen ausrufen: „Amen, komm, Herr Jesu"!
Den Ausdruck „die Fülle der Zeiten" beziehen manche Ausleger
— wie „die Fülle der Zeit" in Galater 4, 4 —. Offenbar ist dies
aber ein Irrtum. Die „Fülle der Zeit" und „die Fülle der Zeiten"
unterscheiden sich in ihrer Bedeutung völlig. Das eine bezieht
sich auf die Vergangenheit, das andere auf die Zukunft. Im
Brief an die Galater spricht der Apostel von der Zeit, wo die
Ratschlüsse Gottes insoweit in Erfüllung gegangen sind als „er
seinen Sohn sandte", den Ephesern aber schreibt er über eine
noch zukünftige Zeit, wenn alle Zeiten oder Perioden in der
Herrschaft ihr Ende finden werden. Vieles, das jetzt noch besteht oder sich entwickelt, wird dann ein Ende haben, und zwar
für immer. So wird z. B. die Schöpfung dann dem Tode nicht
mehr unterworfen sein. „Denn das sehnsüchtige Harren der
Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Gottes"
(Röm 8, 19). Achten wir darauf, daß hier von der Offenbarung
der Söhne und nicht des Sohnes Gottes die Rede ist. Der Sohn
Gottes ist schon geoffenbart, wir sind es noch nicht. Erst wenn
wir in Herrlichkeit geoffenbart sind, wird „die ganze Schöpfung,
welche zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt
bis jetzt", freigemacht werden. Dann wird die Stunde ihrer
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Befreiung anbrechen. Sie wird von der Knechtschaft des „Verderbnisses" befreit und der Tod, der seit Adam in dieser Welt
geherrscht hat, beseitigt sein. Die wilden Tiere werden zahm
sein; die Erde wird den vollen Ertrag hervorbringen, denn die
Wüsten werden fruchtbaren Gegenden gleichen. Und die Bewohner der Erde? „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugmessern
schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Nicht wird
Nation wider Nation das Schwert erheben, und sie werden den
Krieg nicht mehr lernen" (Jes 2, 4). Gebe der Herr, daß diese
Zeit bald anbrechen möge! Die Zeit der Verblendung Israels
und der Herrschaft der Heiden wird dann vorbei sein. Dann
wird die Ordnung allenthalben hergestellt sein; Satans Macht
wird zerbrochen und die Schwachheit und das Leiden der Kirche
wird verschwunden sein. —
Doch nun zum dritten Teil des apostolischen Gebets! Damit
ihr wisset, welches die überschwengliche Größe seiner Kraft an
uns, den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der Macht seiner
Stärke, in welcher er geivirkt hat in dem Christus, indem er ihn
aus den Toten auf erweckte; und er setzte ihn zu seiner Rechten
in den himmlischen Cirtern . . ." (V. ig. 20). Das Kreuz Christi
ist uns Ausdruck der vollkommensten Liebe; in der
Auferstehung aber entfaltet sich absolute Macht. Das
Kreuz zeugt von Liebe; dort unterwarf Christus Sich
dem Leiden und dem Tode um unsertwillen und zur
Verherrlichung Seines Vaters. Den Weisen und Verständigen
dieser Welt mag das Kreuz Christi eine Torheit sein, den
Selbstgerechten mag es ein Stein des Anstoßes sein, dem anbetenden Gläubigen aber ist es der höchste Ausdruck völligster
Liebe. Aus Liebe litt Christus am Kreuz, aus Liebe ertrug Er
alles, denn „die Liebe hofft alles, sie erduldet alles". Eine so
vollkommene Liebe, eine Liebe, die nie gefehlt hat, kann nur
göttlich sein. Die innigste, die trauteste Liebe in dieser Welt
kann fehlen; aber Seine Liebe bleibt und ändert sich nie. Nach
dem Kreuze müssen wir blicken, weil dort die Tiefe und Kraft
Seiner Liebe offenbart wurde, und einmal wird es als der
Mittelpunkt im Himmel und die Grundlage aller Herrlichkeit
und Segnungen anerkannt werden. Welchen Schrecken bot Jesu
das Kreuz! Wie groß war Sein Schmerz, Sein Kummer! Von
allen verlassen, selbst von Seinem Gott, erduldete Er dennoch
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alle Schmerzen. „Der Schande nicht achtend, erduldete er für die
vor ihm liegende Freude das Kreuz, und hat sich gesetzt zur
Rechten des Thrones Gottes" (Hebr 12, 2).
Aber wie lieblich für Gott und den Menschen das Kreuz auch
ist, es bekundet nicht die Macht, wie wir sie in der Auferstehung finden. Da sah man keine Schwachheit mehr, da zeigte
sich Gottes Macht gewaltig genug, Christum aus den Toten
aufzuerwecken und zur Rechten Gottes in den himmlischen
örtern zu setzen. Nur der Glaube vermag in die wunderbaren
Weiten einzudringen, welche die Tiefe des Grabes und die
Höhe des Thrones umfassen. Mancher lehnt diese Wahrheit
als unwirklich ab; aber er gleicht nur dem, der vor der Tür
stehen bleibt, um die Wohnung zu besehen. Nein, hier geht es
nicht um eine Frage der Verwirklichung, sondern des Glaubens.
Wir müssen die Wahrheit glauben, bevor wir sie fühlen können;
wir müssen einen Ort besuchen, ehe er uns bekannt sein kann.
Das Alte Testament zeigt uns das in einem Bilde: „Jeglichen
Ort, worauf eure Fußsohle treten wird, habe ich euch gegeben,
wie ich zu Mose geredet habe" (Jos 1, 3). Bist du bereit, diese
vor uns liegende Wahrheit zu glauben, kannst du sie verstehen
oder nicht? Das ist die Frage. Wir achten das Wort Gottes
gering, wenn wir es deshalb nicht annehmen, weil wir es nicht
verstehen.
Dieselbe Macht Gottes nun, die in Christo wirkte, als Er Ihn
aus den Toten auferweckt und Ihn zu Seiner Rechten im Himmel setzte über jeglichen Namen, der genannt wird, hat auch
in uns gewirkt zur Einführung in dieselbe Stellung und Herrlichkeit. Die überschwengliche Größe Seiner Macht ist nicht nur
in Christo, sondern auch an „uns, den Glaubenden geoffenbart". Aber wie ist das möglich, da wir doch so schwach und
kraftlos sind und so leicht von Schwierigkeiten überwältigt
werden? Ohne Zweifel ist das wahr; aber woher kommt diese
Schwachheit? Sie erklärt sich daraus, daß wir die Macht, mit
der wir verbunden sind, nicht genug anerkennen und ehren.
Wäre unser Glaube an das Wort Gottes kräftiger, so würden
uns auch die schwierigsten Umstände nicht so sehr beeindrucken.
Das Herz des Apostels Paulus war nicht nur auf Christus
im Himmel, sondern auch auf Seinen Wandel auf dieser Erde
47
gerichtet. Er wünschte, in alle Seine Fußstapfen zu treten, sei
es hier unten oder dort oben. Aber laßt uns zum besseren Verständnis dieser Frage das zweite Kapitel des vor uns liegenden
Briefes beachten. Dort finden wir, daß dieselbe Kraft, die in
Christo wirkte, uns aus einem elenden Zustande — wir waren
tot in Vergehungen und Sünden — befreit, aus den
Händen Satans gerissen und als Erlöste in die Gegenwart Gottes versetzt hat. Ja, wir sind mitauferweckt
und befinden uns in den himmlischen örtern in Christo
Jesu. Für den Glauben ist diese Wahrheit leicht zu begreifen,
aber nicht oder nur sehr schwer für die Vernunft zu verstehen.
Wenn wir mit unserem Verstände zu Werke gehen, wird uns
alles unglaublich erscheinen. Sind unsere Augen, Herzen und
Gedanken aber auf den Herrn gerichtet und findet sich all
unsere Freude in Ihm, so werden uns die Worte Gottes leicht
verständlich sein. Dann bedürfen wir der menschlichen Unterweisung nicht; denn der Heilige Geist ist unser Lehrer.
Darum sollte unser Herz allein auf Ihn gerichtet sein! Unter
dem furchtbaren Gewicht unserer Sünden starb Jesus und
wurde ins Grab gelegt. Da schien der Feind gesiegt zu haben;
denn der Fürst des Lebens lag in den Fesseln des Todes. Aber
welche Wirkung hatte dieser Tod! Durch Sein Blutvergießen
war das mächtige Werk vollbracht, wodurch Er jede Bürde
unserer Sünden von unseren Schultern wälzte. Durch jenes
Blut wurde Gott befriedigt, die Hölle besiegt und der Mensch
durch den Glauben an dieses Blut für ewig gerettet. Doch Christus blieb nicht im Grabe. „Der Gott des Friedens" — „der
Vater der Herrlichkeit" — erweckte unseren Herrn Jesus aus
den Toten und setzte Ihn zu Seiner Rechten in den himmlischen
Örtern. Und mit dem Haupte wurden auch die Glieder auferweckt; Er hat uns mit auferweckt und auf denselben gesegneten Platz gestellt. Dort nahm etwas Neues seinen Anfang —
eine neue Schöpfung, von welcher Jesus Christus, der auferweckte Mensch, das Haupt und der Mittelpunkt wurde. „Das
Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden". Die Welt..
Sünde, Satan, Tod, das Grab — alles ist zurückgeblieben und
liegt für den Glauben ebenso weit dahinten wie für Christum
Selbst. Alle, die jenen gesegneten Namen lieben, sind in Ihm
und da, wo Er ist. Gott hat Ihn erhöht „über jedes Fürstentun48
und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft und jeglichen
Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem Zeitalter,
sondern auch in dem zukünftigen und hat alles seinen Füßen
unterworfen und ihn als Haupt über alles der Versammlung
gegeben, welche sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles ir,
allem erfüllt" (Eph i, 21. 22).
Wir sehen also, daß Gott alle Dinge Seinem Sohn unterworfen
hat und daher an uns die Aufforderung ergehen läßt, Ihn zu
ehren. Wer von einer Art Vorsehung spricht, mag zwar dennoch ein religiöser Mann sein und sich gern mit religiösen Fragen beschäftigen, aber mit dem Herzen Christi ist er nicht
bekannt, mit diesem gesegneten Heiland pflegt er keine Gemeinschaft, er achtet und liebt ihn nicht. Ach, welch eine Torheit! Denn das, was ihn am meisten beschäftigt, ist für unsere
Augen mehr oder weniger in Finsternis gehüllt, während Christus völlig geoffenbart ist.
Beachten wir schließlich, daß Christus als Mensch erhöht und
verherrlicht wurde. Als Gott war eine Verherrlichung nicht
möglich; denn die Herrlichkeit Gottes ändert sich nicht. Als
Mensch kam Er auf diese Erde, als Mensch starb Er, und als
Mensch wurde Er zur Rechten des Vaters im Himmel erhöht!
Und dort in den himmlischen örtern — zur Rechten des Vaters
— ist Seine Versammlung mit Ihm, dem Haupte, vereinigt. Sie
ist eins mit Ihm, Der über alles gesetzt ist; sie ist die Fülle
Dessen, Der alles in allem erfüllt. Obwohl Christus allein
dieses Platzes würdig war, so ist doch Seine Braut —
Sein Leib — mit Ihm verbunden. Welch eine wunderbare, gesegnete Stellung! Welch ein herrliches Teil für
die Kirche! Ja, das Herz der Gläubigen sollte davon
erfüllt sein. Es war von aller Ewigkeit her so von Gott
bestimmt. Der Herr Selbst spricht davon in Seinem Gebet zum
Vater. „Und die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe
ich ihnen gegeben, auf daß sie eins seien, gleichwie wir eins
sind; ich in ihnen und du in mir, auf daß sie in eins vollendet
seien und auf daß die Welt erkenne, daß du mich gesandt und
sie geliebt hast, gleichwie du mich geliebt hast" (Joh 17, 22. 23).
Bevor wir nun diese Betrachtung beenden, frage ich meine
Leser, ob der Herr wirklich für ihre Herzen so köstlich ist, daß
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sie nicht ohne Ihn leben können, daß sie Ihn täglich nötig haben
zu ihrem Frieden und Glück! Denkt doch daran, daß ihr, sobald
ihr an Ihn glaubt, mit Ihm vereinigt seid und der Heilige Geist
in euch wohnt. Verstehen wir das, so sind wir fähig, außerhalb
der Welt zu leben, obwohl es dennoch unsere Pflicht ist, unsere
Geschäfte in Treue zu besorgen. „Wir sind nicht von der Welt"
— wie Christus nicht von der Welt war — sondern wir sind
durch den Glauben mit Ihm im Himmel vereinigt. Dies ist
wahres Christentum und erfüllt das Herz mit himmlischem
Frieden und himmlischer Freude. Steht es so bei dir, geliebter
Leser? Oder besitzst du den Herrn noch gar nicht? Das wäre
schrecklich! Es ist fürwahr traurig, Christum durch die Schrecknisse und Dunkelheit der menschlichen Theologie zu sehen;
aber Ihn gar nicht zu haben, sich gar nicht um Ihn zu kümmern,
ist in der Tat ein nicht zu beschreibender Zustand — ein Zustand, der an den Rand des Sees führt, der mit Feuer und Schwefel brennt. O, wenn du wirklich noch in diesem Zustande bist,
so gehe doch zu Ihm, glaube an Ihn, Der auf Golgatha für
Sünder, ja für den schlechtesten Sünder starb! Denk nicht, daß
menschliche Religion dir etwas nützen wird. Das Werk Christi
allein kann dich erretten. Wenn du nur zu Ihm kommst, so
wird Er dich sicher in Seine Arme nehmen und dir einen
Platz, ja einen Thron in Seiner Herrlichkeit geben. Welche
Gnade, welche Liebe! Ach! was muß die Hölle für diejenigen
sein, die eine solche Liebe und Herrlichkeit verworfen haben?
Der Gedanke, Christum von sich gestoßen und die Errettung
verachtet zu haben, muß ein Wurm sein, der nicht stirbt, und
ein Feuer, das nicht erlöscht. Aber noch ist die Zeit der Gnade;
noch kannst du diesem allem entfliehen. Mit offenen Armen
will Jesus dich aufnehmen. Gehe darum zu Ihm, und verachte
die Gnade Gottes nicht. Hör doch auf die Worte: „Das Blut
Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde",
und „glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden".
Beug deine Kniee vor Ihm — bekenne deine Sünden, und Er
wird dir völlige Vergebung von allen Deinen Sünden geben
und himmlischen Frieden in dein Herz gießen.
Wenden wir uns nun dem zweiten Gebet des Apostels zu-
„Dieserhalb beuge ich meine Kniee vor dem Vater unseres
Herrn Jesus Christus, von welchem jede Familie in den Hirn50
mein und auf Erden benannt wird, auf daß er euch gebe, nach
dem Reichtum seiner Herrlichkeit mit Kraft gestärkt zu werden
durch seinen Geist an dem inneren Menschen" (Kap 3, 14—16).
Gegenstand und Charakter dieses Gebets unterscheiden sich
im allgemeinen sehr von denen des ersten Gebets; dennoch ist
ihnen beiden auch wesentliches gemeinsam. In beiden ist Christus der Mittelpunkt und der Gläubige mit Ihm, als solchem,
verbunden. Der Unterschied liegt darin, daß das erste Gebet
das Reich Christi und unsere Vereinigung mit Ihm in Herrlichkeit behandelt, während im zweiten von dem Hause der vielen
Wohnungen gesprochen wird, wo wir vom Vater geliebt werden, wie Christus Selbst geliebt ist. Wir sind also — o wunderbarer Gedanke! — eins mit Ihm als dem verherrlichten Menschen in Liebe und Herrlichkeit, in einem innigen, vertrauten
Umgang und in all den äußeren Segnungen Seines Reiches.
Aber, geliebter Leser, die Frage ist, ob du diese so gesegneten
Wahrheiten verstanden hast und dich ihrer schon fetzt erfreust? Ich bitte dich, betrübe nicht den Heiligen Geist, Der
in dir wohnt und Der dich lehren und unterweisen will. Seine
gnadenreichen Wirkungen werden gestört, wenn sich Unglaube
in deinem Herzen befindet oder du weltlich gesinnt bist. Alles,
was Seiner Wahrheit und Heiligkeit nicht entspricht, muß Ihn
betrüben, und das ist der Grund, weshalb viele einen so unklaren Begriff von Christo und eine so schwache Vorstellung
von der himmlischen Wahrheit haben. Viele Christen sind —
wenn man nach ihren Worten urteilen soll — mehr mit dem
Gesetz als mit der Person Christi beschäftigt, und dies ist fürwahr ein großer Fehler, der das Glück des Herzens sehr beeinträchtigt. Es ist unmöglich, daß eine so gesinnte Seele sich in
wahrhaft glückseliger Freiheit befinden kann; denn das Gesetz
bewirkt Knechtschaft. Es wurde für die menschliche Natur, der
Heilige Geist dagegen für die göttliche Natur gegeben: auch
weiß der Glaube, daß wir der alten Natur nach gestorben sind
und daß das Gesetz auf einen Gestorbenen unmöglich Anwendung finden kann, „indem wir dieses wissen, daß unser alter
Mensch mitgekreuzigt ist, auf daß der Leib der Sünde abgetan
sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen" (Röm 6, 6). Daher
wird uns die Ermahnung gegeben, den Heiligen Geist nicht zu
betrüben, mit welchem wir versiegelt worden sind auf den Tag
51
der Erlösung. „Wisset ihr nicht", sagt der Apostel, „daß ihr
Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt"? Ach,
leider ist die Religion vieler die des alten Bundes — man findet
in ihr das Wesen des Gesetzes und der menschlichen Natur
statt der Wirkung des Heiligen Geistes und des ewigen Lebens
in einem auferstandenen Christus. Wenn auch an Christo dem
Gekreuzigten festgehalten wird, so findet sich in jenen Herzen
doch solch eine Mischung von Gesetz und Gnade, von der alten
und der neuen Schöpfung, daß der Heilige Geist betrübt wird
und die Folge traurige Verwirrung ist.
Aber inwiefern sind wir mit Christo während unseres Daseins
in dieser Welt verbunden? Wenn der Apostel sagt, daß wir in
Christo Jesu in den himmlischen örtern sind, bezieht sich das
nicht auf die Zukunft, wo wir in Wirklichkeit bei Ihm im
Himmel sein werden? — O nein, mein geliebter Leser, es kann
sich nicht auf die Zukunft beziehen; denn der Apostel spricht
von solchen, die durch den Glauben lebendig gemacht waren
und jetzt schon in Christo Jesu mitsitzen in den himmlischen
örtern. Später werden wir mit Christo im Himmel sein; jetzt
sind wir in Ihm dort. Sobald wir an Ihn glauben, sind wir
Kinder Gottes — begnadigt in dem Geliebten und haben das
köstliche Vorrecht, uns in den himmlischen örtern aufzuhalten
— „Denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an
Jesum Christum" (Gal 3, 26). Aber laßt uns auf diese Wahrheit, die manchen so viele Schwierigkeiten bereitet, etwas näher
eingehen.
In Eph 2 wird uns deutlich vor Augen gestellt, daß Gott uns,
als wir tot in Sünden und Übertretungen waren, mit dem Christus lebendig gemacht hat. Von diesem Punkte — von unserem
toten Zustand müssen wir bei unserer Betrachtung ausgehen.
Wir waren tot in den Vergehungen und Sünden, wir hatten
keine Regung von geistlichem Leben in uns. Da starb der gesegnete Heiland für die Sünde auf dem Kreuze und wurde ins
Grab gelegt. Er erlitt den Tod für die Sünde, während wir in
Sünden tot waren und für den Augenblick alle Hoffnung entschwunden zu sein schien. Es war gleichsam, als ob das Schiff
für immer untergegangen sei. Aber in diesem feierlichen Augenblick, wo der Tod alle umschlungen hatte, trat Gott hervor,
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und zwar als ein Gott der Auferstehung. „Er hat uns, weil
er reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot
waren, mit dem Christus lebendig gemacht". Wundervolle Gnade! Christus, der Heilige, das fleckenlose
Lamm Gottes, starb für uns, ging für uns in das
schreckliche Gericht und versöhnte uns mit Gott. Aber
blieb Er im Grabe? O nein! Gott hat Ihn auferweckt, und mit
Ihm sind auch wir auferweckt. So sind wir denn auf die innigste,
gesegnetste Weise durch die lebendigmachende Kraft Gottes
mit dem Auferstandenen Christus vereinigt. Wir haben das
Vorrecht, mit Ihm, Der die Wonne und Freude Gottes ist, in
Gemeinschaft zu leben und Seine Segnungen zu teilen. Könnte
man sich etwas Herrlicheres denken? Kann Liebe noch größer
sein? Uns wird gesagt, daß wir nicht nur lebendig gemacht und
auferweckt sind, sondern auch mitsitzen in den himmlischen
örtern in Christo Jesu.
Wenn wir diese wunderbare und segensreiche Wahrheit wirklich verstehen, werden wir auch den wahren Grund des Friedens besitzen; denn dann wissen wir, daß alles, was zu unserer
alten Natur gehörte, auf dem Kreuze gerichtet und für immer
beseitigt ist und daß wir ohne unsere Sünden in die Gegenwart
Gottes gebracht sind — in einen Zustand göttlicher Gerechtigkeit. Diese göttliche Gerechtigkeit aber haben wir nicht in uns
selbst, sondern in Christo. Er ist unsere Gerechtigkeit; in Ihm
stehen wir ohne Flecken vor einem heiligen und gerechten Gott.
Wer diese Wahrheit mit dem Einwand zu verdunkeln sucht, der
Gläubige könne sein ewiges Leben verlieren, steht im offenbaren Widerspruch zur Heiligen Schrift, die sagt, daß wir durch
Gnade errettet sind, daß wir eins mit Christo sind, und zwar
von dem Augenblick an, wo wir durch den Glauben an Ihn
lebendig gemacht wurden. Nicht durch eigenes Verdienst, sondern durch Gnade — gelobt sei Sein Name! — haben wir das
ewige Leben, sobald wir glauben, und diese Verheißung kann
nie gebrochen werden. Gott hat es gesagt. Gott hat uns mit
Christo verbunden, „damit er in den kommenden Zeitaltern
den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen
uns erwiese in Christo Jesu". Ja, Ihm sei dafür Lob und Dank
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dargebracht! Unsere Errettung ist so sicher, wie sie es überhaupt sein kann. Wohl fehlen wir in mancher Beziehung noch
oft; aber Er ist treu. Das Leben, das Er uns gegeben hat, ist
wie Er — ewig. „Seine Güte gegen uns in Christo Jesu" dauert
ewig fort. Er wird sie zeigen „in den kommenden Zeitaltern".
Ach! daß doch jeder Leser diese herrlichen Segnungen besitzen
möchte! Oder hast du dieses ewige Leben noch nicht? Bist du
noch nicht durch den Glauben an Ihn errettet? Dann wirf dich
doch zu Seinen Füßen; höre auf Seine Stimme, auf Seine herzliche Einladung: Komm, komm zu mir! Sie kommt aus einem
Herzen, das von Liebe überfließt, von Lippen, die jetzt nur
Gnade kennen. Wie schrecklich wäre es, wenn von denselben
Lippen einst das Gericht und die Verdammnis über dich ausgesprochen würden! Höre deshalb jetzt auf Seine Stimme;
wenn du es tust, bist du eines der Schafe Jesu. „Meine Schafe",
sagt der Herr, „hören meine Stimme, und ich kenne sie, und
sie folgen mir, und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen
nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand
rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als
alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters
rauben" (Joh 10, 27—29).
Indem wir zum Gegenstand unserer Betrachtung zurückkehren
wiederholen wir, daß uns in dem ersten Gebet die Herrlichkeit
der Person Christi entgegentritt, in dem zweiten hingegen die
unendliche Liebe, welche der Vater zu Christo und folglich zu
uns in Ihm hat. Möchten wir doch diese überströmende Liebe
mehr verstehen! Laßt uns doch immer daran denken, daß Gott
unsere Sünden in der Person Christi auf dem Kreuze völlig
gerichtet und für immer beseitigt hat, ja, daß wir uns jetzt als
„Söhne Gottes" und geliebt mit einer vollkommenen Liebe in
Seiner Gegenwart befinden! „Geliebte, jetzt sind wir Kinder
Gottes", sagt Johannes, und Paulus ergänzt: „Wenn aber Kinder, so auch Erben — Erben Gottes und Miterben Christi"
(1. Joh 3, 2; Röm 8, 17)! Kann es eine köstlichere Wahrheit
geben? Ist es wirklich wahr, daß Gott uns in demselben Maße
liebt wie Seinen eigenen vielgeliebten Sohn? Es ist wahr; Jesus
Selbst sagt es: „Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe
ich ihnen gegeben". Beachten wir, daß es sich hierbei um die
Herrlichkeit handelt, welche Christus als Sohn des Menschen
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und nicht als Sohn Gottes besitzt. Und zu welchem Zweck hat
Er den Gläubigen eine solche Herrlichkeit gegeben? „Auf daß
die Welt erkenne, daß du mich gesandt und sie geliebt hast,
gleichwie du mich geliebt hast".
Wertvollere, segensreichere Worte flössen nie von den Lippen
Jesu. Nur Gott kann eine solche Liebe entfalten, nur Er allein
kann da lieben, wo nichts Liebenswürdiges zu finden ist — da,
wo sich alles gegen Ihn sträubt und Ihm nicht gehorchen will.
Nein, eine solche Liebe können wir nicht verstehen. Vielleicht
haben wir einen schwachen Begriff von der göttlichen Weisheit
und Allmacht; aber wer kann begreifen, daß Gott die Gläubigen so liebt, wie Er Seinen Sohn liebt? Und welche Wirkung
hatte diese Liebe! Gott gab Seinen eingeborenen Sohn für
unsere Sünden in den Tod; Er hat uns lebendig gemacht mit
Christo und gibt uns für die Zukunft die Verheißung der ewigen Herrlichkeit. Und diese Liebe ändert sich nicht: „sie vergeht nimmer" (l. Kor 13, 8). Daß doch diese Liebe das Licht
unserer Augen und die Kraft unserer Herzen sein möchte, und
daß wir mehr und mehr davon ergriffen werden möchten!
Aber darf man denn dem Gedanken wirklich Raum geben, daß
der Vater mich armen, schwachen Christen jetzt, in diesem
Augenblick liebt wie Seinen eigenen Sohn? Ohne Zweifel darf
man es, geliebter Leser, denn es sind Seine Worte, und Er
wünscht, daß wir sie glauben und uns der köstlichen Wahrheit
erfreuen. Zweifeln wir an dieser Liebe, so verunehren wir Ihn
und fügen uns selbst Schaden zu. Freilich ist die Offenbarung
Seiner Liebe oft sehr unterschiedlich je nach unserer Unterwürfigkeit unter Christum und unserem Gehorsam gegen Ihn
(Joh 14, 21). Aber die Liebe selbst erleidet keine Veränderung,
denn „Gott ist die Liebe". Und eine solche Liebe kann unseren
Herzen nie köstlicher sein, als jetzt. Wenn inmitten der zukünftigen Herrlichkeit die Liebe das Herrlichste sein wird, wievielmehr jetzt inmitten der Sorgen und Leiden dieser Zeit. Laßt
uns daher immer Zuflucht zu dieser Liebe nehmen, auf daß wir
vor den Angriffen des Feindes bewahrt bleiben und unser Teil
steter Friede sei.
Der Apostel betet also zu dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, „von welchem jede Familie in den Himmeln und auf
Erden genannt wird". Das sind bemerkenswerte Worte! Hier
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ist nicht die Rede von einer Familie, sondern es sind verschiedene Familien, welche nach Ihm benannt werden. Den Juden im
Alten Testament zum Beispiel offenbarte Sich Gott unter dem
Namen Jehova. Unter diesem Namen führte Er Sein auserwähltes Volk aus Ägypten und brachte es in ein Land, das von
Milch und Honig floß. In diesem Namen begegnete Er stets
Seinen Auserwählten und kein anderes Volk konnte das Vorrecht einer solchen Verbindung und Gemeinschaft genießen.
Später, als die Kinder Israel sich schwer gegen ihren Gott versündigt hatten und Er einem heidnischen König die Herrschaft
über alle Nationen gegeben hatte, trat Er diesem nicht als
Jehova, sondern als „der Gott des Himmels" entgegen (Dan 2,
37). Jetzt aber, nachdem Er Seinen Sohn für uns hingegeben
hat, „den Erben aller Dinge, durch den er auch die Welten
gemacht hat", nennt Er Sich Vater, und unter diesem Namen
steht Er mit „jeder Familie in den Himmeln und auf Erden"
in Verbindung. Seine Segnungen werden jetzt nicht länger nur
einem einzigen Volke zuteil: „Die Zwischenwand der Umzäunung" ist abgebrochen, und jeder kann sich dieser reichen Segnungen erfreuen. Sein Name sei gelobt und gepriesen, daß Er
uns diese Segnung jetzt schon zuteil werden läßt — eine Segnung, die wir einst in der ewigen Herrlichkeit vollkommen
verstehen werden!
Und welchen Platz wird die Kirche in dieser himmlischen Herrlichkeit einnehmen? Wird sie eine bevorzugte Stellung
bekleiden, oder die Herrlichkeit aller teilen? Sie wird
einen hervorragenden Platz einnehmen, denn sie wird
in Vereinigung mit Christo, als Sein Weib immerdar
vor dem Throne Gottes weilen. Eine köstlichere Wahrheit kann nicht verkündigt werden. Hat sich die Liebe
Gottes jemals in überzeugender Weise bewiesen als da,
wo uns durch die inspirierten Schreiber des Neuen Testamentes
eröffnet wurde, daß wir — die Gläubigen — Glieder des Leibes
Christi und damit auf das Innigste mit Ihm vereint sind? Und
diese enge Verwandtschaft wird nicht nur im Himmel unser
Teil sein, wir besitzen sie jetzt schon durch den Glauben. „Wer
aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm" (1. Kor 6, 17).
Dies ist besonders in unserer Zeit bedeutsam, weil viele diese
Wahrheit gar nicht zu kennen oder zu beachten scheinen. So56
bald jemand an Christum glaubt, steht er mit Ihm in innigster
Verbindung; er gehört mit allen Gläubigen auf der Erde zu
einem Leib; denn es gibt nur einen Leib und nur einen Geist.
Der Herr will nicht, daß Seine Kinder getrennt voneinander
durch diese Welt pilgern; sie sollen sich vielmehr „befleißigen,
die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens" (Kap 4, 3. 4). So wird auch in dem Brief an die Korinther
dieselbe Wahrheit dargestellt. „Der Kelch der Segnung, den
wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des
Christus? Das Brot, das wir brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus? Denn ein Brot, ein Leib sind
wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an dem einen Brote"
(1. Kor 10, 16. 17). Diese Verse lassen keinen Zweifel an der
Einheit der Kirche übrig. Diese ist nur ein Leib, dazu berufen
ihre Einheit zu offenbaren, „auf daß die Welt glaube, daß der
Vater seinen eigenen Sohn gesandt hat". Möchten doch noch
viele diese Wahrheit einsehen und ihr gehorsam folgen! Bald
ist die Zeit da, wo der Herr uns zu Sich nehmen wird und wir
für ewig den köstlichsten Platz in der Herrlichkeit einnehmen
werden. Wunderbare Gnade und Liebe! Wir — die armen, verlorenen Sünder von Natur — werden dann „ohne Flecken oder
Runzel oder etwas dergleichen" in Seiner Nähe sein und uns
allezeit Seiner Liebe erfreuen! Möchten wir daher Seinen
Namen, so lange wir noch hier sind, stets zu verherrlichen
suchen, und möchte es der stete Wunsch unseres Herzens sein:
Komm, Herr Jesu, komme bald!
„Auf daß er euch gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit,
mit Kraft gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen". In diesem Verse wird der Unterschied in den
beiden Gebeten des Apostels besonders deutlich. In dem ersten
bittet er, daß die Heiligen ihren Platz vor Gott in Christo und
alle damit verbundenen Segnungen besser verstehen möchten;
in dem zweiten aber handelt es sich um die praktische Kraft
durch den Heiligen Geist. Dort war es eine Frage der Stellung,
hier jedoch geht es um den Zustand, um die Bitte, „mit Kraft
gestärkt zu werden an dem inneren Menschen". Wodurch aber können wir mehr und mehr gekräftigt werden? Diese Frage ist für ein einfältiges Herz nicht
schwer zu beantworten. Die Liebe Christi soll in unseren Her57
zen immer mehr Raum gewinnen. Je mehr wir von dieser Liebe
erfüllt sind, desto leichter und erträglicher werden uns alle
Prüfungen und Mühsale in dieser Welt vorkommen; je mehr
wir uns dieser Liebe erfreuen, mit um so glücklicherem Herzen werden wir uns mit der zukünftigen Herrlichkeit beschäftigen können. Ja, wenn diese Liebe uns erfüllt — wenn sie wirklich in unseren Herzen wohnt, so werden wir auch alles, was
uns in dieser Welt lieb und teuer ist, willig aufgeben. Denn
welche Liebe ist inniger als Seine Liebe? Welcher Liebe können
wir uns besser anvertrauen als SeinerLiebe? Laßt uns daher mehr
auf diese Liebe trauen und unser Herz zu einer Wohnung des
Herrn machen! Nur dann werden wir in Wahrheit gekräftigt
werden „an dem inneren Menschen"; nur dann wird „der
Christus durch den Glauben in unseren Herzen wohnen".
Aber noch tiefer offenbart sich Seine Liebe in dem folgenden
Wunsch des Apostels: „Daß ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid, auf daß ihr völlig zu erfassen vermöget mit allen
Heiligen, welches die Breite und Länge und Tiefe und Höhe sei,
und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des
Christus" (V. 17—19). Diese Wahrheit erfüllt unsere Seelen mit
Bewunderung und Erstaunen. Sie umfaßt zwei Gesichtspunkte.
Paulus betet, daß die Heiligen in Liebe gewurzelt und gegründet seien, auf daß sie erstens die Breite und Länge und Tiefe
und Höhe völlig erfassen, und zweitens die Liebe des Christus
erkennen möchten, welche ihre Erkenntnis weit übersteigt. Viele
Christen sind der Meinung, wenn er hier von der Breite und
Länge und Tiefe und Höhe spricht, daß der Apostel an die
Liebe Christi denkt. Liest man indes den ganzen Abschnitt
aufmerksam durch, so wird deutlich, daß er mit dem neunzehnten Vers zwar keinen neuen Gegenstand, aber doch einen
neuen Gedanken beginnt: die Liebe des Christus, die alle Erkenntnis übersteigt. Wenn aber vordem nicht von der Liebe
Christi die Rede ist, wovon dann? Ich glaube, daß der Apostel
bei diesen Worten an das „Geheimnis" oder die Kirche denkt.
Der ganze Brief befaßt sich mit diesem bis dahin verborgenen
Geheimnis und jetzt, nachdem Paulus durch den Heiligen Geist
geleitet, dargetan hat, daß jede Familie in den Himmeln und
auf Erden von dem Vater unseres Herrn Jesus Christus genannt
wird, betet er für alle Heiligen, daß sie die Breite und Länge
58
und Tiefe und Höhe dieser wunderbaren Wahrheit — dieses
geoffenbarten Geheimnisses — völlig verstehen möchten.
Dann erst bittet Paulus darum, daß wir die Liebe Christi, welche unsere Erkenntnis übersteigt, verstehen und erkennen
möchten. Diese Bitte scheint uns auf den ersten Blick ein
Widerspruch zu sein, denn wie kann man eine Liebe erkennen,
die größer ist als alle Erkenntnis? Aber es ist kein Widerspruch. Der Heilige Geist will uns keineswegs sagen, daß wir
diese Liebe je völlig erkennen werden, wohl aber, daß wir uns
in Seine unendliche Liebe vertiefen und immer aus dieser Quelle schöpfen können, die nie versiegen wird und immer neue
Segnungen für uns hervorsprudeln läßt. Durch die Liebe des
Christus getrieben, in welcher wir gewurzelt und gegründet
sind, werden wir diese Liebe immer mehr ergründen; aber wir
werden sie niemals völlig verstehen können, denn sie übersteigt alle Erkenntnis und ist unendlich, wie Gott Selbst unendlich ist. Ach! Wie sollten unsere Herzen doch stets von Lob
und Dank erfüllt sein für eine solche Liebe, die nie aufhören
wird, für eine solche Gnade, die unsere Herzen schon hier mit
den herrlichsten Wahrheiten trösten und erfreuen will! Leider
gelingt es dem Teufel, dem Lügner von Anfang an, nur zu oft,
unsere Herzen und Gedanken von dieser Liebe abzulenken, um
uns mit uns selbst zu beschäftigen. Schauen wir aber auf Seine
Liebe, so werden unsere Herzen von Frieden regiert und mit
Lob erfüllt werden.
Ich bete an die Macht der Liebe,
die sich in Jesu offenbart.
Ich geb' mich hin dem freien Triebe,
womit ich Wurm geliebet ward.
Ich will, anstatt an mich zu denken,
ins Meer der Liebe mich versenken.
Einige hervorzuhebende Worte enthält auch der neunzehnte
Vers: „Auf daß ihr erfüllt sein möget zu der ganzen Fülle
Gottes". Höheres konnte der Apostel nicht erflehen; weiter
konnte er nicht gehen. Die Gläubigen sind die Fülle des Christus — „die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt". Welch' ein
Gedanke! Und Er, Der alle Dinge erfüllt, erfüllt auch unsere
Herzen mit der Fülle Gottes, — „ein Gott und Vater aller, der da
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ist über alle und durch alle und in uns allen" (Eph 4, 6). „An
jenem Tage", an dem Tage, wo der Vater einen anderen Sachwalter, den Geist der Wahrheit gegeben hat — „werdet ihr
erkennen, daß ich in meinem Vater bin, und ihr in mir und ich
in euch" (Joh 14, 20). Welch' eine wunderbare Wahrheit! Wenn
sich eine Segnung nach der anderen so vor unseren Blicken entfaltet, wenn wir sehen, daß wir von Ihm so geliebt sind, daß
wir Seine Fülle genannt werden, muß unser Herz dann nicht
von Lob und Dank erfüllt sein? Aber laßt uns auch nicht vergessen, daß wir diese Segnungen nicht genießen können, wenn
wir der Welt oder dem Fleisch Einfluß auf uns eingeräumt
haben. Wenn wir den Heiligen Geist betrübt, uns Seiner Leitung entzogen haben, wird unsere Erkenntnis bald so geschwächt werden, daß wir schließlich — wenn die Gnade des
Herrn uns nicht zurückhält — in allerlei Irrtümer hineingeraten.
Bleiben wir daher immer unter der Leitung des Heiligen Geistes
und lassen wir uns von Ihm unterrichten, dann werden wir die
köstlichen Segnungen genießen, die uns der Apostel in diesem
Gebet, ja in diesem ganzen Brief vorstellt und womit er sein
Gebet beschließt: „Dem aber, der über alles hinaus zu tun
vermag, über die Maßen mehr, als was wir erbitten oder erdenken, nach der Kraft die in uns wirkt, ihm sei die Herrlichkeit in der Versammlung in Christo Jesu, auf alle Geschlechter
des Zeitalters der Zeitalter hin! Amen".
Auch im Schluß dieses Gebets läßt sich deutlich der Unterschied
zu dem Charakter des ersten Gebetes erkennen. Dort stand im
Mittelpunkt die Macht, welche für uns wirkt; hier ist es die
Macht, die in uns wirkt. Dort war es die Kraft, welche in Christo wirkte, indem sie Ihn und uns aus den Toten auferweckte.
Hier ist es zwar dieselbe Kraft, aber dargestellt in praktisclier
Weise. Gott wollte, daß auch dies unser Teil werden sollte. Sein
Wunsch war es, daß wir — wie im zweiten Kapitel gesagt wird
— eine „Behausung Gottes im Geiste" werden sollten und durch
die Macht dieses Geistes in die gesegneten Offenbarungen der
Liebe Christi und der Fülle Gottes eindringen möchten. Ist das
nicht eine bewundernswerte, ja unbegreifliche Wahrheit? In uns
armen, schwachen Gläubigen soll eine solche Kraft wirken? Ist
das überhaupt möglich; können wir es glauben? Ja, wir können
es glauben, denn das Wort Gottes versichert es uns. Die Frage
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ist nur, ob wir es wirklich glauben, oder ob wir es nur verstehen und für wahr halten. Wenn wir in Wahrheit glauben,
daß die Kraft Gottes in uns wirkt, können wir dann wohl so
leicht entmutigt und niedergedrückt werden? Sollten wir uns
nicht vielmehr oft mit der Liebe des Herrn und der Fülle unseres Gottes und Vaters beschäftigen? Der Herr schenke uns die
Einsicht, diese ganze Kraft kennenzulernen und was es sagen
will, daß Er „über alles hinaus zu tun vermag, was wir bitten
oder erdenken". Im übrigen erscheinen aber auch die Schwierigkeiten und Gefahren dieser Wüste gering, im Blick auf unsere
zukünftige Herrlichkeit, die „auf alle Geschlechter des Zeitalters der Zeitalter" fortdauern wird. Welches Vorrecht, welche
Unterscheidung von der Welt! Ewig in Seiner Nähe, in der
Gegenwart unseres Vaters zu verweilen! Herrlicher Gedanke ~
gesegnete Zukunft! Ja Dir, o Herr, sei Preis und Ruhm, Dir
„sei die Herrlichkeit in der Versammlung in Christo Jesu auf
alle Geschlechter des Zeitalters der Zeitalter! Amen".
Nachdem wir nun in dieser Weise der Kirche in ihrer harmonischen Verbindung mit Christo bis an die gesegnete Zeit
ihrer ungestörten Herrlichkeit gefolgt sind, sei abschließend
noch mit einigen Worten ihrer Stellung gedacht, welche sie
kurz vor ihrer Aufnahme (Offenbarung 22) einnimmt. „Und
der Geist und die Braut sagen: Komm! Und wer es hört,
spreche: Komm! Und wen da dürstet, der komme; wer da
will, nehme das Wasser des Lebens umsonst". Ihr Auge ist
hier auf Ihn — ihren Bräutigam — gerichtet. Sie weiß, daß Er
„die Wurzel und das Geschlecht Davids, der glänzende Morgenstern" ist, und mit sehnsüchtigem Verlangen sieht sie Seiner Ankunft entgegen. Aber dabei vergißt sie nicht, daß Er
der einzige Gegenstand ihrer Herzensfreude, auch die Quelle
lebendigen Wassers für jeden Durstigen ist, und in Übereinstimmung mit ihrem geliebten Herrn verkündigt sie jedem die
freie Gnade: „Wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst". In solcher Weise wird uns die Braut des Herrn in diesem Verse vorgestellt; aber entspricht sie jetzt, wo die Ankunft
ihres Bräutigams so nahe ist, wohl immer dieser Berufung?
Leider im allgemeinen recht wenig; viele Christen gehen durch
diese Welt, ohne sich um das Heil verlorener Sünder besonders
zu kümmern und ohne sich mit der herrlichen Ankunft des
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Herrn zu beschäftigen. Bewegt uns aber das Verlangen nach
Seiner Wiederkunft zu unserer Aufnahme, so werden wir uns
auch um die Errettung verlorener Sünder kümmern. Nie wird
das Herz so sehr nach Bekehrung von Ungläubigen trachten,
als wenn es unter dem lebendigen Eindruck steht, daß der Herr
nahe ist und das Evangelium der freien, unumschränkten
Gnade der Welt nur noch kurze Zeit verkündigt werden kann.
Und wenn wir die eben angeführte Stelle genau betrachten,
werden wir finden, daß auch sie eine Andeutung hierüber enthält. Der Ruf an die Welt: „Komm, nimm das Wasser des
Lebens umsonst"! steht in unmittelbarer Verbindung mit dem
Verlangen des Geistes und der Braut nach der Ankunft des
geliebten Herrn. Eines folgt sozusagen aus dem anderen. Wir
sollten nie aufhören, für die Errettung von Sündern zu beten,
damit noch viele sich Seiner Liebe erfreuen und Den loben,
Der sie von allen ihren Sünden befreit hat. Wir haben nicht
mehr viel Zeit, geliebte Brüder, Sünder mit der Gnade Gottes
bekanntzumachen. Bald wird der Tag da sein, wo Er uns in
Seine Herrlichkeit aufnimmt. Blicken wir nur um uns her, welche ungeheuren Umwälzungen in Kirche und Staat vor sich
gehen, was für ein revolutionärer Geist sich überall einschleicht,
und welchen Einfluß er auf alle Stände der menschlichen Gesellschaft ausübt. Achten wir nur einmal darauf, wie sich das
alles entwickelt. Der Schlummer von achtzehn Jahrhunderten
ist vorbei; das neunzehnte Jahrhundert entfaltet die menschliche Größe und Herrlichkeit auf eine Weise, die jede frühere
Entwicklung weit übertrifft. Aber bald wird alle menschliche
Größe ihren Gipfel erreicht haben, bald wird sie dem Antichristen, dem Menschen der Sünde, ihren wahren Charakter
zeigen. Nach diesem Ziel strebt Satan jetzt, und er bedient
sich dabei der Methode, die Menschen ganz und gar von
Christo abzuziehen, hin zu ihrer eigenen Vernunft und Erfahrung. In einem solchen Zustand befindet sich jetzt die Welt,
und wie sieht es in der wahren Kirche aus? Auch sie ist aus
ihrem Schlummer erwacht, in dem sie Jahrhunderte lang versunken lag. „Als der Bräutigam verzog, wurden die zehn Jungfrauen alle schläfrig und schliefen ein". Bis vor einigen Jahren
waren alle Gläubigen noch in diesem moralischen Schlaf, wobei
keineswegs das große Werk des Heiligen Geistes in den Tagen
des Mittelalters vergessen werden darf — die gesegnete Zeit
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der Reformation. Obwohl der Herr das Licht des lauteren Evangeliums über viele Länder leuchten ließ, so war doch diese
Wahrheit — die Wiederkunft des Herrn zur Aufnahme Seiner
Versammlung — nicht bekannt. Auch damals lag die Kirche in
tiefem Schlaf versunken. Aber der Herr sei gelobt und gepriesen, daß Er in unseren Tagen Seine Kinder auf die Ankunft
Christi aufmerksam gemacht hat. Die zehn Jungfrauen sind
aufgestanden, das mitternächtliche Geschrei: „Siehe, der Bräutigam kommt!" ist ertönt und verbreitet sich durch des Herrn
Gnade weiter und weiter unter Seinen Kindern. Hunderte von
Verkündigern des Evangeliums sind ausgegangen, um den
Sünder mit der unumschränkten Gnade Gottes bekanntzumachen. Sie sind dem Ruf gefolgt: „Gehet hin in die ganze
Welt, predigt die gute Botschaft der ganzen Schöpfung"! Und
was ist die Folge? Tausende und aber Tausende haben die
frohe Botschaft angenommen und erfreuen sich jetzt ihrer
Errettung. Selbst solche Gegenden, in denen früher das Evangelium nie verkündigt wurde, sind jetzt mit der freien Gnade
bekanntgemacht, und obwohl sich auch große Feindschaft gegen
die Diener des Herrn zeigte, sind doch viele zur Erkenntnis der
Wahrheit gekommen. Ja, die Worte des Herrn an die Versammlung zu Philadelphia können jetzt mit Recht Anwendung finden: „Siehe, ich habe eine geöffnete Tür vor dir gegeben, die niemand zu schließen vermag". Möchten wir doch
von dieser Gelegenheit, die sich jetzt so manches Mal darbietet,
mehr Gebrauch machen und nicht vergessen, Ihn zu bitten, daß
Er noch viele Türen öffne; denn Er ist „der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel des David hat, der da öffnet, und
niemand wird schließen, und schließt, und niemand wird öffnen".
So stürzt also alles in schreckenerregender Weise seinem Verderben entgegen; bald werden auch die Schranken zerbrochen
sein, die die Menschen j-etzt noch einigermaßen zurückhalten.
Dann werden die Worte des Herrn in Erfüllung gehen: „Und
es werden Zeichen sein an Sonne und Mond und Sternen, und
auf der Erde Bedrängnis der Nationen in Ratlosigkeit bei
brausendem Meer und Wasserwogen; indem die Menschen
verschmachten vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über
den Erdkreis kommen; denn die Kräfte der Himmel werden
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erschüttert werden" (Lk 21, 25. 26). Den Anfang hiervon sehen
wir jetzt schon im täglichen Leben; es wird nicht lange mehr
dauern bis diese Worte vollkommen erfüllt werden. — Doch
werfen wir noch einen Blick auf den Zustand der Kirche in den
letzten Tagen. Die oben angeführte Stelle in Offb 22, 17 bezieht sich natürlich nicht auf die bekennende Kirche im ganzen,
sondern nur auf solche, die Glieder des Leibes Christi sind und
mit verlangendem Herzen nach Seiner Ankunft ausschauen.
Der Geist und die Braut sagen: „Komm!" Jeder der Frieden
im Blute Christi gefunden hat und diesen Ruf hört, wird aufgefordert, in diesen Ruf einzustimmen und auf seinem Weg
durch die Wüste Seiner baldigen Ankunft entgegenzusehen.
„Wer es hört, spreche: Komm". Wer aber die Gnade noch nicht
angenommen hat, möge doch kommen; denn die Zeit ist
kurz. „Wen da dürstet, der komme — und nehme das Wasser
des Lebens umsonst". Wie lieblich sind diese Einladungen!
Möchten doch noch viele auf Seine freundliche Stimme hören!
Wer es versäumt und bei der Ankunft des Herrn Seiner Einladung noch immer nicht gefolgt ist, wird — soweit uns die Heilige Schrift hierüber belehrt — keine Hoffnung haben. Wenn
man sich weigert die Gnade anzunehmen, was wird dann die
Folge sein? „Wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so
große Errettung vernachlässigen" (Hebr 2, 3)? Deshalb sollte
jeder, der das ewige Leben noch nicht empfangen hat, die Zeit
der Gnade nicht vorbeigehen lassen! Denn der Herr wird
offenbart werden mit den Engeln Seiner Macht, in flammendem Feuer, um Vergeltung zu geben denen, die Gott nicht
kennen, und denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus
Christus nicht gehorchen (2. Thess 1, 7. 8). Darum, geliebter
Leser, wenn du den liebevollen Jesus noch nicht angenommen
hast, gehe doch zu Ihm und laß die liebreiche Einladung nicht
unbeachtet: „Wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst". Denke nicht, daß es noch Zeit hat; denn heute schon
kann der Herr kommen, um Seine Braut aufzunehmen, und
was wird dann dein Los sein?
Ja, der Herr möge es in Seiner reichen Gnade geben, daß sich
Ihm noch viele zu Füßen werfen und daß wir, geliebte Brüder,
mit der herrlichen Verheißung Seiner Ankunft, die allen Leiden
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ein Ende machen wird, immer mehr erfüllt werden und mit
verlangendem Herzen Seiner Erscheinung entgegensehen möchten! Ja, der Herr gebe, daß der Ruf: „Komm, Herr Jesu!" an
allen Orten und Enden unter den Seinigen gehört werde!
Gedanken über Philipper 3
Es ist wichtig, den besonderen Charakter dieses Briefes zu verstehen. Er zeigt uns den Wandel eines himmlischen Menschen
durch diese Welt; er sagt uns, wie die Gesinnung und das Betragen eines Menschen sein sollten, der dieser Welt nicht angehört und der, obschon er dem Leibe nach sich noch auf der
Erde befindet, dem Geiste nach im Himmel ist. Der Brief an
die Römer (Kap. 8) zeigt die Stellung des neuen Menschen, die
Grundlage, auf die er gestellt ist; hier lernen wir den Wandel
kennen, der einem solchen Menschen geziemt.
Das Wort Gottes — und das ist für uns von großem Wert —
bezeugt nicht nur, wie ein Mensch wandeln soll, sondern es
zeigt uns diesen Wandel im Leben des Apostels Paulus auch
praktisch verwirklicht. Es stellt uns einen Menschen dar, der
durch die Welt geht und über allem steht, was sich in der Welt
befindet.
Wir sind hienieden von allerlei Hindernissen umgeben; nichts
um uns her kann dem neuen Menschen nützlich sein. Im Gegenteil, das alles steht mit unserem alten Menschen, mit unserer alten Natur im Einklang. Es ist daher wesentlich, die
Macht zu erkennen, die uns befähigt, inmitten einer solchen
Welt zu wandeln und uns über alles zu stellen, was uns umgibt. Alles auf unserem Wege ist dazu angetan, uns aufzuhalten und uns abwendig zu machen, und nichts befriedigt die
Bedürfnisse unserer Seelen; aber wenn ich ein himmlischer
Mensch bin, so ist es der Himmel, der mich aufrechterhält; also
muß der Himmel mein Ausgangspunkt sein. „Wie der von
Staub ist, so sind auch die, welche von Staub sind, und wie
der Himmlische, so sind auch die Himmlischen" (i. Kor 15, 48).
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Wenn ich Christo angehöre, so bin ich himmlisch. Eine ganz
andere Frage ist es, ob ich diesen Charakter verwirkliche. Aber
wenn die Tatsache, daß wir himmlisch sind, unser Ausgangspunkt ist, so müssen wir die Welt beiseitesetzen. Ach! Die
Christen hängen so sehr an dieser elenden Welt. Sie nehmen
so gern die Stellung der Gläubigen des alten Bundes ein, damit
sie die Welt nach Belieben genießen können. Die Heiligen des
alten Bundes hatten ihr Leben in der Welt und rechneten mit
den Hilfsquellen der Welt; aber Christus ist hienieden von
der Welt verworfen worden und gen Himmel aufgefahren. Dadurch hat sich alles verändert. Möchte das Gewissen eines jeden
unter uns tief davon ergriffen und durchdrungen sein! Der,
Dem wir alles verdanken, ist von dieser Welt verworfen worden. Wie könnten daher wir, die wir Ihm alles schulden, unsere
Ruhe, unsere Freude, unser Interesse in einem Bereich finden,
der Ihn verworfen hat, und in dem Er Seinen Tod gefunden
hat! Alles gehörte Ihm an; aber man hat Ihm Seinen Platz hienieden verweigert. Die Menschen haben einen Mörder dem
Sohn Gottes vorgezogen. Sie haben Ihm eine Krippe bei Seiner
Geburt und ein Kreuz bei Seinem Tode gegeben.
Das 7. Kapitel der Apostelgeschichte zeigt uns die Einführung
des Christentums. Stephanus, voll des Heiligen Geistes, schaute
unverwandt gen Himmel und nicht mehr auf die Erde. Der
Heilige Geist richtet stets die Blicke hinauf gen Himmel. Stephanus sah die Herrlichkeit Gottes und Jesum zur Rechten
Gottes. Seine Heimat war da, wo sich sein Erlöser befand. Er
schaute Jesum in dem geöffneten Himmel — Jesum, mit Dem
er vereinigt war. Hier in dem Brief an die Philipper sehen wir
die Wirkung aus der Tatsache, daß der Blick auf Christum gerichtet ist. Es handelte sich hier nicht einfach darum, daß Paulus Vergebung und Frieden für sein Gewissen gefunden hatte,
sondern daß er von dem Augenblick an, wo er Jesum in der
Herrlichkeit gesehen hatte, von allem Irdischen befreit worden
war. Das Gegenstück ist der Räuber am Kreuze (Lk 23, 40—4-5).
Man kann begreifen, daß es für einen, der wegen seiner Verbrechen verurteilt war, eine glückselige Veränderung war, ins
Paradies zu gelangen, zumal wir nicht wissen, was für ein
Mensch er geworden wäre, wenn er länger in dieser Welt gelebt hätte. Paulus hingegen war ein Mensch, welcher — im Ge66
gensatz zu dem Räuber — alles besaß, was sein Herz nur wünschen konnte, was also geeignet war, ihn Gefallen an der Welt
finden zu lassen; aber dennoch achtete er „alles für Verlust".
Kein anderer hätte so viele Voraussetzungen aufweisen können,
um auf Fleisch zu vertrauen. Er besaß alle Vorrechte der Geburt,
war persönlich religiös und der strengste Beobachter der Überlieferungen seiner Väter; er haßte den verherrlichten Jesus und
war ein erbitterter Verfolger Seiner Heiligen auf der Erde. Aber
alles, was der Mensch im Fleische für einen Vorzug hielt, achtete er um Christi willen für Verlust. Wodurch war diese
gründliche Veränderung bewirkt worden, nachdem doch die
Bosheit des Paulus die jedes anderen übertraf? Vordem hatte
er diejenigen, welche Jesum am meisten liebten, zwingen
wollen, Seinen Namen zu lästern, und jetzt verkündigt derselbe Mann, daß Jesus alles ist. Er hat den Herrn Jesus in der
Herrlichkeit gesehen, hat Seine Stimme gehört, und von da an
war alles für ihn verändert — ja, er selbst ist verändert allem
anderen gegenüber. Er empfängt nicht nur — wie sicher das
auch ist — das Heil, sondern auch die Erkenntnis der überschwenglichen Vortrefflichkeiten Christi. Christus, Der ihm auf
dem Weg begegnet ist und Der ihn, den widerspenstigen Saulus, bei seinem Namen gerufen hat, geht ihm jetzt über alles.
Er hat Ihn in der Herrlichkeit gesehen, und Christus verdrängt
nun jeden anderen Gegenstand aus seinem Herzen. Alles ist
verwandelt durch Christum, Den er, als den Auferstandenen
aus den Toten und den Verherrlichten zu sehen, das Vorrecht
gehabt hat. Er sieht Ihn, Der die Sünde getragen und hinweggetan hat, lebendig und verherrlicht; er sieht Ihn, Der die,
welche Saulus verfolgte, als eins mit Sich anerkennt. Er erblindet durch diesen Anblick. Auch andere haben es erfahren,
wie der Anblick des verherrlichten Christus alles aus dem Herzen entfernt, was sie früher fesselte, und die sie umgebende
Welt ist ihnen, im Vergleich mit Christo, wie eine armselige,
nichtige Finsternis vorgekommen.
Paulus sagt: „Ich achte" —nicht nur ich habe geachtet — „alles
für Verlust wegen der Vortrefflichkeit Christi Jesu, meines
Herrn, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe und es für
Dreck achte". Dies Wort tönt aus dem Gefängnis in Rom zur
Zeit der Prüfung und der Leiden. Der Tod schaute im ins An67
gesicht; aber die Herrlichkeit und Schönheit Christi waren
seiner Seele so gegenwärtig wie je. „Ich achte alles für Dreck".
Christen sollten bis ans Ende das festhalten, was sie am Anfang ihrer Laufbahn erwarben (vgl. Hebr 3, 6. 14; Kol 1, 23;
1. Joh 2,14; 2. Petr 1, 12). Habt ihr mit dem Bewußtsein angefangen, daß Christus euch mehr als alles gilt, so haltet daran
fest!
Paulus zielt auf den Zustand der Auferstehung; er wollte aus
dem Zustand nach dem ersten Adam zur Auferstehung aus
den Toten hingelangen. Nicht daß er daran gezweifelt hätte,
sondern es ist, als ob er sagen wollte: Ich bin bereit, durch
alles, durch Leiden und Tod, was es auch sein möge, hindurchzugehen, um nur durch die Macht Gottes hinzugelangen zur
Auferstehung aus den Toten. Es ist etwas Wunderbares, wenn
die Seele dazu gelangt, die überschwengliche Vortrefflichkeit
Christi zu erfahren, wenn Christus zum alles verzehrenden,
die Seele allein beherrschenden Zentrum, wenn Er alles geworden ist. Christus genügt, um das Herz auszufüllen und alles
andere zu verdrängen, uns fähig zu machen, durch diese Welt
zu gehen „als nichts habend und doch alles besitzend". Ist
Christus dein Genüge, mein Leser? Genügt Er dir in jeder Beziehung, um den Bedürfnissen deines Herzens zu entsprechen?
Kannst du sagen: Ich besitze Ihn und bin unbeschreiblich
reich (vgl. Apg 26, 29) ? In diesem Falle mußt du der Welt für
immer den Rücken gekehrt haben.
Die größte Wohltat, die Gott der gefallenen Schöpfung gewährt hat, besteht darin, daß die, welche Ihm angehören, durch
den Tod aus ihrem natürlichen Zustand in Adam in den Zustand der Auferstehung übergehen. Was wird das für ein Augenblick sein, wenn wir jede Fessel, ja selbst den sterblichen
Leib für immer hinter uns lassend, erwachen werden! Dorthin
hatte der Apostel seinen Blick gerichtet. Auch wir sollten dieses
Glück jetzt schon im voraus genießen. Die Tatsache, daß wir
es noch nicht ergriffen haben, hält uns in der Demut; aber der
Umstand, daß es sich darum handelt, Christum zu gewinnen,
drängt uns mit Macht vorwärts. Für manche ist das Christentum nur eine Sache der Sündenvergebung. Wenn wir aber den
Blick auf Christum gerichtet halten, so werden wir auch alles
verwerfen, was nicht von Ihm ist; wir werden in Ihm unsere
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einzige und alleinige Erfüllung haben. Wir werden laufen „das
Ziel anschauend". Hast du diese Fülle, mein Leser? Steht der
„Kampfpreis der himmlischen Berufung" vor deinen Augen?
Ist es Christus, Den du suchst? Ist es der sehnlichste Wunsch
deines Herzens, Ihn zu kennen? Bist du bereit zu leiden, um
diese Bekanntschaft mit Ihm zu machen? Kannst du sagen: Ich
richte mein Antlitz gegen den Jordan wegen der Pracht des
Landes mit seinen Hügeln voller Weingärten und Olivenbäume, welche ich jenseits erblicke? Kannst du sagen: Ich
schaue den Jordan — das Bild des Todes — nicht an, denn das
entmutigt, sondern ich fessele meine Blicke an die Bundeslade,
welche vor dem Volke hergetragen wird? Strebst du danach das
vorgesteckte Ziel zu ergreifen, wozu du von Christo Jesu ergriffen bist?
Welch ein Glück ist das Bewußtsein, daß Jesus mich um eines
Zieles willen ergriffen hat! Aber auch welch ein Glück, wenn
ein Christ sagen kann: Das ist das Ziel, nach welchem ich
strebe! Wenn dieser Wunsch, das Ziel zu erreichen, wirklich
vorhanden ist, so werden auch alle Seelenkräfte angespannt
werden, um zu diesem Ziel zu gelangen. „Der Faule — seine
Seele begehrt, und nichts ist da; aber die Seele der Fleißigen
wird gesättigt" (Spr 13, 4). Unsere Tüchtigkeit besteht darin,
das Auge einfältig auf Christum gerichtet zu halten. Wenn
ich Christum habe, so darf ich sagen: Ich brauche sonst nichts.
Wohl mögen sich beim Durchschreiten des Jordan allerlei Hindernisse und Schwierigkeiten einstellen; aber wenn mein Auge
auf die Bundeslade gerichtet ist, so werde ich durch den Strom
hindurch einen für mich zubereiteten Weg finden.
Das Christentum besteht darin, daß der Christ über alles Macht
hat und allem überlegen ist. Als Christ habe ich einen Herrn
in der Herrlichkeit, Der meine Seele auf Erden bildet. Wenn
ich Christum, so wie Er ist, vor Augen habe, so werde ich
wandeln, wie Er gewandelt hat; wenn mein Auge auf Ihn
gerichtet ist, so verwandelt mich der Geist Gottes in Sein Bild
(2. Kor 3, 18).
Es ist sehr wichtig, ein klares und bestimmtes Ziel vor sich zu
haben; man hat es nicht, solange man noch mit sich selbst
beschäftigt ist. Wenn wir mit uns selbst beschäftigt sind, schlie69
ßen wir uns damit davon aus, auf Christum zu schauen. Der,
Welcher mich auf eine so vollkommene Weise zu einem Gegenstand Seiner Sorgfalt gemacht hat, hat mich von allem befreit,
so daß ich, wie einst Maria (Lk 10, 39), aHein mit Ihm beschäftigt sein kann. Sie wußte das Vorrecht zu schätzen, zu den
Füßen Jesu zu sitzen; denn nur Er konnte die Bedürfnisse ihres
Herzens stillen. „Er lagert mich auf grünen Auen" (Ps 23, 2).
Aber bevor man auf „grünen Auen" ruhen kann, muß man
befriedigt sein. Welch ein gesegneter Zustand, wenn jeder
Mangel beseitigt, jedes Bedürfnis gestillt ist, wenn der Genuß
durch nichts gestört oder unterbrochen wird, wenn jeder
Wunsch nicht allein durch Seine Gunst und Gnade, sondern
auch durch Seine persönliche Gegenwart erfüllt ist! Wer nichts
anderes als Ströme von Segnungen auf Erden begehrt, wird
stets darben; er ist nicht hinaufgestiegen zu der Quelle alles
Guten, und wenn der Herr die Ströme Seiner Gnadengaben zurückhält, ist er überrascht und zweifelt wohl sogar an Seiner
Güte und Sorgfalt. Wer Ihn Selbst kennt, wird Seine Gunstbezeugungen nie als Maßstab dafür betrachten, was Sein Herz
für Ihn ist. Je mehr wir das Herz Christi kennen, um so weniger
brauchen wir einen Beweis von dem, was Er ist. Wir werden
dann nicht einmal daran denken, Seine Liebe nach solchen Beweisen messen zu wollen. Indem wir Sein Herz und das, was
Er in Sich Selbst ist, kennen, werden wir Ihm für jede Seiner
Segnungen dankbar sein; aber wir werden diese nicht abwarten,
um von Seiner Liebe überzeugt zu werden. Es sollte unser
Streben sein, droben zu leben und uns hienieden für gestorben
zu halten. Die Welt bietet nichts als Enttäuschung und Tod.
Laßt uns nicht nach den Gütern dieser Welt trachten; denn wir
besitzen alles in Christo außerhalb der Welt. Laßt uns das
willig hinnehmen, was uns hienieden zugeteilt ist. Inmitten der
Dunkelheit und Finsternis der Welt tritt die Herrlichkeit des
Himmels, wo Christus zur Rechten Gottes ist, um so leuchtender hervor.
Was Paulus hier wünscht, ist, Anteil an den Leiden Christi zu
haben. „Vergessend, was dahinten ist", entschwinden die zurückgelegten Wege, die zurückgelassenen Dinge, die erduldeten
Mühen seiner Erinnerung. Manche lassen sich auf dem Wege
aufhalten, weil sie den Weg prüfen, den sie gehen, während
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der Apostel die Dinge vergißt, die dahinten sind. Selbst die
Freuden in Christo halten ihn nicht zurück; er verfolgt seinen
Lauf, „streckt sich nach dem aus, was vorne ist", und läuft, nur
ein Ziel vor den Augen.
Das war der Wandel des Apostels. Doch hören wir seine Worte:
„Viele wandeln, von denen ich euch oft gesagt habe, nun aber
auch mit Weinen sage, daß sie die Feinde des Kreuzes Christi
sind; die auf das Irdische sinnen" (V. 18—19). Sinnst auch du
auf das Irdische, mein Leser? Die Christen, die in die Dinge
dieser Welt verstrickt sind, werden Feinde des Kreuzes Christi
genannt. Das Kreuz ist für den Christen moralisch sowohl das
Ende der Welt, als auch das Ende seiner Sünden. „Von mir
aber sei es ferne, mich zu rühmen als nur des Kreuzes unseres
Herrn Jesus Christus, durch welchen mir die Welt gekreuzigt
ist und ich der Welt" (Gal 6, 14). Wenn uns die gegenwärtigen
Dinge erfüllen, so sind wir Feinde des Kreuzes Christi (vgl.
Jak 4, 4; Joh 21, 15—17). „Unser Wandel ist in den Himmeln"
(V. 20). Als Fremdlinge auf Erden sollen wir unseren Herrn
Jesus Christus als Heiland aus den Himmeln erwarten, Der uns
von dem gegenwärtigen Zeitlauf befreien wird. Er wird Seine
Macht an diesen Leibern entfalten, in denen die Sünde, der
Tod und das Gericht gewirkt haben. Der Mensch in der Herrlichkeit ist durch den Heiligen Geist jetzt die Person, Die uns
beschäftigt und wir erwarten Sein Kommen, damit Er den Leib
der Niedrigkeit — diese Hütte aus Ton, dieses irdene, zerbrechliche Gefäß — umgestalte. Die Offenbarung Jesu hat dem
Geiste nach alles verändert; und wenn Er kommt, wird Er Seine
Hand auch an unsere niedrigen Leiber legen, um sie Seinem
verherrlichten Leibe gleichförmig zu machen. Wunderbare
Wahrheit! Auf dem Wege durch diese Welt begegnen wir überall dem Tode; die prachtvolle Macht Christi aber wird überall
Leben verbreiten. Er entfaltet jetzt Seine Macht an unserem
Geiste; er wird sie später an unserem Leibe entfalten.
Der Herr wolle durch Seine Gnade und durch Seinen Geist die
Augen dahin richten, wo Er Selbst ist, mit dem Bewußtsein, daß
jetzt dort unsere Seele ihre Wohnung hat, wo alles vollkommen und bleibend ist! Alles, was du jetzt in der Welt besitzest,
mußt du früher oder später aufgeben. Das, was dir das liebste
ist, was du am höchsten schätzest, wird dir am meisten Betrüb71
nis bereiten; denn du wirst es einmal verlieren. Was ist das
kostbarste in der Welt? Die Liebe zu den Deinigen; aber an der
Wurzel dieser Liebe haftet ein sehr spitzer Dorn; alles ist sterblich, nichtig, vergänglich hienieden. Der Tod herrscht überall.
Es gibt nur ein Stätte, wohin er nicht dringen kann — eine einzige Stätte, wo das Herz Befriedigung findet. Wende deine
Augen nach oben, dahin, wo Jesus ist. Dort wirst du Ruhe und
Frieden finden, und im Anschauen alles dessen, was irdisch ist,
wirst du sagen können: „Ich besitze alles in Christo; Er hat
mich erfüllt; ich brauche nichts anderes". — Die Absicht des
Geistes ist es, uns also mit Christo zu beschäftigen — „nach
der Wirkung, mit der er vermag, auch alle Dinge sich zu unterwerfen".
Der Gläubige — ein Brief Christi
(2. Korinther 3, 2. 3)
Ein Brief Christi zu sein, ist bedeutsam, wenngleich niemand
die Tiefe einer solchen Berufung ganz ergründen kann. Jede
Versammlung von Gläubigen ist ein Brief Christi, dazu bestimmt, „gekannt und gelesen zu werden von allen Menschen".
Die Gläubigen sind ein an die Welt gerichtetes Empfehlungsschreiben Christi. Die Welt hat dieses Zeugnis des Lebens der
Gläubigen nötig, um Christum kennenzulernen, obwohl sie
diese Erkenntnis ohne Zweifel auch aus Seinem Worte schöpfen kann. Die Wichtigkeit dieses Zeugnisses wird aber noch
deutlicher, wenn man es dem Zeugnis des Gesetzes, „geschrieben auf steinerne Tafeln", gegenüberstellt. So wie die zehn
Gebote der Ausdruck des Willens Gottes unter der Haushaltung des Gesetzes waren, so ist jetzt die Versammlung das Bild
Christi, „geschrieben nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf
fleischerne Tafeln des Herzens" — „damit ihr die Tugenden
dessen verkündiget, der euch berufen hat aus der Finsternis zu
seinem wunderbaren Licht" (1. Petr 2, 9).
Ein wesentlicher Zug aus dem Leben des Erlösers ist es, daß
der Herr Jesus weder in Seinen Handlungen und Worten noch
in den Regungen Seines Herzens jemals das Bestreben hatte.
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Sich Selbst zu gefallen: „Denn auch der Christus hat nicht sich
selbst gefallen" (Röm 15, 3). Also müssen auch wir uns selbst
nicht gefallen: „denn keiner von uns lebt sich selber, und
keiner stirbt sich selber" (Röm 14, 7). Jesus hat gesagt: „Auf
daß die Welt erkenne, daß ich den Vater liebe und also tue, wie
mir der Vater geboten hat" (Joh 14, 31).
Das war Gehorsam — ein Gehorsam, der Ausfluß und Offenbarung der Liebe war; nichts konnte Christum davon zurückhalten. Die Versuchung, ein gegebenes Gebot zu mißachten,
kann sich in einer angenehm erscheinenden Form einstellen. So
wehrt z. B. Petrus, als der Herr zu seinen Jüngern sagte, daß
Er viel leiden und getötet werden würde ab mit den Worten:
„Gott behüte dich, Herr! dies wird dir nicht widerfahren" (Mt
J 6 , 22). Es war sicher Liebe für Seinen Herrn, die ihn so sprechen ließ; aber der Herr achtete nicht auf seine Worte, weil Er
sonst gegen das Gebot Seines Vaters verstoßen hätte. Seine
Antwort war: „Geh hinter mich, Satan! du bist mir ein Ärgernis; denn du sinnest nicht auf das, was Gottes, sondern auf
das, was der Menschen ist" (V. 23).
Ein anderer Zug aus dem Leben des Herrn ist von nicht geringerer Bedeutung. Er wandelte nicht nur als Sohn des Menschen
auf der Erde, sondern Seiner Gesinnung nach in Wahrheit im
Himmel. Alle Neigungen, alle Gedanken Seines Herzens waren
himmlisch. Darum sagt der Apostel zu uns: „Wenn ihr nun
mit dem Christus auferweckt seid, so suchet, was droben ist,
wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet auf das
was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist" (Kol 3, x. 2).
Zudem hatte die Gnade, welche Jesus offenbarte, nur den
Zweck, dem Elend und den Schmerzen des Menschen in allen
Umständen des gegenwärtigen Zeitlaufs zu begegnen. Wie
mangelhaft zeigt sich das bei uns! Selbst wenn die Beweggründe unseres Handelns göttlicher Natur sind, so bringen wir doch
so selten die Gnade zum Ausdruck. Bei Christo war das nie
der Fall. Er war stets zur Ehre Gottes tätig; aber nie, bei keiner
einzigen Gelegenheit, in keiner Handlung, verließ Er den Boden
der Gnade. Oft bleiben wir nicht eng genug in Gemeinschaft
mit Gott, weil wir Ihm nicht völlig vertrauen. Wir werden
ungeduldig und nehmen — wie Jakob — unsere Zuflucht zu
73
Mitteln, die nicht aus Gott sind. Jakob hatte kein volles Vertrauen zu Gott, sonst würde er im Blick auf den Segen gewartet
haben, bis Gott das Herz Isaaks zur Erfüllung Seines göttlichen
Ratschlusses bewogen hatte. So geht es oft auch mit uns. Wir
gehen häufig verkehrte Wege, weil wir nicht lange genug auf
Gott warten, Der sicher Seinen Willen ausführen wird, auch
wenn wir die Mittel, die Er anwendet, nicht erkennen. Saul
wollte, als der siebte Tag anbrach, das Opfer nicht länger aufschieben, aber kaum war dieses Opfer gebracht, da kam Samuel
am Ende des siebten Tages; Saul aber verlor das Königreich.
So leiden auch die Kinder Gottes stets Schaden, wenn sie ihr
Vertrauen auf Gott verlieren. Christus stützte Sich stets auf
Gott, wartete stets auf Ihn, und darum war Er auch immer
gegen jeden Schmerz und gegen jedes Elend gewappnet. Ausnahmslos bediente Er Sich der Hilfsmittel, die in Gott sind, und
darum konnte Er auch jeder Not, von welcher Art sie auch
war, gefaßt ins Auge sehen. Es ist sehr interessant, das fünfte
Kapitel aus dem Evangelium Matthäus zu lesen. In jedem Seligsprechen findet sich Christus. Wer war so arm im Geiste, so
ein Trauernder wie Er? Wen hungerte und dürstete gleich Ihm
nach der Gerechtigkeit? Sein ganzes Leben war ein solches
Hungern und Dürsten. „Das Leben war das Licht der Menschen".
Überdies war Jesus Sieger über jeden Widerstand, ja selbst
über den Tod. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Kraft
und gutem Willen. Es ist leichter zu sagen: „Das Gute, das ich
will, tue ich nicht" (Röm 7, 19), als „ein Brief Christi" zu sein;
hierzu bedarf es der Kraft, welche jedes Hindernis, selbst den
Tod beherrscht. Denn auch der Tod ist uns gegeben (1. Kor 3,
22). Der Gläubige, lebend durch die Kraft des Lebens Christi,
hat eine vollkommene Macht über den Tod.
Doch das ist nicht alles. Der Herr Jesus verleugnete in allen
Seinen Handlungen nie Seine Liebe. Die Liebe bedarf keines
Beweggrundes, um sich zu offenbaren. Sie macht uns fähig,
selbst allen Widerwärtigkeiten Trotz zu bieten. Wird man ins
Angesicht geschlagen, so verleiht die Liebe die nötige Kraft, es
zu ertragen, weil sie diese Kraft nicht aus den Umständen
schöpft, sondern weil sie über allen Umständen erhaben ist.
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Nichts kann einem Gläubigen begegnen, was ihn von der Liebe
Gottes scheiden könnte. Die Liebe, deren Gegenstand Er ist,
herrscht über alle Umstände. Wenn wir diese himmlische Gesinnung, die aus Gott ist, nicht offenbaren und unseren Weg
nicht in einfältigem Gehorsam gehen, dann sind wir kein
wahrer Brief Christi. Haben wir Christum nicht geoffenbart,
so haben wir unsere Stellung verleugnet.
Nachdem uns der Apostel gezeigt hat, daß die Gläubigen Briefe
Christi sind, gekannt und gelesen von allen Menschen, belehrt
er uns, daß wir nicht durch den Dienst des Buchstabens, sondern durch den Dienst des Geistes in diese Stellung kommen.
Der Buchstabe hat nach den Anforderungen Gottes im Blick auf
den Menschen gehandelt; deshalb war er ein Dienst des Todes.
Das Evangelium ist die Offenbarung eines Gottes, Der nicht
von der Höhe des Sinai Gerechtigkeit fordert, sondern Der in
der Fülle Seiner Gnade Seine Gerechtigkeit offenbart und, um
uns mit Ihm in Gemeinschaft zu bringen, Seinen Sohn vom
Himmel sendet. Allen nun, die sich dieser Gerechtigkeit unterwerfen, ist der Heilige Geist als deren Unterpfand gegeben,
und der Geist ist in ihnen ein Geist der Kraft. Weil wir diese
Gnade kennen, können wir mit Freimütigkeit den Menschen
sagen, daß sie gottlos, böse und ohne Hoffnung sind, daß aber
Gott in Christo eine vollkommene Gnade geoffenbart hat. Freimütig können wir diesen Gott als den Gott der Gnade verkündigen. Die Kinder Israel konnten das Angesicht Mose nicht
ansehen wegen der Herrlichkeit, die von seinem Angesicht,
wenn auch in Schwachheit, ausstrahlte; wir aber können freimütig die alles übertreffende Herrlichkeit Gottes anschauen,
weil sie uns im Angesicht Jesu Christi entgegenstrahlt. Gerade
diese Herrlichkeit ist es, die mir die Versicherung gibt, daß alle
meine Sünden hinweggetan sind. Ich schaue die Herrlichkeit
Gottes nicht im Dunkeln, sondern als die Herrlichkeit Dessen,
Der meine Stelle einnahm und zur Sünde gemacht wurde und
Der unmöglich in dieser Herrlichkeit sein könnte, wenn Er nicht
alle meine Sünden hinweggetan hätte; andernfalls würden
meine Sünden diese Herrlichkeit nur verfinstern. Wie wunderbar! Gott hat also nicht nur unsere Seele in Gnaden besucht,
sondern die Herrlichkeit hat sozusagen den Platz unserer Sünden eingenommen. Und der Geist, Der uns das mitteilt, wohnt
75
in uns, so daß wir die Kraft besitzen, in der uns von Gott angewiesenen Stellung wandeln zu können. „Wo aber der Geist
des Herrn ist, da ist Freiheit"!
Wer sich der Gerechtigkeit Gottes unterwirft, wird ein Brief
Christi, weil er auf Christum in der Herrlichkeit schaut. Das
aber ist nicht der Fall, wenn er nur auf Jesum in Seiner Niedrigkeit hienieden blickt; denn diese Niedrigkeit zieht uns wohl
an, macht uns aber nicht frei. Heften wir hingegen unsere Blicke
auf Christum in der Herrlichkeit, so werden wir „nach demselben Bilde verwandelt". Ein Herz, das in der Herrlichkeit lebt,
achtet alle anderen irdischen Dinge für Schaden und Dreck.
Das ist die Gleichförmigkeit mit Christo. In der Verwirklichung
dieser Erkenntnis bemerken wir bald die Schwachheit des Fleisches; aber der Blick des Glaubens auf Christum ist die wahre
Überwindung. Der Apostel sagt: „Ich vermag alles durch den,
der mich kräftigt". Wir führen diese Wahrheit leider zu oft im
Munde, ohne ihre Kraft erfahren zu haben. Wir können wohl
sagen, daß ein Gläubiger alles durch Christum vermag; aber
der Apostel konnte sagen: „Ich vermag alles, durch Christum";
denn er war durch gründliche Erfahrung und schwere Kämpfe
hierzu gelangt.
Der Herr schenke uns eine wachsende Erkenntnis der Kraft, die
in Christo ist, wiewohl diese uns in den Staub beugt, auf daß
wir in Wahrheit ein „Brief Christi" sind, gekannt und gelesen
von allen Menschen"!
Bosheit und Verblendung
„Die Juden nun baten den Pilatus, damit ihre Leiber nicht am
Sabbath am Kreuze blieben, weil es Rüsttag war (denn der Tag
jenes Sabbaths war groß), daß ihre Beine gebrochen und daß
sie abgenommen werden möchten" (Joh 19, 31).
Wie verblendet ist der gefallene Mensch! Sich durch seine
Werke vor Gott angenehm zu machen, ist sein beständiges
Bestreben. Israel hatte das Gesetz übertreten und war schuldig
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— was nützten nun alle seine Anstrengungen? Das Gesetz
brachte das Todesurteil. Dennoch eiferten die Juden für das
Gesetz, als ob es möglich sei, etwas durch das Gesetz zu erlangen, was vor Gott gilt — so wie es Tausende in unseren
Tagen in der Meinung versuchen, daß ein strenges Beobachten
religiöser Pflichten Wert vor Gott habe. In Wahrheit aber ist
gerade der Mensch, der in religiösen Übungen seinen Frieden
sucht, durch seine vermeintlichen guten Werke so verblendet,
daß er oft einer besonders großen Gnade bedarf, um sich als
einen verlorenen Sünder kennenzulernen, ja nicht selten lehnt
er sich in Feindschaft gegen den wahren Christen durch blinden, gesetzlichen Eifer gegen Gott Selbst auf. So erblicken wir
den Apostel Paulus, der „nach der Gerechtigkeit, die im Gesetz
ist, tadellos war", als einen Verfolger Jesu.
In der oben angeführten Schriftstelle bereiten sich die Juden
vor, den Sabbath zu halten. Die Gekreuzigten während des
Sabbaths am Kreuze hängen zu lassen, war wider das Gesetz;
und in ihrem Eifer für das Gesetz wollten sie lieber die Gebeine
Jesu als das Gesetz brechen. Ihre Feindschaft hatte Den ans
Kreuz geheftet, Der der Herr des Sabbaths war, aber Er war
Mensch geworden, um für Sünder zu sterben, und, nachdem
Er das ganze Gesetz erfüllt hatte, den Fluch des Gesetzes auf
Sich zu nehmen. Aus Feindschaft gegen Gott waren sie bereit,
Seinen Tod zu beschleunigen, damit das Gesetz nicht gebrochen
werde.
Hier sehen wir den gefallenen Menschen ohne Licht von oben.
Voll Haß tötet er Den, Der das Gesetz gegeben hat, und um
das Gesetz nicht zu brechen, will er die Beine Dessen brechen,
Der das Gesetz gegeben und erfüllt hat. Er stößt Den von sich,
Der ihn retten will, und sucht Rettung in einem Werk, das nicht
zu retten vermag. Er macht sich ein Gewissen daraus, den Gekreuzigten während des Sabbaths am Holze hängen zu lassen,
aber ohne Scham, ohne Gewissen konnte er rufen: „kreuzige,
kreuzige ihn!" Welche Bosheit und Verblendung!
77
Der treue Arbeiter
(Matthäus 11)
Jeder Abschnitt des Wortes Gottes ist für den andächtigen
Leser eine Quelle bleibender Erfrischung, besonders, wenn es
sich mit der gesegneten Person des Herrn Jesus in den Einzelheiten Seines Lebens, in Seinen unvergleichlichen Wegen, in
Seiner Gesinnung, in Seinen Worten und Werken, ja selbst in
Seinen Mienen und Gebärden befaßt und uns in der augenscheinlichsten Weise zeigt, was Er war, was Er tat, was Er
sagte und wie Er handelte und sprach. In diesen Darlegungen
liegt stets etwas, das das betrübte Herz berührt und anzieht
und einen weit stärkeren Einfluß auf das Gemüt ausübt als die
wichtigsten Lehren und die erhabensten Grundsätze. Deren
Wert soll keineswegs verkannt werden: sie klären das Verständnis, belehren den Geist, bilden das Urteil, beherrschen das
Gewissen und sind uns in dieser Beziehung von unberechenbarem Nutzen. Aber die Darstellung der Person Christi durchdringt das Herz, weckt Gefühle der Liebe, befriedigt die Seele
und erfaßt das ganze Wesen; nichts ist imstande, die Beschäftigung des Herzens mit Christo Selbst, so wie der Heilige Geist
Ihn im Worte und besonders in den unnachahmlichen Erzählungen des Evangeliums unseren Blicken enthüllt, zu übertreffen. Möchten wir das bei einer Betrachtung des 11. Kapitels
aus dem Evangelium des Matthäus erfassen, in welchem Christus als der treue Arbeiter in den Hindernissen gezeigt wird,
denen Er während Seines Dienstes begegnete, in den Hilfsquellen, die Er in Gott fand und endlich in der gnadenreichen
Tätigkeit, die Er dem Menschen widmete.
Betrachten wir zunächst die Hindernisse.
Es gab nie einen Arbeiter des Herrn in dieser Welt, der nicht
mit Hindernissen der verschiedensten Arten zu kämpfen gehabt hätte, und der einzige vollkommene Arbeiter machte keine
Ausnahme von dieser allgemeinen Regel. Auch der Herr Jesus
hatte Seine Hindernisse und getäuschten Erwartungen; andernfalls würde Er kein Mitleiden mit denen haben können, welche
solchen Prüfungen auf jeder Station ihrer Laufbahn zu begeg78
nen haben. Er war als Mensch vollkommen in alle Umstände
eingetreten, die ein Mensch zu erfühlen vermag — jedoch mit
Ausnahme der Sünde. „Er ist in allem in gleicher Weise versucht worden wie wir, ausgenommen die Sünde". Darum kann
Er Mitleid haben mit unseren Schwachheiten. Darum hat Er
Verständnis für alles, was Seine Diener in ihrer Arbeit durchzumachen haben.
Nun hat der Heilige Geist in dem erwähnten Kapitel eine Reihe
solcher Hindernisse und getäuschten Erwartungen zusammengestellt, denen der vollkommene Arbeiter, der treue Knecht, der
göttliche Diener in der Ausübung Seines Dienstes zu begegnen
hatte. Die erste Enttäuschung kommt von einer Seite, von
welcher man es nicht hätte erwarten sollen, nämlich von Johannes dem Täufer. „Als aber Johannes im Gefängnis die
Werke des Christus hörte, sandte er durch seine Jünger und
sprach zu ihm: Bist du der Kommende oder sollen wir eines
anderen warten"?
Zweifellos war Johannes in dem Augenblick, in welchem er
diese Botschaft zu Jesu schickte, sehr niedergebeugt. Es war ein
finsterer Moment in seinem Leben; aber es war nichts Ungewöhnliches. Auch die besten und treuesten Diener Christi
waren zuzeiten unter den dunklen Schatten des Unglaubens,
des Kleinmuts und der Ungeduld trübe gestimmt. So ließ sich
z. B. Moses, der so hochgeehrte, treue Knecht Gottes bei einer
gewissen Gelegenheit zu den Worten hinreißen: „Warum hast
du an deinem Knechte übel getan, und warum habe ich nicht
Gnade gefunden in deinen Augen, daß du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? .. . Ich allein vermag nicht dieses
Volk zu tragen; denn es ist mir zu schwer. Und wenn du also
mit mir tust, so bringe mich doch um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, damit ich mein Unglück nicht ansehe" (4. Mo 11, 11—15). Das war die Sprache Moses — wohl
beeinflußt von den sich stets verschlimmernden Umständen
und den murrenden Stimmen von sechshunderttausend Pilgern,
aber dennoch — die Sprache des „sanftmütigsten Mannes auf
dem Erdboden". Und doch würde es uns schlecht anstehen,
darüber zu staunen; denn wo ist ein Sterblicher, der den übermäßigen Druck einer solchen Lage hätte ertragen können?
Welche bloß menschliche Eindämmung hätte der Heftigkeit
eines so gewaltigen Stromes zu widerstehen vermocht?
79
Ebenso stand der Prophet Elia im beängstigten Schatten einer
finsteren Wolke, als er sich unter einen Ginsterstrauch warf
und den Tod erflehte. „Es ist genug; nimm nun, Jehova, meine
Seele; denn ich bin nicht besser als meine Väter" (1. Kön ig,
4). Auch das war die Sprache eines hochgeehrten Knechtes
Gottes — hervorgerufen freilich durch eine Verbindung der
entmutigendsten Einflüsse — aber dennoch die Sprache Elias
des Thisbiters, und niemand sollte ihn tadeln, der nicht selbst
ohne ein wankendes Gefühl oder ein strauchelndes Wort ähnliche Umstände durchschritten hat.
In ähnlicher Lage findet sich auch der Prophet Jeremias, ein
anderer höchst begünstigter Arbeiter des Herrn, als er unter
den Mißhandlungen Paschchurs und den Verhöhnungen der
ihn umringenden Gottlosen seinen Gefühlen in den Worten
Luft machte: „Jehova, du hast mich beredet, und ich habe mich
bereden lassen; du hast mich ergriffen und überwältigt. Ich bin
zum Gelächter geworden den ganzen Tag; jeder spottet meiner.
Denn so oft ich rede, muß ich schreien, Gewalt und Zerstörung
rufen; denn das Wort Jehovas ist mir zur Schmach und zum
Spott geworden den ganzen Tag. Und spreche ich: Ich will ihn
nicht mehr erwähnen, noch in seinem Namen reden . . ." —
„Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde; der Tag, da
meine Mutter mich gebar, sei nicht gesegnet! Verflucht sei der
Mann, der meinem Vater die frohe Botschaft brachte und
sprach: ,ein männliches Kind ist dir geboren' und der ihn hoch
erfreute! Und jener Mann werde den Städten gleich, die Jehova
umgekehrt hat ohne sichs gereuen zu lassen, und er höre ein
Geschrei am Morgen und Feldgeschrei zur Mittagszeit, weil
er mich nicht tötete im Mutterleibe, so daß meine Mutter mir
zu meinem Grabe geworden und ihr Leib ewig schwanger geblieben wäre! Warum bin ich doch aus dem Mutterleib hervorgekommen, um Mühsal und Kummer zu sehen, und daß
meine Tage in Schande vergingen" (Jer 20, 7—9 und 14—18)?
Das war die Sprache des weinenden Propheten, freilich veranlaßt durch schmerzhafte Hindernisse und bittere Enttäuschungen in seinem prophetischen Dienst, aber dennoch die Sprache
Jeremias; und bevor wir ihn verurteilen, laßt uns aufmerken,
ob wir unter ähnlichem Druck unsere Schuldigkeit besser verrichten.
80
Kann es nach diesen Schriftzeugnissen unsere Verwunderung
erregen, wenn wir nun Johannes den Täufer mitten im Dunkel eines herodianischen Kerkers für einen Augenblick straucheln sehen? Kann uns die Entdeckung in Staunen setzen, daß
er aus keinem besseren Stoffe gemacht war als die Arbeiter
früherer Generationen? Wenn der Gesetzgeber, der Wiederhersteller, der weinende Prophet Israels — jeder in seinen
Tagen und unter seinem Geschlecht unter dem schweren Gewicht seiner Bürde schwankte, kann es uns dann befremden,
daß „Johannes, der Sohn des Zacharias", in den düsteren
Schatten seiner Gefängnismauern einem zeitweiligen Gefühl
der Ungeduld und des Unglaubens freien Lauf ließ? Sicher
nicht, besonders wenn wir selbst unsere mangelnde Standhaftigkeit unter ähnlichen Einflüssen erprobt haben.
Dennoch ist die Behauptung richtig, daß die Botschaft des Täufers ein Hindernis und eine Enttäuschung für den Geist seines
Herrn und Meisters war. Die Antwort Christi beweist es:
„Gehet hin und verkündigt Johannes, was ihr höret und sehet:
Blinde werden sehend, und Lahme wandeln, Aussätzige werden
gereinigt, und Taube hören, und Tote werden auferweckt, und
Armen wird gute Botschaft verkündigt, und glückselig ist, wer
irgend sich nicht an mir ärgern wird"!
Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß Johannes — von
einer vorüberziehenden Wolke des Unglaubens versucht — bestätigt wissen wollte, ob Jesus wirklich der Eine war, für Welchen er in Erfüllung seines Dienstes ein so volles und lautes
Zeugnis abgelegt hatte. Ohne Zweifel hatte er, der sich in der
eisernen Gewalt des Herodes sah, Anstoß hieran genommen,
als er von den Werken Christi hörte. Es lag nahe, daß sein
armes Herz allerlei Zweifeln Raum gab, die ihm zuflüsterten:
„Wenn dieser der glorreiche Messias wäre, auf den wir hoffen
und dessen Königreich in Macht aufgerichtet werden soll, warum steht es dann so traurig um dich, Seinen Diener und Zeugen? Warum befinde ich mich denn noch hier im Dunkel eines
Kerkers? Warum streckt Er die starke Hand Seiner Macht nicht
aus, um die Türen dieses Gefängnisses zu zertrümmern und
mich in Freiheit zu setzen"?
81
Wenn das die Gedanken des gefangenen Täufers waren, wie
kraftvoll, bestimmt und scharf war dann die Antwort seines
Herrn und Meisters! Er machte ihn auf jene großen, moralischen Beweise Seiner göttlichen Sendung aufmerksam, die
völlig genügten, jeden zu überzeugen, der von Gott gelehrt
war. Erwartete man nicht, daß der Gott Israels, wenn Er in
der Mitte Seines Volkes erschiene, sich mit dem wirklichen Zustand dieses Volkes befassen würde? War das der Augenblick
zur Entfaltung bloßer Macht? Konnte sich der Sohn Davids,
umgeben von Krankheit und Elend auf Seinen Thron setzen?
Waren nicht geduldige, herablassende Gnade und Barmherzigkeit inmitten der mannigfachen und zahlreichen Früchte der
Sünde notwendig? Sicher konnte bloße Macht das Gefängnis
des Herodes erbrechen und den Gefangenen in Freiheit setzen;
aber was sollte aus den Lahmen, Blinden, Tauben, Aussätzigen,
den Toten, Armen und Elenden werden? Konnte die Entfaltung
des Königtums deren Leiden lindern und ihren Zustand verändern? War nicht ein Anliegen wichtiger, das nur von dem
gnadenreichen, zärtlichen, sanftmütigen und demütigen Jesus
von Nazareth erfüllt werden konnte? Ja, und Johannes hätte
das wissen sollen. Aber es geziemt sich, mit Milde in die Gefängniszelle dieses so hochgeehrten Dieners Christi einzutreten,
nicht nur weil die Gnade uns dazu auffordert, sondern weil
unsere Seelen fühlen sollten, daß, wären wir in einer solchen
Lage gewesen, unser Glaube, wenn er nicht durch die Gnade
unterstützt wäre, sicher in einer noch weit jämmerlichen Weise
erschüttert worden wäre.
Es ist jedoch sehr bedeutsam, daß wir die Schwäche des gefangenen Täufers völlig verstehen und uns die passende Belehrung
aus seiner vorübergehenden Niedergeschlagenheit mit großem
Fleiß zunutze machen. Es fehlte dem armen Gefangenen nämlich das Verständnis dafür, daß der Tag des Mitgefühls Christi,
aber nicht der Tag Seiner Macht angebrochen war. Am Tage
Seiner Macht wird nirgends ein Kerker, ein Block, ein Schandpfahl zu erblicken, eine Trübsal, Bedrückung, Trauer oder sonstige Widerwärtigkeit für die Heiligen Gottes zu finden sein.
Dann wird keine Welle die Oberfläche des Meeres kräuseln
und keine Wolke den Himmel trüben; dann wird man keinen
Sturm mehr zu befürchten, keine Roheit mehr zu ertragen
82
haben. Aber jetzt befinden wir uns in der Zeit des Mitgefühls
Christi, und für den geprüften, verfolgten, geplagten und unterdrückten Jünger Jesu gilt darum die Frage: „Was möchtest
du lieber haben — die dich aus der Trübsal erlösende Macht der
Hand Christi oder das dich erquickende Mitgefühl Christi?"
— Die Antwort eines fleischlichen Gemüts, eines nicht unterwürfigen Herzens, eines ruhelosen Geistes wird nicht ohne
Zweifel lauten: „O möchte doch nur Seine Macht hervorbrechen und mich von dieser unerträglichen Trübsal, dieser
unausstehlichen Bürde, dieser zermalmenden Schwierigkeit
befreien! Ich seufze nach Befreiung; ich wünsche nichts als
Befreiung"!
Mancher von uns wird das verstehen können. Gleich einem
des Joches ungewohnten Farren sträuben wir uns oft und versuchen das Joch abzuschütteln, durch diese unverständigen und
nutzlosen Anstrengungen aber machen wir es nur noch schwerer und drückender. Ein geistliches Gemüt hingegen, ein unterwürfiges Herz, ein demütiger Geist werden ohne irgendwelchen
Vorbehalt sagen: „Laßt mich in meiner Trübsal nur das wohltuende Mitgefühl des Herzens Jesu genießen; ich verlange
weiter nichts. Ich begehre selbst nicht, daß mich die Macht
Seiner Hand auch nur des geringsten Teils jenes Trostes beraube, welcher mir durch die zarte Liebe und das tiefe Mitgefühl Seines Herzens dargereicht wird. Ich weiß sicher, daß Er
mich befreien, ja daß Er in einem Augenblick diese Ketten
zerreißen, diese Gefängnismauern dem Boden gleichmachen,
diese Krankheit beseitigen, diese geliebte Person, die in der
kalten Hand des Todes vor mir liegt, wieder beleben, jene
schwere Bürde hinwegrücken, jener Schwierigkeit begegnen,
jene Not beseitigen kann. Aber wenn Er es nicht für gut findet,
so zu handeln, wenn es nicht mit Seinen unausforschlichen
Ratschlüssen und Seiner weisen und treuen Absicht übereinstimmt, also mit mir zu verfahren, so weiß ich, daß Sein Tun
darauf berechnet ist, mich zu einer noch tieferen und reicheren
Erfahrung Seines höchst kostbaren Mitgefühls zu leiten. Wenn
Er es nicht für richtig ansieht, mich von dem rauhen Pfad der
Trübsal und der Schwierigkeit wegzunehmen — von jenem
Pfad, auf dem Er Selbst in Vollkommenheit gewandelt ist und
alle Seine Heiligen nach dem Maße ihres Glaubens von JahrS3
hundert zu Jahrhundert gepilgert sind, so ist es Seine gnadenreiche Absicht, diesen Pfad mit mir zu wandeln, der wohl rauh
und dornig ist, aber zu den ewigen Wohnungen des Lichts und
der Glückseligkeit droben führt".
Es ist offenkundig, daß die Erkenntnis dieser Zusammenhänge
das Herz Johannes des Täufers, inmitten seiner Erfahrungen
im Kerker sehr beruhigt haben würde, und sicher wird sie dazu
dienen, auch uns in den mannigfachen Übungen, die wir in der
Wüste durchzumachen berufen sind, Ruhe und Kraft zu geben.
Der Zeitpunkt, Seine große Macht anzunehmen und zu herrschen ist für Jesum noch nicht gekommen. Es ist der Tag Seiner
Langmut im Blick auf die Welt und der Tag Seines Mitgefühls
für Sein Volk. Wir müssen uns dessen stets bewußt sein. Er
gebrauchte Seine Macht auch nicht, um Seine eigenen Leiden
abzuwenden. Als Petrus in irrendem Eifer das Schwert zu
Seiner Verteidigung zog, sagte Er: „Stecke dein Schwert wieder
an seinen Ort; denn alle, die das Schwert nehmen, werden
durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, daß ich nicht jetzt
den Vater bitten könne und er mir mehr als zwölf Legionen
Engel stellen werde? Wie sollten denn die Schriften erfüllt werden, welche sagen, daß es also geschehen muß'"?
Doch während wir die zeitweilige Schwachheit Johannes des
Täufers begreifen und zu unterscheiden wissen, warum sich
sein Glaube als mangelhaft erwies, müssen wir uns zugleich
darauf besinnen, wie niederdrückend die Umstände waren, und
wie schwierig sich die Lektion darstellte, die er in seinem Kerker zu lernen berufen war. Es ist sehr hart für einen Arbeiter
des Herrn, sich beiseite gestellt zu sehen. Nichts ist für ein
tätiges Gemüt schwerer, als zu lernen, daß man zu entbehren
ist. Wir neigen so sehr zu der Annahme, daß die Arbeit ohne
uns nicht vollendet werden könne. Aber wie schnell kann uns
der Herr das Gegenteil zeigen! Die Banden des Paulus förderten die Sache Christi; das Einsperren Luthers in der Wartburg
beschleunigte die Reformation.
So ist es stets, und auch wir haben zu lernen, daß Gott uns entbehren und daß die Arbeit ohne uns geschehen kann. Das gilt
in allen Fällen, wo unser Wirkungskreis auch sein mag. Es unablässig zu erwägen, gibt dem Herzen große Ruhe und ist
geeignet, uns von allem beunruhigenden und hassenswürdigen
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Eigendünkel zu heilen, so daß wir schließlich sagen können:
„Der Herr sei gepriesen! Die Arbeit ist vollendet; ich bin glücklich und zufrieden"!
Der bemerkenswerte Unterschied zwischen der an Johannes gerichteten Antwort und dem von Johannes abgelegten Zeugnis,
Christi ist nicht zu übersehen. In einer nicht mißzuverstehenden Weise läßt Er Seinen Diener fühlen, daß Er die Ursache,
warum Johannes so gefragt hatte, klar erkannt habe. Die Antwort des Herrn enthält einen scharfen Pfeil für Seinen Diener.
— Wohl verpackt in eine sehr zarte Umschließung; dennoch ein
Pfeil, und zwar ein sehr scharfer: „Glückselig ist, wer sich
irgend nicht an mir ärgern wird". Johannes wird diese Worte
verstanden haben; sie waren bestimmt, recht tief in das Innerste seiner Seele einzudringen. Der treue Diener hatte einst im
Blick auf Jesum gesagt: „Er muß wachsen, ich aber abnehmen";
und er war berufen, nicht nur in seinem Dienst, sondern auch
nach seiner Person diesen Ausspruch zu verwirklichen. Er
mußte sich damit begnügen, seine Laufbahn unter dem Schwert
des Henkers zu beenden, nachdem er seine letzten Tage hinter
Kerkermauern zugebracht hatte. Wie geheimnisvoll! Wie
schrecklich für Fleisch und Blut! Wie nötig — wie dringend
nötig ist es, in einem so finsteren Augenblick das Wort zu
beachten, das der Herr später an Petrus richtete: „Was ich tue,
weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren".
Wichtige Worte! „Jetzt" und „hernach". Wie oft geschieht es,
daß das „Jetzt" in tiefe, undurchdringliche Dunkelheit gehüllt
ist! Schwere Wolken hängen über unserem Pfade und die
Handlungen unseres Vaters sind uns völlig unerklärlich. Unsere Herzen sind sehr bedrückt. Es zeigen sich Umstände, die
wir nicht berechnen können, Prüfungen, deren Zweck wir nicht
begreifen und nicht zu schätzen wissen. Wir sind bestürzt und
fragen: „Warum das"? Wir sind völlig im „Jetzt" befangen und
geben uns traurigen, glaubenslosen Einwürfen und Überlegungen hin, bis endlich unser Ohr von den kostbaren Worten berührt wird: „Was ich tue, weist du jetzt nicht: du wirst es aber
hernach erfahren". Dann sind alle Einwände beantwortet; dann
ist der Sturm zum Schweigen gebracht und das trostlose und
niederbeugende „Jetzt" schwindet unter den Strahlen eines
glänzenden und herrlichen „Hernach", so daß das unterwürfige
85
Herz in heiliger und verständiger Ergebung ausrufen kann:
„Herr, wie Du willst"! O möchten wir diese Zusammenhänge
besser erkennen! Wir bedürfen dieser Erkenntnis, was auch
immer unser Los in dieser Welt sein mag. Wenn wir auch nicht
berufen sein sollten, gleich dem Täufer die Leiden eines Gefängnisses kennenzulernen, so hat doch ein jeder sein „Jetzt",
das in dem Lichte des „Hernach" seine Erklärung finden muß.
Wir müssen das, was man „sieht" und was „zeitlich" ist, im
Lichte dessen beschauen, was man „nicht sieht" und was
„ewig" ist.
Doch wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit dem Zeugnis
Christi über Johannes den Täufer zu. „Als diese aber hingingen, fing Jesus an, zu den Volksmengen zu reden über Johannes: Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu sehen? ein
Rohr, vom Winde hin und her bewegt? Aber was seid ihr
hinausgegangen zu sehen? einen Menschen, mit weichen Kleidern angetan? Siehe, die die weichen Kleider tragen, sind in
den Häusern der Könige. Aber was seid ihr hinausgegangen zu
sehen? einen Propheten? Ja, sage ich euch, und mehr als einen
Propheten. Denn dieser ist es, von dem geschrieben steht:
„Siehe ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der
deinen Weg vor dir bereiten wird". Wahrlich, ich sage euch,
unter den von Weibern Geborenen ist kein Größerer aufgestanden als Johannes der Täufer; der Kleinste aber im Reiche
der Himmel ist größer als er".*)
*) Um die letzten Worte zu verstehen, müssen wir zwischen dem persönlichen Charakter und Wandel Johannes des Täufers und seiner Stellung unter=
scheiden. Der Person und dem Wandel nach konnten im Blick auf seine Ab=
sonderung und Widmung sich nur wenige, selbst im Reiche, ihm vergleichen;
aber in seiner amtlichen Stellung, auf dem ihm in der göttlichen Haushaltung
bestimmten Platze nahm der Geringste im Reiche eine bessere und höhere Stel=
lung ein. Dasselbe gilt für die alttestamentlichen Heiligen. Wenn wir z. B.
Abraham mit dem besten der Kinder Gottes in der Jetztzeit vergleichen, so steht
der Vater der Gläubigen hinsichtlich seines persönlichen Glaubens, seiner Gottes=
erkenntnis und seiner aufrichten Ergebenheit vielleicht weit höher als sie; den=
noch hat das schwächste Glied der Kirche Christi im göttlichen Haushalt einen
Vorzug, an den Abraham, weil ihm dieser Haushalt nicht geoffenbart war, nie*
mals dachte. Viele gottselige Leute unserer Tage übersehen die Würden und
Vorrechte der jetzigen Heiligen, weil sie diese persönlich mit den Gläubigen des
Alten Testaments vergleichen. Aber bedenken wir, daß hierbei durchaus nicht
davon die Rede ist, was wir in uns selbst sind, sondern von dem Platz, den Gott
in der Anordnung Seines Königreiches und Haushalts uns zu bestimmen für
gut befunden hat. Und sollten wir nach Seinem Wohlgefallen einen höheren
Platz als die alttestamentlichen Gläubigen einnehmen, so dürfen wir diesen Platz
nicht aus falscher Demut ausschlagen, sondern müssen vielmehr Gnade suchen,
um dieser Stellung entsprechend zu wandeln.
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Das war das glänzende Zeugnis, das Christus von Johannes
dem Täufer ablegte. „Unter den von Weibern Geborenen ist
kein Größerer aufgestanden als er". Hier zeigt sich ein wesentlicher Grundsatz, der in den Mitteilungen der Handlungen
Gottes mit Seinem Volk immer wieder hervortritt. Wenn der
Herr an Seinen Knecht eine Botschaft zu senden hat, so tut Er
es klar, bestimmt und ohne Rückhalt; aber wenn Er von ihm
redet, so geschieht das in einer ganz anderen Weise.
So ist es immer — Gott sei dafür gepriesen! Wir haben unsere
Wege, und Gott hat Seine Gedanken; und während Er mit uns
hinsichtlich unserer Wege in aller Treue handelt, redet Er von
uns nach Seinen Gedanken. Welche Erquickung bietet dies dem
Herzen! Welch ein Trost! Welche moralische Macht! Welch ein
fester Grund für das Selbstgericht! Gott hat uns eine Stellung
gegeben; und gemäß dieser Stellung denkt Er an uns und
spricht Er von uns. Wir haben unsere praktischen Wege, und
bezüglich dieser Wege handelt er mit uns und spricht Er zu
uns. Er will uns vor unseren Augen bloßstellen und uns unsere
Wege fühlen und unsere Handlungen richten lassen; aber sobald Er zu anderen von uns spricht, stellt Er die Vollkommenheit Seiner eigenen Gedanken über uns klar heraus und spricht
von uns nach der vollkommenen Stellung, welche Er uns in
Seiner Gegenwart — als die Frucht Seiner unsertwegen gefaßten
ewigen Ratschlüsse und Seines unsertwegen vollbrachten, vollkommenen Werkes — gegeben hat.
So war es mit den Kindern Israel in den Ebenen Moabs. Während Gott sie ununterbrochen wegen ihrer Wege tadeln und
in höchst deutlicher Weise wegen ihrer Störrigkeit und Hartnäckigkeit zurechtweisen mußte, stellte Er Sich, sobald der habsüchtige Prophet erschien, um Israel zu verfluchen, zwischen
Sein Volk und den Feind, um den Fluch in Segen umzuwandeln und des Volkes in den erhabensten und wunderbarsten
Ausdrücken zu gedenken. „Nicht ein Mensch ist Gott, daß er
lüge, noch ein Menschensohn, daß ihn gereue. Sollte er gesprochen haben und es nicht tun, und geredet haben und es
nicht aufrechthalten? Siehe, zu segnen habe ich empfangen und
er hat gesegnet, und ich kann es nicht wenden. Er erblickt keine
Ungerechtigkeit in Jakob und sieht kein Unrecht in Israel;
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Jehova, sein Gott ist mit ihm, und Jubelgeschrei wie um einen
König ist in seiner Mitte. Gott hat ihn herausgeführt aus
Ägypten, sein ist die Stärke des Wildochsen. Denn da ist keine
Zauberei wider Jakob, und keine Wahrsagerei wider Israel. Um
diese Zeit wird von Jakob und von Israel gesagt werden, was
Gott gewirkt hat. Siehe das Volk — wie eine Löwin steht es
auf und wie ein Löwe erhebt es sich. Es legt sich nicht nieder,
bis es den Raub verzehrt und das Blut der Erschlagenen getrunken hat" (4. Mo 23, 19—24).
Was ist das für eine Gnade, die hier bezeugt: „Ich schaue nichts
Böses und sehe kein Unrecht"! Was konnte der Feind dazu
sagen? Es wird gesagt werden, „was Gott gewirkt hat", nicht:
„was Israel gewirkt hat". Israel hatte nur zu oft töricht gehandelt; aber Gott hatte das Heil gewirkt. Er hatte für Seine eigene
Herrlichkeit gewirkt, und diese Herrlichkeit hatte in der vollkommenen Befreiung eines verkehrten, störrischen und hartnäckigen Volkes hell aufgeleuchtet. Die Aussage des Feindes
über das Böse und das Unrecht in Israel war nutzlos, wenn
Jehova keine Kenntnis davon nahm. Es hat für uns keine Folgen, daß Satan uns anklagt, wenn Gott vergeben hat, daß
Satan unsere Sünden aufzählt, wenn Gott sie alle für immer
ausgelöscht hat, daß Satan uns verdammt, wenn Gott uns gerechtfertigt hat.
Aber ist denn die Hervorkehrung solcher Grundsätze nicht
gefährlich? Kann ein Christ dadurch nicht zu den finsteren
und verhängnisvollen Regionen einer falschen Freiheit geleitet
werden? — Doch, mein Leser, du kannst versichert sein, daß du
von dieser mit Recht gefürchteten Region nie weiter entfernt
bist, als wenn deine Seele von den glänzenden und gesegneten
Strahlen der ewigen Gunst Gottes erwärmt wird und sich der
Unwandelbarkeit Seines bedingungslosen und ewigen Heils
erfreut. Es gibt keinen größeren Irrtum, als wenn man der Meinung Raum gibt, daß die freie Gnade und das vollkommene
Heil je zu unheiligen Resultaten führen könnten. Die Begriffe
des Menschen mögen eine solche Wirkung einschließen; aber
wo die Gnade ganz erkannt und das Heil völlig genossen wird,
werden sich sicher auch „die Früchte der Gerechtigkeit, welche
durch Jesum Christum zur Herrlichkeit und zum Lobe Gottes"
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sind finden. Aber wir wissen, daß es eine alte Gewohnheit der
Unwissenden und sich selbst erhebenden Gesetzlichkeit ist, der
freien Gnade Gottes eine das Gesetz verachtende Neigung zuzuschreiben. Der Einwand gegen die kostbaren Lehren der
Gnade: „Sollten wir in der Sünde verharren, auf daß die Gnade
überströme"? ist nicht neu. Er vermag aber diese Lehren in
ihrer Reinheit und Kraft nicht anzutasten; sie finden ihren göttlichen Mittelpunkt in der Person Christi Selbst, Welcher, nachdem Er am Kreuze gestorben und unsere Sünden hinweggenommen hat, unser Leben und unsere Gerechtigkeit, unsere
Heiligung und unsere Erlösung, unser alles in allem geworden
ist. Er hat uns nicht nur von den künftigen Folgen der Sünde,
sondern auch von deren gegenwärtigen Macht befreit.
Das ist es, was Gott gewirkt hat, und es ist das Fundament des
näher erläuterten großen Grundsatzes, der durch die Handlungen mit Israel in den Ebenen Moabs und durch die Handlungen
Christi mit dem Täufer im Kerker des Herodes in unterschiedlicher Weise dargestellt wird. Jehova zwang den Propheten Bileam vor den Ohren Balaks auszurufen: „Wie schön
sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel"! — und
zwar zur selben Zeit, als diese Zelte und diese Wohnungen
gerichtsreif waren. Ebenso rühmte Jesus vor den Ohren der
Volksmenge die Größe Johannes des Täufers in dem Augenblick, als die Boten auf dem Rückweg zu ihrem gefangenen
Meister waren und jenen Pfeil für sein Herz mit sich führten.
Eine klare Vorstellung dieses Grundsatzes und ein beständiges
Besinnen hierauf wird nicht nur zum Verständnis des Wortes
Gottes beitragen, sondern auch zur Erklärung Seiner Wege von
unberechenbarem Nutzen sein. Gott richtet Sein Volk. Er kann
nicht das geringste in dessen Wegen übersehen. Das glänzende
Zeugnis Bileams auf den Höhen Moabs wurde begleitet von
dem scharfen Wurfspieß des Pinehas in den Ebenen Moabs
(4. Mo 25, 7). „Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer". Er ist
es jetzt. Er kann das Böse nicht dulden. Er spricht von uns,
denkt an uns, handelt für uns nach der Vollkommenheit Seines eigenen Werkes. Was schadet es, wenn der
Feind sich anschickt, uns zu verfluchen? Er findet nicht
den geringsten Flecken; alles ist vollkommen, lieblich
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und schön. Wie könnte es auch anders sein? Wie
könnte das Auge Gottes noch jene Sünden sehen, welche für
immer durch das Blut des Lammes ausgelöscht sind? Das ist
unmöglich. Läßt das die Sünde gering schätzen? Fern sei dieser
Gedanke! Wird dadurch der Zügellosigkeit die Tür geöffnet?
Nein, vielmehr wird dadurch der einzige wahre Grund zur persönlichen Heiligkeit gelegt. „Der Herr wird sein Volk richten".
Er wird auf die Wege Seiner Kinder schauen. Er wird für Seine
Heiligkeit Sorge tragen; mehr noch, Er wird Sein Volk zu Teilhabern dieser Heiligkeit machen und sie zu diesem Zwecke mit
der Rute treuer Zucht züchtigen. Gerade weil in den Augen
Jehovas die Zelte Jakobs lieblich waren, sandte Er Pinehas in
dieselben Zelte mit dem Spieß des gerechten Gerichts in seiner
Hand. Und das gilt auch jetzt. Weil Sein Volk Ihm kostbar und
lieblich ist, will Er nichts in ihm oder in seinen Wegen dulden,
was gegen Seine Heiligkeit streitet. „Denn die Zeit ist gekommen, daß das Gericht anfange bei dem Hause Gottes" (1. Petr
4, 17). Gott richtet jetzt die Welt nicht; Er richtet jetzt Sein
Volk. Bald kommt das Gericht über die Welt. Doch vergessen
wir nicht, daß Er Sein Volk als ein „heiliger Vater" richtet; als
ein „gerechter Gott" wird Er die Welt richten. Der Zweck im
ersten Fall ist praktische Heiligkeit; der Ausgang im letzten
wird ewiges Verderben sein. Welch ein ernster Gedanke!
Daneben gibt es noch einen anderen Gesichtspunkt, der sehr
große praktische Bedeutung hat. Wir müssen nämlich unsere
Stellung nicht nach unserem Zustand messen, sondern vielmehr
unseren Zustand an unserer Stellung. Viele irren in dieser Beziehung; und dieser Irrtum führt zu traurigen Ergebnissen. Die
Stellung des Gläubigen ist festgestellt, vollkommen, ewig,
göttlich. Sein Zustand dagegen ist unvollkommen und schwankend. Er ist Teilhaber der göttlichen Natur, welche nicht sündigen kann; aber er trägt auch seine alte Natur mit sich herum,
die nur sündigen kann. Seiner Stellung nach ist das Alte vergangen, und alles ist neu geworden. Gott erblickt ihn nur in
der neuen Stellung, also nicht mehr im Fleisch, sondern im
Geiste — nicht unterGesetz, sondern unter Gnade. DerGläubige
ist in Christo. So sieht Gott ihn; und das ist seine vollkommene
und ewige Stellung. Seine Sünden sind nicht mehr; er ist angenommen; alles ist vollendet. Sein pTZJCkjscher Zustand kann
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seine Stellung nicht berühren. Er kann in seinem praktischen
Wandel seine Gemeinschaft, seine Anbetung, sein Zeugnis,
seinen Genuß, die Ruhe seines Herzens, die Verherrlichung
Christi bedenklich stören, und das ist für ein empfindsames
Herz sehr ernst. Aber die Stellung des Gläubigen bleibt
ewig unangetastet und muß unverändert bleiben. Keine Macht
der Menschen oder der Teufel kann auch nur im geringsten
Grade das beeinträchtigen, was von Gott gegeben und vollkommen in Christo ist. Das schwächste Glied der Familie
Gottes hat seinen Bergungsort und seinen bestimmten Ruheplatz hinter den unbezwingbaren Bollwerken des göttlichen
Heils. Wer dies leugnet, der rüttelt an der einzigen wahren
Grundlage des Selbstgerichts und der praktischen Heiligkeit.
Andererseits aber laßt uns nie vergessen — und in der Tat
kann ein aufrichtiger Christ nicht wünschen, es zu vergessen —
daß der Zustand nach der Stellung ausgerichtet werden muß.
Wenn wir diese heilsame Wahrheit aus den Augen verlieren,
so werden wir bald das gute Gewissen von uns gestoßen und
am Glauben Schiffbruch gelitten haben. Darum müssen wir das
Glaubensauge stets auf einen auferstandenen Christus gerichtet halten und uns mit nichts Geringerem begnügen, als Ihm
nach Geist, Seele und Leib gleichförmig zu sein.
Es bedarf noch weniger Worte, um die in unserem Kapitel bezeichneten weiteren Hindernisse anzudeuten, mit denen der
Herr Jesus zu kämpfen hatte. Nachdem Er die Frage des Täufers beantwortet und dessen Dienst klargestellt hat, wendet
Er Sich an Seine Umgebung mit den Worten: „Wem aber soll
ich dieses Geschlecht vergleichen? Es ist Kindern gleich, die auf
den Märkten sitzen und ihren Gespielen zurufen und sagen: Wir
haben euch gepfiffen, und ihr habt nicht getanzt; wir haben
euch Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht gewehklagt.
Denn Johannes ist gekommen, der weder aß noch trank, und
sie sagen: Er hat einen Dämon. Der Sohn des Menschen ist
gekommen, der da ißt und trinkt, ein Freund der Zöllner und
Sünder: — und die Weisheit ist gerechtfertigt worden von ihren
Kindern" (V. 16—19).
Sowohl das Pfeifen als auch die Klagelieder waren durch ein
glaubensloses Zeitalter hindurch unbeachtet geblieben. „Denn
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Johannes kam zu euch im Wege der Gerechtigkeit, und ihr
glaubet ihm nicht" (Mt 21, 32). Der Herr Jesus kam in vollkommener Gnade, und sie wollten Ihn nicht. Der strenge und
ernste Dienst der Gerechtigkeit mit der Axt des Gerichts in der
Hand, und andererseits der liebliche, zarte Dienst der Gnade
mit den Worten der Sanftmut und mit Werken der Güte, —
beide wurden durch die Menschen jenes Geschlechts verworfen.
Aber die Kinder der Weisheit werden diese in all ihren Handlungen und Worten rechtfertigen. Der Herr sei gepriesen für
Seine reiche Gnade! Glückselig, wer ein Auge, ein Ohr und ein
Herz hat, um die Wege, die Werke und Worte der göttlichen
Weisheit zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu schätzen!
„Dann fing er an, die Städte zu schelten, in welchen seine
meisten Wunderwerke geschehen waren, weil sie nicht Buße
getan hatten. Wehe dir, Chorazin! wehe dir Bethsaida! denn
wenn zu Tyrus und Sidon die Wunderwerke geschehen wären,
die unter euch geschehen sind, längst hätten sie in Sack und
Asche Buße getan. Doch ich sage euch: Tyrus und Sidon wird
es erträglicher ergehen am Tage des Gerichts als euch. Und du,
Kapernaum, die du bis zum Himmel erhöht worden bist, bis
zum Hades wirst du hinabgestoßen werden, denn wenn in
Sodom die Wunderwerke geschehen wären, die in dir geschehen
sind, es wäre geblieben bis auf den heutigen Tag. Doch ich sage
euch: Dem Sodomer Lande wird es erträglicher ergehen am
Tage des Gerichts, als dir" (V. 20—24).
Mit welch einem tiefen und erschreckenden Ernst dringt dieses
„Wehe" von den Lippen des Sohnes Gottes in unser Ohr! Es
ist das Wehe, welches der verworfenen Gnade auf dem Fuße
folgt. Es ist hier nicht bloß die Rede von einem übertretenen
Gesetz, von entehrten und beschimpften Verordnungen, von
göttlichen Einrichtungen, die in schändlicher Weise zerstört
oder von Propheten und Weisen, die von Menschen verworfen
und gesteinigt wurden. Es war bei weitem mehr geschehen. Der
Sohn Selbst war gekommen in der reinsten, reichsten Gnade.
Er hatte Worte zu ihnen gesprochen, wie sonst niemand. Er
hatte die mächtigsten Wunderwerke in ihrer Mitte verrichtet,
hatte ihre Kranken geheilt, ihre Aussätzigen gereinigt, ihre
Toten auferweckt, ihre Hungrigen gespeist, ihren Blinden die
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Augen, ihren Tauben die Ohren geöffnet. Was hatte er unterlassen zu tun? Welche Worte hatte Er ihnen vorenthalten? Wie
eine Henne ihre Kücklein, so hatte Er sie unter Seine Flügel
versammeln wollen; aber sie hatten es nicht gewollt. Sie zogen
die Flügel des Erzfeindes den Flügeln Jehovas vor. Er wollte sie
an Sein Herz legen; aber sie vertrauten Ihm nicht. Den ganzen
Tag hindurch hatte Er Seine Arme nach ihnen ausgestreckt;
aber sie wollten nichts mit Ihm zu schaffen haben, und jetzt
nach so langer Nachsicht ruft Er schließlich Sein ernstes Wehe
über sie aus und redet mit ihnen über das schreckliche Verhängnis, das ihrer unausbleiblich harrte.
Aber will es nicht scheinen, als ob dieses Wehe sich weit über
Chorazin, Bethsaida und Kapernaum hinaus erstrecke? Sollte
es nicht mit weit größerem Nachdruck und mit einer die Seele
erschütternden Kraft das Ohr des Christentums berühren?
Wir zweifeln nicht einen Augenblick daran, wollen es uns aber
versagen, auf die näheren Umstände einzugehen, welche sich
vereinigen, die Schuld der bekennenden Kirche zu vermehren
— auf die weite Verbreitung der schriftgemäßen Kenntnis und
des evangelischen Lichts und auf die unzähligen und namenlosen Formen, in denen die geistlichen Vorrechte auf dem Pfade
dieser Generation zerstreut umherliegen. Und was ist das
Ergebnis? Wie sieht der praktische Zustand derer aus, die die
höchste Stufe des christlichen Bekenntnisses einnehmen? Ach!
wir wagen es kaum, darauf zu antworten. Wir sehen auf der
einen Seite wie die finsteren Schatten des Aberglaubens die
Gemüter einhüllen, und auf der anderen, wie der Unglaube
seine freche und verwegene Stirn erhebt und sich erkühnt,
seine gottlose Hand auf das heilige Wort Gottes zu legen. Das
arme Herz aber, berührt von diesen beiden Zeitströmungen,
greift mit Eifer nach allem, was ihm möglicherweise zur Ruhe
und Selbstbefriedigung dienen könnte. Die ganze Geschichte
der Welt kennt kein so finsteres Schauspiel, wie es die bekennende Kirche in dieser gegenwärtigen Stunde vorstellt. Man
lege Chorazin und ihre Schwesterstädte, Sodom und Gomorra
und die Städte der Ebene zusammen mit ihrer ganzen Schuld
in eine Waagschale—das Christentum wird schwerer wiegen als
sie alle miteinander. Denn wenn man in jenen Städten Gottlosigkeit und Unglauben fand, so waren sie doch nicht — wie
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im Christentum — an den Namen Christi geheftet oder mit den
trüglachen Gewändern des christlichen Bekenntnisses umhüllt.
Das allein war dem Christentum vorbehalten, und daher möge
das schreckliche „Wehe dir"! von allen gehört werden, welche
Ohren haben zu hören — ein Wehe, dessen Ernst nur an dem
ungeheuren Umfang der Vorrechte und folglich der Verantwortlichkeit des Christentums gemessen werden kann.
Wer bis jetzt aber das Zeugnis des Evangeliums verworfen hat,
sei dringend ermahnt, für seine Person den ernsten Worten:
„Wehe dir"! Gehör zu schenken, weil mit dem ständigen Hören
und Verwerfen des Evangeliums eine schreckliche Verantwortlichkeit verbunden ist. Wenn es für Kapernaum ernst war, das
auf diese Stadt scheinende Licht abzulehnen, wieviel ernster ist
es jetzt, wenn jemand das weit glänzendere Licht verwirft, das
ihm aus dem Evangelium der Gnade Gottes entgegenstrahlt.
Die Erlösung ist vollbracht, Christus als Fürst und Erlöser erhöht; der Heilige Geist ist herniedergekommen, die von Gott
eingegebene Heilige Schrift ist vollständig — damit ist alles
geschehen, was die Liebe nur tun konnte. Wenn daher angesichts dieses hell aufleuchtenden Lichtes und dieses großen Vorrechts ein Mensch im Unglauben bleibt, und in der Sünde ungestört fortlebt, so hat er alle Ursache zu fürchten, daß ihm am
Ende das Gerichtswort zugerufen wird: „Wehe dir, du Verächter des Evangeliums"! Weil ich gerufen und ihr euch geweigert habt, meine Hand ausgestreckt und niemand darauf
geachtet hat, und ihr all meinen Rat verworfen habt, so werde
auch ich bei eurem Unglück lachen, werde spotten, wenn euer
Schrecken kommt, wenn euer Schrecken kommt wie Unwetter
und euer Unglück hereinbricht wie ein Sturmwind, wenn Bedrängnis und Angst über euch kommen. Dann werden sie zu
mir rufen, und ich werde nicht antworten; sie werden mich
eifrig suchen und nicht finden" (Spr 1, 24—28). Möge der
Heilige Geist Sich dieser Worte bedienen, um jeden sorglosen
Leser aufzuschrecken und ihn zu den Füßen Jesu zu führen!
Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf die Hilfsmittel,
die der treue, der vollkommene, der göttliche Arbeiter in Gott
fand. Ganz sicher hatte unser hochgelobter Herr Seine Hindernisse und Widerwärtigkeiten in dieser gottlosen Welt. Alles war
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gegen Ihn, so daß Er hätte versucht sein können zu seufzen:
„Umsonst habe ich mich abgemüht, vergebens und für nidits
meine Kraft verzehrt" (Jes 49, 4). Jedoch, Er hatte Seine nie
versiegenden Quellen in Gott. — „Zu jener Zeit hob Jesus an
und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und
der Erde, daß du dies vor Weisen und Verständigen verborgen
hast, und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn
also war es wohlgefällig vor dir. Alles ist mir übergeben von
meinem Vater, und niemand erkennt den Sohn als nur der
Vater; noch erkennt jemand den Vater, als nur der Sohn, und
wem irgend der Sohn ihn offenbaren will'' (V. 25—27).
Hier also zeigen sich die reichen und mannigfaltigen Quellen
des treuen Arbeiters, welcher Gott für alles danken konnte.
Inmitten aller Umstände bleibt Er standhaft. Als das Zeugnis
verworfen worden war, als die Botschaft tauben Ohren und
unbeschnittenen Herzen begegnete und der von Seiner liebenden Hand gestreute, kostbare Same auf den Weg gefallen und
von den Vögeln des Himmels hinweggetragen worden war, da
konnte Er Sein Haupt beugen und sagen: „Ich preise dich,
Vater. Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir". Er
zeigte Sich stets als der Vollkommene. Er wandelte und wirkte
immer auf der geraden Linie der göttlichen Ratschlüsse. Wie
anders ist es bei uns! Wenn unser Zeugnis verworfen wird,
unsere Arbeit hier und dort vergeblich ist, so sollten wir nach
der Ursache fragen oder sogar uns selbst richten. Vielleicht
waren wir nicht treu, so daß wir uns den Mangel an Früchten
selbst zuzuschreiben haben. Vielleicht hätten wir einfältiger
und unterwürfiger sein sollen, vielleicht hätten wir Früchte
eingeerntet, wenn wir nicht so fleischlich oder weltlich gewesen
wären, vielleicht zeigten wir auch Selbstbefriedigung, statt
Selbstverleugnung, waren von Beweggründen beherrscht, die
sich nicht geziemten. Kurz es konnten tausend Ursachen in uns
selbst und in unseren Wegen sein, die unsere Arbeit und Mühe
fruchtlos machten. Dann gibt es nur einen Weg: wir müssen
uns selbst richten und vor dem Herrn demütigen. Und je ernstlicher dies geschieht, desto besser. Nur so werden wir mit
neuem Mut und Vertrauen unsere Arbeit wieder aufnehmen
und fortsetzen können.
Bei dem einzigen treuen Arbeiter war es anders, bei Ihm war
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alles vortrefflich und ausgezeichnet. Er konnte mit Ruhe Seine
Blicke von den Schwierigkeiten und Hindernissen dieser Erde
abwenden und sie hinlenken auf die unversiegbaren Quellen.
„Ich preise dich"! Er konnte Sein Herz in den ewigen Ratschlüssen Gottes ruhen lassen. Alle Dinge waren Ihm übergeben; und Er konnte sagen: „Alles was mir der Vater gibt,
kommt zu mir"! Alles war festgestellt, alles wohlgeordnet. Und
in der Tat, der Rat Gottes wird bestehen, und das göttliche
Wohlgefallen wird erfüllt werden. Welche wohltuende Ruhe
für das Herz inmitten der Hindernisse und der getäuschten
Erwartungen! Gott wird hinsichtlich Seiner Diener alles vollenden. Die reiche Gnade des Herrn wird selbst unsere zahlreichen Mängel und Gebrechen überströmen, wiewohl unsere
Verirrungen sicher ihre eigenen peinlichen und demütigenden
Resultate hervorbringen werden. Nur die Erinnerung an die
treue Fürsorge des Herrn gibt unseren Herzen inmitten der
sehr entmutigenden Umstände Ruhe. Wenn wir unser Auge
von Gott abwenden, werden unsere Seelen bald ermatten. Aber
unser Vorrecht ist, die Kraft zu haben, Gott im Blick auf alle
Begegnisse zu danken und Seinen ewigen Ratschlüssen vertrauen zu können; denn alle Dinge müssen uns trotz des Unglaubens des Menschen und trotz der Bosheit und List Satans
zum Guten mitwirken.
Zum Schluß erblicken wir, wie der Herr Sich in gnadenreicher
Tätigkeit aufs neue den Menschen widmet. „Kommet her zu
mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch
Ruhe geben. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir,
denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr
werdet Ruhe finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft
und meine Last ist leicht" (V. 28—30).
Diese Worte vervollständigen das in unserem Kapitel dargestellte liebliche Gemälde. Die neu beginnende gnadenreiche
Wirksamkeit enthält eine bewundernswerte Belehrung für uns.
Der Herr hat Sich von dem Schauplatz getäuschter Erwartungen
zurückgezogen und in Gott gestärkt, dann aber wendet Er Sich
dahin zurück, wo Er abgewiesen ist und nimmt Seine gnadenreiche Arbeit in vollkommener, untrüglicher Gnade, in unerschöpflicher Barmherzigkeit, in unermüdlicher Geduld wieder
auf. Wohl hatte Er eine zurechtweisende Antwort an Johannes
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den Täufer gesandt, die Menschen jenes Geschlechts treu geschildert und ein feierliches Wehe über die unbußfertigen
Städte ausgesprochen; aber das hindert Ihn nicht, von neuem in
der ganzen Frische und Fülle der Gnade, die in Ihm war, aufzutreten und allen mühseligen undbeladenenSeelen zuzurufen:
„Kommet her zu mir"!
Das ist wahrhaft göttlich. Es beugt unsere Herzen zur Anbetung und Danksagung. Wenn die Wahrheit im Blick auf die
zunehmende Verstocktheit gezwungen ist, ein „Wehe dir"!
auszurufen, so kann sich die Gnade an jedes mühselige und
beladene Herz mit der rührenden Einladung wenden: „Kommet
her zu mir"! Beides ist vollkommen. Der Herr Jesus fühlte die
Hindernisse. Er wäre kein Mensch gewesen, wenn Er sie nicht
gefühlt hätte. Er konnte sagen: „Ich habe auf Mitleiden gewartet, aber da war keins, und auf Tröster, aber ich habe keine
gefunden". Man beachte es wohl: Sein liebendes, so oft getäuschtes Herz wartete auf Mitleiden und fand keines. Er wartete auf „Tröster" und wartete vergebens. Es gab kein Mitleiden für Jesum, es gab keine Tröster für Ihn. Er war allein
gelassen. Einsamkeit, Betrübnis, Hunger, Durst, Schande und
Tod waren das Teil des Sohnes Gottes und des Sohnes des
Menschen. „Der Hohn hat mein Herz gebrochen", sagt Er.
Es ist ein höchst verwerflicher Irrtum anzunehmen, daß der
Herr Jesus die mannigfachen Übungen, die Er durchzumachen
hatte nicht in jeder Beziehung in der gleichen Weise gefühlt
habe, wie der Mensch sie empfindet. Mit Ausnahme der Sünde
empfand Er alles so, wie es der Mensch zu fühlen imstande
war; die Sünde aber trug und sühnte Er am Kreuz. Gepriesen
sei Sein Name!
Das ist nicht nur eine Hauptlehre des christlichen Glaubens,
sondern auch eine Wahrheit von unendlicher Lieblichkeit für
das Herz jedes wahren Gläubigen. Der Herr Jesus fühlte als
Mensch, was es war, verachtet, getäuscht, verwundet und verhöhnt zu sein. Hochgelobter Herr Jesus! Ja, Du fühltest jeden
Schmerz, jeden Kummer, jedes Weh inmitten einer gefühllosen
und herzlosen Welt! Dein liebendes Herz suchte Mitleiden und
fand keins! Während Du nach Gemeinschaft verlangtest, wurde
Dir die Einsamkeit! Die Welt hatte kein Mitleiden, keinen
Trost für Dich!
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Und doch, welch eine Gnade strahlt uns aus den Worten entgegen: „Kommet her zu mir". Und wie beschämen sie uns!
Wenn wir, die wir diese Gnade in unseren Wegen tagtäglich
erfahren, auf Hindernisse und getäuschte Erwartungen stoßen,
was ist dann oft die Folge? Findet man uns dann auch alsbald
wieder in jener gnadenreichen Tätigkeit, die unermüdlich mühselige und beladene Seelen sucht, um sie Ihm zuzuführen, Der
stets mit demselben Erbarmen sagt: „Kommet her zu mir"? Ist
unser Herz nicht oft mit Kummer, Verdruß und bitteren Klagen
erfüllt? Und warum das? Der Einwand, wir seien nicht vollkommen, ist sicher wahr. Wir sind in uns selbst durchaus unvollkommen; aber es geht hier um die Übung, sich von den
Hindernissen der Welt oder der bekennenden Kirche zurückzuziehen und zu den Quellen in Gott Zuflucht zu nehmen,
wenn wir fähig sein wollen, aufs neue eine gnadenreiche Tätigkeit auf dem Wirkungsfeld zu beginnen, auf welchem wir
vorher abgewiesen worden sind. Aber wie oft waren wir, anstatt uns auf Gott zu werfen, mit uns selbst beschäftigt! Dann
aber bleibt es nicht aus, daß wir der Bitterkeit das Herz öffnen,
anstatt in Gnade tätig zu sein. Es ist unmöglich, Seelen zu Jesu
zu führen, wenn wir uns nicht zuvor an den Quellen erfrischt
haben.
O möchten wir doch von Jesu lernen und Sein Joch auf uns
nehmen! Möchten wir zu den Füßen Dessen sitzen, der sanftmütig und von Herzen demütig ist! Welche Worte: „Sanftmütig und von Herzen demütig". Wie unähnlich unserer
Natur! Wie unähnlich der Welt! Wie unähnlich unserem
Verhalten! Wieviel Stolz, Hochmut und Selbstüberhebung
zeigen sich in uns! Möchten wir uns sehen, wie der
Herr uns sieht, damit wir uns zu Seinen Füßen setzen
und immer demütig vor Ihm wandeln! Möge Er uns befähigen,
in diesen Tagen des Eigendünkels und des Hochmuts die moralische Sicherheit eines sanftmütigen Geistes und eines demütigen Herzens zu zeigen! Es ist bewunderungswürdig, zum
Tragen desselben Joches berufen zu sein, welches Jesus trug —
das Joch der völligen Unterwerfung unter den Willen des
Vaters in allen Dingen. Das ist das Geheimnis wahren Friedens
und wahrer Kraft. Wir können die wahre Ruhe des Herzens
nur genießen, wenn der eigene Wille unterworfen ist. Diese
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Ruhe wird unser sein, wenn wir jede Fügung der Hand unseres
Vaters mit einem „Ja, Vater" annehmen. Die Tätigkeit des
eigenen Willens schließt die Ruhe aus. Um Ruhe des Gewissens
zu erlangen, muß man zu Jesu kommen; um Ruhe des Herzens
zu finden, müssen wir Sein Joch auf uns nehmen und von Ihm
lernen. O möchte unser Herz in der rastlosen Tätigkeit unserer
Tage diese Ruhe immer mehr erkennen und genießen!
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Reif für den Himmel
Unter den Christen wird vielfach die Meinung vertreten, der
Gläubige werde durch die Wege, die Gott ihn führt, für den
Himmel vorbereitet, und nicht selten hört man im Blick auf
einen glücklich Heimgegangenen die Worte: ,Er war reif für
den Himmel'. Dieser Ausspruch, diese ganze Auffassung aber
steht völlig im Widerspruch zu der Heiligen Schrift. Weder
durch die Wege, die Gott uns führt, noch durch die Erfahrungen, die wir im christlichen Leben machen, durch die Unterweisungen, die wir empfangen, und durch die Züchtigungen,
denen wir unterworfen sind, werden wir für den Himmel vorbereitet, sondern allein durch das Werk Christi. Der Apostel
sagt in Hebr 10 ausdrücklich, daß die Gläubigen durch den
Willen Gottes geheiligt seien durch das ein für allemal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi — daß Christus, nachdem Er ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht hatte, sich
für immerdar gesetzt habe zur Rechten Gottes als Beweis dafür,
daß das Werk vollkommen vollbracht und von Gott im Himmel
angenommen sei — daß Christus mit einem Opfer auf immerdar vollkommen gemacht habe, die geheiligt werden — und daß
der in uns wohnende Heilige Geist uns Zeugnis gebe von dem
vollbrachten und von Gott angenommenen Werke Jesu. Wer
geheiligt und für immer vor Gott vollkommen gemacht worden
ist, wird sicher auch vorbereitet und geschickt sein für den
Himmel.
Gott ist heilig, der Mensch ist unheilig; darum kann der
Mensch in der Gegenwart Gottes nicht bestehen. Aber der
Gläubige ist durch das einmal geschehene Opfer Jesu Christi
geheiligt, so daß er mit Freimütigkeit in die Gegenwart Gottes
treten kann. Er ist durch ein Opfer — für immer — vollkommen
gemacht, so daß von einem Zunehmen oder von einem Vorbereiten der Reife für den Himmel keine Rede mehr sein kann.
Der Begriff der Vollkommenheit schließt jeden Gedanken an
ein Wachsen und Zunehmen aus. Was mangelhaft ist, oder
verbessert werden kann, ist nicht vollkommen. Der Apostel
sagt daher auch ausdrücklich, daß alle Gläubigen auf Grund
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des vollbrachten Werkes Christi die Freimütigkeit haben, ins
Heiligtum einzutreten. Das Heiligtum aber ist die Gegenwart
Gottes. Im AT verbarg der Vorhang das Heiligtum vor den
Augen des Volkes. Jetzt aber ist der Vorhang zerrissen und
der Himmel geöffnet. Das vollbrachte Werk Christi hat uns
freien Zugang in den Himmel verschafft. Es bedarf jetzt durchaus keiner Vorbereitung für den Himmel mehr, da die Gläubigen bereits — was freilich im Grundsatz dasselbe ist — durch
den Glauben ins Heiligtum, in die Gegenwart Gottes eingegangen sind, um dort Seine gesegnete Nähe und Gegenwart
zu genießen.
Die Geschichte des Mörders am Kreuze bestätigt diese Wahrheit herrlich und treffend. Er hatte die Strafe, die er empfing,
völlig verdient. Am Morgen war er noch ein Lästerer Jesu, und
am Abend war er bereits mit Jesu im Paradies. In einem Augenblick wurde er aus einem Mörder ein Bewohner des Paradieses. Seine Sünden waren so vollkommen weggenommen,
sein Kleid war so vollkommen rein, daß das Auge Gottes nicht
einen einzigen Flecken zu entdecken vermochte. Er war gereinigt, abgewaschen und gerechtfertigt und ging ohne weitere
Vorbereitung in den Himmel ein. Ebenso wird es sein, wenn
der Herr Jesus kommt, um die Seinen in Seine Herrlichkeit
aufzunehmen. Dann werden alle noch auf Erden lebenden
Gläubigen in einem Augenblick, in einem Nu verwandelt werden, um dem Herrn in die Luft entgegengerückt und von Ihm in
das Vaterhaus gebracht zu werden. Es ist ganz natürlich, daß
der praktische Zustand dieser Gläubigen sehr verschieden sein
wird; der eine wird weniger, der andere mehr Erkenntnis haben,
der eine erst vor kurzem, der andere schon seit längerer Zeit bekehrt sein; ja man darf kühn behaupten, daß dann so viele
Verschiedenheiten wie Gläubige vorhanden sein werden. Und
dennoch macht das keinen Unterschied hinsichtlich des ihrer
harrenden Loses. Sie werden alle zugleich in einem Nu verwandelt werden und mit Jesu in den Himmel eingehen.
Ohne Zweifel gibt es große Unterschiede im praktischen Zustand der Christen. Der eine wandelt viel treuer, viel ernster
und gewissenhafter als der andere; der eine hat viel mehr
geistliche Erkenntnis und Erfahrung, weil er mehr in der Gegenwart Gottes lebt, als der andere. Aber selbst wenn alle
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Gläubigen gleich treu und gewissenhaft wandelten, würden dennoch große Unterschiede vorhanden sein. Es ist selbstverständlich, daß ein Vater in Christo, d. h. jemand, der viele Jahre mit
dem Herrn gewandelt hat, viel weiter gefördert ist als ein
Kind in der Gnade, das erst seit Wochen oder Monaten bekehrt
ist. Auch ist es wahr, daß der Gläubige, so lange der Herr ihn
noch hier läßt, viel zu lernen hat. Er muß wachsen in der Erkenntnis und Gnade, sich selbst und Gott — je länger um so
mehr kennenlernen und von mancher Unreinheit gereinigt
werden. Das aber schließt nicht aus, daß alle Gläubigen in
einer Beziehung vollkommen und einander gleich sind. Sie sind
nämlich alle berufen, gerechtfertigt und verherrlicht (Röm 8, 30.
Sie sind alle mit Christo gestorben und auferweckt und sitzen in
Ihm bereits in den himmlischen örtern (Eph2) .Sie sind alle Könige
und Priester, gereinigt und gewaschen in dem kostbaren Blut
Jesu (Offb 1). In diesen Beziehungen besteht kein Unterschied,
darin sind der Vater und das Kind in Christo einander gleich.
Mag man dreißig Jahre oder nur eine Stunde bekehrt sein —
man ist vor Gott rein, heilig und vollkommen. Mag man große
oder geringere Erkenntnisse besitzen, mag man stark oder
schwach sein — man ist in jedem Falle geschickt für den Himmel, geschickt für die Gegenwart Gottes. Das ist die Wirkung
des vollbrachten Werkes Christi. Nur von diesem Werk und
keineswegs von der Wirksamkeit des Heiligen Geistes in uns,
ist unser Zubereitetsein für den Himmel abhängig. Alle, die an
diesem Werke teilhaben, sind von dem Augenblick ihrer Bekehrung an passend für die Gegenwart Gottes. Das Blut Jesu
macht uns rein von aller Sünde. Möchten wir dies recht verstehen! Möchten unsere Herzen doch auf dem vollbrachten
Werke Christi ruhen und dort allein!
Warum aber müssen die Gläubigen denn nach ihrer Bekehrung
noch auf der Erde bleiben? Nicht, um für den Himmel zubereitet zu werden, sondern um hienieden ihren Gott und
Vater zu verherrlichen. Sie sind, wie bereits gesagt, von dem
Augenblick ihrer Bekehrung an reif für den Himmel. Aber der
Herr Jesus sagte im Blick auf Seine Jünger zu dem Vater:
„Gleichwie du mich in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie
in die Welt gesandt" (Joh 17, 18). Und wozu hatte der Vater
Ihn in die Welt gesandt? Um Seinen Willen zu tun. Nun, zu
113
demselben Zweck sind auch wir durch den Herrn Jesum in die
Welt gesandt. Gott will, daß die Seinigen mitten in einer bösen
Welt in allen Beziehungen des Lebens Seinen Namen verherrlichen und großmachen. Durch das Blut Jesu geheiligt, werden
wir berufen, als Heilige zu wandeln. Durch das Werk Jesu
gerechtfertigt, werden wir berufen, uns als Gerechtfertigte zu
offenbaren. Tun wir es in aller Treue, so werden wir einmal
unseren Lohn vom Herrn empfangen. Denn neben der ewigen
Herrlichkeit ist uns auch noch ein Lohn für unsere Arbeit verheißen. Dieser Lohn aber wird abhängen von unserer Treue, in
der wir für den Herrn gelebt und gearbeitet haben. In einem
der Gleichnisse bekommt einer zehn, ein anderer fünf Städte.
Den Lohn der zwölf Apostel hat der Herr bereits festgestellt;
sie werden sitzen auf zwölf Thronen, richtend die zwölf Stämme Israels. Hieraus geht hervor, daß der Lohn während der
Regierung Christi im tausendjährigen Reich ausgeteilt werden
wird. Besteht also hinsichtlich der ewigen Herrlichkeit und des
Zubereitetseins für den Himmel kein Unterschied zwischen den
Gläubigen, so gibt es doch einen großen Unterschied auf den
Lohn. Der eine wird viel, der andere wenig, der dritte vielleicht
nichts empfangen (1. Kor 3). Der Grund zu dieser Verschiedenheit liegt darin, daß der Lohn von der Treue abhängt, in der
wir für den Herrn gelebt und Ihm gedient haben, während die
Herrlichkeit im Himmel allein von dem vollbrachten Werke
Christi abhängig ist. Diese Zusammenhänge recht zu verstehen,
ist wesentlich für den Frieden unserer Seele, sowie für die Verherrlichung Gottes. Für den Frieden unserer Seele, weil wir uns
sonst nicht ruhig und glücklich in der Gegenwart Gottes fühlen können; denn wenn wir noch für den Himmel zubereitet
werden müssen, so sind wir auch noch nicht geschickt für die
Gegenwart Gottes; und wenn dieses nicht der Fall ist, so kann
unser Herz unmöglich ruhig und glücklich sein, — für die Verherrlichung Gottes aber, weil wir sonst bestrebt sein werden,
uns für den Himmel zuzubereiten und uns nicht um den Dienst
Gottes kümmern können; denn wie könnten wir daran denken,
für den Herrn zu wirken, wenn wir uns noch nicht reif für den
Himmel wissen?
O geliebte Brüder, laßt uns mit einfältigem Herzen in einem
gläubigen Gemüt das Zeugnis Gottes annehmen über die Allgenugsamkeit des Werkes Jesu und über den Zustand aller,
114
die auf dieses Werk vertrauen; denn nur dann werden wir mit
Freuden unseren Weg wandeln können, und der Name unseres
Gottes wird durch uns verherrlicht werden!
Über christliche Erfahrung
Es gibt wohl keinen Begriff, über den unter den Kindern Gottes
ein größere Verwirrung herrscht, als über das, was man „christliche Erfahrung" nennt. Es ist z. B. durchaus nichts Ungewöhnliches, daß manche Christen ihre vielfältigen Zweifel,
die Furcht und Ungewißheit in ihrer Seele als notwendige
Erscheinungen betrachten und dazu neigen, diejenigen als leichtfertig zu bezeichnen, die ihre Pfade mit Freuden ziehen. Es ist
daher unser Wunsch, unter der Leitung des Herrn die Grundsätze klarzustellen, die wir hierzu im Worte Gottes finden.
Wir wagen es kühn zu behaupten, daß die Ursache der Zweifel,
der Furcht und Ungewißheit teils in der mangelhaften Erkenntnis des vollkommenen Werkes Christi, teils in dem nachlässigen Wandel der Gläubigen zu suchen ist. Entweder man will
den Willen des Herrn nicht kennenlernen, um in Unterwürfigkeit folgen zu können, oder man kennt den Willen Gottes, verspürt aber keine Neigung ihm Folge zu leisten.
Zu dem ersten Punkt sei von folgender Frage ausgegangen: Ist
das Evangelium der Gnade Gottes so vollkommen und vollendet, daß ein Gläubiger mit Vertrauen und Zuversicht sagen
darf, seine Sünden seien vergeben — er sei ein Kind Gottes? —
Gottlob, er darf es ohne Rückhalt sagen. Betrachten wir dies
jedoch etwas näher.
Was ist der Mensch von Natur aus? — Ein Kind des Zornes —
ein Feind Gottes — tot in den Vergehungen und Sünden. Das
ist nach dem Worte Gottes der Zustand aller, vom König bis
zum Bettler herab. „Es ist keiner, der gerecht ist". — Und wie
hat Gott dem Sünder gegenüber gehandelt? In unendlichem
Erbarmen, indem Er Seinen eingeborenen Sohn sandte, der,
um Seinen Willen zu tun, von einem Weibe geboren wurde, als
ein heiliges Kind vor Gott und Menschen wandelte, und als
115
ein gerechter Mensch vom Anfang bis zum Ende Seines Dienstes die Anerkennung Gottes fand. Er wurde jedoch als fleckenloses Lamm zur Sünde gemacht, mit den Sünden der Menschen beladen und von Gott verlassen, der keine Gemeinschaft
mit Sünde haben kann und „dessen Auge zu rein ist, als daß
er die Sünde ansehen könnte". Alle Wogen und Fluten Jehovas schlugen über dem Haupte des sterbenden Erlösers zusammen; Er ertrug vollständig den gerechten Zorn Gottes über
alle Sünden, die Ihm zugerechnet und auferlegt wurden — ein
deutliches Vorbild hiervon ist der lebendige Bock (3. Mo 16,
21. 22). Er hat „seine Seele ausgeschüttet in den Tod" (Jes 53,
5. 6. 12). Er starb für Sünder (Röm 5. 8).
Ist aber das am Kreuze vergossene Blut Jesu in Gottes Augen
von so hohem Wert, daß es den Sünder erlösen kann? Ist dieses
Blut zur Befriedigung der Gerechtigkeit Gottes hinreichend, so
daß der Glaubende völlige Vergebung und Reinigung darin
finden kann? Gottlob! die Auf erweckung Jesu liefert uns den
Beweis für die Wertschätzung dieses Blutes von Seiten Gottes
— ja, den sicheren Beweis, daß jede Sünde, für die Er starb, für
immer hinweggetan ist; denn Er, „der um unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen
auferweckt worden ist", hat sich — wie jemand, der sein Werk
vollendet hat — erst dann „für immer zur Rechten Gottes gesetzt, nachdem er durch ein Opfer auf immerdar vollkommen
gemacht hat, die geheiligt werden" (Röm 4, 25; 5, 21; Hebr ac,
12—18). Ja, wäre auch nur ein Flecken auf Jesu geblieben, so
hätte Er nicht vor Gott bestehen können.
Der Sünder, der durch die Gnade im Glauben zu Jesu Christo
gekommen ist, wird von Gott so betrachtet, daß sein Gericht
am Kreuze Christi vollzogen worden und daß er Christus auch
in der Auferstehung gleichförmig geworden ist. Er ist fleckenlos und heilig wie Christus fleckenlos und heilig ist (Gal 2, 20;
Eph 1, 4; 2, 5. 6). Nichts vermag die Kostbarkeit des Blutes zu
mindern, nichts das Kindesverhältnis zu zerstören. Der Geist,
womit eine lebendiggemachte Seele versiegelt ist, ist der Geist
der Kindschaft, in welchem sie Gott als „Abba, Vater" anruft.
Es ist nicht der Geist der Furcht, sondern der Kraft und der
Liebe (2. Tim 1, 7). Warum aber wandeln nun noch so viele
Christen in Dunkelheit und Ungewißheit? —
116
Wie ernst tadelt der Herr Jesus die Zweifler: „O du Kleingläubiger, warum zweifeltest du?" — „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig!" — Die Furcht ist die natürliche Folge der Zweifel
und ein Hindernis für jeden gesegneten Dienst. „Furcht ist
nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die
Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist
nicht vollendet in der Liebe" (1. Joh 4,18), d. h. er glaubt nicht
an die Vollkommenheit der Liebe Gottes. Das aber ist sehr zu
beklagen; denn „Gott ist Liebe". Meine Seele ist berufen, nicht
in meiner Liebe, die unvollkommen ist, sondern in der vollkommenen Liebe Gottes zu mir zu ruhen. Es ist daher beachtenswert, daß die Ungewißheit in meiner Seele eine Folge meines
Ungehorsams ist. Beides ist unzertrennlich. Wo Ungewißheit
ist, da ist auch Ungehorsam, und nur der Ungehorsam ist es,
der den Gläubigen hindert, sich im Herrn zu freuen.
Das bezeugt das Wort Gottes sehr deutlich. Schon die folgenden vier Stellen, wie viele andere auch noch hinzugefügt werden könnten, geben darüber ausreichend Klarheit „Freuet euch
allezeit" (1. Thess 5, 16). „Freuet euch in dem Herrn allezeit!
wiederum will ich sagen: Freuet euch" (Phil 4, 4)! „Wenn ihr
dies wisset, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut" (Joh 13, 17).
„Und dies ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und
euch verkündigen, daß Gott Licht ist und gar keine Finsternis
in ihm ist. Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm
haben und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun
nicht die Wahrheit. Wenn wir aber in dem Lichte wandeln, wie
er in dem Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft miteinander,
und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller
Sünde" (1. Joh 1, 5—7).
Wenn ich mich nicht allezeit erfreue, so unterlasse ich etwas,
das mir zu tun geboten ist. Beachten wir wohl die Ermahnung:
„Freuet euch in dem Herrn"! In mir selbst ist nichts vorhanden,
wodurch diese Freude hervorgerufen werden könnte. Viele
Gläubige suchen in sich diese Freude, und indem sie ein zunehmendes Maß an Bösem — ich sage, ein zunehmendes Maß,
weil, je klarer das Licht scheint, desto deutlicher die Sünde hervortritt — in sich wahrnehmen, sind sie beunruhigt. Wenn sie
das, was Gott über das Fleisch ausgesprochen hat, völlig glaub117
ten (Joh 6, 63), so würden sie nichts anderes erwarten, als daß
bei der Zunahme des Lichts die verborgene Gottlosigkeit sich
mehr und mehr zu erkennen gibt. Der Heilige Geist verbessert
nicht die alte adamitische Natur; Er macht sie zunichte. Es ist
die neue Natur, in der und durch die Er allein wirken kann.
Jeder Gedanke der alten Natur muß in „Unterwürfigkeit" gebracht werden (siehe Röm 8, 13; 2. Kor io, 5). Hieraus geht
klar hervor, daß die Aufforderung an den Christen, sich „allezeit zu freuen", nicht in ihm selbst oder in äußeren Dingen
oder Umständen verwirklicht werden kann; es heißt vielmehr:
„Freuet euch in dem Herrn allezeit!" Und was ist der Grund?
— Sowohl für den Sünder, als auch für den Gläubigen ist alle
Fülle in Jesu. Als das Lamm Gottes vergoß Er Sein Blut, damit
die Sünden vergeben werden sollten; als der Hohepriester ist Er
jetzt droben der Repräsentant Seines Volkes und hat Mitleiden
mit den Schwachheiten der Seinigen. Als der Bräutigam Seiner
Kirche wird Er bald wiederkommen, um sie — zum Beweis, wie
teuer sie Seinem Herzen ist — zu Sich zu nehmen und Seinen
Thron und Seine Herrlichkeit mit ihr zu teilen; als der Erstgeborene vieler Brüder wird Er die Seinigen zu ihrem Gott und
Vater bringen und sie leiten in ihrem Lobgesang. „Freuet euch
in dem Herrn allezeit"!
„Aber" — wird vielleicht jemand einwenden — „den Willen
habe ich wohl, jedoch mir fehlt die Kraft zum Vollbringen".
Nun — möchten wir antworten — fordert denn Gott
irgend etwas von uns, wozu Er uns nicht die nötige
Kraft verleiht? — „Aber gerade diese Kraft mangelt
mir!" wirft jener ein. Wie sehr sind doch unsere Herzen bestrebt, jeden Einwand aufzugreifen, der geeignet erscheint, alle Schuld auf Gott zu werfen. Es ist sehr demütigend
— und das Fleisch sträubt sich, es anzuerkennen, daß jede Unsicherheit und Ungewißheit ihren Grund in uns selbst haben.
Aber die göttliche Wahrheit, daß „Gott Licht ist und keine
Finsternis in ihm ist", bleibt unverändert, wie gern sie das
Fleisch auch leugnen möchte. „Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit Gott haben und wandeln in der Finsternis, so
lügen wir und tun nicht die Wahrheit". Es ist wohl zu beachten,
daß nicht gesagt wird: „Wir kennen nicht die Wahrheit", sondern daß es heißt: „Wir tun nicht die Wahrheit"! Und dies er118
innert uns stark an das bereits angeführte Wort Jesu: „Wenn
ihr dies wisset, glückselig seid ihr, wenn ihr es tut". Warum
also fehlt es bei dem einen oder anderen so oft an der Freude
des Herzens? Es ist nicht schwer, die richtige Antwort zu finden — er „tut nicht die Wahrheit". Man beachte wohl, von wem
Gott begehrt, daß er etwas tun soll — gewiß nicht von dem
Sünder. Vor diesem entfalte man das Evangelium der Gnade
Gottes, das vollendete Werk Christi und den in der Auferstehung erwiesenen vollen Wert des Blutes Christi; aber das in
die Familie Gottes aufgenommene Kind ermahne man zum Gehorsam, diesem einzigen Wege zur Freude; denn wenn es den
erkannten Willen Gottes nicht tut, so kann es sich auch nicht
freuen.
Ach, wie oft findet man einen solchen freudelosen Zustand
selbst bei denen, die Lehrer sein wollen! Und wenn diese der
Herde eine Nahrung vorsetzen, die der Erzhirte für sie nicht
bestimmt hat, ist es da ein Wunder, wenn die Schafe nur ein
höchst kümmerliches Dasein fristen? Diese Verantwortlichkeit
ruht auf allen. „Schändlicher Gewinn" oder ein Trachten nach
Selbsterhöhung (1. Petr 5, 2—4) mögen die Triebfedern sein;
Christus mag auch „aus Neid und Streit" (Phil 1, 15) verkündigt werden — in jedem Falle lädt ein Lehrer in diesem Sinne
ein schweres Urteil auf sich, während an die Hörer die ernste
Ermahnung ergeht: „Habt acht auf das, was und wie ihr höret;
denn das Wort, welches — wie der Herr sagt — euch „richten
wird am letzten Tage", soll euch jetzt zum Prüfstein alles dessen
dienen, was gesprochen und getan wird, und wenn ihr die
Wahrheit höret, so sehet zu, daß ihr euch dieser unterwerft;
denn dann wird sie Früchte bringen zur Verherrlichung Gottes.
Es kann sicher nicht stark genug betont werden, daß die Verherrlichung Gottes und die Freude des Gläubigen unzertrennlich sind; wer jene vernachlässigt, verliert auch diese. „Wenn
dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein".
Es ist bereits gesagt worden, daß man gleichgültig sein und
damit in Finsternis wandeln kann, weil man nicht trachtet,
den geoffenbarten Willen Gottes kennenzulernen, oder, wenn
man ihn erkennt, nicht unterwürfig ist. Gott hat z. B. die Seelen
lebendiggemacht und ihnen den Geist der Kindschaft gegeben,
damit sie rufen können: „Abba, Vater"! In Seiner grenzenlosen Fürsorge hat Er den Gläubigen auch durchaus notwendige
119
Verhaltungsmaßregeln hinsichtlich ihres Zusammenkommens
und ihrer gemeinschaftlichen Auferbauung gegeben. Wenn
aber nun einem Kind Gottes in dieser Beziehung der Wille
Seines Vaters gleichgültig ist, oder wenn es seine eigenen Wege
geht, obgleich es diesen Willen kennt, wie kann es da erwarten,
„erfüllt mit Freude" und voll Licht zu sein? Der eigene Wille
eines Gläubigen bringt stets bittere Früchte, während die Unterwürfigkeit unter den Willen Gottes in allen Umständen der
einzige, wahrhaft richtige Weg zur Freude und zum Glück ist
(s. 2. Petr 1, 5—9). Abraham, der in gläubigem Gehorsam seine
Verwandtschaft und sein väterliches Haus verließ und sich der
Gemeinschaft Gottes erfreute, wurde „Freund Gottes" genannt und empfing, da ihm der Herr Seinen Willen offenbarte, Kenntnis von dem, was Gott zu tun beabsichtigte, —
Lot hingegen, ebenfalls ausgegangen aus dem Vaterhause,
suchte hernach seine Bequemlichkeit in Sodom, weilte dort
wissentlich in der Mitte der Gottlosen, quälte täglich seine gerechte Seele unter den ihn umgebenden Werken der Finsternis
und wußte nichts von dem herannahenden Gericht, obwohl er
gerettet wurde, wie alle Kinder Gottes gerettet werden (Joh 10,
28), Lot jedoch so wie durchs Feuer (1. Kor 3,15). Befinden wir
uns nun in der glücklichen Lage Abrahams oder in dem unglücklichen Zustande Lots? Man frage — um auf das oben angeführte Beispiel zurückzukommen — die Christen, die irgendeiner größeren oder kleineren Vereinigung angehören, zu welchem Zwecke sie sich eigentlich versammeln, und wir sind gewiß, daß sie außerstande sein werden, eine schriftgemäße Antwort zu geben. Wie viele von ihnen gehen da und dorthin,
vielleicht um diesen oder jenen Prediger zu hören! Obwohl das
an und für sich nichts Böses ist, so ist doch weder ein „gemeinschaftliches Auferbauen in Liebe", noch Anbetung oder Gottesdienst, wo jedes Glied einen verantwortlichen Platz einnimmt,
weil der Leib nicht aus einem Gliede, sondern aus vielen Gliedern besteht (x. Kor 12). Ach, wie wenig wird der durch die
Schrift bezeichnete Zweck des Zusammenkommens erkannt!
Das aber beweist nur zu deutlich, daß es einer großen Zahl von
Christen nicht darum geht, den Willen des Herrn in dieser
Beziehung kennenzulernen.
Sicher betrachtet der Herr Jesus unser Zusammenkommen nicht
als eine Angelegenheit, über die wir nach unserem Gutdünken
120
zu beschließen haben. „Dieses tut zu meinem Gedächtnis"! Das
war Sein Gebot, als Er in der Nacht, da Er verraten wurde, mit
den Seinigen das Brot brach und den Kelch teilte; das aber war
es auch, was sie als ein Leib zu tun hatten, um, da sie alle durch
dasselbe Blut erlöst und mit demselben Geist erfüllt waren,
ihrer Einheit Ausdruck zu geben (x. Kor 10, 16—17). Nach
diesem Gebot kamen die Jünger am Abend des ersten Tages
der Woche, des Auferstehungstages — nicht am siebenten Tage,
am jüdischen Sabbath (siehe Kol 2, 16) — zusammen, um das
Brot zu brechen (Apg 20, 7). In einer solchen Versammlung
sollte nach Abschluß des Mahles wohl auch Gelegenheit gegeben werden, um jene Gaben auszuüben, die der Herr, als das
Haupt der Versammlung, zur Auferbauung des Leibes gegeben
hat (Eph 4, 7—16; Röm 12, 4—9; 1. Kor 12, 4—7)*. Christus,
unser Aufseher und Hirte (1. Petr 2, 25), teilt nach Seiner
Weisheit diese Gaben aus, und er ist der einzige, der jemanden
durch Seinen Geist zu irgendeinem Dienst berufen kann. Eine
sogenannte Ordination, wie sie jetzt von Menschen geschieht,
ist, gelinde gesagt, bloße Nachahmung, eine „Form ohne
Kraft". Durch das Auflegen der Hände der Apostel wurden
sehr wohl besondere Gaben mitgeteilt. Wenn nun aber die
römischen Bischöfe dies nachahmen, so sind das sicher wirkungslose Handlungen, zu denen sie keineswegs berechtigt
sind. Das Vorgeben auf diesem Wege an einer apostolischen
Amtsfolge festhalten zu wollen, ist eine Erfindung, wodurch
Satan in den Stand gesetzt wird, seine eigenen Diener unter
dem Schein der Gottseligkeit zu Ämtern und Würden zu bringen (2. Kor 11, 13—15). Paulus befahl bei seinem Abschied die
Ältesten der Versammlung zu Ephesus nicht einem seiner
Nachfolger an, sondern sagte: „Und nun befehle ich euch Gott
und dem Worte seiner Gnade, welches vermag aufzuerbauen"
(Apg 20, 32; siehe auch 2. Tim 3, 16. 17). Gott, Der durch die
*) Hier dürfte eine Bemerkung über den Wirkungskreis dessen angebracht
sein, der das Evangelium verkündigt. Sein Wirkungskreis ist die Welt. „Gehet
hin in alle Welt und lehret alle Völker". — Der Wirkungskreis des Hirten und
des Lehrers hingegen ist die Versammlung. „Hütet die Herde Gottes" (1. Petr
5, 2); Apg 20, 28). Wohl hat der Herr angeordnet, daß die, welche das Evan=
gelium verkündigen, sich auch vom Evangelium nähren, und die, welche die
Herde hüten, von der Versammlung nach Bedürfnis unterstützt werden sollen;
aber ein festes Gehalt ist ebenso schriftwidrig wie die Erhebung von Zehnten
und Kirchensteuern. Alles sollte willig und nicht mit Verdruß oder aus Zwang
geschehen; denn Gott liebt den fröhlichen Geber (1. Kor 9, 14; 2. Kor 9).
121
Apostel Seine Ratschlüsse vollkommen geoffenbart und durch
Johannes, den letzten der Apostel, Seine Offenbarungen abgeschlossen hat, hat niemanden zu deren Nachfolger bestimmt.
War Paulus dazu autorisiert, sich einen Nachfolger zu wählen:'
Keineswegs. Wer gibt denn jetzt einem Bischof oder einem
Konsistorium das Recht, jemanden zu ordinieren?
Wenn man im dritten Johannesbrief die Worte liest: „Ich
schrieb etwas an die Versammlung, aber Diotrephes, der gern
unter ihnen der erste sein will, nimmt uns nicht an" (V 9), so
begegnet man einem Zustand, den wir in unseren Tagen fast
überall antreffen. Es ist in der Tat Gnade Gottes, daß all diese
Übel, welche sich in der letzten Zeit in so erschreckendem Ausmaß zeigen, schon in den Tagen der Apostel gefunden wurden;
denn deren Ermahnungen können uns nun als Warnungen und
zur Richtschnur dienen. Und welche Ermahnung gibt der Apostel? Sagt er etwa, wie so mancher in unseren Tagen: Man darf
eine Vereinigung nicht verlassen, und zwar auch dann nicht,
wenn viel Böses darin gestattet wird?" Im Gegenteil. Er besteht
darauf: „Seid nicht Nachahmer des Bösen, sondern des Guten"!
Wie ernst und entschieden klingen auch folgende Worte: „In
den letzten Tagen werden schwere Zeiten kommen; denn die
Menschen werden eigenwillig sein . . ., eine Form der Gottseligkeit haben, aber deren Kraft verleugnen; und von diesen
wende dich weg" (2. Tim 3, 1—5). — „Wende dich ab vom
Bösen und tue Gutes"!
Wenn man nun in diesen Dingen ungehorsam ist, wie kann
man dann freudige Erfahrungen erwarten? Wie kann man sich
dann freuen im Heiligen Geiste, wozu uns das Wort Gottes
auffordert? Der Heilige Geist ist die einzige Kraft der Freude.
Betrübet Ihn, und mit eurer Freude ist es vorbei! Es ist wahr,
die Gläubigen sind — mögen sie ihre Vorrechte erkennen oder
nicht — für immer gerettet; sie sind Kinder Gottes, Miterben
Christi, der Tempel des Heiligen Geistes; aber sie können unwürdig, im Ungehorsam wandeln (1. Thess 2, 12); sie können
den Heiligen Geist betrüben (Eph 4, 30) und sich des Genusses
einer glücklichen Gemeinschaft mit Gott berauben.
Einer kirchlichen Partei oder Sekte anzugehören, wird von dem
Heiligen Geiste, Der alle Gläubigen zu einem Leib getauft hat.
122
verurteilt; es ist ein Mittel, um der wahren Freude den Eingang
im Herzen zu verwehren. „Dieses gebiete ich euch, daß ihr
einander liebet" (Joh 15, 17), sagt der Herr Jesus, und der
Heilige Geist wiederholt diese Ermahnung durch die ganze Heilige Schrift hindurch (lies mit Aufmerksamkeit 1. Kor 1,12. 13;
3, 4. 5; Hebr 10, 24. 25; 2. Kor 6,1.4; Joh 13, 11. 12; 1. Joh 5,
10—21; 1. Petr 1, 22. 23). Nur durch den Glauben an Christum
Jesum, durch Den ich gerettet bin, bin ich auch zur Gemeinschaft mit den Heiligen berechtigt; wenn eine der Kirchengemeinschaften mehr oder weniger fordert, so sind das menschliche Forderungen und nicht Anordnungen Gottes. Dagegen ist
die Zucht in der Versammlung zur Aufrechterhaltung der Wahrheit und der Heiligkeit notwendig (1. Kor 5; 1. Tim 1, 19. 20).
Wie aber kann man freudige Erfahrungen machen in den Stunden schwerer Prüfungen? Die Prüfung des Glaubens ist nicht
von Furcht, sondern von Freude begleitet und offenbart den
Zustand der Seele — „als Traurige, aber allezeit uns freuend"
(2. Kor 6, 10). „Die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es nötig ist,
betrübt seid durch mancherlei Versuchungen; auf daß die Bewährung eures Glaubens viel köstlicher als die des Goldes, das
vergeht, aber durch Feuer erprobt wird, erfunden werde zu Lob
und Herrlichkeit und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi;
welchen ihr, obgleich ihr ihn nicht gesehen, liebet; an welchen
glaubend, obgleich ihr ihn jetzt nicht sehet, ihr mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlocket, indem ihr
das Ende eures Glaubens, die Errettung der Seelen davontraget" (1. Petr i, 6—9). „Geliebte, laßt euch das Feuer der
Verfolgung unter euch, das euch zur Versuchung geschieht,
nicht befremden, als begegne euch etwas Fremdes; sondern
insoweit ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid, freuet euch,
auf daß ihr auch in der Offenbarung seiner Herrlichkeit mit
Frohlocken euch freuet" (I. Petr 4, 12. 13). Wir sind sicher in
Gefahr, in den Trübsalen, gleich Hiob und Jonas, zu ermatten;
aber nichtdestoweniger leitet Gott alle Dinge für uns zum
Guten und sollte daher von uns stets gepriesen werden, anstatt
Ihn durch unsere Zweifel zu verunehren.
Die Wüste, durch die wir für eine kurze Zeit pilgern, hat Dornen und rauhe Pfade, wie auch ihre reißenden Tiere; aber wir
123
sind von Ägypten erlöst und wandeln himmelwärts zu unserer
ewigen Ruhe. Gott aber ist für uns und mit uns; warum sollten
wir uns fürchten? Nur eine weltliche Gesinnung, eine Rückkehr
des Herzens nachÄgypten, wovon wir durch den Glauben erlöst
sind (Gal i, 4), oder Mißtrauen gegen den Herrn, der so viel
Großes an uns getan hat, kann unsere Freude trüben. Möge Er
doch unseren Glauben stärken. O mein christlicher Leser, betrachte doch das vollbrachte Werk, die gegenwärtige Liebe und
die verheißene Herrlichkeit und frage dich dann, ob du der
Welt, die Ihn kreuzigte, gleichförmig sein darfst (1. Kor 10, 6;
Hebr 10, 37; 1. Joh 2, 15. 16; Joh 15, 18—21; Röm 12, 2; Gal 6,
14).
In dem Maße, wie wir treu und aufrichtig sind, wird auch
unsere Freude in der Hoffnung der Herrlichkeit bei de'r Wiederkunft Christi zunehmen! Die Gläubigen unserer Tage sind
meistens der Welt so sehr gleichförmig geworden, daß sie vergessen haben, auf ihren Herrn zu warten und sich in Bereitschaft zu halten, um Ihm entgegengehen zu können. Und wie
nahe ist Seine Ankunft (siehe Mt 24, 42; 25, 13; Joh 14, 5;
Apg 1, 11; 1. Kor 1, 7; Phil 3, 20. 21; 1. Thess 1, 9. 10; 4,
15—18; Tit 2, 13. 14; Hebr 9, 28; Jak 5, 7. 8; 1. Petr 1, 7—
13; 1. Joh 3, 2. 3; Röm 8, 24; Offb 1, 7; 22, 20). Die Wiederkunft Christi für Seine Heiligen und mit Seinen Heiligen sind
zwei ganz verschiedene Geschehnisse; das letztere steht in Verbindung mit dem Gericht über die Gottlosen (2. Thess 1, 7—10;
Jud V. 14—16). Aber ein Gläubiger kann — obwohl er, von der
Welt getrennt, sich mit Brüdern gemeinsam zur gegenseitigen
Auferbauung in Liebe, nach der empfangenen Gabe eines
jeden, versammeln, oder am Tische des Herrn in der Erwartung
Seiner baldigen Wiederkehr Seinen Tod verkündigen — alj
einzelner den Heiligen Geist betrüben, indem er sein Gewissen
verunreinigt. Paulus war daher stets bemüht, „allezeit ein
Gewissen ohne Anstoß vor Gott und Menschen zu haben", und
das sollte auch bei uns der Fall sein, weil es zudem von großer
Bedeutung für unsere äußere Stellung und unseren äußeren
Beruf (Eph 4,28), sowie für die Hingabe an die Fürsorge Gottes
hinsichtlich dessen ist, was unsere äußeren Bedürfnisse betrifft
(Phil 4, 11).
Wenn ich gegen Gott allein gesündigt habe, so habe ich auch
vor Gott allein zu bekennen; habe ich hingegen gegen Menschen
124
und Gott gesündigt, so habe ich auch vor Menschen und Gott
mein Bekenntnis abzulegen. Die Gnade unseres Gottes und
Vaters ist in solchen Umständen besonders köstlich und das
Blut Jesu von unendlichem Wert: auf der Grundlage dieser
durch das Blut der Versöhnung bewirkten Gnade kann die
Wiederherstellung eines fehlenden, aber gebeugten Kindes zu
seinen herrlichen Vorrechten stets geschehen (Jak 5, 16; 1. Joh
1,9)-
Das ist in der eindringlichsten Weise im 3. Buch Mose dargestellt, wo Gott mit Israel, nachdem es unter dem Gesetz gefehlt hatte, in Gnade handelte. Das Opfer am großen Versöhnungstag befähigte das Volk, nachdem das Blut an und vor den
Gnadenstuhl gesprengt worden war, wieder den Platz von
Anbetern einzunehmen, d. h. seinen Gottesdienst zu halten
und seine Brandopfer, Speisopfer und Friedensopfer darzubringen, von welchen gesagt ist, daß sie „ein lieblicher Geruch
dem Jehova waren" (3. Mo 1, 9). Hatte sich jemand durch Ungehorsam dieses Vorrechts beraubt, so war von Seiten Gottes
zu seiner Wiederherstellung Vorsorge getroffen. Es mußte ein
Sündopfer dargebracht werden (3. Mo 5), und nachdem der
Schuldige seine Sünden bekannt hatte, durfte er wieder als
Anbeter am Gottesdienst teilnehmen. Im 4. Buch Mose ist das
noch näher ausgeführt (Kap 19). Die „rote junge Kuh" wurde
als ein Sündopfer „außerhalb des Lagers" verbrannt und die
mit Wasser vermischte Asche wurde auf den verunreinigten
Israeliten gesprengt und auf diese Weise die Reinigung von
der Sünde bewirkt. Die Gläubigen bedürfen, daß „ihre Herzen
besprengt" und sie „also gereinigt sind vom bösen Gewissen"
(Hebr 10, 22); denn das vergossene Blut heiligt, und das gesprengte Blut reinigt (Hebr 13, 12; 1. Petr 1, 2). Es ist daher
nur eine Geringschätzung der gnädigen Anordnung Gottes von
unserer Seite, die uns aus Seiner glückseligen Gemeinschaft
fernhält, während Er uns so gern in Seiner nächsten Nähe
haben möchte.
Ich füge hier nur noch einige Bemerkungen über die Psalmen
hinzu, weil sich häufig hierauf beruft, wer seine trüben Erfahrungen zu verteidigen trachtet. Die Psalmen sind, genau
genommen, nicht die Erfahrungen eines Christen; sie tragen
vielmehr, mögen sie sich auf die Vergangenheit oder die Zu125
kunft beziehen, einen durchaus jüdischen Charakter. Beachten
wir, was der Herr Jesus nach Lukas 24, 44. 45 zu Seinen Jüngern sagte. Während die Evangelien die Urkunde alles dessen
sind, was „Jesus begann zu tun und zu lehren", zeigen sich in
vielen Psalmen die Erfahrungen Seiner Seele. Gekommen in
die Welt, um den Willen Seines Vaters zu tun, hören wir Ihn
als den Sündenträger sagen: „Denn Übel bis zur Unzahl haben
mich umgeben; meine Ungerechtigkeiten haben mich erreicht,
daß ich nicht sehen kann" (Ps 40, 7. 12), und wiederum: „Mein
Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen" (Ps 22, 1;
Mt 27, 46)? „Ihn, der Sünde nicht kannte, hat Gott für uns
zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden
in ihm" (2. Kor 5, 21). Gott wandte Sein Angesicht von Ihm ab,
damit es niemals nötig sei, es vor uns zu verbergen. Als der
Auferstandene sagt Er in den Psalmen: „Er streckte seine Hand
aus von der Höhe; er nahm mich; er zog mich aus großen
Wassern; er errettete mich von meinem starken Feinde" (Ps 18,
16. 17). Als der Gerechte ruft Er: „Jehova vergalt mir nach
meiner Gerechtigkeit; nach der Reinheit meiner Hände erstattete er mir" (Ps 18, 20). Als den Propheten finden wir Ihn in
Ps 18, 37—50; 35, 9. 10; als den Priester in Ps 60, und als den
König, der in Gerechtigkeit regiert und während Seiner Regierung die Fülle der Segnungen unter den Juden und Nationen
ausströmen läßt, in Ps 96; 97; 98; auch in Jes 9, 7; Lk 1, 32. 33
und anderen Stellen.
Es ist daher sicher verkehrt, wenn sich ein Gläubiger wegen
seiner trüben Erfahrungen auf die Psalmen zu stützen sucht.
Gott spricht: „Wer Lob opfert, verherrlicht mich" (Ps ^o, 23),
und im Hebräerbrief werden wir ermahnt: „Durch ihn nun laßt
uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen, das ist die
Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen" (Hebr 13, 13).
So hat der Gott aller Gnade vollkommene Vorsorge dafür getroffen, daß eine ungestörte Freude in unseren Herzen wohnen
kann, und nur unser eigner Ungehorsam hindert uns daran, die
Freude völlig zu genießen.
„Daher, meine geliebten und ersehnten Brüder, meine Freude
und Krone, stehet also fest im Herrn, Geliebte! Ich ermahne —
einerlei gesinnt zu sein im Herrn . . . Freuet euch in dem Herrn
126
allezeit! wiederum will ich sagen: Freuet euch! Laßt eure Gelindigkeit kundwerden allen Menschen; der Herr ist nahe. Seid
um nichts besorgt, sondern in allem laßt durch Gebet und
Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden;
und der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure
Herzen und euren Sinn bewahren in Christo Jesu" (Phil 4,1—7).
Die Liebe und Herrlichkeit Jesu
(Markus 6)
Es ist überaus köstlich, die Handlungen Jesu zu betrachten.
Jede Tat Seines Lebens war eine Offenbarung der Liebe Gottes.
„Holdseligkeit war ausgegossen über seine Lippen". Die Liebe
Seines Herzens, Seine erbarmende Güte, Seine zärtliche Sorge
fanden in jedem Seiner Worte und in jeder Seiner Handlungen
ihren Ausdruck. Gutes tuend durchschritt Er das Land. Er half
in jeder Not, räumte alle Schwierigkeiten aus. Seine Geduld
war unerschöpflich, Seine Bereitwilligkeit unveränderlich. Je
mehr wir Ihn anschauen, desto mehr fühlt sich unser Herz von
Ihm angezogen, so daß wir mit dem Psalmisten ausrufen möchten: „Du bist schöner als die Menschensöhne!"
Das kommt auch überzeugend in den Begebenheiten zum Ausdruck, die in Markus 6, 30—44 geschildert werden. Die zwölf
Apostel kommen von ihrer Reise durch das Land Israel zu
Jesu zurück und berichten Ihm alles, was sie getan und gelehrt
hatten. Der Herr hatte sie in die Städte Israels ausgesandt, das
Evangelium zu verkündigen, und Er hatte ihnen Macht gegeben, Wunder zu tun. Und nun, nach Vollendung ihres Auftrages, kehrten sie zu Ihm zurück, höchst befriedigt von dem
Werk, das sie verrichtet hatten. Dies läßt uns die Antwort Jesu
klar erkennen. Anstatt sie zu loben und in den Ton ihrer
Freude einzustimmen, sagt Er: „Kommt ihr selbst her an einen
öden Ort besonders und ruhet ein wenig aus". — Welch eine
Weisheit! welch eine Liebe! Wie gut ist es, wenn wir mit
allem, was uns bewegt, zu Jesu kommen. Ihm können wir
unsere Freude, unsere Mühsale und Beschwerden mitteilen. Er
127
ist der rechte Mann, der uns zurechtweisen und helfen kann
wie keiner sonst. Er weiß unsere Wonne über unsere Arbeit zu
zügeln und uns dadurch vor Hochmut und Selbstüberhebung
zu bewahren, und Er kann uns wieder aufrichten, wenn wir in
Gefahr sind, unter dem Gewicht der Sorgen und Schwierigkeiten zu Boden zu sinken. Darum laßt uns nur allezeit zu Ihm
gehen! Schütten wir stets unser Herz vor Ihm aus! Halten wir
nichts, gar nichts zurück! Es wird uns zu unaussprechlichen".
Segen dienen.
Welch eine Weisheit! Entzückt über ihre Arbeit umringen die
Jünger ihren geliebten Herrn und erzählen Ihm alles, was sie
getan und gelehrt haben. Ruhig, ohne sie zu unterbrechen,
hört Er sie an, bis sie Ihm alles gesagt haben; aber dann, anstatt
durch Zeichen des Beifalls ihre Freude zu vermehren, sagt Er:
„Kommt her an einen öden Ort besonders und ruht ein wenig
aus''. Sicher erfreut Sich der Herr des Segens unserer Arbeit;
aber Er will nicht, daß unsere Seele durch eine zu große Freude
Schaden nehme. Ach, wie leicht erheben wir uns, wie schnell
sind wir von uns selber eingenommen! Wie bald wenden wir
unser Auge von der Gnade ab, die uns zu wirken befähigte!
Doch wenn wir zu Jesu kommen, dann sind die Folgen nie mit
Gefahren verbunden. Er weiß unsere Freude zu mäßigen; in
Seiner Gegenwart werden wir klein und gering in unseren
Augen. In Seiner Nähe kann kein Hochmut, keine Selbstgefälligkeit bestehen.
Doch auch welch eine Liebe! „Kommt her an einen öden Ort
besonders und ruht ein wenig aus". Wie wohltuend ist die
Ruhe nach vollbrachter Arbeit nicht allein für den Leib, sondern auch für den Geist! Man kann nicht immer ununterbrochen fortan arbeiten; auch der Geist wird müde und abgespannt. Er bedarf der Ruhe, um neue Kraft, neue Frische zu
sammeln. Wohlan denn, Jesus gibt diese Ruhe. Er sagt nie:
„Wirke ununterbrochen fort!" So mögen gewisse Menschen
sprechen, die von einer geistlichen Abspannung keinen Begriff
haben, aber Jesus sagt es nicht. Seine Aufforderung nach der
Arbeit ist: „Ruhe ein wenig aus". O wie liebevoll! Wie genau
kennt Er die Bedürfnisse der Seinigen,, und wie zärtlich stillt
Er diese Bedürfnisse. In Seiner Nähe kommt alles in Ordnung.
128
Er ist voll Weisheit; Er ist die Liebe der Seinigen. Lassen wir
uns nur von Ihm leiten und zurechtweisen, dann wird unsere
Arbeit einen gesegneten Verlauf nehmen, ohne daß unsere
Seele irgendwie Schaden leidet.
„Kommt ihr selbst her an einen öden Ort besonders und ruht
ein wenig aus". Das sind die zärtlichen Worte des guten Herrn,
und der Evangelist fügt hinzu: „Denn es waren viele, die
kamen und gingen, und sie fanden nicht einmal Zeit zu essen".
Ruhe war an diesem Ort nicht zu finden. Hier gab es so viel
Arbeit, daß an keine Ruhe zu denken war. Darum führte der
Herr sie „nach einem öden Ort besonders". Aber gab es denn
hier an diesem Ort Ruhe? Wir lesen: „Und viele sahen sie
wegfahren, und erkannten sie und liefen zu Fuß von allen
Städten dorthin zusammen und kamen ihnen zuvor". Wie
trefflich! wie rührend! Für den Herrn Jesu gab es hier auf
Erden keine Ruhe. Suchte Er Ruhe, so kamen die Menschen,
um diese Ruhe zu stören. Aber welch eine unvergleichliche Liebe
tritt hier vor unser Auge! Kaum erblickt Er die große Volksmenge, so wird Er innerlich bewegt über sie; „denn sie waren
wie Schafe, die keinen Hirten haben". Und Er beginnt — und
setzt dies bis zur späten Abendstunde fort — „sie vieles zu
lehren". Von der anderen Seite weggefahren, weil dort sowenig
Gelegenheit zum Ausruhen war, daß sie selbst zum Essen nicht
einmal Zeit fanden, zeigt sich hier statt der gesuchten und ersehnten Ruhe neue Arbeit, neue Mühe. Aber weit davon entfernt, diese große Volksmenge aus Verdruß über die Störung
wegzuschicken, fühlt Sein Herz ein tiefes Erbarmen und Mitgefühl mit diesen umherirrenden Schafen. Er fängt sofort an,
sie zu belehren. Wie anbetungswürdig ist Er! Wo es Bedürfnisse gibt, da ist Er augenblicklich bereit, sie zu stillen; wo
Not ist, da ist Er sofort bemüht, die helfende Hand auszustrecken. Niemals verweigert Er Seine Hilfe. Nie kommt man
zu ungelegener Zeit zu Ihm. Geht man zu Ihm auch mitten in
der Nacht, wie Nikodemus, oder in der Mittagshitze, wie die
Samariterin, Er ist stets bereit, uns Sein Ohr zu schenken und
zu helfen. Sucht man Ihn in der Wüste auf, oder weckt man Ihn
während eines Seesturmes — Er ist stets bereit zu helfen. Trifft
man Ihn allein oder in der Mitte einer großen Volksmenge, nie
versagt Er Seine Hilfe. Sitzt Er an der Hochzeitstafel oder
129
hängt Er am Kreuz, Seine Liebe ist stets dieselbe. Überall, zu
allen Zeiten und unter allen Umständen ist Sein wohlwollendes
Herz unveränderlich. Welch eine Gnade! — Und ist Er etwa
jetzt nicht mehr derselbe? O sicher; Er ist unveränderlich. Obwohl Er zur Rechten Gottes mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt
ist, nimmt Er noch stets den innigsten Anteil an all unserem
Leid, an unseren Sorgen und Mühsalen. Man denke nur an
Seine Worte, die Er an den nach Damaskus reisenden Saulus
richtete: „Saul! Saul! was verfolgst du mich"? Man erinnere
sich nur der vertraulichen Aufforderung: „Fürchte dich nicht!"
die Er an Johannes auf Patmos richtete. Man denke nur an die
köstliche Versicherung des Heiligen Geistes: „Er lebt, um für
uns zu bitten". — Ja wahrlich, auch jetzt noch ist Er allezeit
bereit, uns anzuhören und zu segnen. Niemals kommen wir
vergeblich, niemals zur ungelegenen Zeit. Und kämen wir auch
hundert Mal an einem Tage, es würde Ihm doch niemals zu viel
werden, uns zu helfen und uns zu unterweisen. Sein Name sei
gepriesen bis in alle Ewigkeit!
Doch die Liebe des Herrn ging noch weiter. Als es Abend zu
werden begann, dachten die Jünger, daß es jetzt endlich Zeit
sei, die Volksmenge zu entlassen. Sie kamen deshalb zu Jesu
und sagten: „Der Ort ist öde, und es ist schon spät am Tage;
entlaß sie, damit sie hingehen auf das Land und in die Dörfer
ringsum und sich Brote kaufen; denn sie haben nichts zu essen".
Aber wie lautet die Antwort des Herrn? „Gebt ihr ihnen zu
essen". Als sie aber voll Verwunderung ausrufen: „Sollen wir
hingehen und für zweihundert Denare Brote kaufen und ihnen
zu essen geben"? erteilt Er den Befehl, daß sich die ganze
Volksmenge niederlassen solle und sättigt sie allesamt. Welch
ein Unterschied zwischen den Jüngern und ihrem Herrn! Sie
wollen die Schar fortschicken, damit sie sich selber Brot kaufen
sollten; aber Er unterweist sie nicht nur, sondern stillt auch
ihren Hunger. Die Jünger richten ihr Auge auf die große Menge
an Menschen und auf den geringen Vorrat an Speise und
stehen deshalb ratlos da; Er aber richtet Seinen Blick nach
oben, und für mehr als fünftausend Gäste ist Fülle an Brot
vorhanden. Wie unaussprechlich gütig ist der Herr! Unermüdlich hatte Er gearbeitet, ohne ein Wort zu sagen, hatte Er die
Störung Seiner Ruhe hingenommen; innerliches Erbarmen hatte
130
Sein Herz bewegt; Worte der Weisheit und Gnade waren bis
zur späten Abendstunde zur Belehrung unkundiger Menschen
von Seinen Lippen geflossen und jetzt, als der Tag sich geneigt
und die Ihn umgebende Schar Hunger hat, ist es Ihm unmöglich, sie ohne Speise fortgehen zu lassen. Er speist sie auf eine
wundertätige Weise. Welch tiefes Erbarmen! O wie glücklich sind
wir, einen solchen Herrn zu haben! Und erinnern wir uns stets
daran: es war eine Fülle von Speise, es war ein unversiegbarer
Born von Segnungen vorhanden. Man sah nur fünf Brote und
zwei Fische; aber in der Hand des Herrn vervielfältigte sich das
Vorhandene so sehr, daß fünftausend Männer, ohne die Frauen
und Kinder, damit gesättigt werden konnten und noch zwölf
Körbe voll Brocken übrigblieben. Wären noch mehr Menschen
anwesend gewesen, so würden sich auch die Speisen entsprechend vermehrt haben, bis alle gesättigt waren. Ebenso
verhielt es sich mit dem ö l in dem Kruge der Witwe nach
2. Kön 4. Solange noch leere Gefäße vorhanden waren, floß
das öl ; und erst als alle im Hause vorhandenen und herbeigeholten Gefäße gefüllt waren, hörte der Quell auf zu sprudeln.
Es gab keinen Mangel an öl, wohl an leeren Gefäßen. Wäre die
Zahl der Gefäße noch tausendmal größer gewesen, sie wären
alle gefüllt worden. Diese Erkenntnis ist für uns von unschätzbarer Bedeutung, weil in derselben Weise die geistliche Speise
und das ö l des Geistes dargereicht werden. Auch hier gibt es
eine unversiegbare Quelle. Speise ist in Überfluß da: ö l fließt
fort und fort. Wenn nur Herzen da sind, die Hunger haben,
und Gefäße, die leer sind, dann wird sich stets die Fülle offenbaren. Die Zahl derer, die gespeist und erquickt werden müssen, tut nichts zur Sache. Ob Tausende, Hundertausende oder
Millionen kommen, es wird niemals Mangel, ja, es wird stets
Überfluß sein. Zwölf Handkörbe voll Brocken blieben übrig,
nachdem alle gesättigt waren.
Es ist in der Tat eine herrliche Aussicht für uns, daß uns nie
etwas mangeln wird. Das geistliche Manna ist im Überfluß
vorhanden. Das ö l des Heiligen Geistes fließt ununterbrochen,
so daß man, wie einst Stephanus, „voll Heiligen Geistes"
werden kann. Empfangen wir wenig, so liegt das nicht in einem
Mangel an Speise begründet, sondern wir selbst sind die Ursache, weil wir keine leeren Gefäße sind. Haben wir keinen
131
Hunger, so braucht er auch nicht gestillt zu werden. Sind wir
von uns selbst, von der Welt oder von allerlei eitlen und nichtigen Dingen erfüllt, dann kann das ö l des Geistes nicht in
unsere Herzen gegossen werden. Ein leeres Gefäß zu sein, ist
das erste Erfordernis, um mit den Gütern des Heils, mit den
geistlichen Segnungen gesegnet zu werden. Klagen wir über
Kälte, Dürre oder Geistesträgheit, dann ist stets die Ursache
darin zu suchen, daß wir nicht leer von uns selbst sind. Das
ist ernst und beachtenswert. Was für einen seltsamen Eindruck
macht es, wenn jemand, der unendlich reich ist, dennoch wie
ein Bettler lebt, und so ist es bei uns, wenn wir kalt, dürre
und träge sind. Die Schatzkammern Gottes stehen für uns
offen. Gott hat uns gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in
den himmlischen örtern in Christo. Sind wir dennoch dürre
und kalt, so machen wir selbstredend keinen Gebrauch von
unseren Segnungen. Wie betrübend ist das für Ihn, Dessen
Wonne es ist, uns zu segnen, und Der gesagt hat: „Tue deinen
Mund weit auf, und ich werde ihn füllen!" Ach, wir sind oft
so voll von uns selbst, daß es für das himmlische Manna und
für das ö l des Geistes keinen Raum in unseren Herzen mehr
gibt. Möchten wir ein großes Bedürfnis nach den himmlischen
Segnungen haben, die der Herr in so reicher Fülle über uns
ausschütten will, damit wir mit einem glücklichen Herzen
unsere Pilgerfahrt durch die Wüste fortsetzen und vollenden
können!
Und welch einen gesegneten Platz nahmen die Jünger ein! Welch
ein herrliches Werk hatten sie zu verrichten! Sie durften die
Gnadengaben des Herrn austeilen. Jesus brach das Brot und
vermehrte es; jedoch gab Er es der Volksmenge nicht selbst,
sondern bediente Sich dazu Seiner Jünger. Nur fünf Brote und
zwei Fische waren anfangs in ihrem Besitz; mit diesem geringen Vorrat fünftausend Menschen sättigen zu wollen, schien
Torheit zu sein, und dennoch geschah es. Der Herr machte sie
reich. Die Speise in Seiner Hand mehrte sich zusehends, so
daß alle gesättigt wurden, und gerade die Jünger mußten diesen
Reichtum austeilen. So verhält es sich jetzt mit uns. Arm in
uns selbst, will der Herr uns mit den Gütern des Heils und mit
dem ö l Seines Geistes füllen, so daß wir nicht nur für uns
selbst genug haben, sondern auch anderen mitteilen können.
132
„Wer an mich glaubt", sagt der Herr, „aus dessen Leibe werden
Ströme lebendigen Wassers Hießen". Wie groß ist das Vorrecht, berufen zu sein, die Gnadengaben Gottes jetzt in einer
sündigen Welt weiterzureichen, und auch bald in dem Reiche
Christi auf Erden! In dem neuen Jerusalem, der Braut des
Lammes, befindet sich der jeden Monat seine Frucht tragende
Baum des Lebens, und seine Blätter sind zur Heilung der
Nationen; das will sagen: wir sollen uns fortdauernd an den
herrlichen Segnungen Gottes laben und erquicken und diese
zum Teil auch den Nationen auf Erden überbringen.
Zum Schluß noch ein Wort über den Herrn Selbst. Er steht
hier vor uns als der Schöpfer des Himmels und der Erde. Das
Brot vermehrt sich in Seiner Hand, so daß, nachdem alle gesättigt sind, noch mehr übrig bleibt, als vorher dagewesen
war. Wie treffend und herrlich, wenn wir daran denken, daß
derselbe Herr in der Wüste Hunger litt. „Sprich, daß diese
Steine Brot werden", sagt der Teufel. Daß Er es vermocht
hätte, haben wir soeben gesehen. Aber Er war nicht auf die
Erde gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen.
Nicht zu Seinem Vorteil, sondern zugunsten armer Menschen
bediente Er Sich Seiner Macht; denn um sie zu retten, war Er
erschienen. Auch am Jakobsbrunnen sehen wir Ihn hungrig
und durstig. Er verrichtet kein Wunder, um Sich Brot und
Wasser zu verschaffen. Er sendet Seine Jünger nach Samaria,
um Speise zu kaufen, und bittet eine Samariterin: „Gib mir zu
trinken". Welch eine göttliche Vollkommenheit! Auf Erden
erschienen, um den Willen des Vaters zu tun, unterwirft Er
Sich jeder Erniedrigung, jeder Entbehrung; aber wo es nötig
ist eine hungrige Volksmenge zu speisen, wo es Gelegenheit
gibt, Seine göttliche Liebe zu offenbaren, da steht Er in Seiner
göttlichen Größe und Allmacht vor uns und schafft Brot für
Tausende. Ja, in der Tat, „Er ist schöner als die Menschensöhne". Ihn anschauend und in Seiner Nähe weilend, können
wir mit Paulus sagen: „Ja wahrlich, ich achte auch alles für
Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu,
meines Herrn".
133
Gedanken über die Leiden Christi
Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen — 2. Mose 3, 5.
Wenn es etwas gibt, was uns zur Anbetung stimmt, so sind es
die Leiden unseres gesegneten Herrn, und das um so mehr, als
wir wissen, daß wir diesen Leiden alles verdanken. Sie sind
ernst und heilig, und wer von den Ergebnissen weiß, die sie
für uns hervorgebracht haben, beugt sich in Anbetung. Sie sind
Nahrung für die Seele. Wir genießen Christum, indem wir
Seine Leiden betrachten; sie rufen unsere Liebe zu Ihm wach,
befestigen unsere Herzen und halten uns durch das Bewußtsein,
daß unsere Sünde die Ursache Seiner Leiden war, in einer
demütigen Stellung; sie lassen uns die Sünde verabscheuen,
ziehen uns ab von der Welt und vermitteln der Seele einen
heiligen Ernst. Wir können nicht die Leiden Christi in Einfalt
des Herzens betrachten, ohne daß tiefste und heiligste Gefühle
in uns geweckt und wir mit Christo erfüllt werden, und es ist
gesegnet, Ihn vor Augen zu haben, von Ihm erfüllt zu sein.
Manche unserer Brüder sind mit tiefen Gefühlen der Frömmigkeit über die Leiden Christi erfüllt, haben aber wenig Licht und
Klarheit über sie, und obwohl die Frömmigkeit wertvoller ist
als die Klarheit, so vertieft diese doch bei treuen und aufrichtigen Herzen die Gefühle für Christum und stärkt die Liebe
zu Ihm. Sie läßt Christum mehr in den Vordergrund treten,
erfüllt das Herz mit Ihm und bewirkt, daß wir uns vergessen
und uns in diese wunderbare Liebe versenken. Würden wir Ihn
besser kennen und Seine Liebe, die Ihn drängte, einen solchen
Pfad der Leiden zu wandeln, mehr verstehen, wieviel köstlicher
würde Sein Name unseren Herzen werden, und wie würde
uns das bewegen, für Ihn und nur für Ihn zu sein!
Nie können wir tief genug fühlen, daß alle Seine Leiden für
uns waren. Welch ein süßes Bewußtsein ist es, daß Er an unserer Stelle litt, auf daß wir Frieden hätten; aber wie ist es zugleich für uns so demütigend, zu sehen, daß es solchen Leidens,
solcher Erniedrigung bedurfte, um uns zu helfen! So tief waren
wir gefallen, so tief mußte der gepriesene Herr herabsteigen,
134
um bis zu uns elenden Sündern zu kommen. Angebetet sei
Sein Name! Er ist so tief herabgestiegen; Er ist zu uns gekommen, hat unsere Stelle im Tod und Gericht eingenommen,
um uns einen Platz im Vaterhaus bereiten zu können. Seine
Menschwerdung und Seine Leiden sind der Kanal Seiner Liebe
zu uns geworden.
Wäre Er als Gott erschienen, so hätten wir Seine Nähe nicht
ertragen können, Er wurde ein Mensch und war doch der
Abglanz der Herrlichkeit Gottes, Gott von Ewigkeit her. In
diesem menschlichen Kleid konnte Er uns und wir konnten Ihm
nahen. Er konnte Seine Hand auf den Aussätzigen legen, ohne
selbst verunreinigt zu werden; Er konnte dem Sünder nahen
und in alle seine Leiden und Mühsale eingehen. Seine Liebe
kam uns so nahe, wie es überhaupt nur möglich war, und
gerade darin bestand die göttliche Segnung und Vollkommenheit Seines Werkes. Kein anderer als Gott konnte so in Gnade
dem Sünder begegnen; Seine Heiligkeit, unveränderlich in
ihrem Wesen, konnte sich mit unserem Schmutz beschäftigen,
ohne davon berührt zu werden und je größer unser Elend war,
um so herrlicher ist diese Liebe, die unser Elend nicht verabscheute, sondern sich damit beschäftigte.
Der Herr als Mensch löste Gott gegenüber auch die Frage eines
vollkommenen Wandels. Er blieb während Seines ganzen Lebens Der, an Dem der Vater Sein ganzes Wohlgefallen hatte.
Satan und seine Engel, wie auch die Menschen hatten ihren
ursprünglichen Zustand verlassen; aber Christus büßte trotz
der Versuchung des Feindes als Mensch nichts von Seinem
ursprünglichen Zustand ein. Er hielt inmitten der Mühsale und
der Absonderung Seinen Platz der Gemeinschaft und des
Gehorsams ununterbrochen aufrecht. Er besiegte den Starken
und beraubte ihn, indem Er ohne Sünde in Gemeinschaft mit
Seinem Vater wandelte. Das wahre Wesen Christi ist, daß Er
immer blieb, was Er war — der Heilige. Abhängigkeit, Vertrauen, Gemeinschaft, Gehorsam dem Geiste der Heiligkeit gemäß, alles dieses kennzeichnete auf Erden das Leben Christi
vor Gott. Gleichwie Er Seine Schafe kannte und Seine Schafe
Ihn kannten, also auch kannte Er den Vater und der Vater Ihn.
Das Wesen Seiner Stellung im Gegensatz zu dem ersten Adam
ist, daß Er mit Gott war, daß Er Sich nie von Gott trennte und
daß Er ohne Unterbrechung diese Verbindung mit Gott genoß.
135
Während der erste Adam zeigte, was die Sünde war, offenbarte
der Herr durch die Macht eines gottgemäßen Lebens und eines
siegreichen Wandels inmitten des Bösen, was die Gerechtigkeit
war, indem Er alle Versuchungen überwand und in heiliger
Abhängigkeit von Gott blieb.
Die Leiden des Herrn nun unterscheiden sich ihrer Natur und
ihrem Wesen nach. Er litt einerseits durch die Menschen, andererseits von Gott.
Er wurde von den Menschen verachtet und verlassen, war ein
Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut. Die Welt haßte
Ihn, bevor sie Seine Jünger haßte; sie haßte Ihn, weil Er zeugte,
daß ihre Werke böse waren. Er war das Licht, und jeder, der
Arges tut, haßt das Licht und kommt nicht zum Licht, weil
seine Werke böse sind. Mit einem Worte: Christus litt um der
Gerechtigkeit willen.
So war es von Anfang an. Die Geschichte Abels zeigt uns vorbildlich die Geschichte unseres Herrn. Kain tötete Abel, weil
seine Werke böse, die seines Bruders aber gerecht waren.
In bezug auf den Herrn kommt hinzu, daß Seine Liebe, die
dem Menschen dient und von dessen Zustand zeugt, diese Leiden erntete. Seine Liebe zu dem verlorenen Sünder war — gepriesen sei Sein Name! — so groß, daß Er freiwillig diesen Platz
einnahm, während Er wohl wußte, was der Lohn für Seine
Liebe sein würde, nämlich der bittere Haß des Menschen, der
aber dennoch nicht imstande war, die Liebe des Herrn bis zu
Seinem Tode auch nur einen Augenblick lang zu mindern.
Mochten die Menschen in ihrem Wahn ausrufen: „Ha! Ha!" —
mochtensieunterdemKreuz spotten: „Andere hat er gerettet, sich
selbst kann er nicht retten"! oder „Wenn du Gottes Sohn bist,
so steige herab vom Kreuze"! — ja, hätte der Mensch in seiner
Bosheit noch weiter gehen können: Nichts, nichts würde diese
unergründliche Liebe, die der Herr für den armen, elenden Sünder hatte, vermindert haben. Gerade die Heiligkeit und Liebe
des Herrn riefen diesen unbeugsamen Haß hervor, und der
Mensch offenbarte sich demgegenüber als das, was er ist —
ein Feind Gottes.
Der Herr litt aber auch durch die Hand Gottes. „Jehova gefiel
es, ihn zu zerschlagen; er hat ihn leiden lassen. Wenn seine
136
Seele das Schuldopfer gestellt haben wird, so wird er Samen
sehen" (Jes 53, 10). „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für
uns zur Sünde gemacht" (2. Kor 5, 21). „Um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Missetaten
willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem. Frieden lag auf ihm"
(Jes 53, 5). Er, der Gerechte, litt für die Ungerechten; Er litt
nicht, weil Er gerecht war, sondern weil wir Sünder waren und
Er unsere Sünden an Seinem Leibe auf dem Kreuze trug. Wenn
Gott Ihn verließ, konnte Er in bezug auf Sich Selbst sagen:
„Warum hast du mich verlassen?" Denn in Ihm Selbst gab es
keine Ursache dazu. Wir können anbetend sagen: Er litt in
Gnade, der Gerechte für die Ungerechten; Er ist für uns zur
Sünde gemacht worden. Also litt Er um der Gerechtigkeit willen durch die Menschen und als ein sterbender Heiland um
der Sünde willen durch die Hand Gottes.
Die Psalmen 20 und 21 zeigen — prophetisch betrachtet — wie
Er auf der Erde durch die Menschen litt. Es war der Tag der
Trübsal; Er bittet aber um Leben und empfängt — „Länge der
Tage immer und ewiglich"! Ehre und Majestät sind auf Ihn
gelegt, und die Folge Seiner Verherrlichung ist, daß Seine Hand
alle Seine Feinde finden und also das Gericht über die Welt
stattfinden wird (Ps 21, 8). „Wie einen Feuerofen wirst du sie
machen zur Zeit deiner Gegenwart" (Vers 9), so wie Er sagte:
Doch jene, meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie
herrschen sollte, bringet her und erschlaget sie vor mir (Lk 19,
27; vgl. auch Ps 69, 1—24). Die Folge Seines Leidens durch die
Hand gottloser Menschen ist, daß diese das Gericht auf sich
laden.
Im 22. Psalm finden wir neben dem Leiden durch die Menschen auch Seine Leiden durch die Hand Gottes; und während
bei jenen Gott Seine einzige Zuflucht war, sieht Er Sich bei
diesen von Ihm verlassen. Doch was ist die Folge dieser Leiden
von seiten Gottes? Christus trug die Sünde; Er war in dem
Gericht und unter dem Zorn, den wir verdient hatten; aber Er
war gekommen, um die Sünde wegzutun durch das Opfer
Seiner Selbst. Daher ist die Folge dieser Leiden nur freie, unvermischte, vollkommene Gnade. Christus hat den Kelch des
Vaters getrunken, auf daß — statt der Strafe— uns der Friede
137
zuteil würde. Gott hat Ihn auferweckt und Ihm Herrlichkeit
gegeben, weil Er Ihn hinsichtlich der Sünde vollkommen verherrlicht hat, und alsbald nach Seiner Auferstehung verkündigte
Er den Namen Seines Gottes und Vaters Seinen Brüdern indem
Er sagte: „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater,
und zu meinem Gott und eurem Gott". Dieses Zeugnis war nur
Gnade. Nach Vers 22 leitet Er die Lobgesänge Seiner Erlösten,
nach Vers 25 das Lobjehovas in der großen Versammlung, d. h.
von ganz Israel und nach Vers 27 das Lob der Nationen.
Alle Fetten der Erde werden sich vor Seinem Angesicht beugen", und wenn diese Zeit des Friedens gekommen sein wird,
so wird auch das Volk, welches geboren wird, „die wunderbare
Geschichte von dem hören, was Er getan hat (Vers 31). Es ist
ein unvermischter Strom an Gnade und Segnung, der sich bis
zu den Enden der Welt ausbreiten und bis zur Zeit jenes Geschlechts anhalten wird, welches geboren werden wird. Das ist
der Erfolg des Kreuzes. Kein Wort von Gericht folgt den Leiden, die Christus Gott gegenüber erduldete. Die Sünde fand
dort ihre Strafe; sie ist weggetan für ewig, und diese Leiden
öffneten den Kanal der Liebe und Gnade Gottes für verlorene
Sünder. Ja selbst wenn wir offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, so hat Der, vor Dem wir erscheinen, Selbst unsere
Sünden hinweggetan und uns geholt, damit wir seien, wo Er
Selbst ist. Mit einem Worte: Christus hat auf dem Kreuz von
seiten Gottes gelitten, und das war das Leiden für die Sünde.
Als Er in Seinem Leben von seiten der Menschen litt, war Er
während Seines ganzen Zeugnisses unter ihnen — selbst bis
an den Tod — nicht in der Ausübung und Offenbarung Seiner
Liebe behindert; aber die Folge dieser Leiden ist Gericht bei
Seiner Rückkehr. In der Zerstörung Jerusalems hat dieses Gericht seinem Anfange nach schon stattgefunden; es wird sich
aber völlig erst bei Seiner Wiederkunft erfüllen. Insoweit der
Herr dagegen um der Sünde willen litt, geschah dies, um uns
für ewig von jedem Gericht zu befreien. Den Zorn, den Jesus
trug, hat Er allein getragen, damit wir völlig frei ausgehen und
nie auch nur einen Tropfen Seines furchtbaren, bitteren und
uns unerträglichen Kelches schmecken sollen. Müßten wir ihn
trinken, so könnte das nur als verdammte Sünder sein.
An den Leiden Christi um der Gerechtigkeit willen und an den
Leiden, die Er für das Wirken Seiner Liebe ertrug, können wir
138
trotz unseres armen und schwachen Glaubens teilnehmen, indem es uns gegeben ist, „nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden". Wenn wir nur um der Gerechtigkeit willen leiden, wie glückselig sind wir! Noch gesegneter
aber ist es, wenn wir um Seines Namens willen leiden; „der
Geist der Herrlichkeit und der Geist Gottes ruht auf euch".
Wir können uns freuen, wenn wir Teilnehmer Seiner Leiden
sind, weil wir uns dann mit überschwenglicher Freude freuen
werden, wenn Seine Herrlichkeit geoffenbart werden wird.
Es gibt aber auch noch andere Arten von Leiden unseres Herrn.
Zunächst muß Sein liebendes Herz durch den Unglauben unglücklicher Menschen und durch die Verwerfung von selten des
Volkes viel gelitten haben. Er seufzte, als Er des Tauben Ohr
öffnete und das Band seiner Zunge löste (Mk 7, 34). Er seufzte
tief, in Seinem Geiste, als die Pharisäer von Ihm ein Zeichen
begehrten. Er weinte am Grabe des Lazarus, als Er die Macht
des Todes über die Menschen sah und deren Unfähigkeit, sich
selbst zu befreien (Joh 11). Er weinte auch über Jerusalem, als
Er sah, wie die geliebte Stadt im Begriff war, Ihn zu verwerfen.
Alles das war das Leiden einer vollkommenen Liebe. Er war zu
diesem armen Volk gekommen, um in dessen Mitte nach der
Macht dieser Liebe zu wirken; aber Er fand nur Verkennung,
Verachtung und verschlossene Herzen. Obschon die Felder weiß
zur Ernte waren, konnte Er dennoch nicht viel erreichen und
der Zustand des Volkes bildete für Ihn eine stete Quelle an
Kummer und Schmerz. Obwohl Er Sich sicherlich stets in Vollkommenheit dem Willen des Vaters hingegeben hat, lastete
zudem auch während Seines Lebens auf Erden das schwere
Gewicht des Bewußtseins auf Ihm, daß Er schließlich an das
Kreuz gehen müsse, wenn die Zeit dafür da sein würde. Wie
oft werden wir im voraus von unseren kleinen Kümmernissen
beunruhigt! Auf Seinem Wege lag der Tod! Er konnte auf der
Erde mit niemanden — mochte er Ihm noch so lieb, noch so
teuer sein — Verbindung pflegen und niemanden in die Seligkeit einführen, ohne durch den Tod zu gehen; durch den Tod,
als den Lohn der Sünde, mußte Er gehen, um der Hand des
Richters zu begegnen.
Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fiel, so blieb es allein.
Und für Ihn war der Tod die völlige Schwachheit des Men139
sehen, die unumschränkte Kraft Satans und der gerechte Zorn
Gottes, ohne irgendwelches Mitgefühl verlassen von denen,
die Er gepflegt hatte, und voller Feindschaft bei allen übrigen.
Als Messias wurde Er den Heiden übergeben — der Richter
wusch seine Hände, als er den Unschuldigen verurteilte, und
die Obersten waren gegen den Schuldlosen statt gegen den
Schuldigen. Alles war dunkel, ohne einen Lichtstrahl von Gott.
Hier war vollkommener Gehorsam nötig und, Gott sei gepriesen! diesen Gehorsam hat Er auch vollkommen erwiesen. Was
aber muß die Aussicht auf ein solches Leiden für eine Seele
gewesen sein, die es im voraus kannte, die es betrachtete mit
den Gefühlen eines Menschen, und zwar eines Menschen, der
alles nach dem himmlischen Licht, das in Ihm war, vollkommen
verstand.
Auch die Sünde in der Welt muß für die Seele des Herrn eine
fortwährende Quelle des Schmerzes gewesen sein. Wenn Lot
seine gerechte Seele durch das, was er sah und hörte, quälte, —
obwohl er durch seinen Wandel so weit von Gott entfernt war
—, was muß der Herr gelitten haben, als Er durch diese Welt
ging! Immer in Gemeinschaft mit dem Vater, war diese Welt
stets finster für Ihn und die Gefühle, die Er über diese arme
Welt hatte, waren ganz andere, als diejenigen des Gerechten
von Sodom. Nach Mk 3, 5 blickte Er auf sie umher mit Zorn,
betrübt über die Verstockung ihres Herzens. Wohl war Seine
vollkommene Liebe hier ohne Zweifel ein Trost für Ihn; dennoch fühlte Er Seinen Schmerz, wenn die Liebe ihn auch erleichterte. Wenn Er den Worten: „O ungläubiges und verkehrtes Geschlecht, bis wann soll ich bei euch sein und euch
ertragen" (Lk 9, 41)? hinzufügte: „Bringe deinen Sohn her",
so fühlte Er den Unglauben, wenn dieser Seine Liebe auch
überstieg. Er war in einem dürren, trockenen Lande, wo kein
Wasser war, und Er fühlte es, obgleich Seine Seele wie mit
Mark und Fett erfüllt war. Je heiliger Er war, desto schrecklicher stand die Sünde vor Ihm — die Sünde, in der Sein geliebtes Volk wandelte, wie Schafe, die keinen Hirten hatten.
Auch die Leiden der Menschen fühlte Er wie Seine eigenen.
„Fürwahr, er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen" (Jes 53, 4). Es gab unter den Men140
sehen, die Ihm auf dem Wege begegneten, keine Leidenden, die
Er nicht wie Seine eigenen auf Seinem Herzen trug. Alle Trübsale des Volkes berührten Ihn; Er fühlte sie wie Seinen eigenen
Kummer. Er war nicht gleichgültig, wenn Er durch Seine Macht
die Leiden wegnahm, sondern das Mitgefühl Seiner Liebe trieb
Seine Macht zur Hilfe an.
Alles was Er sah, war die Folge der Sünde im Menschen, und
obwohl Er aus Mitleid half, so empfand Seine Seele dennoch
diese Sünde und ihre Folgen zutiefst. Seine Liebe wird durch den
unglücklichen Zustand des Menschen bewegt und in Tätigkeit
gesetzt. Er fühlte für aridere, und wie oft war dieses Gefühl
Kummer in der Welt, wo die Sünde war. Es ist sehr köstlich für
unsere Herzen, den Herrn so in Seinem vollkommenen Mitgefühl, wie in Seiner täglichen Liebe kennenzulernen.
Noch eine andere Quelle des Kummers — denn wo gab es in
dieser Welt eine Bitterkeit, die der Herr nicht geschmeckt hätte?
— war vielleicht mehr menschlicherweise, aber darum nicht
weniger für Ihn vorhanden, nämlich die Verletzung des Zartgefühls, dessen Seine vollkommen rein gestimmte Seele fähig
war. „Sie schauen und sehen mich an" (Ps 22, 17), Beleidigung,
Spott, Betrug, Anstrengungen Ihn in der Rede zu fangen, Unmenschlichkeit, grausame Verhöhnung und dazu der Schmerz,
daß Seine Jünger Ihn verließen, Petrus Ihn verleugnete und
Judas Ihn überlieferte —alles das fiel, wie göttlich geduldig Er
auch war, auf keinen unempfindlichen Geist. „Ich habe auf
Mitleiden gewartet, und da war keines, und auf Tröster, und
ich habe keine gefunden" (Ps 69, 20). Es geht hier nur darum,
was Er nach dem zarten Gefühl Seiner Natur als Mensch empfand. Der Hohn brach Sein Herz; Er war „das Saitenspiel der
Zecher". Ohne Zweifel nahm Gott alles das wahr, und der
Herr konnte sagen: „Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen" (Ps 69, 11); aber Er mußte dieses
alles über Sich ergehen lassen, und Er fühlte all diesen Kummer nach Seiner göttlichen Vollkommenheit. Ich glaube nicht,
daß es ein einziges menschliches Gefühl gab — und in Ihm
waren alle die zarten Gefühle einer vollkommenen Seele --
welches in Christo nicht verletzt und unter die Füße getreten
war, und zweifellos war das Benehmen des Volkes Kummer
und Schmerz für Seine Seele.
141
In Psalm 6g, 26 finden wir die Leiden des Herrn zur Zeit der
Kreuzigung. Statt des Mitgefühls ging der Mensch in seinem
Haß so weit, daß er, als der Herr von Seiten Gottes litt, nidit
aufhörte, Ihn in Bitterkeit ihres Hasses fühlen zu lassen: „Ihn,
Den du geschlagen hast, verfolgen sie". Der Mensch tritt in
Seiner Bosheit hinzu und trachtet die Leiden unseres Herrn in
einem Augenblick zu vermehren, wo Er schon die Bitterkeit
eines Kelches schmeckte, der Ihn ausrufen ließ: „Mein Gott,
mein Gott! warum hast du mich verlassen". Wenn sich jemals
der Haß des Menschen in seinem widerwärtigsten, bittersten
und schlechtesten Charakter offenbart hat, so war es unter
dem Kreuz Christi. Wie tief muß es uns demütigen, wenn wir
dort unser Bild, das Bild des gefallenen Menschen sehen. Daneben hat unser hochgelobter Herr sicher noch auf manche
andere Weise gelitten; schließlich konnte Er in dieser Welt der
Sünde nichts anderes finden, als was zu Ihm, dem heiligen,
himmlischen Menschen im Gegensatz stand, was also auf Seine
heilige Seele drückte.
Allein die Tatsache, daß Seine Jünger darum stritten, wer
unter ihnen der Größte sei in der Zeit, als Er im Begriff war,
der Allerverachtetste zu werden, zeigt, daß alles, was Ihn umgab,
Schmerz für Ihn war; aber — Gott sei gelobt! — Seine Vollkommenheit und Liebe hat sich im Erdulden aller Leiden vollständig erwiesen.
Seine Leiden, die Er Gott gegenüber für unsere Sünden erdulden sollte, begannen sich dadurch vorzubereiten, daß der
Herr in die Hände der Menschen, in die Gewalt der Finsternis
überliefert wurde, um die Ratschlüsse und die Herrlichkeit
Gottes zu erfüllen. Vorher lesen wir: „Niemand legte die Hand
an ihn, weil seine Stunde noch nicht gekommen war". Der
Herr verkündete Seinen Jüngern, daß der Sohn des Menschen
vieles leiden und verworfen werden müsse von den Ältesten
und Hohenpriestern und Schriftgelehrten . . . und daß Er in
der Menschen Hände überliefert werden würde (Mk 8, 31 und
So lange Seine Stunde nicht gekommen war, konnte dies nicht
geschehen, wie groß die Feindschaft der Bösen auch sein mochte.
142
Der Herr sagte zu Seinen Jüngern: „Als ich euch ohne Börse
und Tasche und Sandalen sandte, mangelte euch wohl etwas?
Sie aber sagten: Nichts! Er sprach nun zu ihnen: Aber jetzt
wer eine Börse hat . . . denn ich sage euch, daß noch dieses, was
geschrieben steht, an mir erfüllt werden muß: Und er ist unter
die Gesetzlosen gerechnet worden" (Lk 22, 35. 37). „Als ich
täglich bei euch im Tempel war, habt ihr die Hände nicht gegen
mich ausgestreckt; aber dies ist eure Stunde und die Gewalt
der Finsternis" (Lk 22, 33). Vorher, als die Leute von Nazareth Ihn am Rande des Berges hinabstürzen wollten, ging Er,
durch die Mitte hindurchgehend, weg; es war noch nicht die
Stunde der Finsternis.
Ohne Zweifel gab Er Sich freiwillig hin; denn Johannes berichtet, daß die ganze Schar, die gekommen war, Jesum zu
fangen, zurückwich und zu Boden fiel. Zugleich teilt der Evangelist die für uns so köstlichen Worte mit: „Wenn ihr nun mich
suchet, so laßt diese gehen" (Joh 18, 6—8). Bis zu diesem
Augenblick war in der Erfüllung der Ratschlüsse Gottes eine
Hand tätig, welche den Willen oder die Gewalt des Volkes
zurückhielt. Jetzt aber sollte der Sohn des Menschen in die
Hände der Menschen überliefert werden. Dies war nicht der
Augenblick Seiner Leiden auf dem Kreuze; aber es war der
Weg, der dahin führte; es war die Stunde des boshaften Menschen und die Gewalt der Finsternis. Es handelte sich für den
gepriesenen Sohn Gottes noch nicht um Versöhnung, sondern
um Leiden als Er im Begriff war, Sich den Händen der Menschen, als den Werkzeugen der Gewalt der Finsternis, zu überliefern, um den Leiden, die Er in dieser Lage unter der Gewalt
der Finsternis finden sollte, entgegenzugehen. Christus trank
noch nicht den Kelch; aber Er ging dieser schrecklichen Stunde
entgegen, und Er war beengt bis alles vollbracht war (Lk ±2,
50). Er war in der Stunde, die alles in sich barg; diese Stunde
hatte ihre eigenen Schmerzen, und die Seele des Herrn war
betrübt. Er betete vorher, von dieser herannahenden Stunde
befreit zu werden; danach aber unterwirft Er Sich ihr, als der
Stunde, für die Er in diese Welt gekommen war (Joh 12, 27),
und wünscht mit Sehnsucht, daß es schnell geschehe. Seine
Seele ist sehr betrübt bis zum Tode, weil Er, im Begriff, in der
Menschen Hände überliefert zu werden, dem Unwillen und
143
dem Zorn entgegenging. Was in diesem Augenblick Seine
Leiden so schwer machte, war, daß Er wußte, was Ihm bevorstand. Die Bosheit der Menschen war herzlos und gewissenlos,
und sie führte Schritt für Schritt zum Kreuz, zu dem Kelch, den
Er trinken sollte. Als Sohn des Menschen wurde Er in der
Menschen Hände überliefert, um von den Ältesten, Hohenpriestern und Schriftgelehrten, den Führern Israels verworfen
zu werden. Die Schrecken des Kreuzes kamen schon über Ihn,
obwohl Er den Kelch noch nicht trank. In dieser Lage erwartete
Er Mitgefühl und forderte Seine Jünger auf, mit Ihm zu wachen.
Er lernte den Gehorsam an dem, was Er litt und brachte mit
starkem Geschrei und Tränen, Bitten und Flehen Dem dar, der
Ihn aus dem Tode zu erretten vermochte (Hebr 5, 7). Wie tief
die Leiden unseres Herrn in solchen Augenblicken waren, kann
niemand verstehen; aber Er hat sie nach dem ganzen Gewicht
ihrer Schwere gefühlt. Uns fehlen die Worte, solche Leiden
auszudrücken; aber wir können in etwa ahnen, was es für Ihn
war, in eine solche Stunde der Finsternis hineinzugehen, und
können Den bewundern und anbeten, Der einen solchen Pfad
freiwillig für Sünder ging.
Vor dem Herrn stand der Weg zur Herrlichkeit; aber dieser
Weg ging durch den Tod, und der Tod in seiner ganzen Bedeutung stand vor Seiner Seele. Wir hören Ihn sagen: „Jetzt ist
meine Seele bestürzt, und was soll ich sagen? Vater rette mich
aus dieser Stunde". Er konnte Sich unmöglich nach dem Verlassensein von Gott und nach dem Kelche des Todes sehnen,
den Er zu trinken hatte. Um Seiner Frömmigkeit willen ist Er
erhört worden (Hebr 5, 7). Es war wahre Frömmigkeit angesichts des vor Ihm liegenden Weges — so in Gethsemane, als
der Tod näher und näher rückte und der Fürst dieser Welt
kam, als Seine Seele sehr betrübt war bis zum Tode und als
der Kelch — obschon Er ihn noch nicht genommen hatte, denn
Er wollte ihn nur aus der Hand des Vaters nehmen — Ihm
sozusagen gebracht wurde, da erreichte diese Betrübnis und
Prüfung ihre tiefste Tiefe. Der Versucher kehrte jetzt zurück,
der Ihn schon zur Zeit Seines Eintritts in den Dienst versucht
hatte, um Ihn für diesen Dienst unfähig zu machen. In der
Wüste hatte er Ihn verlocken wollen, indem er Ihm alles Angenehme vorstellte und die ganze Welt als Gabe anbot. Jetzt
aber kam er, um Ihn mit allem zu versuchen, was der mensch144
liehen Seele und für den Herrn überhaupt schrecklich war,
wenn Er in Seinem Gehorsam in dem Werke bis zum Ende
ausharren wollte.
Als Messias, als Befreier Israels war der Herr gekommen, aber
der Mensch wollte den Befreier nicht haben. Sollte ein so
schlechtes und elendes Volk jetzt noch befreit werden, so
konnte dies nicht durch die Macht eines Messias, sondern nur
durch den Glauben eines sterbenden Heilandes geschehen.
Dies war nun Sein Weg, ein Weg des Gehorsams und det
Liebe. Der Fürst dieser Welt kam; aber der Herr konnte sagen:
„und hat nichts in mir; aber auf daß die Welt erkenne, daß
ich den Vater liebe, und also tue, wie mir der Vater geboten
hat" (Joh 14, 30). Es ist beachtlich, daß in den Fällen, wo die
Leiden des Herrn ihre Quelle in Seiner Liebe hatten, oder wo
diese Leiden Ihn als Vorgeschmack des Kelches, den Er trinken
sollte, trafen, wir den Herrn immer in Gemeinschaft mit
Seinem Vater finden. Überall leuchtet der Gehorsam des Herrn
hindurch, und dieser Gehorsam blieb bis zum Tod. In Gethsemane, wo alles sich verdunkelte und die Todesangst des Herrn
sich in wenigen aber deutlichen Worten und in dem wie große
Blutstropfen rinnenden Schweiß offenbarte, war der Gehorsam
vollkommen.
Der Versucher war gänzlich überwunden, und der Name Jesu
genügte, um alle Seine Gegner zu Boden zu werfen. Jesus war
frei im Blick auf die Menschen, aber auch in bezug auf Satan.
Nur der Vater gab Ihm den Kelch, und der Herr ging freiwillig hin, um diesen Kelch zu trinken und zeigte wie immer
dieselbe ungeschwächte Kraft, keinen von denen zu verlieren,
die Ihm gegeben waren. Welche wunderbare Darstellung des
Gehorsams und der Liebe! Wie groß aber auch das Leiden sein
mochte — und wer könnte es beschreiben! — wir finden hier
doch das freie Handeln eines Menschen einerseits in Gnade und
andererseits in vollkommenem Gehorsam gegen Gott. Sollte
Er den Kelch, den Ihm Sein Vater gegeben hatte, nicht trinken?
Die unglücklichen Werkzeuge der Macht des Bösen verschwinden hier gänzlich vor dem freiwilligen Opfer Christi in Gehorsam und Liebe; durch die Macht des Todes und die des Feindes
geht Er mit Seinem Vater, und im gesegneten und freiwilligem
Gehorsam nimmt Er jetzt den Kelch aus der Hand Seines
Vaters. Niemals können wir zu lange bei diesem Pfade des
145
Herrn verweilen. Hier sollten wir stillstehen, um Ihn zu betrachten und zu lernen, was keine andere Szene und kein anderer Augenblick lehrt — eine Vollkommenheit, die nur von Ihm
und von Ihm allein gelernt werden kann.
Die Leiden des Herrn waren also sehr verschieden. Er litt von
den Menschen, und Er litt von Seiten Gottes. In jenen ist es
unser Vorrecht mit Christo zu leiden; in diesen konnte Er nur
ganz allein sein. Wenn es sich um das Tragen des Fluches, um
das Trinken des Kelches handelte, so litt Er für uns, an unserer
Statt. Er litt dort, damit wir niemals auf diese Weise leiden
mußten. Er trug den Zorn Gottes, damit wir nichts davon verspüren sollten; aber niemand konnte Ihm darin folgen. Das
einzige Hilfsmittel Seiner Jünger war zu entfliehen, wenn diese
Stunde in ihrer wahren Kraft herannahte. Später sollten sie
Ihm folgen, wie der Herr zu Petrus sagte; aber jetzt konnten
sie es nicht.
Er nahm den Kelch nicht aus der Hand des Menschen, noch aus
derHandSatans, obwohl beide bestrebt waren, Ihn zu bedrücken,
Er nahm den Kelch aus der Hand des Vaters in vollkommenen
Frieden bezüglich des Menschen und der Macht der Finsternis.
Er opferte Sich freiwillig; hätte Er das nicht in gesegnetem
Gehorsam getan, so wäre Er frei gewesen und hätte durch die
Mitte Seiner Feinde gehen oder zur Rettung aus ihren Händen
um Legionen Engeln bitten können; aber wie wären die Schriften erfüllt worden? Auf dem Kreuze aber wird alles vollendet;
Gott verläßt Ihn und der ganze Zorn Gottes schüttet sich über
Den aus, Der keine Sünde kannte, Der aber zur Sünde für
uns gemacht ward.
Er war das unbefleckte Opfer, auf welchem kein Joch gewesen
war, und Er, Der Sich Selbst unbefleckt Gott opferte, wurde für
uns zur Sünde gemacht, damit wir Gerechtigkeit Gottes würden in Ihm. Wir standen unter Gericht und Verdammnis, aber
Gott sei gepriesen! — der Tod Christi am Kreuze ist die göttliche Antwort zur Versöhnung gewesen. Alles, was Gott Seiner
Natur nach war, das war Er gegen die Sünde, und obwohl Er
die Liebe war, so findet doch die Liebe im Zorn gegen die
Sünde keinen Raum, und der Verlust der Gefühle dieser Liebe,
das Bewußtsein, von Gott verlassen zu sein, ist das furchtbarste aller dieser Leiden des Herrn. Welch ein unaussprechlicher Schauer mußte das für Den sein, Der diese Liebe kannte,
146
und der Herr kannte sie in ihrer ganzen Vollkommenheit. Die
Majestät Gottes, Seine Heiligkeit, Seine Gerechtigkeit, Seine
Wahrheit, alle diese Charakterzüge Gottes waren in ihrer
Natur gegen den für uns zur Sünde gemachten Christus. Kein
Trost der Liebe schwächte den Zorn. Nie war der gehorsame
Christus so erhaben; aber Er sollte zu einem Opfer für die
Sünde gemacht werden, um im Gericht die Sünde vor Gott zu
tragen. Hier hat der Herr gelitten, damit kein einziger Tropfen
dieses Kelches für uns übrigbleibe, und der wunderbare Erfolg
dieser Leiden ist von unaufhörlicher Dauer, in der Tat eine
Ewigkeit unvermischter Gnade für uns. Wer aber vermochte
in die Tiefen solcher Leiden hinabzuschauen! Geschlagen, verlassen und gerichtet zu werden von Dem, Der in Ewigkeit mit
dem Herrn im innigsten Verhältnis der Liebe und in köstlichster Gemeinschaft gestanden hatte — ein solches Leiden steht
außer jedem Vergleich mit dem eines verdammten Sünders.
Dieser empfängt was seine Taten wert sind, und zwar dies
aus der Hand eines Richters, Den er niemals recht gekannt,
noch weniger mit Ihm in Gemeinschaft gelebt hat; der Herr
aber mußte fremde Sünden tragen und einem Richter begegnen,
Der bis zu dem Augenblick des Gerichts in vollkommener Liebe
mit Ihm verbunden gewesen war.
Auf dem ganzen Wege Seines Lebens, vom Anfang bis zum
Ende Seines Dienstes, unter Einschluß von Gethsemane, hat
der Herr Sich nie an Gott unter Anrufung dieses Namens gewandt. Stets nannte Er Ihn „Vater". Nur auf dem Kreuze rief
Er: „Mein Gott, mein Gott!" Während Seines Lebens würde
diese Anrede nicht am Platze gewesen sein, gewiß nicht! Nur
der Vatername drückte die ungetrübte Verwandtschaft und die
bewußte Seligkeit der Sohnschaft treffend aus, in welcher unser
treuer Herr immer stand. Wenn der Herr am Kreuze dennoch
„Mein Gott, mein Gott"! ruft, so bezeichnet das klar und eindringlich den Unterschied der beiden Stellungen, in denen Er
Sich befand,
Bis zum Kreuz wandelt der Herr im Genuß des verwandtschaftlichen Verhältnisses eines Sohnes zu Seinem Vater, und zwar
eines eingeborenen Sohnes, Der weiß, daß der Vater Ihn immer
erhört. Auf dem Kreuz aber muß der zur Sünde gemachte
Christus fühlen und dulden, wie Gott gegen die Sünde handelt,
147
Er muß eine andere Stellung, einen anderen Platz einnehmen;
Er ruft nicht mehr: „Vater"! sondern: „Gott, mein Gott!" Aber
nachdem die Erlösung vollbracht und Er in die volle Freude
alles dessen eingegangen ist, was Sein Gott und Vater, war,
bringt Er Seine Jünger in den Genuß und die Freude beider
Namen: „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater,
zu meinem Gott und zu eurem Gott".
Unser Gefühl von den Leiden des Herrn in Seinem büßenden
Werke wird nie tief genug sein. Keine menschlichen Worte sind
fähig das auszudrücken, was es für den Herrn war, diesen
Kelch des göttlichen Zornes zu trinken; denn mit menschlichen
Worten drücken wir nur unsere eigenen Gefühle aus.
Mit diesen Leiden kann nichts verglichen oder vermischt werden. Es ist eine ganz einzigartige Tat, daß der göttliche Zorn
gegen die Sünde wirklich und wahrhaftig in der Seele Dessen
gefühlt wurde, Der durch Seine vollkommene Heiligkeit, durch
Seine Liebe zu Gott und durch das Bewußtsein des unendlichen
Wertes der Liebe Gottes wissen konnte, was der göttliche Zorn
war und was es bedeutete, von Gott zur Sünde gemacht zu
werden; doch nur Er allein war fähig, diesen Zorn zu tragen,
und ich wiederhole es, diese Tat steht einzig und für sich allein
da.
Ohne Zweifel war der Vorgeschmack von alledem schon
schrecklich; aber der Vorgeschmack war nicht die Erfüllung
selbst. Der Tod, wie er an und für sich für den Fürsten des
Lebens war, noch weniger irgendein menschliches Leiden kann
mit dem Tragen des Zornes Gottes verglichen werden, und
doch war dieses Tragen des Zornes Gottes beim Herrn volle
Wirklichkeit. Kein Blick des Mitleids und kein mitfühlendes
Herz milderte diese Schrecken. Auf dem Kreuz mußte die Ausübung Seiner Liebe dem Gehorsam im Tode Platz machen; der
Haß und die Bosheit des Menschen wurden vergessen und
traten in den Hintergrund, wenn es sich um das Tragen des
Zornes Gottes handelte. Dort wurden alle Seine Verheißungen,
die Rechte zur königlichen Herrlichkeit — die Er freilich danach
unfehlbar wieder aus der Hand Seines Vaters empfangen
sollte und in die Er dann als Mensch eintrat — beiseite gesetzt.
Darum spricht der Herr Selbst auch in Psalm 22 von der Ge148
walttätigkeit und Bosheit der Menschen, dann von Seiner
eigenen Schwachheit, und schließlich, daß andere auf Gott
vertrauende Gläubige gerettet wurden; nur Er — Er war verlassen.
Was auch ein Mensch — und wäre es auch der Sünde wegen —
bis in den Tod leiden könnte, und wenn auch die Macht, die
ganze Macht des Todes ein menschliches Herz bedrückte, so
wäre das doch niemals vergleichbar mit dem, was unser gepriesener Herr unter dem Zorne Gottes gelitten hat. Die Leiden
des Menschen haben selbst in ihrer tiefsten Tiefe eine Grenze:
Er allein konnte den Zorn Gottes tragen.
Man kann sich indessen mit den Leiden des Herrn nicht beschäftigen, ohne auf die Ergebnisse aus diesen Leiden hingelenkt zu werden.
Ohne Blutvergießung gibt es keine Versöhnung, und so ist Er
in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch Sein Opfer. Wer aber kann den
Wert des Todes Christi hoch genug schätzen?
Habe ich Erlösung nötig?
Wir haben eine ewige Erlösung durch Sein Blut.
Bedarf ich der Vergebung der Sünden?
Diese Erlösung ist die Vergebung der Sünden.
Muß ich Frieden haben?
Er hat Frieden gemacht durch das Blut Seines Kreuzes.
Bedarf ich der Versöhnung mit Gott?
Er hat uns versöhnt in dem Leibe Seines Fleisches durch den
Tod, um uns heilig und tadellos und unsträflich vor Sich hinzustellen.
Wünsche ich der Sünde gestorben zu sein?
Ich bin mit Christo gekreuzigt.
Fühle ich das Bedürfnis nach dem Gnadenstuhl?
Christus ist dargestellt als der Gnadenstuhl durch den Glauben
an Sein Blut.
Geht es mir um Rechtfertigung?
Ich bin durch Sein Blut gerechtfertigt.
Möchte ich ein Teil mit Christo haben?
Ich werde Sein Miterbe sein.
149
Wodurch haben wir Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum?
Durch das Blut Jesu.
Worin ist der große Hirte der Schafe aus den Toten wiedergebracht worden?
In dem Blute des ewigen Bundes.
Auf welche Weise ist der Fluch des Gesetzes von denen weggenommen worden, die unter diesem Fluch waren?
Indem Christus zum Fluch für sie geworden ist.
Womit sind wir von unseren Sünden gewaschen worden?
Er hat uns gelieht und uns von unseren Sünden in Seinern Blute
gewaschen.
Wer von der Welt befreit werden will,
wird es durch das Kreuz, „durch welches mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Well".
Wer in göttlicher Kraft zu leben wünscht,
muß an seinem Leihe das Sterben des Herrn Jesu tragen.
Wenn Christus ein besonderes Gedächtnis stiften wollte, damit
wir uns Seiner erinnern,
so war es Sein Leib und Sein Blut — ein Lamm wie geschlachtet, inmitten des Thrones.
Wünsche ich Liebe kennenzulernen:
„hieran haben wir die Liebe erkannt, daß er für uns sein Leber,
dargelegt hat" (1. Joh 5, 16).
Wir sind nun in unserer Betrachtung beim Schluß des Lebens
unseres geliebten Herrn angelangt, und es ist nicht ohne Interesse, einen kurzen Rückblick auf Sein Erscheinen als Mensch
in dieser Welt zu werfen.
Bis Er ungefähr 30 Jahre alt war, ist Christus in der Verborgenheit eines geduldigen und vollkommenen Lebens geblieben,
die Berufung von Gott erwartend. Die einzige Ausnahme bildete, daß Er in Seinem zwölften Jahr nach Jerusalem ging und
Sich mit den Lehrern Israels unterhielt, um zu offenbaren, was
Er in Seiner Person und in Seiner Gnade war, und um zu zeigen,
daß Seine Verwandtschaft mit dem Vater von keiner außerordentlichen Salbung zum Dienst durch den Heiligen Geist abhing. Danach verbindet Sich Christus öffentlich mit dem Über150
rest. Er wird von Johannes getauft, vom Vater anerkannt, vom
Heiligen Geist gesalbt und versiegelt und geht, bevor Er in
Seinen öffentlichen Dienst eintritt, in die Wüste, um vom Teufel versucht zu werden. Er überwindet und bindet den Starken,
und Satan weicht für eine Zeitlang von Ihm. Dann geht Christus umher, tut Gutes und heilt alle, die vom Teufel geplagt
sind; denn Gott ist mit Ihm, und Er weiß, daß Ihn der Vater
allezeit erhört.
Danach kommt Satan zurück als Fürst dieser Welt, als der,
der die Macht des Todes hat, und zeigt dem Herrn durch diese
Macht und die Folgen des Gerichts der Menschen, welch ein
Pfad Ihm bevorstand, wenn Er die Sache der Menschen als die
Seinige auf Sich nehmen wollte. Dies geschieht zur Zeit Seines
letzten Besuches in Jerusalem. Dann trinkt Er den Kelch, den
Er demütig und freiwillig aus der Hand des Vaters nimmt und
erwirkt auf dem Kreuze Erlösung für alle, die an Ihn glauben.
Wie gesegnet ist es, unseren Herrn in Seinen Wegen auf dieser
Erde zu beobachten; was könnte das Herz stiller, demütiger
und geduldiger machen als die Betrachtung Seiner Leiden, und
wie schwach ist unsere Vorstellung von dem, was der Herr
erlitten hat! Unsere Begriffe sind nur der Schatten von dem,
was diese Leiden in Wirklichkeit waren.
Nicht ohne Absicht hat der Herr uns das Gedächtnismahl
Seines Todes hinterlassen; möchten wir nicht allein am Tische
des Herrn, sondern überhaupt viel über Seine Leiden nachdenken und durch die Gnade befähigt werden, mehr davon zu
verstehen.
Gedanken über Psalm 23
Es fällt dem Menschen schwer, sich an Gott genügen zu lassen.
Selbst einem geistlichen Christen würde es große Mühe kosten,
mit Gott auch nur drei Tage allein zu sein. Welche Leere würde
er empfinden, welches Bedürfnis, anderen Mitgeschöpfen seine
Gedanken mitzuteilen! Brüderlicher Verkehr, brüderliche Unterhaltungen sind an ihrem Platze gut und nützlich; aber der
Herr will uns dahin bringen, daß wir uns begnügen lernen,
151
Ihn allein zu genießen und uns nur auf Ihn zu stützen. Zu
diesem Zwecke erlaubt Er, daß wir auf unserem Wege mit allerlei Schwierigkeiten zusammentreffen, die unser Herz zerbrechen und uns die Nichtigkeit von allem zeigen sollen, was außer
Ihm ist. Er will, daß es uns genüge, sagen zu können: „Du
bist bei mir" (V. 4), als daß wir uns auf sonst jemanden stützen.
Die Schwierigkeit, uns an Gott genügen zu lassen, liegt für
uns in der Schwachheit unseres Glaubens, sowie in den mannigfaltigen Wünschen und Begierden unseres Herzens, die uns
bewegen, nicht Gott, sondern tausend anderen Dingen nachzuhängen. Der Herr Jesus hat in Seinem Verhältnis zu dem
Vater den Platz eingenommen, den wir nach Seinem Willen
Ihm gegenüber einnehmen sollen. Aus diesem Grunde hat Er
— wiewohl Er nach Joh 10 der gute Hirte ist — zuerst die Stellung eines Schafes einnehmen wollen, wie es aus diesem Psalm
hervorgeht. Er wollte der erste auf diesen steinigen Pfaden
sein, die wir zu durchschreiten haben, um aus Erfahrung die
damit verbundenen Schwierigkeiten kennenzulernen. Und auf
eben diesem mühsamen und beschwerlichen Wege lernte Er
sagen: „Mir wird nichts mangeln. Er lagert mich auf grünen
Auen, er führt mich zu stillen Wassern .. . er leitet mich in
Pfaden der Gerechtigkeit" (V. 1—3). Ja, geliebte Brüder, Er
konnte das sagen, als Er auf einem Wege wandelte, der für das
Fleisch höchst schreckenerregend war — auf dem Wege der
Erniedrigung bis zum Tode — weil Gott ganz allein Ihm genügte. Die Worte: „Denn du bist bei mir", ebneten Ihm den
Weg. Für Ihn war der Tisch bereitet; der Wille Seines Gottes
war Seine vor der Welt verborgene Speise, an welcher Er Seine
ganze Lust fand und die „seine Seele wiederherstellte".
Er konnte Sich an dem Vater genügen lassen, weil Er dn allen
Umständen und Lagen zu sagen vermochte: „Ich bin nicht
allein, denn der Vater ist bei mir". Deshalb schätzte Er Seine
Jünger nicht etwa gering — 0 nein, Er liebte sie mit inniger
Zärtlichkeit und wünschte als Mensch in Seinen Leiden sie um
Sich zu haben. Als die finstere Stunde dieser Leiden hereinbrach, hören wir Ihn zu Seinen Jüngern sagen: „Meine Seele
ist betrübt bis zum Tode, bleibet hier und wachet mit mir"!
Aber in Seiner Angst war Er allein und rief aus: „Was beugst
du dich nieder, meine Seele, und bist unruhig in mir? Harre auf
152
Gott! denn ich werde ihn noch preisen für das Heil seines Angesichts" (Ps 42, 5). „Auch wenn ich wanderte im Tale des
Todesschattens, fürchte ich nichts Übles, denn du bist bei mir".
Es ist unmöglich, geliebte Brüder, daß ein Mensch, der sich
allein auf Gott stützt und nur an Ihm seine Wonne hat, den
Pfad nicht geebnet finden sollte und selbst an einem Tage der
Prüfung und Mühsal nicht sagen könnte: „Er lagert mich auf
grünen Auen". Denn die Seele, die sich inmitten aller schwierigen Umstände von Gott zu ernähren vermag und sich an Ihm
genügen läßt, wird überall „grüne Auen" und „stille Wasser"
für sich finden.
Was für Jesum in dieser Stellung der Abhängigkeit der Vater
auf dem Wege war, das ist Jesus für uns, die wir Seine Schafe
sind. „Gleichwie der lebendige Vater mich gesandt hat und ich
lebe des Vaters wegen, so auch, wer mich ißt, der wird auch
leben meinetwegen" (Joh 6, 57).
Über die Bedienung des Wortes
in der Welt und in der Versammlung
Der Zweck dieser Zeilen ist, in kurzen, aber bestimmten Zügen
darzustellen, wie schriftwidrig die Gewohnheiten und Einrichtungen sind, die man hinsichtlich dieser Bedienung eingeführt hat. Ich lege mir zwei Fragen zur Beantwortung vor:
1. Enthält die Schrift eine Begründung für die Meinung, daß
niemand der Welt das Evangelium verkündigen dürfe als nur
der, welcher auf diese oder jene Weise dazu ordiniert oder
eingesetzt ist?
2. Wird eine solche Ordination oder Einsetzung für die verlangt, welche in der Versammlung lehren?
Nach Beantwortung dieser Fragen werde ich zeigen, daß nach
der Schrift nicht nur die Predigt des Evangeliums in der Welt
und das Lehren in der Versammlung, sondern auch die Handlung des Taujens, das Brechen des Brotes am Tische des Herrn
und das Ausüben der Zucht keineswegs Tätigkeiten sind, die
von dazu angestellten oder eingesetzten Personen gehandhabt
werden müssen, sondern an Ordinationen — gleich welcher
Art — nicht gebunden sind.
153
l. Das Predigen des Evangeliums in der Welt
Was die Predigt des Evangeliums betrifft, so gibt es keine
einzige Stelle in der ganzen Heiligen Schrift, die besagt, daß
das Auflegen der Hände oder sonst etwas dergleichen erforderlich sei, um jemandem das Recht zur Verkündigung des Evangeliums von Christo zu verleihen; es findet sich auch kein einziges Beispiel dafür, daß jemand zu diesem Zweck ordiniert
worden wäre, außer durch Christus Selbst. Zum Beweis hierfür
wird auf die bekanntesten Prediger des Evangeliums verwiesen, deren Geschichte uns in der Schrift mitgeteilt wird; nirgends ist hier die Rede von einer menschlichen Einsetzung in
deren Dienst. Ich spreche von menschlicher Einsetzung, weil niemand das Evangelium durch den Geist verkündigen kann, der
nicht von Christum gesandt und eingesetzt ist. Diese Sendung
und Einsetzung aber genügt. Alles, was darüber hinausgeht,
ist nichts als menschliche Überlieferung und steht ganz und
gar im Widerspruch zur Heiligen Schrift. Es zeugt von einer
völligen Verkennung der Befugnisse, die allein und ausschließlich Christo und dem Heiligen Geiste zukommen. Daß Christus
Prediger des Evangeliums eingesetzt hat und daß Er das Recht
hatte, sie einzusetzen, wird niemand in Abrede stellen. Aber
wann und wo hat Er diese Macht einem anderen verliehen?
Niemals und nirgendwo! Er gab den Aposteln Befehl, das
Evangelium in der ganzen Schöpfung zu verkündigen; aber
dieser Befehl ist keine Ermächtigung, andere dazu einzusetzen.
Die Apostel haben das auch niemals getan. Gott hat in diesen
Dingen eine Autorität, die Er nie einem Menschen anvertraut
hat.
Untersuchen wir in dieser Beziehung zunächst das Alte Testament. — Die Prediger des Alten Bundes sind Propheten. Es gab
viele Propheten, aber keinem widerfuhr, was jetzt in der Kirche
geschieht. Sie waren einfach von Gott berufen und gingen
ihren Weg, ohne auf eine Einsetzung zu warten, die an keinem
von ihnen vollzogen worden ist. Das weiß jeder, der mit der
Bibel vertraut ist. Wer hat z. B. Henoch eingesetzt oder ordiniert, dessen Prophezeiungen wir im Brief des Judas finden?
Wer setzte Noah, „den Prediger der Gerechtigkeit" ein? Wer
ordinierte Moses und Samuel? Sie waren einfach von Gott berufen und mußten Seine Befehle einem oft unwilligen Volke
154
überbringen. Ehe Jeremia geboren wurde., bestimmte Gott ihn
zu einem Propheten unter den Völkern. „Ehe ich dich im Mutterleibe bildete, habe ich dich erkannt, und ehe du aus dem
Mutterschoße hervorkamst, habe ich dich geheiligt: zum Propheten an die Nationen habe ich dich bestellt" (Jer 1, 5). Wenn
ein solcher Mann wie Jeremia in unseren Tagen aufstände,
würde seine Ordination von der Kirche anerkannt werden?
Und wie würde Arnos heute empfangen werden? Wir hören
ihn selbst sagen: „Ich war kein Prophet und war kein Prophetensohn, sondern ich war ein Viehhirt und las Maulbeerfeigen. Und Jehova nahm mich hinter dem Kleinvieh weg, und
Jehova sprach zu mir: Gehe hin, weissage meinem Volke Israel"
(Arnos 7, 14. 15). Es ist mehr als gewiß, daß, wenn in unseren
Tagen ein anderer Arnos von der Herde weggerufen würde,
um zu prophezeihen oder zu predigen, ihm ein höchst kühler
Empfang zuteil werden und man von ihm verlangen würde,
vorher etliche Jahre eine Universität oder ein Seminar zu besuchen. Abschließend sei noch an Hesekiel erinnert; auch ihn
hat Gott allein berufen (Hes 1 und 2).
Wenn diese Männer bis zum Empfang einer menschlichen Ordination geschwiegen hätten, dann würde sicher ihr Mund für
immer verschlossen geblieben sein, und wenn das „widerspenstige Volk", die Priester und die Obersten, deren Mund
hätte stopfen können, so würden sie es sicher getan haben.
Doch was tat Moses, als jener Jüngling zu ihm kam, um gegen
Eldad und Medad zu zeugen, die im Lager prophezeihten?
„Und Josua, der Sohn Nuns, der Diener Moses, einer von
seinen Jünglingen, antwortete und sprach: Mein Herr Mose,
wehre ihnen! Aber Mose sprach zu ihm: eiferst du für mich?
Möchte doch das ganze Volk Jehovas Propheten sein, daß
Jehova seinen Geist auf sie legte" (4. Mo 11, 28. zg)! Viele
würden in unseren Tagen ganz anders sprechen. Sie würden
sich weder über das Prophezeihen eines Eldad freuen, noch
Männer wie Hesekiel und Arnos anerkennen. Wer nicht mit
einer Ordination oder einer Anstellung von Seiten der Menschen kommt, wird heute in der Regel mit verächtlichem Achselzucken abgewiesen. Hat man nicht ein Zeugnis von der
Hochschule oder ein Anstellungspatent von einer dazu bestimmten Behörde aufzuweisen, so wird man — und hätte man
155
auch die ausgezeichnetsten Gaben von Gott empfangen — zur
Predigt des Evangeliums nicht zugelassen. Es ist geradezu, als
müßte Gott Sich den Anordnungen und Regeln der Menschen
unterwerfen und als hätte kein von Ihm gesandter Diener
Christi das Recht, das Evangelium frei verkündigen zu dürfen.
Doch untersuchen wir nun, was das Neue Testament in dieser
Beziehung lehrt. Als die Jünger dem Herrn mitteilten, daß
jemand in Seinem Namen Teufel austreibe, und daß sie ihm
dies untersagt hätten, weil er ihnen nicht nachfolge, spricht
Jesus: „Wehret ihm nicht, denn es ist niemand, der ein Wunderwerk in meinem Namen tun und bald übel von mir zu
reden vermögen wird; denn wer nicht wider uns ist, ist für
uns" (Mk 9, 38). Schon diese Antwort liefert den Beweis, daß
der Herr ganz anders über die freie Wirksamkeit des Heiliger.
Geistes dachte als die christliche Kirche in unseren Tagen. Die
Handlungsweise der ersten Christen stand damit ganz in Übereinstimmung. In der Apostelgeschichte finden wir keine Spur
von einer Ordination oder Weihe zur Predigt des Evangeliums
durch Händeauflegen und Gebet. Im Gegenteil, jeder Gläubige,
der Gaben empfangen hatte und durch die Liebe des Christus
zu den Verlorenen gedrungen wurde, predigte einfach das
Evangelium wo immer sich dazu eine Gelegenheit bot. In Apg 7
finden wir, wie Stephanus den Juden das Evangelium verkündigt, und in Apg 8, wie Philippus in Samaria predigt. Wer
waren Stephanus und Philippus? Waren sie angestellte Prediger? Hatten ihnen die Apostel zur Bedienung des Wortes die
Hände aufgelegt? O nein, keineswegs; sie waren einfach Diakonen. Und was war ihre eigentliche Beschäftigung? Sie hatten
die Tische zu bedienen — mit anderen Worten, die Armen zu
versorgen (Apg 6. 2—4). Von einer Anstellung in ein Predigtamt war hier durchaus keine Rede. Im Gegenteil, die Apostel
sagen: „Es ist nicht gut, daß xoir das Wort Gottes verlassen und
die Tische bedienen. So sehet euch nun um, Brüder, nach 7
Männern aus euch, von gutem Zeugnis, voll Heiligen Geistes
und Weisheit, die wir über dieses Geschäft bestellen wollen;
wir aber werden im Gebet und im Dienst des Wortes verharren". — Was also die Predigt des Evangeliums angeht, so
befinden sich Diakone auf gleichem Boden mit allen anderen
Christen. Und dennoch verkündigen sie nicht nur das Evan156
gelium, sondern erbauen selbst die Versammlungen. Die Apostel hindern sie hieran nicht; sie senden vielmehr Petrus und
Johannes nach Samaria, um das Werk des Philippus durch ihr
Zeugnis anzuerkennen und zu bestätigen. Und nach Apg 8, 4
verkündigten alle Gläubigen das Evangelium. „Die Zerstreuten
nun gingen umher und verkündigten das Wort". Diese Zerstreuten aber waren alle Glieder der Versammlung zu Jerusalem. Und wie stellte Sich der Herr dazu? Erkannte Er dieses
Werk an? Segnete Er ihre Predigt? Ja, und zwar in einer überströmenden Weise: „Die nun zerstreut waren durch die Drangsal, welche wegen Stephanus entstanden war, zogen hindurch
bis nach Phönizien und Cypern und Antiochien und redeten
zu niemand das Wort als allein zu Juden. Es waren aber unter
ihnen etliche Männer von Cypern und Kyrene, welche, als sie
nach Antiochien kamen, auch zu den Griechen redeten, indem
sie das Evangelium von dem Herrn Jesus verkündigten. Und
des Herrn Hand war mit ihnen, und eine große Zahl glaubte
und bekehrte sich zu dem Herrn" (Apg 11, 19—21). Die ersten
Prediger des Evangeliums außerhalb von Jerusalem waren also
einfache Gläubige, Glieder der Versammlung, die man, da sie
sich keiner Ordination, keiner Anstellung, Weihe oder Händeauflegen rühmen konnten, gegenwärtig als Laien bezeichnen
würde. Es kam ihnen nicht in den Sinn, sich der Predigt des
Evangeliums zu enthalten; im Gegenteil, sie dehnten ihren
Wirkungskreis immer mehr aus, durchzogen verschiedene
Länder, gründeten Versammlungen und richteten das Wort
selbst an die Nationen, so daß in Antiochien sogar eine Versammlung aus den Nationen entstand. Die in Jerusalem zurückgebliebenen Apostel aber sandten Barnabas hin, um das
Werk zu prüfen, und dieser, „als er hingekommen war und
die Gnade Gottes sah, freute sich und ermahnte alle, mit Herzensentschluß bei dem Herrn zu verharren". Das ist die göttliche Handlungsweise. Ach, wie sehr ist die christliche Kirche
von den einfachen Grundsätzen der Wahrheit abgewichen!
Und daß dies nicht nur im Anfang war, zeigt die Apostelgeschichte ganz klar. Nirgends ist die Rede von einer Ordination zur Predigt des Evangeliums. Ein jeder, wer es auch
sein mochte, predigte nach dem Maße der Gnade, die ihm von
Gott verliehen war. So auch Apollos. „Ein gewisser Jude aber,
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mit Namen Apollos, aus Alexandrien gebürtig, ein beredeter
Mann, der mächtig war in den Schriften, kam nach Ephesus.
Dieser war in dem Wege des Herrn unterwiesen, und brünstig
im Geist redete und lehrte er sorgfältig die Dinge von Jesu"
(Apg 18, 24—28). Hier findet man keine Spur von Ordination.
Apollos kannte nur die Taufe des Johannes; Aquila und Priscilla, die ihn hörten, wußten mehr. Was taten sie? Sie nahmen
ihn zu sich und legten ihm den Weg Gottes noch genauer aus.
Und wurde er dann ordiniert? Keineswegs. Nachdem er eingehender unterwiesen war, setzte er seine Arbeit fort, wurde
von den Versammlungen empfangen und war den Glaubenden
durch die Gnade sehr behilflich.
Ebenso war es mit Barnabas und auch mit Paulus. Dieser predigte Christum auf Grund der Sendung durch den Herrn Selbst.
In dem Brief an die Galater beruft er sich darauf, daß er seine
Sendung und Ordination unmittelbar vom Herrn empfangen
habe und keineswegs durch die Apostel zu Jerusalem. Er erklärt dort ausdrücklich, daß er von den Zwölfen nichts empfangen, ja, daß er bereits vierzehn Jahre hindurch das Evangelium
verkündigt habe, bevor er alle Apostel zu Jerusalem kennenlernte. Und was war der Grund zur Rechtfertigung seiner Verkündigung und der Wirksamkeit jener Christen, die gleich ihm
das Evangelium allein auf Grund der Berufung des Herrn verkündigten? „Da wir aber denselben Geist des Glaubens haben
(nach dem was geschrieben steht: „Ich habe geglaubt, darum
habe ich geredet") so glauben auch wir, darum reden wir auch"
(2. Kor 4, 13).
Auch in Rom gab es Brüder, die durch die Bande des Apostels
Vertrauen im Herrn gewonnen hatten, „das Wort Gottes zu
reden ohne Furcht" (Phil 1, 14). Und aus dem zweiten und
dritten Briefe des Apostels Johannes geht eindeutig hervor,
daß die Aufnahme eines Predigers des Evangeliums ganz und
gar von dem Evangelium abhängig war, das er brachte und
keineswegs von einer Ordination, oder davon, daß ihm Hände
aufgelegt worden waren. In der Tat, man wird sowohl im
Alten wie im Neuen Testament vergeblich nach einer Ordination oder Anstellung durch einzelne Personen oder durch
die Versammlung Christi suchen. Die Propheten im Alten
Testament und die Prediger des Evangeliums im Neuen
158
Wie bewirken wir
unsere eigene Seligkeit?
„Daher, meine Geliebten, gleichwie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein als in meiner Gegenwart, sondern jetzt
vielmehr in meiner Abwesenheit, bewirkt eure eigene Seligkeit
mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt
sowohl das Wollen als auch das Wirken, nach seinem Wohlgefallen" (Phil 2, 12. 13).
Wir müssen uns stets daran erinnern, daß das Werk Gottes in
bezug auf Sein Volk von zwiefacher Art ist: Sein Werk für uns
auf dem Kreuze und Sein Werk in uns durch den Geist. Die
angeführte Stelle belehrt uns nicht, wie wir Frieden erlangen.
Sie wendet sich vielmehr an solche, bei denen die Erkenntnis
ihrer Annahme bei Gott durch das gesegnete Werk Jesu Christi
vorausgesetzt wird. Andernfalls würde sie nur dazu dienen,
gesetzliche Anstrengungen zur Erreichung eines Zieles hervorzurufen, welches wir, wenn wir aufrichtig vor Gott sind, auf
diesem Weg niemals erreichen würden. Um Frieden zu erlangen
und das schuldige Gewissen zu befriedigen, haben wir vor Gott
nichts anderes nötig als „das Blut Jesu Christi, seines Sohnes,
welches von aller Sünde reinigt". Auf dem Kreuze, wo Sich
Christus ohne Flecken Gott zu einem wohlriechenden Opfer
geopfert hat, findet unsere Sünde ihre Beantwortung, so daß
alle ihre Folgen für immer beseitigt sind. Hier ist Gott vollkommen verherrlicht und befriedigt worden, indem Christus
für mich starb, der ich ein Sünder und als solcher ungöttlich
und ohne Kraft war. Ich habe also, wie der Apostel Petrus sagt,
„die Errettung meiner Seele" (1. Petr 1, 9). Allein die Seligkeit
ist noch nicht ganz vollständig, obwohl sie meine Sicherheit ist.
Die Seligkeit nach den Gedanken Gottes ist, daß wir bei Christo und Ihm völlig gleich sind, „damit er der Erstgeborene sei
unter vielen Brüdern" (Röm 8, 29). Unserer Stellung und Annahme nach ist aber jetzt schon alles vollkommen; denn „wie er
ist, sind auch wir in dieser Welt"; wir haben daher Freimütigkeit am Tage des Gerichts (1. Joh 4, 17). Und dies ist in zweifacher Weise wahr: unsere Sünden sind für immer beseitigt,
191
und wir befinden uns in einem neuen Leben. Nach den Briefen
des Paulus sind wir durch den Tod und die Auferstehung
Christi in diese Stellung eingeführt; nach den Briefen des
Johannes sind wir aus Gott geboren, so daß wir sagen können
mit Paulus: „Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus
lebt in mir" (Gal 2, 20), und mit Johannes: „Jeder, der aus Gott
geboren ist, tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt in ihm; und
er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist" (1. Joh
3, 9). Was also unsere Stellung vollkommen macht, ist, daß
alle mit dem Leben und dem Zustand des alten Adam verbundenen Sünden gesühnt und für immer beseitigt sind, und
daß wir uns in einem reinen Leben befinden, welchem sich vor
Gott keine Sünde anhaften kann, wie auch unser hochgelobter
Herr zu Petrus gesagt hat: „Wer gebadet ist, hat nicht nötig
sich zu waschen, ausgenommen die Füße" (Joh 13, 10). Welch
ein gesegneter Platz! Wir sind befähigt, uns der Strahlen des
Angesichts Gottes zu erfreuen, was „besser ist als das Leben".
Die Vernachlässigung dieser Seite der Wahrheit aber führt oft
bei denen, die ihrer Annahme gewiß sind, zu einem sehr traurigen Wandel und darum auch zu einem Verlust des vollen Bewußtseins ihrer Annahme und des Genusses ihrer Vorrechte.
Richten wir daher unseren Blick auf das Werk Gottes in uns.
Gerade aus diesem Grunde zeigt uns unsere Epistel, daß wir
völlige Sicherheit haben; denn „der, welcher ein gutes Werk
in euch angefangen hat, wird es vollführen bis auf den Tag
Jesu Christi" (Phil 1, 6). Aber wiewohl wir stets bedenken
müssen, daß sowohl das Werk für uns als Sünder, als auch in
uns als Gläubige aus Gott ist, so haben wir als Gerettete doch
unsere Verantwortlichkeit, nicht etwas Großes zu tun, sondern
uns Gott zu unterwerfen. In der angeführten Stelle sagt uns
nun der Apostel, was Gott in uns wirkt; es ist „das Wollen und
das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen". Von Natur aus
hatten wir unseren eigenen Willen, welcher uns zu „Kindern
des Zorns, wie auch die übrigen" machte. Der erste Adam, mit
welchem wir verbunden waren, fiel durch Ungehorsam und
ruinierte sein ganzes Geschlecht. Der zweite Adam, „der Herr
vom Himmel" tat nie Seinen eigenen Willen, war nie im Gegensatz zu dem Willen Seines Vaters, sondern fand Seine
Speise und Seinen Trank darin, daß Er den Willen Dessen tat.
Der Ihn gesandt hatte. Aber gerade diesen Willen des ersten
192
Adam in uns muß Gott brechen, um uns in unseren Wegen, in
unserem Wandel und in unserer Gesinnung Seinem Sohne
gleichförmig zu machen, wie wir Ihm hinsichtlich unserer Stellung — mit Ausnahme Seiner Gottheit — gleichförmig sind.
Aber wie oft vergessen wir dies und begnügen uns damit, daß
wir uns von anerkanntem Übel fernhalten! Eine solche Haltung
bleibt jedoch weit hinter den Gedanken Gottes über uns zurück. Wir haben gewöhnlich einen viel zu schwachen Begriff
von dem, was Sünde ist. Die Heilige Schrift belehrt uns, daß
der in einer Kreatur wirkende Wille Sünde ist. „Jeder, der die
Sünde tut, tut auch die Gesetzlosigkeit, und die Sünde ist die
Gesetzlosigkeit" (i. Joh 3, 4), d. h., der ganze Wille ist Sünde,
selbst wenn seine Ausbrüche nicht die Form einer Übertretung
des Gesetzes in offenbarer Bosheit annehmen. Kein Geschöpf
hat ein Recht auf einen unabhängigen Willen, und daher sind
wir geheiligt „zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu
Christi" (1. Petr i, 2). Unser Wandel mag so beschaffen sein,
daß er unser Gewissen nicht beunruhigt; aber unser Trachten
sollte es sein, uns nicht nur vom Bösen zu enthalten, sondern
auch im Gehorsam zu wandeln, unseren Willen Gott zu
unterwerfen und in der Tat keinen eigenen Willen zu haben;
denn „Gehorchen ist besser als Schlachtopfer, aufmerken besser, als das Fett der Widder". Gott erwartet nicht das Vollbringen eines großen Werkes. Es mag jemand Eifer und Tätigkeit entwickeln, welche die höchste Achtung und Bewunderung
der Menschen hervorrufen; aber gehorsam gegenüber dem zu
sein, was Gott wohlgefällig ist, das ist es, wodurch der schwächste Heilige, auf welchen Platz ihn Gott auch gestellt haben
mag, Seinen Namen verherrlichen kann.
In diesen Tagen des Wollens und des Wirkens der Menschen
bedürfen wir der gänzlichen Unterwürfigkeit unter den Willen
Gottes, sowie des völligen Vertrauens auf Seine Macht. Wo
aber finde ich Seinen Willen? Nur und ganz sicher in Seinem
Worte. Wir haben es nicht nötig, den Eingebungen unserer
Herzen blindlings zu folgen, sondern wir bilden — in dem
Maße, wie wir aus dieser kostbaren Wahrheit schöpfen — unser
Verständnis und unser Urteil nach den Gedanken Gottes. „Wir
haben den Geist Christi" und wir leben „nicht vom Brot allein,
sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes aus193
geht". In der Tat, nur auf diesem Wege können wir in unserem
täglichen Wandel durch diese Wüste Freude und Frieden finden. Blicken wir auf unseren gesegneten Herrn, wie Er uns in
Mt n dargestellt wird. Sein Pfad durch diese Welt hatte Ihm
nichts als Trauer gebracht. „Er kam in das Seinige, und die
Seinigen nahmen ihn nicht an". Er mußte das Wehe ausrufen
über jene Städte, in denen Er die mächtigsten Wunderwerke
verrichtet hatte. Nach den sichtbaren Resultaten zu urteilen
hätte Er sagen müssen: „Umsonst habe ich mich abgemüht,
vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt" (Jes 49, 4).
Unter dieser Sicht gab es für Ihn nichts als Trauer und Hindernisse; dennoch sagte Er gerade in dieser Stunde: „Ich preise
dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vor
Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig
vor dir". Und Er, Der alles völlig in Sich Selbst hatte, konnte
auch ausrufen: „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und
Belädenen, und ich werde euch Ruhe geben", — und Er konnte
denen, welche gekommen waren sagen: „Nehmet auf euch mein
Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen".
Was aber war Sein Joch? Es war die Unterwerfung unter den
Willen Seines Vaters, welchen Er in den Schwierigkeiten auf
der Erde stets erfüllte und in welchem Er Seine Ruhe fand. Und
darum fügte Er hinzu: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist
leicht"! Das wird uns in Joh 4 klar vor Augen gestellt, wo Er
Selbst, während sich die Ströme lebendigen Wassers in eine
arme dürstende Seele ergossen, eine solche Erquickung fand, daß
die vorhergehende Müdigkeit gänzlich entschwindet. Als Seine
Jünger sagen: „Rabbi, iß"! antwortete Er ihnen: „Ich habe
eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt . . . Meine Speise ist,
daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat und sein
Werk vollbringe". Wir nun sind berufen, Ihm auf diesem Pfad
zu folgen — einem Pfad, auf dem das Fleisch, wie sehr es sich
dazu auch den Anschein geben mag, keinen Schritt gehen kann
und auf dem wir nur so lange wandeln können, wie wir bereit
sind, die Unterweisungen zu lernen, welche das Kreuz gibt, und
unseren natürlichen Willen und die eitlen Wünsche unseres Herzens aufzugeben, um Seinen Willen zu tun. Aber unsere Kraft
194
wird sich nicht darin zeigen, daß wir gute Entschlüsse und Vorsätze fassen, sondern darin, daß wir Jemanden haben, Der uns
anzieht und fesselt. Beschäftigen wir uns mit dem Ich, so wird
uns alle Kraft fehlen, wie sehr wir unsere Mängel und Gebrechen beklagen, und unsere Gewissensbisse uns drängen
mögen, einen neuen Anlauf zu nehmen, um das Böse zu überwinden. Ein aufrichtiges Gewissen zu haben, ist durchaus nötig;
aber es reicht uns keine Kraft dar. Wir mögen lernen, daß wir
keine Kraft haben und daß „in uns, das ist in unserem Fleische,
keine Kraft ist" — wirklich eine nützliche Lektion; aber unsere
Kraft finden wir darin, daß wir mit Jemandem beschäftigt sind,
Der uns erfüllen und befriedigen kann. Und das ist der Grund,
weshalb der Apostel uns in dieser Epistel Christum in zwei
Charakteren vorstellt. Wenn meine Gedanken erfüllt sind mit
Jemandem, Der vom Himmel herabstieg, um als Mensch den
niedrigsten Platz einzunehmen, so wird dies auch mich in dem
Maße demütig machen, als ich aus der Quelle moralischer
Schönheit trinke, die der Geist Gottes mir in Christo darstellt.
Einen anderen Weg gibt es nicht. Wenn ich an Ihn denke, Ihn
bewundere, so werde ich unbewußt mehr und mehr in Sein
Bild verwandelt werden. „Diese Gesinnung sei in euch" sagt
Paulus. Aber wie? Wenn ich in mein Inneres blicke und das,
-was ich dort entdecke zu ordnen suche, so fühle ich nur, wie
ohnmächtig ich bin, das Böse wieder gut zu machen, wie seh;
ich es auch verurteilen und betrauern mag. Deshalb sagt der
Apostel, indem er die Gesinnung Christi in Seiner Erniedrigung weiter entfaltet: „Blickt auf ihn"! So wird uns der Herr
im zweiten Kapitel unseres Briefes in Seiner Erniedrigung
gezeigt, damit Seine Schönheit auch unser Teil werden möge.
Im dritten Kapitel aber wird Er uns in Seiner Erhabenheit und
Herrlichkeit vorgestellt, damit diese Herrlichkeit Seinen Heiligen
Kraft verleihe, Ihm mit der gesegneten Gewißheit nachzueilen,
daß am Ende Seine Wünsche gänzlich erfüllt sein werden. Denn
Christus wird als Heiland kommen und „unseren Leib der Niedrigkeit zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit
umgestalten nach der wirksamen Kraft, mit der er vermag,
auch alle Dinge sich zu unterwerfen" (Phil 3, 21).
Möge Er uns doch mit jedem Tage mehr unterweisen, was es
heißt, „mit Furcht und Zittern unsere Seligkeit zu bewirken",
195
und zwar in dem Bewußtsein, daß Gott es ist, welcher „in uns
wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, nach seinem
Wohlgefallen"!
Leben und Freiheit
„Löset ihn auf und lasset ihn gehen" (Joh 11, 44)!
Es gibt viele göttlich lebendig gemachte Seelen, welche die Kraft
der gebietenden Worte: „Löset ihn auf und lasset ihn gehen"
noch nicht kennen. Sie sind durch das lebendigmachende Wort
des Sohnes Gottes dem Zustande des Todes entrissen; aber sie
kommen heraus „an Händen und Füßen mit Grabtüchern gebunden" und ihr Gesicht „mit einem Schweißtuch umbunden".
Sie sind, mit anderen Worten, noch nicht fähig, die Fesseln
ihres früheren Zustandes abzuschütteln und sich auf ihrem
Weg in der Freiheit zu bewegen, womit Christus Sein Volk
freigemacht hat. Daß sie göttliches Leben empfangen haben,
geht deutlich aus den Verlegenheiten, Anstrengungen und
Kämpfen hervor, über die sie beständig klagen. Wer noch „tot
in den Sünden und Vergehungen'' ist, weiß von dergleichen
nichts. Solange Lazarus, von der eisigen Hand des Todes erfaßt, im Grabe lag, fühlte er keineswegs, daß die Grabtücher
seine Bewegungen hinderten und daß das Schweißtuch den
Blick seiner Augen hemmte. Alles an ihm und um ihn her war
finster, kalt und leblos, und die Grabtücher waren die angemessenen Zierden eines solchen Zustandes. Ein Mensch, dessen
Hände und Füße von den Fesseln des Todes umklammert sind,
kann unmöglich die Grabtücher lästig und beschwerlich finden,
und jemand, dessen geschlossene Augen durch die strenge
Hand des Todes versiegelt sind, vermag die Beschwerlichkeit
eines Schweißtuches niemals zu fühlen.
Ebenso verhält es sich mit unbekehrten, nicht wiedergeborenen
Seelen. Sie sind „tot" — moralisch, geistlich „tot". Ihre Füße
sind von den Fesseln des Todes umklammert; aber sie wissen
es nicht. Ihre Hände sind in die Handschellen des Todes einge196
zwängt; aber sie fühlen es nicht. Ihre Augen sind mit dem
Schweißtuch des Todes verhüllt; aber sie merken es nicht. Sie
sind tot. Die Gewänder des Todes umringen sie, die Grabtücher
bedecken sie — alles ist ihrem Zustande angemessen.
Aber die Menschen, für welche ich diese Zeilen schreibe, sind
auf diese oder jene Weise durch die mächtige, lebendigmachende Stimme des Sohnes Gottes — durch Ihn, Der das „Leben
und die Auferstehung" ist — aufgeweckt und in Bewegung gesetzt worden. Durch irgendeine Schriftstelle, durch eine Predigt,
durch einen Traktat, durch ein Lied, durch ein Gebet oder durch
ein Ereignis ist ihr Ohr geöffnet worden, um eine lebengebende
Stimme zu vernehmen. Diese Stimme ist in ihr Herz gedrungen und hat es in der Tiefe erfaßt. Sie sind aufgeweckt, sie
wissen nicht wie, — sie sind erwacht und wissen nicht warum.
„Der Wind weht wo er will, und du hörst sein Sausen, aber
du weißt nicht woher er kommt und wohin er geht; also ist
jeder, der aus dem Geiste geboren ist" (Joh 3, 8). Das Leben
ist da, und alles ist Wirklichkeit. Die neue Geburt hat stattgefunden; die neue Natur ist mitgeteilt worden. Wer das beobachtet und weiß, was das Leben ist, gewahrt die Bewegungen, Kämpfe, Anstrengungen und Wirkungen des Lebens;
er erkennt aber auch, daß „die Grabtücher und das Schweißtuch" noch da sind. Ich glaube, daß es viele lebendiggemachte,
wiedergeborene Seelen gibt, die sich in diesem Zustande befinden und die deshalb weder die mit ihrer Geburt verknüpften
Vorrechte, noch die Quelle und den Zweck des ihnen mitgeteilten Lebens kennen. Sie sind lebendiggema.cht, aber noch
nicht freigemacht worden. Dieselbe Stimme, die ausrief: „Lazarus, komm heraus"! muß noch die Worte hinzufügen: „Löset
ihn auf und lasset ihn gehen"!
Ein Beispiel aus dem Worte Gottes soll uns das näher erläutern.
Der verlorene Sohn war lebendiggemacht, ehe er befreit wurde.
Sein Entschluß „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater
gehen" war die Äußerung des neuen Lebens, der Hauch der
neuen Natur. Als er diese Worte sprach, war er voller Zweifel
und Ungewißheit darüber, wie ihn der Vater empfangen würde.
Die Gesetzlichkeit erfüllte sein Herz; seine Gedanken beschäftigten sich mit der Knechtschaft und keineswegs mit der Sohn197
schaft. Das neue Leben war vorhanden; aber es war noch verbunden mit den Zweifeln und Befürchtungen seines Innern; die
Lumpen seines früheren Zustandes bedeckten ihn noch. Er war
aufgerüttelt worden durch eine lebengebende Stimme; aber
er war noch nicht in Freiheit gesetzt. Die ihm verliehene neue
Natur bewegte sich der Quelle entgegen, welcher sie ihren Ursprung verdankte; aber ihre Bewegungen waren gleichsam
durch die Grabtücher gehemmt, und ihr Blick war durch das
Schweiß tuch verdunkelt.
Wäre es nicht absurd, den verlorenen Sohn in seinen Lumper
belassen zu wollen, so daß er in seinen Zweifeln, in seinen
Ängsten und in seiner Ungewißheit hätte verharren müssen?
Hätte Lazarus etwa für den Rest seiner Tage seine Grabtücher
und sein Schweißtuch tragen sollen, um zu beweisen, daß er
ein lebendiger Mensch sei? Es wird uns gezeigt, daß die Umarmung des Vaters alle Befürchtungen des verlorenen Sohnes
zerstreute; denn wie hätte er sich in den Armen der väterlichen
Liebe noch fürchten können? War es nicht der Vater Selbst, der
gebot, die Lumpen mit dem „vornehmsten Kleide" auszutauschen? Und was Lazarus betrifft, so muß nachdrücklich hervorgehoben werden, daß Dieselbe Stimme, Die ihn belebt und auferweckt hatte, auch gebot, ihn zu lösen und gehenzulassen.
Verhält es sich nicht ebenso bei dem, der durch den Glauben an
den Namen des Sohnes Gottes ein neues Leben empfangen hat?
In der Tat, ein solcher wird nicht länger die Lumpen des „fernen Landes", die Zierden des Grabes zu tragen haben. Seine
Hände und seine Füße werden gelöst, so daß er seinem Herrn
und Heilande dienen und in den Pfaden Seiner Gebote wandeln kann. Sein Antlitz wird enthüllt, das Schweißtuch entfernt
werden, so daß er seine Augen auf Den heften kann, Dessen
mächtige Stimme ihn ins Leben gerufen hat.
Erinnern wir uns stets daran, daß es dieselbe Stimme ist, die
lebendig macht und befreit, die das Leben und die Freiheit gibt,
die uns von der Herrschaft des Todes erlöst und in die
Freiheit des Lebens hineinführt. Diese Erkenntnis ist nötig.
Das Leben und die Freiheit sind miteinander verbunden, sie
kommen aus derselben Quelle. Das Leben, welches der Gläubige besitzt, ist nicht das verbesserte Leben des alten Adam,
198
sondern das mitgeteilte Leben des neuen Adam, und die
Freiheit, in welcher der Gläubige wandelt, ist nicht eine Freiheit
für den alten Menschen, damit dieser seine schrecklichen Lüste
befriedigt, sondern eine Freiheit für den neuen Menschen,
damit er in die heiligen Fußtapfen Christi treten kann und mit
Gott wandelt. Auf welchem Wege erlangt er nun dieses Leben
und diese Freiheit? Durch das Wort Gottes, mittels des Glaubens in der Kraft des Heiligen Geistes. Dieselbe Stimme, die
den Lazarus lebendig machte, gibt auch der Seele das Leben.
Und wo läßt sich diese Stimme vernehmen? — In dem Worte
der Wahrheit des Evangeliums. Wer an den Namen des Sohnes
Gottes glaubt, hat das neue Leben empfangen. Welches Leben?
— Das Auferstehungsleben Christi. Das einfache Wort des
Evangeliums ist der Samen, der dieses neue Leben hervorbringt.
Und was besagt das Evangelium, diese frohe Botschaft? — Daß
Jesus Christus gestorben und wieder auferstanden, daß er ein
Opfer für die Sünde geworden und gen Himmel aufgefahren
ist. Er hat uns durch Sein Blut von unseren Sünden gereinigt,
ist jedem Widersacher, jeder Forderung, jedem Bedürfnis begegnet, so daß die Gerechtigkeit befriedigt ist, unser Gewissen
beruhigt und der Feind vernichtet ist. Dies gibt Leben und Freiheit — neues Leben und göttliche Freiheit. Es führt die Seele
aus der alten Schöpfung und allem was dazu gehört, heraus
und führt sie in die neue Schöpfung mit all ihren Vorrechten,
Freuden und Herrlichkeiten ein. Der Tod Christi befreit den
Gläubigen aus dem Zustand des alten Adam, in welchen er
hineingeboren war, und die Auferstehung Christi führt ihn ein
in den Zustand des neuen Adam durch die Wiedergeburt.
Dies alles ist eine Frucht des Wortes Gottes — der Stimme
Christi — der Wirkung des Heiligen Geistes. Menschliches Mitwirken ist dabei gänzlich ausgeschlossen. Der tote Körper des
Lazarus wurde durch die mächtige Stimme Christi belebt. Das
eine ist von dem Menschen so unabhängig wie das andere. Die
lebendigmachende Kraft sowohl für den Leib als auch für die
Seele liegt in der „Stimme des Sohnes Gottes" (siehe Joh 5, 25;
vgl. mit den Versen 28. 29). Das schließt jeden Ruhm des Menschen aus und erkennt ihn, wie es sich geziemt, allein dem
Sohne Gottes zu. Ja, Ihm gebührt alle Ehre, gelobt sei Sein
Name in alle Ewigkeit!
199
Daß doch diese Wahrheit tief in die Herzen solcher Leser eindringen möge, die über ihre Stellung in Christo noch nicht die
notwendige Klarheit haben. Denn gerade solchen Seelen, die
zwar lebendiggemacht, aber noch nicht befreit sind, gelten
diese Ausführungen. Es gibt viele, die sich im Zustande des
verlorenen Sohnes befinden, als er sich auf dem Wege zum
Vaterhause, aber noch nicht in den Armen des Vaters befand.
Ich wünsche von Herzen, daß sie zur vollen Freiheit gelangen
möchten, zu dem klaren Bewußtsein, daß das ganze Werk
vollendet, das Opfer vollbracht, das Lösegeld bezahlt ist. Sie
haben keinen Schritt zu gehen, kein Werk zu tun, um Frieden
zu schaffen; denn Christus hat Frieden gemacht. Gott ist völlig
zufriedengestellt. Der Heilige Geist bezeugt es. Das Wort Gottes gibt die eindeutigen Aufschlüsse darüber. Wo gibt es da
noch Grund für irgendeinen Zweifel? In dir selbst, mein Leser,
nicht wahr? Aber, mein teurer Freund, vergiß nicht, daß du
nichts mehr zu tun hast in einer Sache, die bereits für dich in
Ordnung gebracht ist. All dein eigenes Wirken zur Erlangung
einer Gerechtigkeit, die du bei dir suchst, ist eitel und unnütz;
aber, „dem, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den
Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet" (Röm 4, 5). Wenn du etwas tun müßtest, um die
Gerechtigkeit zu erlangen, so würde diese Schriftstelle eine
Lüge enthalten. Aber nicht in deiner, sondern in Gottes Hand
liegt dein Heil. Er will dein Wirken nicht; du stehst Ihm damit
nur im Wege. Er duldet nicht, daß du das Gewicht einer Feder
an menschlichem Wirken in die Waagschale legst, um das
Opfer Christi für dich annehmbar zu machen. Du wirkst aus
dir selbst nichts als Sünde und bringst dem Tode Frucht; aber
Christus hat für deine gegenwärtige, persönliche und ewige
Errettung alles getan. Er gibt das Leben und Er löst die Banden
der Knechtschaft. Alles ist Sein Werk!
Möge der Herr, der Geist, noch viele Seelen, die zwar vom
Tode zum Leben gelangt sind, aber sich noch gebunden und in
ihren Bewegungen gehemmt fühlen, mit der köstlichen Wahrheit einer völligen Befreiung bekanntmachen! Mögen alle, die
auf Seinen mächtigen Ruf das Grab der Sünde verlassen haben,
auch die alles durchdringenden Worte hören und verstehen:
„Löset ihn auf und lasset ihn gehen"!
200
Die Errettung
Man kann gegenüber der Neigung solcher Menschen, die, in
ihren Gewissen beunruhigt, durch eigene Anstrengung Rettung
und Frieden suchen, nicht oft genug wiederholen, daß die Bibel
das Heil des Sünders nirgendwo von menschlichem Tun, sondern ganz allein von dem abhängig macht, was der Herr getan
hat. Wie der Prophet Jona sich nicht selbst aus dem Bauch des
Fisches befreien konnte, sondern ausrufen mußte: „Bei Jehova
ist Rettung'', ebenso kann auch der Sünder nichts zu seiner
Befreiung aus der Tiefe des Verderbens beitragen. Er ist von
Natur, „ein Kind des Zorns" und offenbart sich in seinem
Wandel als ein Sklave Satans und wenn er je etwas
anderes, etwas Besseres ist, so nur deshalb, weil Gott etwa:;
für ihn wirkt oder gewirkt hat. Und was hat Gott getan? „Also
hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn
gab, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in
die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt
durch ihn errettet werde" (Joh 3, 16—17). Gerade jene Kinder
des Zorns sollen Rettung finden, nicht etwa erst, wenn sie
wollen; denn der Mensch kann kein Verlangen nach Rettung
haben, bevor Gott dieses Verlangen in ihm gewirkt hat. Er
zweifelt erst dann an seiner Seligkeit, wenn er von der Tatsache
seines Verlorenseins überzeugt ist, und diese Überzeugung vermittelt ihm weder seine eigene Natur noch der Teufel, unter
dessen Macht er steht. Der Mensch empfindet erst dann göttliche Traurigkeit über die Sünde, wenn er lebendiggemacht ist.
„Der Sohn macht lebendig, welche er will" (Joh 5, 21). „Gott
aber hat uns, als auch wir in den Vergehungen tot waren, mit
dem Christus lebendig gemacht" (Eph 2, 4. 5). Was kann ein
toter Mensch tun? Gott ist es, Der von Anfang bis zu Ende
„beides in uns wirkt, das Wollen und das Wirken nach seinem
Wohlgefallen". — „Stehet fest und sehet die Rettung Jehovas",
ruft Moses den fliehenden Kindern Israels zu, die in ihrer Ohnmacht gezwungen waren, Gott allein die Ehre zu geben. Der
Mensch zeigt, solange er nicht von seiner Ohnmacht überzeugt
ist, stets die Neigung, bei seiner Rettung die Hand mit ans
201
Werk zu legen; und nichts ist schwerer und demütigender für
ihn, als mit gottgemäßer Überzeugung seinen Ruin und seine
völlige Hilfslosigkeit zu bekennen. Und doch wird gerade dadurch die Gnade Gottes so klar bezeugt und verherrlicht.
Nichts hat wohl die christliche Lehre mehr entstellt, als der
von vielen angenommene Lehrsatz, daß man aus der Gnade
fallen könne. Wenn allerdings ein Mensch kraft seines eigenen
Willens ein Kind Gottes werden könnte, so könnte er auch im
nächsten Augenblick kraft desselben Willens wieder ein Sklave
Satans werden. Aber ebensowenig wie ein Mensch durch die
Wirkung seines eigenen Willens ein Kind Gottes werden kann,
so kann auch kein Mensch das Verhältnis aufheben, welches
Gott Selbst gegründet und aufgerichtet hat. „Niemand kennt
den Vater, als nur der Sohn, und wem irgend der Sohn ihn
offenbaren will". „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn,
daß der Vater, der mich gesandt hat, ihn ziehe". „Niemand
kommt zum Vater, als nur durch mich". „Welche nicht aus
Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem
Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind". „Was aus
dem Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geiste
geboren ist, ist Geist". „Gepriesen sei der Gott und Vater
unseres Herrn Jesus Christus, der nach seiner großen Barmherzigkeit uns wiedergezeugt hat" (Mt 11, 27; Joh 6, 44; 14, 6;
1, 13; 3, 6; 1. Petr l, 3).
Ist ein Kind geboren, weil es seine Geburt für gut fand und
sich daher entschloß, geboren zu werden? War seine Geburt die
Folge seines eigenen Willens? Jeder weiß die Antwort. Blicken
wir uns daher um, damit wir erkennen, was Gott getan hat,
um uns zu Seinen Kindern zu machen. „Größere Liebe hat
niemand als diese, daß jemand sein Leben läßt für seine Freunde"
(Joh 15, 13). „Christus ist, da wir noch kraftlos waren, zur
bestimmten Zeit für Gottlose gestorben. Denn kaum wird
jemand für einen Gerechten sterben; denn für den Gütigen
möchte vielleicht jemand zu sterben wagen. Gott aber erweist
Seine Liebe gegen uns darin, daß Christus, da wir noch Sünder
waren, für uns gestorben ist. Vielmehr nun, da wir jetzt durch
sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch ihn gerettet
werden vom Zorn. Denn wenn wir, da wir Feinde waren, mit
202
Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, vielmehr
werden wir, da wir versöhnt sind, durch sein Leben gerettet
werden" (Röm 5, 6—10).
Gepriesen sei Gott! Wenn die Liebe Gottes, als ich noch ein
Feind, ein Sünder, ein Gottloser war, für meine Rechtfertigung
und Versöhnung ein so sicheres Unterpfand gegeben hat, wievielmehr wird dann diese Liebe jetzt für mich, Sein Kind, eintreten, um mich für die Herrlichkeit zu bewahren. Leider werden viele Stellen der Schrift oft fälschlich auf Gläubige angewandt, obgleich sie sich, wie eine sorgfältige Prüfung deutlich
zeigt, sich auf eine Klasse von bloßen Bekennern beziehen, die
nie durch die lebendigmachende und erneuernde Gnade Kinder
Gottes waren. Die stärksten Ausdrücke nach dieser Richtung
hin finden wir inHebrö, 4—6. Wenn wir diese Ausdrücke mit anderen Schriftstellen vergleichen, entdecken wir, daß unter denen,
die„einmal erleuchtet waren und geschmeckt haben die himmlische
Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes" nicht
solche zu verstehen sind, die Leben aus Gott, himmlische Gaben
zu ihrer Nahrung und den Heiligen Geist, wohnend in ihnen
als Seinen Tempeln, empfangen haben. Für Seine Kinder wählt
Gott ganz andere Ausdrücke. Sie sind erwählt, berufen, lebendiggemacht, gerechtfertigt, versöhnt, angenehm gemacht, zur
Kindschaft verordnet und in Christo vollendet. Schließlich
findet man im 7. Vers eine Erläuterung und im achten und
neunten Vers einen klaren Aufschluß über die wahre Bedeutung jener Stelle, daß sie nämlich eine Klasse von Menschen
bezeichnet, die nie gerettet waren. — Auch die Stelle in Gal 5
Vers 4: „Ihr seid aus der Gnade gefallen", berührt in keiner
Weise die Frage der Errettung; denn die Galater waren in Gefahr, sich von der im Evangelium verkündigten Gnade abzuwenden und zum Judentum oder zum Gesetz zurückzukehren.
— Ebenso werden die Worte in Phil 2, 12: „Bewirket eure
eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern", oft ganz falsch angewendet und ihrer wahren Bedeutung entkleidet. Lesen wir
den ganzen Vers: „Daher, meine Geliebten, gleichwie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein als in meiner Gegenwart, sondern jetzt vielmehr in meiner Abwesenheit, bewirket
eure eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern". Unmöglich würde
der Apostel solche, die noch nicht gerettet und mithin noch
203
Feinde Gottes waren, als „meine Geliebten" angeredet haben.
Er wendet sich vielmehr an Gläubige, die sich ihrer Rettung
bewußt sind, und an sie ergeht die Aufforderung, ihre eigene
Seligkeit mit Furcht und Zittern zu bewirken, d. h. sich mit
äußerster Wachsamkeit von den drei großen Feinden ihrer
Seele fernzuhalten: von der Welt, dem Fleische und dem Teufel.
Wie aber sollte das geschehen? Die Worte: „Denn Gott ist es,
der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken nach
seinem Wohlgefallen", geben uns darüber völligen Aufschluß.
Das Vermögen, uns von unseren Feinden fernzuhalten, liegt
nicht in uns selbst, sondern wir fliehen zu Gott, Der den Willen
und die Kraft darreicht, dem Teufel zu widerstehen, das Böse
zu überwinden und uns in der Hoffnung der Herrlichkeit zu
erfreuen. Die ganze Idee des freien Willens findet also im
Wort der Wahrheit keine Stütze.
Aus den verkehrten Anschauungen über das Wort Gottes, sowie
überhaupt aus den Gedanken des Menschen über Gott und
über sich selbst entspringen die größten Irrtümer. Wenn sich
ein Mensch den Gedanken, die Gott über ihn hat, unterwirft,
erkennt er bald, daß er nicht die Wahl hat, frei über sich selbst
zu bestimmen; denn er ist schon gerichtet. Welche Macht oder
Freiheit, sich selbst zu retten, besitzt ein Gefangener, der bereits verurteilt ist und dem Tage seiner Hinrichtung entgegensieht? — Aber ein Kind Gottes ist sich seiner Freiheit bewußt
und wandelt in diesem Bewußtsein; denn „wen der Sohn frei
macht, der ist wirklich frei". Zum Verständnis soll folgendes
Beispiel beitragen: ein Mann von großem Vermögen nimmt
einen armen Knaben, der weder Vater noch Mutter, noch sonst
einen Versorger hat, in sein Haus auf und sagt ihm: „Höre,
mein Junge, wenn du zu mir kommen und dich 15 Jahre lang
gut führen willst, so werde ich dich zu meinem Universalerben
einsetzen". Was für eine Einstellung wird den Knaben leiten?
Seine Haltung während der ganzen 15 Jahre wird von Knechtschaft und Furcht geprägt werden. Um seinem Herrn nicht zu
mißfallen, oder gar von ihm entlassen zu werden, wird er es
nicht wagen, dieses zu tun und jenes zu unterlassen. So verfährt die herrschende Theologie unserer Tage; sie führt die
Menschen durch die Furcht vor der Hölle in die Knechtschaft.
Da heißt es stets: „Wenn du dies oder das tust — wenn du
204
dich sauber und rein hältst, wirst du selig werden, andernfalls
ist die Verdammnis dein unausbleibliches Los".
Aber Gott stellt uns in Seinem Evangelium auf einen ganz
anderen Boden. Er sagt: „Höre, mein Sohn, ich erwähle dich
zu meinem Kinde und Erben. Komm nun und betrage dich, wie
es eines Kindes würdig ist". — Welch ein Unterschied! Während jener vermögende Mann die Erbschaft von der Führung
des Knaben abhängig macht, tritt hier der Berufene sofort und
ohne Vorbehalt in die Freiheit eines Sohnes und Erben ein. Er
ist „wirklich frei". Er kann sagen: „Dies alles ist mein, und
es ist nur eine Zeitfrage, wann ich in den vollen Besitz dieser
Dinge kommen werde". Er kann den Willen seines Vaters mit
fröhlichem Herzen und heiterem Gemüt erfüllen, weil er weiß,
daß sein Erbteil gesichert ist. Der Herr sei dafür gepriesen!
Unser Erbteil ist sicher und wird für uns im Himmel aufbewahrt. Bemerkst du nicht den großen Unterschied zwischen
jenem Knaben, der, wenn er treu ist, auf das Erbteil hoffen
darf, aber weil eben alles von seiner Treue abhängt, dessen nie
völlig sicher ist, und dem bereits angenommenen Sohne, der,
weil er sich seiner Sohnschaft bewußt ist, im Gefühl völliger
Freiheit wandeln kann? Es handelt sich also nicht um meine
Treue und Standhaftigkeit, sondern um das, was Gott getan
hat und tut. Denn in mir selbst bin ich total verderbt und
habe von Natur durchaus keine Kraft in mir, das Gute zu tun.
„Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts
Gutes wohnt". — „Ich bin mit Christo gekreuzigt, und nicht
mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt
lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn
Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben
hat" (Gal 2, 20). Verherrlicht sei Sein teurer Name!
Jetzt nun, — als ein neuer Mensch, als ein angenommener
Sohn — bewirke ich meine Seligkeit mit Furcht und Zittern.
Das, was dieses Zittern hervorbringt, ist nicht etwa die Furcht
davor, schließlich verlorenzugehen, sondern es ist das Gefühl
meiner Schwachheit gegenüber den feindlichen Mächten, gegen
welche ich zu kämpfen habe, und zwar in dem Bewußtsein,
daß Gott es ist, welcher in Gnade mit mir handelt, um mich —
das einstige Kind des Zornes — in Seine Herrlichkeit zu bringen.
205
O wie wunderbar groß ist die Güte und Gnade Gottes! „Wie
unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine
Wege"! Merken wir uns den großen Unterschied! Ich wirke,
weil ich gerettet bin und nicht, weil ich auf der Grundlage eines
treuen Wandels gerettet zu werden hoffe, denn das würde mein
Werk dahin stellen, wo das Werk Gottes allein stehen kann.
Handelt es sich um mein Wirken, dann bin ich selbst im besten
Falle ein „unnützer Knecht". Daher wie lieblich ist es, den
Herrn sagen zu hören: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte,
denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; aber ich habe
euch Freunde genannt". „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr
tut, was irgend ich euch gebiete". Wenn wir also nicht tun, was
Er gebietet, so beweisen wir, daß wir nicht Seine Freunde sind.
Wir sind nicht Seine Freunde, weil wir Seine Gebote halten,
sondern wir halten Seine Gebote, weil wir Seine Freunde sind.
Mit demselben Gesichtspunkt befaßt sich auch Jakobus. Im
zweiten Kapitel seines Briefes finden wir eine Klasse von Menschen, die nach ihrem Bekenntnis Anspruch darauf erheben,
gerettet und mithin Freunde Christi zu sein, während ihr ganzes Verhalten dieses Bekenntnis Lügen straft. Sie handelten
nicht als Freunde; sie wandelten nicht als erlöste Menschen.
Obwohl sie sehr religiös gewesen sein mögen, wie es auch in
unseren Tagen viele sind, fehlte die natürliche Frucht der Annahme. Darum ergeht die Ermahnung an sie: „Also redet und
also tut, als die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden
sollen" (V. 12). — „Zeige mir deinen Glauben ohne Werke und
ich werde dir meinen Glauben aus meinen Werken zeigen"
(V. 18). Euer Mund mag den Glauben bekennen, aber eure
Werke leugnen ihn; ich aber bekenne den Glauben, und meine
Werke bestätigen ihn. Ihr bekennt euren Glauben ohne einen
dazu passenden Wandel, während ich euch meinen Glauben
aus meinen Werken zeige. Ich habe nicht Glauben, weil ich
Werke habe, sondern ich habe Werke, weil ich Glauben habe.
— Geliebte Brüder, merkt ihr diesen Unterschied? Der Glaube
ist nicht die Frucht der Werke, sondern die Werke sind die
Früchte des Glaubens. Wir wirken nicht, um gerettet zu werden,
sondern wir sind gerettet und darum wirken wir. Möge daher
unser Glaube aus der Stellung kommen, die Gott uns aus
Gnaden angewiesen hat, und möge all unser Wirken es bezeu206
das Gericht ausgeübt worden ist. Er hat mich verurteilt, gerichtet und gekreuzigt. In bezug auf die „Sünde im Fleisch" ist
für den Gläubigen im Kreuze Christi vor Gott ein völliger Abschluß gemacht worden. Der Glaubende kann sagen: „Ich bin
mit Christo gekreuzigt" (Gal 2, 20). Bevor er dieses erkennt,
wird er unaufhörlich bemüht sein, das Fleisch zu veredeln und
zu verbessern; aber das ist unmöglich. Je ernster und aufrichtiger seine Anstrengungen sind, desto klarer wird sich sein
Elend herausstellen. „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten
von diesem Leibe des Todes" (Röm j , 24)? — das wird das
Ergebnis seines Ringens und, unter der Leitung der Barmherzigkeit des Herrn der Notschrei seiner Seele sein. Allein bevor
ich erkenne, daß der alte Mensch im Gericht des Kreuzes vor
Gott beseitigt ist, daß ich mich, hervorgegangen aus diesem.
Gericht, nunmehr in dem zweiten Adam, Christus, befinde und
daß das Fleisch zwar in mir ist, ich aber nicht mehr im Fleische
bin — wird mein Ich und nicht Christus der Gegenstand meiner
Betrachtung sein.
Die Art und Weise, wie Gott uns von allem befreit hat, was
sich sonst zwischen uns und Christum stellen würde, gibt
unseren Neigungen volle Freimütigkeit, Ihm — Christus— nachzufolgen. Christus ist all meinen Bedürfnissen völlig begegnet,
so daß ich jetzt damit beschäftigt sein kann, Ihn zu betrachten,
Der den Bedürfnissen begegnet ist. Er hat uns geliebt und Sich
Selbst für uns hingegeben, und jetzt rechnet Er darauf, daß
unsere Herzen Ihm gewidmet seien.
Hören wir Seine Worte nach Joh 14: „Euer Herz werde nicht
bestürzt, sei auch nicht furchtsam . . . Ich gehe hin und ich
komme zu euch" (V. 27. 28). O Geliebte! Hat Seine Abwesenheit uns je eine Träne gekostet? Nur in dem Maße, wie wir
die Trauer Seiner Abwesenheit fühlen, vermögen wir Seine
Anordnungen zu würdigen, die Er zu unserem Tröste getroffen
hat, während Er hingegangen ist, um uns das Haus des Vaters
zu öffnen. Aus Seinem Munde vernehmen wir dann die Verheißung Seiner baldigen Wiederkunft, und erfreuen uns auch
der Gabe des Heiligen Geistes, Der uns in den wunderbaren
Kreis göttlicher Vertraulichkeit gezogen hat, so daß wir unseren
Herrn in einem Grade kennenlernen können, wie wir Ihn auf
Erden niemals erkannt haben würden.
175
In diesem Sinne haben wir auch Sein Abendmahl (1. Kor ix,
23—26) zu betrachten. Lauschen wir auf jene Stimme, die sich
aus der Herrlichkeit an Paulus wendet und uns zu erkennen
gibt, was wir selbst dort für Ihn sind. Es muß Ihn sehr betrüben, Sich von denen vergessen zu sehen, welche Er auf
Erden bis ans Ende liebt. Wir müssen in Wahrheit bekennen,
daß unsere Herzen wertlos sind; dennoch trägt Jesus Sorge für
sie. Er ist gestorben, um sie für Sich zu haben, und Er rechnet
jetzt auf unser Gedenken an Ihn, indem Er Seiner Gemeinschaft
mit uns in der innigsten Weise Ausdruck gibt. Unser Teilhaben am Abendmahl des Herrn kann nur darin bestehen, daß
wir dadurch ausdrücken, wie sehr wir Ihn lieben und wie sehr
wir Ihn vermissen in einer Welt, die Ihn verworfen hat. Er
Selbst legt ihm die gleiche Bedeutung bei. „So oft ihr dieses
Brot esset und den Kelch trinket, verkündigt ihr den Tod des
Herrn, bis er kommt" (V. 26). Wir erblicken hier sozusagen
die Gewänder der trauernden Kirche an einer Stätte, die durch
das Kreuz und das Grab des Herrn gekennzeichnet und durch
den Tod Christi öde geworden ist; ihr Herz findet hier keine
Ruhe. Wir erblicken Christum durch Glauben in der Herrlichkeit und haben dort in Gemeinschaft mit Ihm unsere Ruhe
gefunden; aber das läßt uns Seine Verwerfung auf der Erde
und das Kreuz— „durch welches mir die Welt gekreuzigt ist und
ich der Welt" —nur um so schärfer fühlen. „Hinweg mit diesem!
Kreuzige, kreuzige ihn!" schallt es in unsere Ohren. Es ist
das Gericht der Welt; und jedes Band, das uns mit ihr verknüpfte, ist durchbrochen. Hinfort charakterisiert das Kreuz —
der Tod Christi — den, der Ihn liebt. Wir wenden unsere Herzen ab von dem verderbten Ort, wir entfernen uns im Geiste so
weit wie nur möglich davon, indem wir nach einem vollkommenen Einssein mit Ihm in Seiner Verwerfung suchen, als dem
besten und herrlichsten Teil, den Er uns in einer solchen Welt
geben konnte. Dies ist nicht das Vorrecht eines geförderten
Christen, sondern das, was Christus von jedem Herzen erwartet, welches Ihn kennt.
Wohlan — Er hat die Stätte der Sünde und des Verderbens verlassen, und die geöffneten Himmel zeigen uns Ihn, Dem die
Erde einen Platz verweigert hat, als den Menschen, der bis zur
höchsten Höhe himmlischer Herrlichkeit erhoben ist. Er hat
176
Gott bezüglich jeder Frage der Sünde auf Erden verherrlicht
und konnte uns deshalb einen Platz in Seiner unmittelbaren
Nähe geben. Wiewohl wir noch eine kleine Zeit die Stätte
Seiner Verwerfung durchschreiten, sind wir doch nicht trostlos
in der Wüste zurückgelassen. Dies führt uns zum zweiten
Kennzeichen des christlichen Pfades auf Erden. Und wenn wir
bisher gefragt haben, welche Wirkung die Abwesenheit Christi
auf unsere Herzen ausübt, so fragen wir jetzt: „Wie empfinden
wir die Gegenwart des Heiligen Geistes, dieses anderen Sachwalters?" Es geht hier nicht um das Werk des Heiligen Geistes
in erneuerten Seelen, sondern um die Gegenwart einer göttlichen
Person hienieden, von welcher Jesus sagt: „Den die Welt nicht
empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht, noch ihn kennt. Ihr
aber kennet ihn; denn er bleibt bei euch und wird in euch sein"
(Joh 14, 17). Dies konnte nur nach der Verherrlichung des
Sohnes des Menschen zur Rechten Gottes stattfinden; denn
vor Seiner Himmelfahrt konnte nur gesagt werden: „Der Geist
war noch nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden
war" (Joh 7, 39), und die Anwesenheit des Heiligen Geistes in
der Welt ist seitdem das Zeugnis jener Verherrlichung.
Von welch großer Tragweite ist diese Wahrheit im Blick auf
unseren Pfad, Geliebte! Der Herr hat sogar gesagt: „Es ist
euch nützlich, daß ich weggehe, denn wenn ich nicht weggehe,
wird der Sachwalter nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden" (Joh 16, 7). Dennoch weiß
— und wie traurig stimmt dies — der größte Teil der Christen
nicht, daß der Heilige Geist auf der Erde da ist. Tausende von
ernsten Leuten flehen um Sein Kommen, als ob der Herr mehr
als achtzehnhundert Jahre hindurch Seine Verheißung vergessen, oder Ihn wieder weggenommen habe, im vollen Widerspruch zu Seinem Wort: „Er wird bei euch bleiben in Ewigkeit".
Geliebte! Was empfinden wir im Hinblick auf die Gegenwart
Gottes des Heiligen Geistes, Der uns mit Christo verbindet,
und Der — in Übereinstimmung mit den Worten: „An jenem
Tage werdet ihr erkennen, daß ich in meinem Vater bin, und
ihr in mir, und ich in euch" — die Stätte der Herrlichkeit zu
unserem trauten Daheim macht, nachdem das Kreuz die Erde
für uns zu einer Einöde gemacht hat? Was fühlen wir im Blick
auf Ihn, der Sich unser ganzes Interesse — unsere Freude und
177
Trauer — zu eigen macht, indem Er einerseits innige Gefühle
des Herzens weckt und die Kraft der Stimme des Lobes ist,
und andererseits Sich unserer Schwachheit annimmt und für
uns in unaussprechlichen Seufzern bittet? Wie schätzen wir Ihn,
Der, nachdem Er uns mit Christo in der Herrlichkeit vereinigt
hat, uns das Siegel Gottes aufdrückt und unsere Leiber auf
Erden zu Seinem Tempel macht? Ihn, dessen Erstlinge wir
haben und darum, indem wir die Wüste durchschreiten, „in uns
selbst seufzen, erwartend die Sohnschaft, die Erlösung unseres
Leibes"? — Ihn, der Macht des Lebens aus Gott, das in Ihm zu
seiner Quelle und Höhe emporsteigt und in uns zu einer Quelle
Wassers wird, das in das ewige Leben quillt?
O Geliebte! Laßt uns nicht vergessen, es ist Wirklichkeit, daß
der Heilige Geist auf die Erde herniedergekommen ist und in
uns wohnt! Er brachte uns die herrlichsten Nachrichten von
unserem zum Himmel aufgefahrenen Herrn, der unsere Herzen
für Sich gewonnen hat. Jetzt empfängt Er die Dinge Christi und
verkündet sie uns, um uns mit jedem Augenblick noch fester
an Ihn zu fesseln. Er ist nicht gekommen, um Christum aus
unseren Herzen zu verdrängen oder uns einen anderen zu empfehlen, sondern um uns mit dem Einen, den wir besitzen, auf
das Innigste zu vereinigen. Wollen wir auf einem Platz verharren, von dem der Heilige Geist uns abruft, damit wir bei
Jesu weilen? Rebekka war augenblicklich bereit, das Vaterhaus
zu verlassen, um sich zu Isaak führen zu lassen; wenn wir
ihr gleichen, so werden wir uns durch keine Macht auch nur
einen Moment an einer Stätte aufhalten lassen, an der unser
Bräutigam nicht zu finden ist. Wir werden zu Ihm eilen, den
wir lieben, wiewohl wir Ihn nicht sehen und obgleich die Wüste
noch zwischen uns liegt. Auf dem Wege — mag er lang oder
kurz sein — wird der Heilige Geist unser Begleiter sein und
uns, wenn wir Ihn nicht hindern, ohne Unterbrechung mit
Christo beschäftigen.
Ach, wie oft verlieren wir dieses aus dem Auge! Aller Troät
während der Abwesenheit Jesu fließt für uns aus der Gegenwart des Heiligen Geistes. Wie oft aber betrüben wir Ihn und
berauben uns dadurch des Genusses der reichen Anordnungen
der Liebe unseres Herrn. Nur zu oft wird das an uns gerichtete
178
Zeugnis Christi durch das zugelassene Wirken unseres Fleisches
verhindert; der Heilige Geist ist dann gezwungen, den erwachten Neigungen entgegenzutreten, wodurch Tage und Wochen
unwiderbringlich verlorengehen. O Geliebte! Möchte doch
unser Auge auf Christum gerichtet und unser Ohr nur für
Seine Stimme geöffnet sein! Möchten doch unsere äußeren
Wege Ihn offenbaren und die Bewegungen des Herzens durch
Sein Wort gebildet sein, damit wir den in uns wohnenden Geist
nicht so leichtfertig betrüben und wir die ganze Kraft unseres
gegenwärtigen Segens verlieren!
Neben der persönlichen Segnung, welche aus der Gegenwart
und Wirkung des Heiligen Geistes hervorgeht, richtet sich der
Blick aber auch auf das „Haus Gottes", „in welchem auch ihr
mit aufgebaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geiste"
(Eph 2, 22). Insoweit der Mensch zum Bau beauftragt war (vgl.
1. Kor 3), hat er in erschreckender Weise versagt und alle
Arten der Verderbnis zugelassen; aber Gott harrt darin in
Langmut durch Seinen Geist auf Erden, wenngleich ein Mensch
sich von allem reinigen muß, was Seiner Gegenwart nicht geziemt und Seine Freude trübt. Doch — Gott sei gepriesen! —
inmitten des äußeren Bekenntnisses und außerhalb des Bereichs
der verderbenden Hand des Menschen zeigt sich etwas überaus
Kostbares, und das ist der durch den Heiligen Geist gebildete
Leib Christi. „Denn auch in einem Geiste sind wir alle zu einem
Leibe getauft . . . und sind alle mit einem Geiste getränkt
worden" (1. Kor 12, 13). Das ist das Band, das alle
Heiligen auf der Erde mit ihrem Haupte im Himmel und
untereinander verbindet, und zwar trotz allem, wodurch Satan
sie scheinbar für eine kleine Zeit getrennt hat. Aber, Geliebte,
ist dieses Band nur vorhanden, als unser Vorrecht und zu
unserer Freude? Eine solche Wahrheit hat sicher ihre praktische Verantwortlichkeit und der Apostel Paulus erinnert uns
hieran ernstlich: „Euch befleißigend, die Einheit des Geistes zu
bewahren in dem Bande des Friedens" (Eph 4, 1—3). Inwieweit
erkennen wir diese Verantwortlichkeit und demütigen uns
durch die Gnade mit allem, was wir sind und haben wegen des
mangelnden Fleißes? Auch abgesehen von denen, die in den
verschiedenen Benennungen und Parteien diese Wahrheit verleugnen sind es wenige, die Herz und Mut haben, einen solchen
179
Pfad zu wandeln; aber alle, welche dieser Wahrheit folgen,
erfahren die Kraft der Worte des Herrn: „Denn wo zwei oder
drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer
Mitte" (Mt 18, 20). Und was bedürfen wir zu unserer Freude
mehr bis zu dem Augenblick, wo wir Ihn von Angesicht zu
Angesicht sehen werden? Im übrigen hat Er uns auch während
Seiner Abwesenheit nicht ohne die nötigen Gaben zu unserer
Auferbauung gelassen. Mögen auch die Gaben der Sprachen
und Wunder — diese Offenbarungen des Heiligen Geistes
gegenüber den Ungläubigen — nicht mehr vorhanden sein, so
ist doch das Kostbarste und Notwendige für die Heiligen geblieben; denn der Geist ist noch immer hier, „. . . . einem
jeden insbesondere austeilend, wie er will" (1. Kor 12, 11).
Und wiederum frage ich: erkennen wir das alles an oder begnügen wir uns noch mit dem, was der Mensch an den Platz
des Heiligen Geistes gestellt hat? Mit dieser Frage schließe ich
die Betrachtung über einen Gegenstand ab, der für unseren
Wandel als Christen von so außerordentlicher Tragweite ist,
um noch einige Augenblicke bei einer Wahrheit zu verweilen,
auf die wir unsere Herzen stets in Hoffnung und Erwartung
richten sollten — es ist die Wiederkunft unseres Herrn Jesus.
Diese Hoffnung steht, wie bereits bemerkt, in Verbindung mit
der Wirkung, die sowohl die Abwesenheit des Herrn, als auch
die Gegenwart des Geistes Gottes auf uns ausüben. In dem
Maße, wie wir den Herrn vermissen, werden wir uns nach
Seiner Ankunft sehnen, und der Heilige Geist ist, indem Er
uns Ihn offenbart, stets bemüht, uns auf dem Pfade Seiner
Verwerfung fühlen zu lassen, wie sehr wir Seiner bedürfen,
und überdies in uns das Bewußtsein unserer Verbindung mit
Ihm — als Sein Leib, Seine Braut — zu beleben und die entsprechenden Zuneigungen zu Ihm in uns hervorzurufen. Hat
nicht Christus Seine Braut geliebt und Sich Selbst für sie hingegeben? Ist sie nicht Gegenstand der Wonne Seines Herzens,
wiewohl Er abwesend sein muß? Hat Er nicht das Königreich
und den Besitz aller Dinge im Himmel und auf Erden zurückgewiesen, um ihr Herz zu besitzen? Hat Er sie nicht berufen,
jetzt die Pfade Seiner Verwerfung zu betreten, nachher aber
Seinen Thron, Seine Krone, Sein Königreich mit Ihm zu teilen?
Wohnt nicht der Heilige Geist in unseren Herzen, um uns in
Kraft fühlen zu lassen, daß wir Ihm wertvoll und teuer sind,
180
teurer, als Worte es auszudrücken, vermögen? Und da sollte
uns Seine Abwesenheit gleichgültig sein? O Geliebte! „Der
Geist und die Braut sagen: komm!" Während Er wartet, betet
Er, daß unsere Herzen zu Seinem Ausharren geleitet werden.
Aber das Buch Gottes schließt mit der Verheißung: „Ja, ich
komme bald". Wie lieblich klingen diese letzten Worte in
unseren Ohren, mit welchem Wohlgefühl dringen sie in unsere
Herzen, und mit welcher Kraft beleben sie uns, während wir
auf Ihn warten! O möchte doch unser Verlangen lebendiger,
möchte unsere Antwort jene gesegneten Worte sein, die Er
Selbst auf unsere Lippen legt: „Amen, komm, Herr Jesus"!
Vermissen wir Ihn auf der Erde? Er rechnet darauf. Er hat
gesagt: „Ich komme wieder und will euch zu mir nehmen, auf
daß, wo ich bin, auch ihr seid". Er vermißt uns im Himmel.
Aber es wird nicht so bleiben; denn wir haben Sein Wort, dem
niemand zu widersprechen wagen wird, und dieses Wort heißt:
„Vater, ich will, daß die, welche du mir gegeben hast, auch bei
mir seien, wo ich bin". Trieb Ihn die Barmherzigkeit, uns zu
erretten, so drängt Ihn die Liebe, uns jetzt für Sich und für
immer bei Sich zu haben. Er trägt Sorge dafür, uns in Seine
unmittelbare Nähe zu bringen. Wer vermag das zu fassen nach
all' der Treulosigkeit und Arglist unserer Herzen, nach dem
beständigen Abfallen und Verleugnen Seiner Person! Wenn
wir doch an Seine Liebe glauben und den Platz erkennen wollten, den Er uns in Seinem Herzen angewiesen hat, so würden
wir sicher die rechte Antwort finden; denn hier ist die Quelle
und die Kraft der Hoffnung auf Seine baldige Ankunft. Und
wie gesegnet ist diese Hoffnung. Sie zieht unser Herz weg von
der Erde, von ihren Dingen, Sorgen und Erwartungen, und
erhebt unsere Blicke zu Ihm, dem Kommenden. Möchte Er stets
vor unseren Augen sein als die einzige Hoffnung, die wir
haben; dann würden wir diese Wahrheit nicht nur als Lehre
kennen, sondern auch „den Menschen gleichen, die auf ihren
Herrn warten".
Wir würden dann unsere Hände nicht in den Schoß legen,
sondern in Seinem Werke tätig sein, ja wir würden unsere
Erquickung während Seiner Abwesenheit geradezu darin finden, daß wir durch eine solche Tätigkeit unserer Liebe zu Ihm
181
Ausdruck geben können. Wie köstlich für den Herrn, jemanden
auf der Erde in dieser Weise tätig zu sehen! Er blickt aus der
Herrlichkeit auf solche, die Ihn lieben, und Er kommt und
offenbart Sich ihnen. Hören wir Ihn nicht sagen: „Dieses tut
zu meinem Gedächtnis?" Und läßt Er uns nicht zurufen: „Ihr
verkündigt den Tod des Herrn, bis er kommt"? Es ist, mein
teurer Leser, als ob Er jetzt an uns die Frage richtet: „Vermißt
ihr mich? Verlangt ihr nach meiner Wiederkunft?" —
Welche Antwort können wir auf solche Fragen Seiner Liebe
geben?
Zwei wichtige Tatsachen
„Denn jeder wird mit Teuer gesalzen werden, und jede;-
Schlachtopfer wird mit Salz gesalzen werden" (Mk 9, 49).
Mit diesen Worten unseres Herrn werden zwei Klassen Menschen bezeichnet und zwei wichtige Tatsachen vorgestellt. Erstens wird uns gesagt, daß „ein jeder mit Feuer gesalzen" und
zweitens, daß „jedes Schlachtopfer mit Salz gesalzen werden
wird". Diese beiden miteinander in Verbindung gebrachten
Aussagen öffnen ein ausgedehntes Feld von göttlicher Wahrheit vor unseren Augen. Möge der Heilige Geist uns befähigen, sie zu verstehen und auszuüben! Möge Er uns ihren
tiefen Ernst und ihre bis in die Seele dringende Kraft fühlen
lassen!
1. Der erste Teil unseres Textes lehrt uns, daß den Menschen
das Gericht erwartet. „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu
sterben, danach aber das Gericht" (Hebr 9, 27). „Ich sage euch
aber, daß von jedem unnützen Wort, das irgend die Menschen
reden werden, sie von demselben Rechenschaft geben werden
am Tage des Gerichts" (Mt 12, 36).
Hier sehen wir also, was der Mensch zu erwarten hat — Tod
und Gericht. Man mag dagegen mit Belieben streiten, jeden
Gedanken daran von sich abweisen, sich dagegen auflehnen
182
und sagen, daß man solche Dinge nicht glaube — es ändert gar
nichts an der Sache, sie bleibt, was sie ist: eine unumstößliche
Wahrheit. Was würde es einem Verbrecher, über den das
Todesurteil ausgesprochen ist, nützen, wenn er sich mit dem
Spruch des Richters nicht einverstanden erklärte? Würde das
seine Lage ändern? Keineswegs. Auch wenn er versicherte, daß
er keinem Richter und keinem Urteil Glauben schenke, bleibt
er dennoch ein schuldiger, verurteilter Verbrecher, dessen Hinrichtung vollzogen wird. Seine Meinung und seine Einsprüche
können in keiner Weise die Tatsache seiner Verurteilung
ändern. Meinungen sind und schaffen eben keine Tatsachen.
Ebenso mag der Mensch die Wahrheit der Worte des Herrn,
daß nämlich „jeder mit Feuer gesalzen werden wird", in Zweifel
stellen. Er mag kurzweg erklären, daß er nicht an das zukünftige Gericht durch ein ewiges Feuer glaube; er mag solche Behauptungen als altweibische Fabeln betrachten, die zu glauben
eines vernünftigen und gebildeten Menschen unwürdig sei.
Aber was wird ihm das nützen! Welches Wort wird standhalten — das Wort Christi oder dein Wort? Willst du es wagen,
dein Wort über das Wort von Christo zu stellen? Vielleicht
würdest du es tun, wenn du es könntest. Wenn Jesus erklärt,
daß jeder mit Feuer gesalzen wird, dann ist es unsere Weisheit
und unsere Sicherheit, ja unsere Pflicht, Seinen Worten zu
glauben, uns vor dem Gewicht und der Autorität Seines Wortes
zu beugen und unsere unverständigen Einwendungen, unsere
törichten Meinungen und hochmütigen Einbildungen aufzugeben. Es ist die größte Anmaßung, Gott vorschreiben zu
wollen, was Er sagen oder tun könne. Wenn der Mensch sich
berechtigt glaubt, Gott zu beurteilen, dann verkennt er in
Wirklichkeit das Dasein Gottes und stellt sich an Seinen Platz,
denn wenn es einen Gott gibt, dann muß dieser Gott auch der
höchste und unfehlbare Richter sein, und dann muß der Mensch
sich vor Ihm beugen. Das ist wahre Weisheit. Früh oder spät
muß der Mensch sich Gott unterwerfen. Wieviel besser ist es,
sich am Tage der Gnade vor Ihm zu beugen, als am Tage des
Gerichts gezwungen zu werden, sich Ihm zu unterwerfen.
Unser Herr Jesus erklärt in Mk 9 dreimal, daß das höllische
Feuer ein ewiges ist. Er sagt: „Wenn deine Hand dich ärgert, so
haue sie ab. Es ist dir besser, als Krüppel in das Leben einzu183
gehen, als mit zwei Händen in die Hölle hinabzufahren, in das
unauslöschliche Feuer, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer
nicht erlischt". Diese ernste Erklärung wiederholt Er, wie gesagt, dreimal. Wenn daher alle Ungläubigen, Zweifler und
Rationalisten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die
Behauptung aufzustellen wagen, daß die Strafe nicht ewig sei,
so stellen wir diesen Vernunftschlüssen, Einwendungen und
Einbildungen das unumstößliche Wort des Herrn entgegen und
verwerfen sie ein für allemal ganz und gar. Das betrachten
wir als unsere wahre Weisheit, als unsere moralische Sicherheit
und als unsere unerläßliche Pflicht.
Es ist nach unserer Meinung nichts als Zeitverschwendung,
wenn man sich mit Menschen in einen Wortstreit einläßt, die
sich einbilden, Gott beurteilen zu können. Wer ein Urteil über
seinen Schöpfer auszusprechen wagt, kann unmöglich durch
Beweise eines Mitgeschöpfes überführt werden. In der Tat
setzen sich alle, die zu behaupten wagen, daß es Gott unwürdig
sei, eins Seiner Geschöpfe einer ewigen Strafe zu unterwerfen,
selbst auf den Richterstuhl Gottes, um das Urteil zu fällen.
Ach! früher oder später werden sie rihre Torheit beklagen.
Jeder wahre Christ weiß und fühlt, „das Gott den ganzen
Erdkreis in Gerechtigkeit richten wird", während die Ungläubigen sich selbst zum Richter aufspielen. Wie töricht. Die
Schrift ist gegen sie, und sie kann nicht gebrochen werden. „Ein
jeder wird mit Feuer gesalzen werden", und das ewige Feuer
wird niemals erlöschen. Der Stempel der Ewigkeit ist auf jede
Woge jenes Feuersees und auf jeden Biß eines Wurmes gedrückt, welche das Teil aller sind, die in ihren Sünden sterben.
Die Strafe ist eine ewige, sie kann nicht verkürzt werden. Der
Zorn Gottes bleibt auf allen, die nicht an Christum glauben.
Hast du, mein Leser, noch keinen Frieden mit Gott, so denke
über diese Zusammenhänge nach, öffne dein Auge doch nicht
länger dem Dunkel menschlicher Vorstellungen, sondern öffne
es dem Lichte des Wortes Gottes. Entrinne dem zukünftigen
Zorn! Eile und errette deine Seele! Gott Selbst zeigt dir einen
Weg der Erbarmung. Er hat in Seiner unendlichen Liebe einen
Weg geschenkt, auf dem du dem schrecklichen Feuer entrinnen
kannst. Er gab Seinen eingeborenen Sohn; und Jesus, das
schuldlose Lamm, übergab Sich dem Feuer des göttlichen Gerichts, auf daß alle, die einfältig auf Ihn vertrauen und ihre
184
Sache in Seine Hände legen, nicht gerichtet werden, sondern
Vergebung und ewiges Leben finden. Glaube an den Herrn
Jesus, der als der Gerechte für die Ungerechten starb, und du
wirst nicht mit Feuer gesalzen werden. Niemals werden dann
deine Augen die Pein und das Feuer sehen, weil der teure Heiland an deiner Statt das Gericht erduldet hat. Da kein Weg zum
Entrinnen vorhanden war, kam Er in unendlicher Liebe und
stellte Sich den Schlägen der ewigen Gerechtigkeit, und nachdem Er Sich dem Urteil unterworfen, das Lösegeld bezahlt
hatte und ins Grab hinabgestiegen war, weckte Gott Ihn aus
den Toten auf, setzte Ihn zu Seiner Rechten im höchsten Himmel und krönte Ihn mit Ehre und Herrlichkeit. Alle aber, die
nun an Seinen kostbaren Namen glauben, sind völlig von
Schuld und Gericht befreit. Alle, die ihr Vertrauen auf Ihn
setzen, sind vor Gott so angenehm, wie Er es Selbst ist. Sie
nehmen denselben Platz im Herzen Gottes ein, sie werden von
Ihm mit derselben Liebe geliebt und sie werden einmal dieselbe
Herrlichkeit wie Christus empfangen. Nichts Geringeres konnte
das liebende Herz Gottes befriedigen, nichts Geringeres die
würdige Frucht des vollkommenen Opfers Christi sein, nichts
Geringeres die heilige Dreieinigkeit verherrlichen.
Geliebter Leser! Ist es nicht besser, sicherer und weiser, auf die
warnende Stimme Gottes zu hören, als auf die alles bezweifelnde, alles leugnende Sprache der Ungläubigen? „Jeder wird
mit Feuer gesalzen werden". Diese Erklärung kann nicht ausgetilgt werden. Was die Menschen auch tun und sagen mögen
— dieses Wort bleibt in Kraft. Eher werden Himmel und Erde
vergehen, als daß das Wort des Herrn sich nicht erfüllt. Aber
„Christus ward einmal geopfert, um die Sünden vieler zu
tragen", und alle, die an Ihn glauben, sind für immer gereinigt,
dem Gericht entrückt und von dem Zorn befreit. Er wurde an
ihrer Statt mit Feuer gesalzen, so daß jenes Wort nicht mehr
auf sie angewendet werden kann. Die finsteren Wolken des
Todes und des Gerichtes sind über das schuldlose Haupt unseres Stellvertreters losgebrochen, damit der Gläubige niemals
in das Gericht kommen und vom Tod als dem Sold der Sünde
freigestellt werden sollte.
2. Nach diesen Darlegungen sind wir imstande, die Worte zu
verstehen, daß „jedes Opfer mit Salz gesalzen werden soll".
185
Sie finden Anwendung auf alle, die aus Gnaden von dem
kommenden Zorn, von dem Salzen mit Feuer, von der Furcht
des Gerichts erlöst worden sind. An solche richtet der Apostel
die treffenden und kraftvollen Worte: „Ich ermahne euch nun,
Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen
als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer,
welches euer vernünftiger Dienst ist" (Röm 12, 1). Hierzu ist
Salz erforderlich. „Und alle Opfergaben deines Speisopfers
sollst du mit Salz salzen und sollst das Salz des Bundes deines
Gottes nicht fehlen lassen bei deinem Speisopfer; bei allen
deinen Opfergaben sollst du Salz darbringen" (3. Mo 2, 13).
„Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt" (Kol 4, 6).
Wir sehen hieraus, welch ein wichtiger Bestandteil im täglichen Leben des Christen das Salz ist. Es ist unentbehrlich,
wenn wir uns selbst als ein lebendiges Opfer Gott übergeben
wollen. „Bei allen deinen Opfergaben sollst du Salz darbringen", und „alle Opfergaben deines Speisopfers sollst du mit
Salz salzen"! Wenn wir durch die unendliche Gnade Gottes
und durch das Versöhnungswerk Christi für immer dem göttlichen Gericht entronnen sind, was bleibt uns dann noch zu tun
übrig? Wir müssen dann unsere Leiber Gott zu einem lebendigen, heiligen, wohlgefälligen Schlachtopfer darstellen. Der
Zweck unserer Erlösung ist, Gott zu dienen und Seinen Namen
zu verherrlichen. Im Himmel werden wir es vollkommen tun;
hier aber müssen wir schon damit beginnen. Das ist unser
herrlichstes Vorrecht. Der Herr Jesus erkaufte uns durch Sein
Blut, damit wir Gott unser Leben widmen. Das muß vom
Morgen bis zum Abend, allezeit und überall unsere Beschäftigung sein, und dazu haben wir „Salz" nötig. Der Herr sagt:
„Jedes Opfer wird mit Salz gesalzen werden". Nicht: „Jeder
wird mit Salz gesalzen werden". Nur, wer die Gnade Gottes
kennengelernt hat und etwas von der Liebe Jesu versteht, kann
ein Opfer sein, und daher kann auch nur er mit Salz gesalzen
werden. „Das Salz ist gut". Es reinigt und schützt vor Verderbnis. „Wenn aber das Salz unsalzig geworden ist, womit wollt
ihr es würzen? Habt Salz in euch selbst und seid in Frieden
untereinander" (Mk 9, 50).
Man beachte wohl diese Zusammenstellung: „Salz" und
„Frieden". Nur wenn den Forderungen der Heiligkeit ent186
sprochen worden ist, kann Friede sein. Der Friede kann nicht
vor dem „Salz" da sein. „Die Weisheit von oben ist aufs erste
rein, sodann friedsam" (Jak 3, 17). Das ist die göttliche Regel,
welche nicht umgestoßen werden kann. Alle unsere Opfer —
mögen wir sie als heilige Priester oder als königliche Priester
darbringen — unsere Opfer des Lobes und unsere Opfer des
Wohltuns müssen „mit Salz gesalzen" sein. Es muß Reinheit,
Heiligkeit und Selbstgericht vorhanden sein; denn „jedes
Schlachtopfer wird mit Salz gesalzen werden".
Stephanus
(Apostelgeschichte 7, 55—60)
Es gibt zwei Tatsachen, die das Christentum kennzeichnen und
es von allem unterscheiden, was vorher bestand:
1. der Mensch ist verherrlicht im Himmel, und Gott wohnt
im Menschen auf der Erde. Wie wunderbar und herrlich. Wenn
wir diese Wahrheiten verstehen, so werden sie sicher einen
kräftigen Einfluß auf unsere Herzen und unser Leben ausüben.
Diese Tatsachen setzen voraus, daß die Erlösung vollkommen
vollbracht ist und der Erlöser Seinen Platz zur Rechten der
Majestät in den Himmeln eingenommen hat. Nachdem dies
geschehen ist, erblicken wir zum ersten Mal einen Menschen
auf dem Thron Gottes.
Die zweite Tatsache, daß der Heilige Geist im Menschen auf
der Erde wohnt, ist eine notwendige Folge der ersten. In der
alttestamentlichen Haushaltung war dies unbekannt. Was
wußte Abraham von einem verherrlichten Menschen im Himmel? Keiner jener Heiligen wußte davon etwas. Und wie wäre
dies auch möglich gewesen? Kein Mensch befand sich auf dem
Throne Gottes im Himmel, bevor Jesus Seinen Platz dort eingenommen hatte; und solange Er nicht verherrlicht im Himmel
war, konnte der Heilige Geist nicht im Menschen auf Erden
Wohnung machen. „Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift
sagt, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers
187
fließen. Dies aber sagte er von dem Geiste, welchen die an ihn
Glaubenden empfangen sollten; denn noch war der Geist nicht
da, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war" (Joh 7, 38.
39). „Doch ich sage euch die Wahrheit! Es ist euch nützlich,
daß ich weggehe; denn wenn ich nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen, wenn ich aber hingehe, werde
ich ihn zu euch senden" (Joh 16, 7). Diese Stellen verbinden
die beiden Tatsachen ganz bestimmt miteinander. Christus ist
verherrlicht im Himmel, und der Heilige Geist wohnt in uns
auf der Erde. Eine Tatsache ist von der anderen abhängig, und
beide zusammen bilden die zwei großen Kennzeichen des herrlichen Christentums, das im Evangelium Gottes geoffenbart ist.
Der größte Teil des Kapitels befaßt sich mit der Geschichte
Israels von der Berufung Abrahams bis zur Kreuzigung Christi.
Am Ende seiner Rede wandte sich Stephanus an die Gewissen
seiner Zuhörer, deren Wut sich mit jedem Augenblick gesteigert
hatte. „Als sie aber dies hörten, wurden ihre Herzen durchbohrt
und sie knirschten mit den Zähnen gegen ihn". Hier sehen wir
die Wirkung einer Religiosität ohne Christum. Diese Leute
waren die Beschirmer des Gottesdienstes und die Führer des
Volkes. In ihrer Feindseligkeit erblicken wir das schreckliche
Muster eines Gottesdienstes ohne Gott und ohne Christum,
während wir in Stephanus die herrliche Entfaltung des wahren
Christentums sehen. Sie waren mit fanatischer Feindschaft und
Wut erfüllt, während er voll des Heiligen Geistes war; sie
knirschten mit ihren Zähnen, während sein Antlitz dem eines
Engels glich. Welche Gegensätze! „Als er aber, voll des Heiligen Geistes, unverwandt gen Himmel schaute, sah er die
Herrlichkeit Gottes, und Jesum zur Rechten Gottes stehen, und
er sprach: Siehe, ich sehe die Himmel geöffnet und den Sohn
des Menschen zur Rechten Gottes stehen"!
Hier sehen wir also die beiden Tatsachen in einem Menscher,
wie wir sind, verwirklicht. Stephanus war voll Heiligen Geistes
und sein Blick war unverwandt auf den verherrlichten Menschen im Himmel gerichtet. Das ist das Christentum, das ist der
wahre Zustand eines Christen. Es ist ein Mensch, der voll
Heiligen Geistes, mit dem Auge des Glaubens zum Himmel
emporschaut und sich mit einem verherrlichten Christus be188
schäftigt. Das ist und bleibt unser Maßstab, wie wenig wir auch
diese unsere Stellung verwirklichen mögen. In dieser Beziehung
müssen wir uns sicher tief demütigen; aber dennoch bleibt es
der göttliche Maßstab und jeder wahrhaft Gläubige ist mit
nichts Geringerem zufrieden. Es ist das glückselige Vorrecht
eines jeden Christen, voll des Heiligen Geistes zu sein und das
Auge des Glaubens auf den verherrlichten Menschen im Himmel zu richten. Die Erlösung ist vollbracht, die Sünde zunichte
gemacht; die Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit. Es ist ein
Mensch auf dem Thron Gottes; der Heilige Geist ist auf die
Erde hinabgestiegen und hat in dem Gläubigen besonders und
in der Versammlung insgesamt Seine Wohnung aufgeschlagen.
Dies sind Wahrheiten von großem, praktischen Nutzen und
mächtigem Einfluß, wie wir dies deutlich in der Geschichte des
Märtyrers Stephanus wahrnehmen.
Man kann unmöglich die letzten Verse unseres Kapitels lesen,
ohne die mächtige und herrliche Wirkung zu sehen, die die
Person hervorruft, auf die sein ganzes Auge gerichtet ist. Die
schrecklichsten Gefahren umringen ihn; gleich blutdürstigen
Tigern stürzen seine Feinde über ihn her; die Steine zerschmettern seinen Körper. Der Tod steht in der schrecklichsten Gestalt
vor seinen Augen; doch nicht die Umstände beherrschen ihn,
sondern die himmlischen Dinge, welche er schaut. Sein Auge
ist unverwandt aufwärts zum Himmel gerichtet und dort sieht
er Jesum. Die Erde verwirft ihn, wie sie vorher seinen Herrn
verworfen hat; aber der Himmel öffnet sich ihm, und in den
geöffneten Himmel hineinschauend, fängt er die Strahlen der
Herrlichkeit Gottes auf und reflektiert sie. Wie herrlich! Stephanus war nicht nur über alles, was ihn umringte, erhaben,
sondern er war auch fähig gemacht, seinen Mördern die Gnade
und Güte Jesu zu offenbaren. Ja, wahrlich, der höchste Ausdruck des himmlischen Christentums steht hier der finstersten
und entsetzlichsten Offenbarung der religiösen Feindschaft
gegenüber. „Sie schrieen aber mit lauter Stimme, hielten ihre
Ohren zu und stürzten einmütig auf ihn los. Und als sie ihn
aus der Stadt gestoßen hatten, steinigten sie ihn . . . der anrief
und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! — Und niederknieend rief er mit lauter Stimme: Herr, rechne ihnen diese
Sünde nicht zu"!
189
Welch eine Gleichförmigkeit mit dem Bilde Christi! Wie der
sterbende Heiland bittet auch Stephanus für seine Feinde. Anstatt an seine eigenen Leiden zu denken, denkt er an andere
und betet für sie. Was seine Person angeht ist alles wohlgeordnet. Sein Auge ist auf die Herrlichkeit gerichtet, und der Abglanz dieser Herrlichkeit strahlt nun von ihm aus. Sein Antlitz
glänzt von dem Lichte dieser Herrlichkeit, in die er bald eintreten soll, und er ist imstande, durch die Kraft des Heiligen
Geistes seinem gesegneten Herrn und Meister zu folgen. Nachdem er für seine Feinde gebetet hat, kann er auf dieser Erde
nichts weiter tun, als das Auge vor einem Platze des Elends
und des Todes zu schließen, um es in einer Stätte ewiger Freude
und Herrlichkeit zu öffnen.
Teurer Leser! Bedenke wohl, daß dies das wahre Christentum
ist. Es ist das gesegnete Vorrecht des Christen, voll Heiligen
Geistes zu sein, von sich selbst und von allem, was ihn umgibt
wegzusehen, seinen Blick unverwandt gen Himmel zu richten
und mit dem verherrlichten Menschen Christus Jesus beschäftigt
zu sein. Dem, auf Welchem das Auge ruht, gleichförmig zu
sein, ist die unausbleibliche Folge — gleichförmig im Geiste, im
Wandel und im ganzen Charakter. „Wir alle, mit aufgedecktem
Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde". So war es bei Stephanus. Also
wird es auch bei uns sein. Wenn wir begreifen, wie wichtig das
ist und wie glücklich es macht, werden wir ernstlich begehren,
das Bild Christi auf unseren Wegen und in allem Tun zur
Schau zu tragen! Dazu gebe der Herr uns Gnade!
190
Wie bewirken wir
unsere eigene Seligkeit?
„Daher, meine Geliebten, gleichwie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein als in meiner Gegenwart, sondern jetzt
vielmehr in meiner Abwesenheit, bewirkt eure eigene Seligkeit
mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt
sowohl das Wollen als auch das Wirken, nach seinem Wohlgefallen" (Phil 2, 12. 13).
Wir müssen uns stets daran erinnern, daß das Werk Gottes in
bezug auf Sein Volk von zwiefacher Art ist: Sein Werk für uns
auf dem Kreuze und Sein Werk in uns durch den Geist. Die
angeführte Stelle belehrt uns nicht, wie wir Frieden erlangen.
Sie wendet sich vielmehr an solche, bei denen die Erkenntnis
ihrer Annahme bei Gott durch das gesegnete Werk Jesu Christi
vorausgesetzt wird. Andernfalls würde sie nur dazu dienen,
gesetzliche Anstrengungen zur Erreichung eines Zieles hervorzurufen, welches wir, wenn wir aufrichtig vor Gott sind, auf
diesem Weg niemals erreichen würden. Um Frieden zu erlangen
und das schuldige Gewissen zu befriedigen, haben wir vor Gott
nichts anderes nötig als „das Blut Jesu Christi, seines Sohnes,
welches von aller Sünde reinigt". Auf dem Kreuze, wo Sich
Christus ohne Flecken Gott zu einem wohlriechenden Opfer
geopfert hat, findet unsere Sünde ihre Beantwortung, so daß
alle ihre Folgen für immer beseitigt sind. Hier ist Gott vollkommen verherrlicht und befriedigt worden, indem Christus
für mich starb, der ich ein Sünder und als solcher ungöttlich
und ohne Kraft war. Ich habe also, wie der Apostel Petrus sagt,
„die Errettung meiner Seele" (1. Petr 1, 9). Allein die Seligkeit
ist noch nicht ganz vollständig, obwohl sie meine Sicherheit ist.
Die Seligkeit nach den Gedanken Gottes ist, daß wir bei Christo und Ihm völlig gleich sind, „damit er der Erstgeborene sei
unter vielen Brüdern" (Röm 8, 29). Unserer Stellung und Annahme nach ist aber jetzt schon alles vollkommen; denn „wie er
ist, sind auch wir in dieser Welt"; wir haben daher Freimütigkeit am Tage des Gerichts (1. Joh 4, 17). Und dies ist in zweifacher Weise wahr: unsere Sünden sind für immer beseitigt,
191
und wir befinden uns in einem neuen Leben. Nach den Briefen
des Paulus sind wir durch den Tod und die Auferstehung
Christi in diese Stellung eingeführt; nach den Briefen des
Johannes sind wir aus Gott geboren, so daß wir sagen können
mit Paulus: „Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus
lebt in mir" (Gal 2, 20), und mit Johannes: „Jeder, der aus Gott
geboren ist, tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt in ihm; und
er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist" (1. Joh
3, 9). Was also unsere Stellung vollkommen macht, ist, daß
alle mit dem Leben und dem Zustand des alten Adam verbundenen Sünden gesühnt und für immer beseitigt sind, und
daß wir uns in einem reinen Leben befinden, welchem sich vor
Gott keine Sünde anhaften kann, wie auch unser hochgelobter
Herr zu Petrus gesagt hat: „Wer gebadet ist, hat nicht nötig
sich zu waschen, ausgenommen die Füße" (Joh 13, 10). Welch
ein gesegneter Platz! Wir sind befähigt, uns der Strahlen des
Angesichts Gottes zu erfreuen, was „besser ist als das Leben".
Die Vernachlässigung dieser Seite der Wahrheit aber führt oft
bei denen, die ihrer Annahme gewiß sind, zu einem sehr traurigen Wandel und darum auch zu einem Verlust des vollen Bewußtseins ihrer Annahme und des Genusses ihrer Vorrechte.
Richten wir daher unseren Blick auf das Werk Gottes in uns.
Gerade aus diesem Grunde zeigt uns unsere Epistel, daß wir
völlige Sicherheit haben; denn „der, welcher ein gutes Werk
in euch angefangen hat, wird es vollführen bis auf den Tag
Jesu Christi" (Phil 1, 6). Aber wiewohl wir stets bedenken
müssen, daß sowohl das Werk für uns als Sünder, als auch in
uns als Gläubige aus Gott ist, so haben wir als Gerettete doch
unsere Verantwortlichkeit, nicht etwas Großes zu tun, sondern
uns Gott zu unterwerfen. In der angeführten Stelle sagt uns
nun der Apostel, was Gott in uns wirkt; es ist „das Wollen und
das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen". Von Natur aus
hatten wir unseren eigenen Willen, welcher uns zu „Kindern
des Zorns, wie auch die übrigen" machte. Der erste Adam, mit
welchem wir verbunden waren, fiel durch Ungehorsam und
ruinierte sein ganzes Geschlecht. Der zweite Adam, „der Herr
vom Himmel" tat nie Seinen eigenen Willen, war nie im Gegensatz zu dem Willen Seines Vaters, sondern fand Seine
Speise und Seinen Trank darin, daß Er den Willen Dessen tat,
Der Ihn gesandt hatte. Aber gerade diesen Willen des ersten
192
Adam in uns muß Gott brechen, um uns in unseren Wegen, in
unserem Wandel und in unserer Gesinnung Seinem Sohne
gleichförmig zu machen, wie wir Ihm hinsichtlich unserer Stellung — mit Ausnahme Seiner Gottheit — gleichförmig sind.
Aber wie oft vergessen wir dies und begnügen uns damit, daß
wir uns von anerkanntem Übel fernhalten! Eine solche Haltung
bleibt jedoch weit hinter den Gedanken Gottes über uns zurück. Wir haben gewöhnlich einen viel zu schwachen Begriff
von dem, was Sünde ist. Die Heilige Schrift belehrt uns, daß
der in einer Kreatur wirkende Wille Sünde ist. „Jeder, der die
Sünde tut, tut auch die Gesetzlosigkeit, und die Sünde ist die
Gesetzlosigkeit" (i. Joh 3, 4), d. h., der ganze Wille ist Sünde,
selbst wenn seine Ausbrüche nicht die Form einer Übertretung
des Gesetzes in offenbarer Bosheit annehmen. Kein Geschöpf
hat ein Recht auf einen unabhängigen Willen, und daher sind
wir geheiligt „zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu
Christi" (1. Petr n., 2). Unser Wandel mag so beschaffen sein,
daß er unser Gewissen nicht beunruhigt; aber unser Trachten
sollte es sein, uns nicht nur vom Bösen zu enthalten, sondern
auch im Gehorsam zu wandeln, unseren Willen Gott zu
unterwerfen und in der Tat keinen eigenen Willen zu haben;
denn „Gehorchen ist besser als Schlachtopfer, aufmerken besser, als das Fett der Widder". Gott erwartet nicht das Vollbringen eines großen Werkes. Es mag jemand Eifer und Tätigkeit entwickeln, welche die höchste Achtung und Bewunderung
der Menschen hervorrufen; aber gehorsam gegenüber dem zu
sein, was Gott wohlgefällig ist, das ist es, wodurch der schwächste Heilige, auf welchen Platz ihn Gott auch gestellt haben
mag, Seinen Namen verherrlichen kann.
In diesen Tagen des Wollens und des Wirkens der Menschen
bedürfen wir der gänzlichen Unterwürfigkeit unter den Willen
Gottes, sowie des völligen Vertrauens auf Seine Macht. Wo
aber finde ich Seinen Willen? Nur und ganz sicher in Seinem
Worte. Wir haben es nicht nötig, den Eingebungen unserer
Herzen blindlings zu folgen, sondern wir bilden — in dem
Maße, wie wir aus dieser kostbaren Wahrheit schöpfen — unser
Verständnis und unser Urteil nach den Gedanken Gottes. „Wir
haben den Geist Christi" und wir leben „nicht vom Brot allein,
sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes aus193
geht". In der Tat, nur auf diesem Wege können wir in unserem
täglichen Wandel durch diese Wüste Freude und Frieden finden. Blicken wir auf unseren gesegneten Herrn, wie Er uns in
Mt 11 dargestellt wird. Sein Pfad durch diese Welt hatte Ihm
nichts als Trauer gebracht. „Er kam in das Seinige, und die
Seinigen nahmen ihn nicht an". Er mußte das Wehe ausrufen
über jene Städte, in denen Er die mächtigsten Wunderwerke
verrichtet hatte. Nach den sichtbaren Resultaten zu urteilen
hätte Er sagen müssen: „Umsonst habe ich mich abgemüht,
vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt" (Jes 49, 4).
Unter dieser Sicht gab es für Ihn nichts als Trauer und Hindernisse; dennoch sagte Er gerade in dieser Stunde: „Ich preise
dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vor
Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig
vor dir". Und Er, Der alles völlig in Sich Selbst hatte, konnte
auch ausrufen: „Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und
Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben", — und Er konnte
denen, welche gekommen waren sagen: „Nehmet auf euch mein
Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen".
Was aber war Sein Joch? Es war die Unterwerfung unter den
Willen Seines Vaters, welchen Er in den Schwierigkeiten auf
der Erde stets erfüllte und in welchem Er Seine Ruhe fand. Und
darum fügte Er hinzu: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist
leicht"! Das wird uns in Joh 4 klar vor Augen gestellt, wo Er
Selbst, während sich die Ströme lebendigen Wassers in eine
arme dürstende Seele ergossen, eine solche Erquickung fand, daß
die vorhergehende Müdigkeit gänzlich entschwindet. Als Seine
Jünger sagen: „Rabbi, iß"! antwortete Er ihnen: „Ich habe
eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt . . . Meine Speise ist,
daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat und sein
Werk vollbringe". Wir nun sind berufen, Ihm auf diesem Pfad
zu folgen — einem Pfad, auf dem das Fleisch, wie sehr es sich
dazu auch den Anschein geben mag, keinen Schritt gehen kann
und auf dem wir nur so lange wandeln können, wie wir bereit
sind, die Unterweisungen zu lernen, welche das Kreuz gibt, und
unseren natürlichen Willen und die eitlen Wünsche unseres Herzens aufzugeben, um Seinen Willen zu tun. Aber unsere Kraft
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wird sich nicht darin zeigen, daß wir gute Entschlüsse und Vorsätze fassen, sondern darin, daß wir Jemanden haben, Der uns
anzieht und fesselt. Beschäftigen wir uns mit dem Ich, so wird
uns alle Kraft fehlen, wie sehr wir unsere Mängel und Gebrechen beklagen, und unsere Gewissensbisse uns drängen
mögen, einen neuen Anlauf zu nehmen, um das Böse zu überwinden. Ein aufrichtiges Gewissen zu haben, ist durchaus nötig;
aber es reicht uns keine Kraft dar. Wir mögen lernen, daß wir
keine Kraft haben und daß „in uns, das ist in unserem Fleische,
keine Kraft ist" — wirklich eine nützliche Lektion; aber unsere
Kraft finden wir darin, daß wir mit Jemandem beschäftigt sind,
Der uns erfüllen und befriedigen kann. Und das ist der Grund,
weshalb der Apostel uns in dieser Epistel Christum in zwei
Charakteren vorstellt. Wenn meine Gedanken erfüllt sind mit
Jemandem, Der vom Himmel herabstieg, um als Mensch den
niedrigsten Platz einzunehmen, so wird dies auch mich in dem
Maße demütig machen, als ich aus der Quelle moralischer
Schönheit trinke, die der Geist Gottes mir in Christo darstellt.
Einen anderen Weg gibt es nicht. Wenn ich an Ihn denke, Ihn
bewundere, so werde ich unbewußt mehr und mehr in Sein
Bild verwandelt werden. „Diese Gesinnung sei in euch" sagt
Paulus. Aber wie? Wenn ich in mein Inneres blicke und das,
was ich dort entdecke zu ordnen suche, so fühle ich nur, wie
ohnmächtig ich bin, das Böse wieder gut zu machen, wie selv
ich es auch verurteilen und betrauern mag. Deshalb sagt der
Apostel, indem er die Gesinnung Christi in Seiner Erniedrigung weiter entfaltet: „Blickt auf ihn"! So wird uns der Herr
im zweiten Kapitel unseres Briefes in Seiner Erniedrigung
gezeigt, damit Seine Schönheit auch unser Teil werden möge.
Im dritten Kapitel aber wird Er uns in Seiner Erhabenheit und
Herrlichkeit vorgestellt, damit diese Herrlichkeit Seinen Heiligen
Kraft verleihe, Ihm mit der gesegneten Gewißheit nachzueilen,
daß am Ende Seine Wünsche gänzlich erfüllt sein werden. Denn
Christus wird als Heiland kommen und „unseren Leib der Niedrigkeit zur Gleichförmigkeit mit seinem Leibe der Herrlichkeit
umgestalten nach der wirksamen Kraft, mit der er vermag,
auch alle Dinge sich zu unterwerfen" (Phil 3, 21).
Möge Er uns doch mit jedem Tage mehr unterweisen, was es
heißt, „mit Furcht und Zittern unsere Seligkeit zu bewirken",
195
und zwar in dem Bewußtsein, daß Gott es ist, welcher „in uns
wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, nach seinem
Wohlgefallen"!
Leben und Freiheit
„Löset ihn auf und lasset ihn gehen" (Joh 11, 44)!
Es gibt viele göttlich lebendig gemachte Seelen, welche die Kraft
der gebietenden Worte: „Löset ihn auf und lasset ihn gehen"
noch nicht kennen. Sie sind durch das lebendigmachende Wort
des Sohnes Gottes dem Zustande des Todes entrissen; aber sie
kommen heraus „an Händen und Füßen mit Grabtüchern gebunden" und ihr Gesicht „mit einem Schweißtuch umbunden".
Sie sind, mit anderen Worten, noch nicht fähig, die Fesseln
ihres früheren Zustandes abzuschütteln und sich auf ihrem
Weg in der Freiheit zu bewegen, womit Christus Sein Volk
freigemacht hat. Daß sie göttliches Leben empfangen haben,
geht deutlich aus den Verlegenheiten, Anstrengungen und
Kämpfen hervor, über die sie beständig klagen. Wer noch „tot
in den Sünden und Vergehungen" ist, weiß von dergleichen
nichts. Solange Lazarus, von der eisigen Hand des Todes erfaßt, im Grabe lag, fühlte er keineswegs, daß die Grabtücher
seine Bewegungen hinderten und daß das Schweißtuch den
Blick seiner Augen hemmte. Alles an ihm und um ihn her war
finster, kalt und leblos, und die Grabtücher waren die angemessenen Zierden eines solchen Zustandes. Ein Mensch, dessen
Hände und Füße von den Fesseln des Todes umklammert sind,
kann unmöglich die Grabtücher lästig und beschwerlich finden,
und jemand, dessen geschlossene Augen durch die strenge
Hand des Todes versiegelt sind, vermag die Beschwerlichkeit
eines Schweißtuches niemals zu fühlen.
Ebenso verhält es sich mit unbekehrten, nicht wiedergeborenen
Seelen. Sie sind „tot" — moralisch, geistlich „tot". Ihre Füße
sind von den Fesseln des Todes umklammert; aber sie wissen
es nicht. Ihre Hände sind in die Handschellen des Todes einge196
zwängt; aber sie fühlen es nicht. Ihre Augen sind mit dem
Schweißtuch des Todes verhüllt; aber sie merken es nicht. Sie
sind tot. Die Gewänder des Todes umringen sie, die Grabtücher
bedecken sie — alles ist ihrem Zustande angemessen.
Aber die Menschen, für welche ich diese Zeilen schreibe, sind
auf diese oder jene Weise durch die mächtige, lebendigmachende Stimme des Sohnes Gottes — durch Ihn, Der das „Leben
und die Auferstehung" ist — aufgeweckt und in Bewegung gesetzt worden. Durch irgendeine Schriftstelle, durch eine Predigt,
durch einen Traktat, durch ein Lied, durch ein Gebet oder durch
ein Ereignis ist ihr Ohr geöffnet worden, um eine lebengebende
Stimme zu vernehmen. Diese Stimme ist in ihr Herz gedrungen und hat es in der Tiefe erfaßt. Sie sind aufgeweckt, sie
wissen nicht wie, — sie sind erwacht und wissen nicht warum.
„Der Wind weht wo er will, und du hörst sein Sausen, aber
du weißt nicht woher er kommt und wohin er geht; also ist
jeder, der aus dem Geiste geboren ist" (Joh 3, 8). Das Leben
ist da, und alles ist Wirklichkeit. Die neue Geburt hat stattgefunden; die neue Natur ist mitgeteilt worden. Wer das beobachtet und weiß, was das Leben ist, gewahrt die Bewegungen, Kämpfe, Anstrengungen und Wirkungen des Lebens;
er erkennt aber auch, daß „die Grabtücher und das Schweißtuch" noch da sind. Ich glaube, daß es viele lebendiggemachte,
wiedergeborene Seelen gibt, die sich in diesem Zustande befinden und die deshalb weder die mit ihrer Geburt verknüpften
Vorrechte, noch die Quelle und den Zweck des ihnen mitgeteilten Lebens kennen. Sie sind lebendiggema.cht, aber noch
nicht freigemacht worden. Dieselbe Stimme, die ausrief: „Lazarus, komm heraus"! muß noch die Worte hinzufügen: „Löset
ihn auf und lasset ihn gehen"!
Ein Beispiel aus dem Worte Gottes soll uns das näher erläutern.
Der verlorene Sohn war lebendiggemacht, ehe er befreit wurde.
Sein Entschluß „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater
gehen" war die Äußerung des neuen Lebens, der Hauch der
neuen Natur. Als er diese Worte sprach, war er voller Zweifel
und Ungewißheit darüber, wie ihn der Vater empfangen würde.
Die Gesetzlichkeit erfüllte sein Herz; seine Gedanken beschäftigten sich mit der Knechtschaft und keineswegs mit der Sohn197
schaft. Das neue Leben war vorhanden; aber es war noch verbunden mit den Zweifeln und Befürchtungen seines Innern; die
Lumpen seines früheren Zustandes bedeckten ihn noch. Er war
aufgerüttelt worden durch eine lebengebende Stimme; aber
er war noch nicht in Freiheit gesetzt. Die ihm verliehene neue
Natur bewegte sich der Quelle entgegen, welcher sie ihren Ursprung verdankte; aber ihre Bewegungen waren gleichsam
durch die Grabtücher gehemmt, und ihr Blick war durch das
Schweiß tuch verdunkelt.
Wäre es nicht absurd, den verlorenen Sohn in seinen Lumpen
belassen zu wollen, so daß er in seinen Zweifeln, in seinen
Ängsten und in seiner Ungewißheit hätte verharren müssen?
Hätte Lazarus etwa für den Rest seiner Tage seine Grabtücher
und sein Schweißtuch tragen sollen, um zu beweisen, daß er
ein lebendiger Mensch sei? Es wird uns gezeigt, daß die Umarmung des Vaters alle Befürchtungen des verlorenen Sohnes
zerstreute; denn wie hätte er sich in den Armen der väterlichen
Liebe noch fürchten können? War es nicht der Vater Selbst, der
gebot, die Lumpen mit dem „vornehmsten Kleide" auszutauschen? Und was Lazarus betrifft, so muß nachdrücklich hervorgehoben werden, daß Dieselbe Stimme, Die ihn belebt und auferweckt hatte, auch gebot, ihn zu lösen und gehenzulassen.
Verhält es sich nicht ebenso bei dem, der durch den Glauben an
den Namen des Sohnes Gottes ein neues Leben empfangen hat?
In der Tat, ein solcher wird nicht länger die Lumpen des „fernen Landes", die Zierden des Grabes zu tragen haben. Seine
Hände und seine Füße werden gelöst, so daß er seinem Herrn
und Heilande dienen und in den Pfaden Seiner Gebote wandeln kann. Sein Antlitz wird enthüllt, das Schweißtuch entfernt
werden, so daß er seine Augen auf Den heften kann, Dessen
mächtige Stimme ihn ins Leben gerufen hat.
Erinnern wir uns stets daran, daß es dieselbe Stimme ist, die
lebendig macht und befreit, die das Leben und die Freiheit gibt,
die uns von der Herrschaft des Todes erlöst und in die
Freiheit des Lebens hineinführt. Diese Erkenntnis ist nötig.
Das Leben und die Freiheit sind miteinander verbunden, sie
kommen aus derselben Quelle. Das Leben, welches der Gläubige besitzt, ist nicht das verbesserte Leben des alten Adam,
198
sondern das mitgeteilte Leben, des neuen Adam, und die
Freiheit, in welcher der Gläubige wandelt, ist nicht eine Freiheit
für den alten Menschen, damit dieser seine schrecklichen Lüste
befriedigt, sondern eine Freiheit für den neuen Menschen,
damit er in die heiligen Fußtapfen Christi treten kann und mit
Gott wandelt. Auf welchem Wege erlangt er nun dieses Leben
und diese Freiheit? Durch das Wort Gottes, mittels des Glaubens in der Kraft des Heiligen Geistes. Dieselbe Stimme, die
den Lazarus lebendig machte, gibt auch der Seele das Leben.
Und wo läßt sich diese Stimme vernehmen? — In dem Worte
der Wahrheit des Evangeliums. Wer an den Namen des Sohnes
Gottes glaubt, hat das neue Leben empfangen. Welches Leben?
— Das Auferstehungsleben Christi. Das einfache Wort des
Evangeliums ist der Samen, der dieses neue Leben hervorbringt.
Und was besagt das Evangelium, diese frohe Botschaft? — Daß
Jesus Christus gestorben und wieder auferstanden, daß er ein
Opfer für die Sünde geworden und gen Himmel aufgefahren
ist. Er hat uns durch Sein Blut von unseren Sünden gereinigt,
ist jedem Widersacher, jeder Forderung, jedem Bedürfnis begegnet, so daß die Gerechtigkeit befriedigt ist, unser Gewissen
beruhigt und der Feind vernichtet ist. Dies gibt Leben und Freiheit — neues Leben und göttliche Freiheit. Es führt die Seele
aus der alten Schöpfung und allem was dazu gehört, heraus
und führt sie in die neue Schöpfung mit all ihren Vorrechten,
Freuden und Herrlichkeiten ein. Der Tod Christi befreit den
Gläubigen aus dem Zustand des alten Adam, in welchen er
hineingeboren war, und die Auferstehung Christi führt ihn ein
in den Zustand des neuen Adam durch die Wiedergeburt.
Dies alles ist eine Frucht des Wortes Gottes — der Stimme
Christi — der Wirkung des Heiligen Geistes. Menschliches Mitwirken ist dabei gänzlich ausgeschlossen. Der tote Körper des
Lazarus wurde durch die mächtige Stimme Christi belebt. Das
eine ist von dem Menschen so unabhängig wie das andere. Die
lebendigmachende Kraft sowohl für den Leib als auch für die
Seele liegt in der „Stimme des Sohnes Gottes" (siehe Joh 5, 25;
vgl. mit den Versen 28. 29). Das schließt jeden Ruhm des Menschen aus und erkennt ihn, wie es sich geziemt, allein dem
Sohne Gottes zu. Ja, Ihm gebührt alle Ehre, gelobt sei Sein
Name in alle Ewigkeit!
199
Daß doch diese Wahrheit tief in die Herzen solcher Leser eindringen möge, die über ihre Stellung in Christo noch nicht die
notwendige Klarheit haben. Denn gerade solchen Seelen, die
zwar lebendiggemacht, aber noch nicht befreit sind, gelten
diese Ausführungen. Es gibt viele, die sich im Zustande des
verlorenen Sohnes befinden, als er sich auf dem Wege zum
Vaterhause, aber noch nicht in den Armen des Vaters befand.
Ich wünsche von Herzen, daß sie zur vollen Freiheit gelangen
möchten, zu dem klaren Bewußtsein, daß das ganze Werk
vollendet, das Opfer vollbracht, das Lösegeld bezahlt ist. Sie
haben keinen Schritt zu gehen, kein Werk zu tun, um Frieden
zu schaffen; denn Christus hat Frieden gemacht. Gott ist völlig
zufriedengestellt. Der Heilige Geist bezeugt es. Das Wort Gottes gibt die eindeutigen Aufschlüsse darüber. Wo gibt es da
noch Grund für irgendeinen Zweifel? In dir selbst, mein Leser,
nicht wahr? Aber, mein teurer Freund, vergiß nicht, daß du
nichts mehr zu tun hast in einer Sache, die bereits für dich in
Ordnung gebracht ist. All dein eigenes Wirken zur Erlangung
einer Gerechtigkeit, die du bei dir suchst, ist eitel und unnütz;
aber, „dem, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den
Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet" (Röm 4, 5). Wenn du etwas tun müßtest, um die
Gerechtigkeit zu erlangen, so würde diese Schriftstelle eine
Lüge enthalten. Aber nicht in deiner, sondern in Gottes Hand
liegt dein Heil. Er will dein Wirken nicht; du stehst Ihm damit
nur im Wege. Er duldet nicht, daß du das Gewicht einer Feder
an menschlichem Wirken in die Waagschale legst, um das
Opfer Christi für dich annehmbar zu machen. Du wirkst aus
dir selbst nichts als Sünde und bringst dem Tode Frucht; aber
Christus hat für deine gegenwärtige, persönliche und ewige
Errettung alles getan. Er gibt das Leben und Er löst die Banden
der Knechtschaft. Alles ist Sein Werk!
Möge der Herr, der Geist, noch viele Seelen, die zwar vom
Tode zum Leben gelangt sind, aber sich noch gebunden und in
ihren Bewegungen gehemmt fühlen, mit der köstlichen Wahrheit einer völligen Befreiung bekanntmachen! Mögen alle, die
auf Seinen mächtigen Ruf das Grab der Sünde verlassen haben,
auch die alles durchdringenden Worte hören und verstehen:
„Löset ihn auf und lasset ihn gehen"!
200
Die Errettung
Man kann gegenüber der Neigung solcher Menschen, die, in
ihren Gewissen beunruhigt, durch eigene Anstrengung Rettung
und Frieden suchen, nicht oft genug wiederholen, daß die Bibel
das Heil des Sünders nirgendwo von menschlichem Tun, sondern ganz allein von dem abhängig macht, was der Herr getan
hat. Wie der Prophet Jona sich nicht selbst aus dem Bauch des
Fisches befreien konnte, sondern ausrufen mußte: „Bei Jehova
ist Rettung", ebenso kann auch der Sünder nichts zu seiner
Befreiung aus der Tiefe des Verderbens beitragen. Er ist von
Natur, „ein Kind des Zorns" und offenbart sich in seinem
Wandel als ein Sklave Satans und wenn er je etwas
anderes, etwas Besseres ist, so nur deshalb, weil Gott etwas
für ihn wirkt oder gewirkt hat. Und was hat Gott getan? „Also
hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn
gab, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in
die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt
durch ihn errettet werde" (Joh 3, 16—17). Gerade jene Kinder
des Zorns sollen Rettung finden, nicht etwa erst, wenn sie
wollen; denn der Mensch kann kein Verlangen nach Rettung
haben, bevor Gott dieses Verlangen in ihm gewirkt hat. Er
zweifelt erst dann an seiner Seligkeit, wenn er von der Tatsache
seines Verlorenseins überzeugt ist, und diese Überzeugung vermittelt ihm weder seine eigene Natur noch der Teufel, unter
dessen Macht er steht. Der Mensch empfindet erst dann göttliche Traurigkeit über die Sünde, wenn er lebendiggemacht ist.
„Der Sohn macht lebendig, welche er will" (Joh 5, 21). „Gott
aber hat uns, als auch wir in den Vergehungen tot waren, mit
dem Christus lebendig gemacht" (Eph 2, 4. 5). Was kann ein
toter Mensch tun? Gott, ist es, Der von Anfang bis zu Ende
„beides in uns wirkt, das Wollen und das Wirken nach seinem
Wohlgefallen". — „Stehet fest und sehet die Rettung Jehovas",
ruft Moses den fliehenden Kindern Israels zu, die in ihrer Ohnmacht gezwungen waren, Gott allein die Ehre zu geben. Der
Mensch zeigt, solange er nicht von seiner Ohnmacht überzeugt
ist, stets die Neigung, bei seiner Rettung die Hand mit ans
201
Werk zu legen; und nichts ist schwerer und demütigender für
ihn, als mit gottgemäßer Oberzeugung seinen Ruin und seine
völlige Hilfslosigkeit zu bekennen. Und doch wird gerade dadurch die Gnade Gottes so klar bezeugt und verherrlicht.
Nichts hat wohl die christliche Lehre mehr entstellt, als der
von vielen angenommene Lehrsatz, daß man aus der Gnade
fallen könne. Wenn allerdings ein Mensch kraft seines eigenen
Willens ein Kind Gottes werden könnte, so könnte er auch im
nächsten Augenblick kraft desselben Willens wieder ein Sklave
Satans werden. Aber ebensowenig wie ein Mensch durch die
Wirkung seines eigenen Willens ein Kind Gottes werden kann,
so kann auch kein Mensch das Verhältnis aufheben, welches
Gott Selbst gegründet und aufgerichtet hat. „Niemand kennt
den Vater, als nur der Sohn, und wem irgend der Sohn ihn
offenbaren will". „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn,
daß der Vater, der mich gesandt hat, ihn ziehe". „Niemand
kommt zum Vater, als nur durch mich". „Welche nicht aus
Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem
Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind". „Was aus
dem Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geiste
geboren ist, ist Geist". „Gepriesen sei der Gott und Vater
unseres Herrn Jesus Christus, der nach seiner großen Barmherzigkeit uns wiedergezeugt hat" (Mt 11, 27; Joh 6, 44; 14, 6;
1, 1.3; 3, 6; 1. Petr 1, 3).
Ist ein Kind geboren, weil es seine Geburt für gut fand und
sich daher entschloß, geboren zu werden? War seine Geburt die
Folge seines eigenen Willens? Jeder weiß die Antwort. Blicken
wir uns daher um, damit wir erkennen, was Gott getan hat,
um uns zu Seinen Kindern zu machen. „Größere Liebe hat
niemand als diese, daß jemand sein Leben läßt für seine Freunde"
(Joh 13, 13). „Christus ist, da wir noch kraftlos waren, zur
bestimmten Zeit für Gottlose gestorben. Denn kaum wird
jemand für einen Gerechten sterben; denn für den Gütigen
möchte vielleicht jemand zu sterben wagen. Gott aber erweist
Seine Liebe gegen uns darin, daß Christus, da wir noch Sünder
waren, für uns gestorben ist. Vielmehr nun, da wir jetzt durch
sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch ihn gerettet
werden vom Zorn. Denn wenn wir, da wir Feinde waren, mit
202
Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, vielmehr
werden wir, da wir versöhnt sind, durch sein Leben gerettet
werden" (Röm 5, 6—10).
Gepriesen sei Gott! Wenn die Liebe Gottes, als ich noch ein
Feind, ein Sünder, ein Gottloser war, für meine Rechtfertigung
und Versöhnung ein so sicheres Unterpfand gegeben hat, wievielmehr wird dann diese Liebe jetzt für mich, Sein Kind, eintreten, um mich für die Herrlichkeit zu bewahren. Leider werden viele Stellen der Schrift oft fälschlich auf Gläubige angewandt, obgleich sie sich, wie eine sorgfältige Prüfung deutlich
zeigt, sich auf eine Klasse von bloßen Bekennern beziehen, die
nie durch die lebendigmachende und erneuernde Gnade Kinder
Gottes waren. Die stärksten Ausdrücke nach dieser Richtung
hin finden wir in Hebr 6, 4—6. Wenn wir diese Ausdrücke mit anderen Schriftstellen vergleichen, entdecken wir, daß unter denen,
die„einmal erleuchtet waren und geschmeckt haben die himmlische
Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes" nicht
solche zu verstehen sind, die Leben aus Gott, himmlische Gaben
zu ihrer Nahrung und den Heiligen Geist, wohnend in ihnen
als Seinen Tempeln, empfangen haben. Für Seine Kinder wählt
Gott ganz andere Ausdrücke. Sie sind erwählt, berufen, lebendiggemacht, gerechtfertigt, versöhnt, angenehm gemacht, zur
Kindschaft verordnet und in Christo vollendet. Schließlich
findet man im 7. Vers eine Erläuterung und im achten und
neunten Vers einen klaren Aufschluß über die wahre Bedeutung jener Stelle, daß sie nämlich eine Klasse von Menschen
bezeichnet, die nie gerettet waren. — Auch die Stelle in Gal 5
Vers 4: „Ihr seid aus der Gnade gefallen", berührt in keiner
Weise die Frage der Errettung; denn die Galater waren in Gefahr, sich von der im Evangelium verkündigten Gnade abzuwenden und zum Judentum oder zum Gesetz zurückzukehren.
— Ebenso werden die Worte in Phil 2, 12: „Bewirket eure
eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern", oft ganz falsch angewendet und ihrer wahren Bedeutung entkleidet. Lesen wir
den ganzen Vers: „Daher, meine Geliebten, gleichwie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein als in meiner Gegenwart, sondern jetzt vielmehr in meiner Abwesenheit, bewirket
eure eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern". Unmöglich würde
der Apostel solche, die noch nicht gerettet und mithin noch
203
Feinde Gottes waren, als „meine Geliebten" angeredet haben.
Er wendet sich vielmehr an Gläubige, die sich ihrer Rettung
bewußt sind, und an sie ergeht die Aufforderung, ihre eigene
Seligkeit mit Furcht und Zittern zu bewirken, d. h. sich mit
äußerster Wachsamkeit von den drei großen Feinden ihrer
Seele fernzuhalten: von der Welt, dem Fleische und dem Teufel.
Wie aber sollte das geschehen? Die Worte: „Denn Gott ist es,
der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken nach
seinem Wohlgefallen", geben uns darüber völligen Aufschluß.
Das Vermögen, uns von unseren Feinden fernzuhalten, liegt
nicht in uns selbst, sondern wir fliehen zu Gott, Der den Willen
und die Kraft darreicht, dem Teufel zu widerstehen, das Böse
zu überwinden und uns in der Hoffnung der Herrlichkeit zu
erfreuen. Die ganze Idee des freien Willens findet also im
Wort der Wahrheit keine Stütze.
Aus den verkehrten Anschauungen über das Wort Gottes, sowie
überhaupt aus den Gedanken des Menschen über Gott und
über sich selbst entspringen die größten Irrtümer. Wenn sich
ein Mensch den Gedanken, die Gott über ihn hat, unterwirft,
erkennt er bald, daß er nicht die Wahl hat, frei über sich selbst
zu bestimmen; denn er ist schon gerichtet. Welche Macht oder
Freiheit, sich selbst zu retten, besitzt ein Gefangener, der bereits verurteilt ist und dem Tage seiner Hinrichtung entgegensieht? — Aber ein Kind Gottes ist sich seiner Freiheit bewußt
und wandelt in diesem Bewußtsein; denn „wen der Sohn frei
macht, der ist wirklich frei". Zum Verständnis soll folgendes
Beispiel beitragen: ein Mann von großem Vermögen nimmt
einen armen Knaben, der weder Vater noch Mutter, noch sonst
einen Versorger hat, in sein Haus auf und sagt ihm: „Höre,
mein Junge, wenn du zu mir kommen und dich 15 Jahre lang
gut führen willst, so werde ich dich zu meinem Universalerben
einsetzen". Was für eine Einstellung wird den Knaben leiten?
Seine Haltung während der ganzen 15 Jahre wird von Knechtschaft und Furcht geprägt werden. Um seinem Herrn nicht zu
mißfallen, oder gar von ihm entlassen zu werden, wird er es
nicht wagen, dieses zu tun und jenes zu unterlassen. So verfährt die herrschende Theologie unserer Tage; sie führt die
Menschen durch die Furcht vor der Hölle in die Knechtschaft.
Da heißt es stets: „Wenn du dies oder das tust — wenn du
204
dich sauber und rein hältst, wirst du selig werden, andernfalls
ist die Verdammnis dein unausbleibliches Los".
Aber Gott stellt uns in Seinem Evangelium auf einen ganz
anderen Boden. Er sagt: „Höre, mein Sohn, ich erwähle dich
zu meinem Kinde und Erben. Komm nun und betrage dich, wie
es eines Kindes würdig ist". — Welch ein Unterschied! Während jener vermögende Mann die Erbschaft von der Führung
des Knaben abhängig macht, tritt hier der Berufene sofort und
ohne Vorbehalt in die Freiheit eines Sohnes und Erben ein. Er
ist „wirklich frei". Er kann sagen: „Dies alles ist mein, und
es ist nur eine Zeitfrage, wann ich in den vollen Besitz dieser
Dinge kommen werde". Er kann den Willen seines Vaters mit
fröhlichem Herzen und heiterem Gemüt erfüllen, weil er weiß,
daß sein Erbteil gesichert ist. Der Herr sei dafür gepriesen!
Unser Erbteil ist sicher und wird für uns im Himmel aufbewahrt. Bemerkst du nicht den großen Unterschied zwischen
jenem Knaben, der, wenn er treu ist, auf das Erbteil hoffen
darf, aber weil eben alles von seiner Treue abhängt, dessen nie
völlig sicher ist, und dem bereits angenommenen Sohne, der,
weil er sich seiner Sohnschaft bewußt ist, im Gefühl völliger
Freiheit wandeln kann? Es handelt sich also nicht um meine
Treue und Standhaftigkeit, sondern um das, was Gott getan
hat und tut. Denn in mir selbst bin ich total verderbt und
habe von Natur durchaus keine Kraft in mir, das Gute zu tun.
„Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts
Gutes wohnt". — „Ich bin mit Christo gekreuzigt, und nicht
mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt
lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn
Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben
hat" (Gal 2, 20). Verherrlicht sei Sein teurer Name!
Jetzt nun, — als ein neuer Mensch, als ein angenommener
Sohn — bewirke ich meine Seligkeit mit Furcht und Zittern.
Das, was dieses Zittern hervorbringt, ist nicht etwa die Furcht
davor, schließlich verlorenzugehen, sondern es ist das Gefühl
meiner Schwachheit gegenüber den feindlichen Mächten, gegen
welche ich zu kämpfen habe, und zwar in dem Bewußtsein,
daß Gott es ist, welcher in Gnade mit mir handelt, um mich —
das einstige Kind des Zornes — in Seine Herrlichkeit zu bringen.
205
O wie wunderbar groß ist die Güte und Gnade Gottes! „Wie
unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine
Wege"! Merken wir uns den großen Unterschied! Ich wirke,
weil ich gerettet bin und nicht, weil ich auf der Grundlage eines
treuen Wandels gerettet zu werden hoffe, denn das würde mein
Werk dahin stellen, wo das Werk Gottes allein stehen kann.
Handelt es sich um mein Wirken, dann bin ich selbst im besten
Falle ein „unnützer Knecht". Daher wie lieblich ist es, den
Herrn sagen zu hören: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte,
denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; aber ich habe
euch Freunde genannt". „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr
tut, was irgend ich euch gebiete". Wenn wir also nicht tun, was
Er gebietet, so beweisen wir, daß wir nicht Seine Freunde sind.
Wir sind nicht Seine Freunde, weil wir Seine Gebote halten,
sondern wir halten Seine Gebote, weil wir Seine Freunde sind.
Mit demselben Gesichtspunkt befaßt sich auch Jakobus. Im
zweiten Kapitel seines Briefes finden wir eine Klasse von Menschen, die nach ihrem Bekenntnis Anspruch darauf erheben,
gerettet und mithin Freunde Christi zu sein, während ihr ganzes Verhalten dieses Bekenntnis Lügen straft. Sie handelten
nicht als Freunde; sie wandelten nicht als erlöste Menschen.
Obwohl sie sehr religiös gewesen sein mögen, wie es auch in
unseren Tagen viele sind, fehlte die natürliche Frucht der Annahme. Darum ergeht die Ermahnung an sie: „Also redet und
also tut, als die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden
sollen" (V. 12). — „Zeige mir deinen Glauben ohne Werke und
ich werde dir meinen Glauben aus meinen Werken zeigen"
(V. 18). Euer Mund mag den Glauben bekennen, aber eure
Werke leugnen ihn; ich aber bekenne den Glauben, und meine
Werke bestätigen ihn. Ihr bekennt euren Glauben ohne einen
dazu passenden Wandel, während ich euch meinen Glauben
aus meinen Werken zeige. Ich habe nicht Glauben, weil ich
Werke habe, sondern ich habe Werke, weil ich Glauben habe.
— Geliebte Brüder, merkt ihr diesen Unterschied? Der Glaube
ist nicht die Frucht der Werke, sondern die Werke sind die
Früchte des Glaubens. Wir wirken nicht, um gerettet zu werden,
sondern wir sind gerettet und darum wirken wir. Möge daher
unser Glaube aus der Stellung kommen, die Gott uns aus
Gnaden angewiesen hat, und möge all unser Wirken es bezeu206
gen, daß wir uns in dieser Stellung befinden! Erst dann können
wir in die freudigen Worte einstimmen: „Seht, welch eine
Liebe uns der Vater gegeben hat, daß wir Kinder Gottes heißen
sollen . . . und es ist noch nicht offenbar geworden, was wir
sein werden; wir wissen, daß, wenn er offenbar werden wird,
wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie
er ist" — erst dann werden wir auch die Worte verstehen:
„Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst,
gleichwie er rein ist" (1. Joh 3, 1—3).
Hilfeleistungen
Dieses Wort finden wir in 1. Kor 12, 28, wo der Heilige Geist
die verschiedenen Gaben zur Bedienung der Versammlung
bezeichnet. Wir lesen dort: „Gott hat etliche in der Versammlung gesetzt: erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens
Lehrer, sodann Wunderkräfte, sodann Gnadengaben der Heilungen, Hilfeleistungen, Regierungen, Arten von Sprachen".
Es liegt eine tiefe und wichtige Bedeutung in dem Wort „Hilfeleistungen". Bei einigem Nachdenken wird es uns nicht schwer
werden, zu begreifen, was unter einem Apostel, einem Propheten, einem Lehrer, unter Wunderkräften, Gaben der Heilungen, Regierungen und unter verschiedenen Arten von Sprachen zu verstehen ist. Aber der Sinn des Wortes „Hilfeleistungen" ist nicht so leicht zu erfassen. Hier öffnet sich ein weit
ausgedehntes Feld, zeigt sich ein viel umfassenderer, bedeutungsvollerer, christlicherer Dienst, den wir vielleicht oft nicht
gebührend einzuschätzen wissen. Es gibt in der Versammlung
Gläubige, die keine besonderen Gaben besitzen; sie sind weder
Evangelisten noch Lehrer; aber dennoch können sie denen, die
im Besitze dieser Gaben sind, von großem Nutzen sein und
ihnen in ihrer Arbeit auf eine wirksame Weise Hilfe leisten.
Wir wollen etwas näher darauf eingehen. Vielleicht ist jemand
in der Versammlung, der gänzlich unfähig ist, öffentlich zu
dienen, dennoch kann er einen stärkeren und bleibenderen Einfluß ausüben, als ein hervorragend begabter Diener. Obwohl
er weder Prediger noch Lehrer ist, zeigt er doch in seinem
Herzen großes Interesse für das Werk des Herrn in und außer207
halb der Versammlung. Er denkt vielleicht nie daran, ein Wort
zur Erbauung oder zur Belehrung zu reden; aber die Art und
Weise, wie er die geringsten Dienste verrichtet — und sei es
auch nur, daß er jemandem die Tür öffnet oder einen Platz
anweist, eine Bibel oder ein Liederbuch reicht — tut dem Herzen
wohl. Man fühlte, sein Herz nimmt den innigsten Anteil an dem
Werke des Herrn. Er zeigt sich bereit, die niedrigsten Dienste
zu verrichten, um so zur Förderung des Werkes beizutragen.
Sein heiteres Gemüt und seine selbstverleugnende Liebe üben
einen bedeutenden, wenn auch unscheinbaren Einfluß auf die
Versammlung und das Werk des Herrn aus. Er ist willig, alles
zu tun, um allen zu dienen, die seiner Hilfe, seinen Dienst
brauchen. Was du auch immer nötig haben magst, er ist der
Mann, an den du dich nicht vergeblich wendest. Geh zu ihm,
so oft du willst, teile ihm dein Anliegen mit — er steht allezeit
zu deinem Dienst bereit. Nichts ist ihm lästig, nichts beschwerlich; er betrachtet jede Schwierigkeit als eine Gelegenheit zur
Hilfe. Er kennt keine Beschwerden; sein Herz ist frei, sein
Geist frisch und fröhlich. — Er liebt Christum und die Seinigen;
er liebt die Diener Christi und ihr Werk. Er legt großen Wert
auf die Predigt des Evangeliums, auf die Errettung der Sünder,
auf das geistliche Wachstum der Kinder Gottes, ist nicht selbstsüchtig, und freut sich, wenn das Werk des Herrn einen guten
Fortgang nimmt, unbekümmert darum, wer dies Werk verrichtet. Er unterstützt die Diener des Herrn mit seiner ganzen
Kraft, mit seinem ganzen Einfluß.
Auch wer so wirkt, erfüllt eine nicht zu unterschätzende Aufgabe. Sind nicht seine „Hilfeleistungen" ein gesegnetes und
wichtiges Werk? O möchten doch mehr solche Gaben vorhanden sein! Es ist gut, daß wir den Herrn um Lehrer und Evangelisten bitten; denn wir bedürfen ihrer sehr. Doch es sollte
auch eine Sache unseres Gebetes sein, daß Er die Willigkeit zu
Hilfeleistungen erwecke, weil diese einen sehr gesegneten Einfluß ausüben.
Man hört oft sagen: „Ich bin kein Evangelist, ich bin kein
Lehrer; ich habe keine Gaben, um zu sprechen". Das mag wahr
sein. Aber könnte dich der Herr nicht zu „Hilfeleistungen"
befähigt haben? Bist du auch kein Evangelist und kein Lehrer,
so kannst du doch in mancher Weise entschieden an ihrer Seite
208
mitwirken. Du kannst ihr Herz erquicken, ihren Geist erfrischen und ihr Werk durch unzählige kleine und unscheinbare
Mittel fördern, die für das Herz Jesu überaus wertvoll sind,
und die Er am Tage Seiner Ankunft reichlich belohnen wird.
Es ist sicher ein verkehrter und verwerflicher Gedanke, daß in
dem Werke des Herrn Ihm und den Seinen nur dienen könne,
wer im Besitz einer besonderen Gabe ist. Jeder hat den ihm
angewiesenen Platz einzunehmen und seine eigene Aufgabe
zu erfüllen. Jeder Vogel singt seine eigene Weise. Wer die
Melodie eines anderen nachpfeift, liefert keine Melodie, die ihm
eigentümlich ist, sondern brüstet sich mit den Weisen seiner
Mitgeschöpfe. Ach, wie viele Christen gefallen sich in solchem
Nachäffen! Wieviel besser ist es doch, wahr und einfältig zu
sein und sein eignes Lied — und -wäre es vergleichsweise auch
nur die Weise eines Rotkehlchens — zu singen, als die wohllautenden Klänge einer Nachtigall nachzuahmen. Nichts ist
unausstehlicher, als wenn ein Diener Christi daß Maß der ihm
verliehenen Gabe zu überschreiten trachtet.
Was wir bei jedem Wirken für den Herrn vor allem nötig
haben, ist ein ganzes Herz für Sein Werk. Wo das fehlt, da
fehlt alles; wo es vorhanden ist, werden wir zu jedem guten
Werk bereit sein. Was nützt mir die ausgezeichnetste und hervorragendste Gabe, wenn ich nicht allezeit bereit bin, anderen
zu helfen und auf jede Weise das gesegnete Werk des Herrn
zu fördern? Wenn ich Christum lieb habe, so werde ich, mag
ich eine Gabe haben oder nicht, stets danach trachten, Ihn in
Seinem Werke zu verherrlichen. Kann ich das Evangelium nicht
verkündigen, so kann ich doch die Leute einladen und mir
Mühe geben, viele Zuhörer herbeizurufen. Ich kann sie freundlich empfangen, und ihnen kleine Dienste leisten. Ich kann in
kleinen, unscheinbaren Dingen zeigen, daß mein Herz an dem
Werke Gottes teilnimmt, und auf diese Weise ein kräftiges
Zeugnis für andere sein. Ich kann durch meine Gebete, durch
meine Anwesenheit, ja selbst durch meine Haltung nützlich
sein. Wenn wir ein freudiges, glückliches Herz haben — einen
Geist, frei von kleinlicher, verächtlicher Eifersucht, wenn wir
treu und ernst sind, werden unsere „Hilfeleistungen" für das
Werk und die Arbeiter des Herrn höchst gesegnet sein.
209
Geliebte Brüder! Möchte es unser ernstes Flehen sein, daß der
Herr in unserer Mitte den höchst wichtigen und wertvollen
Dienst erweckt und offenbart, der sich in dem einfachen Wort
„Hilfeleistungen" ausdrückt! Möchte es aber zu gleicher Zeit
auch unser aller Trachten und Begehren sein, alles zu tun, was
in unseren Kräften steht, um das gesegnete Werk Gottes und
die Ehre und Verherrlichung des Namens Dessen zu fördern,
der Sein Leben für uns hingegeben und uns von ewigem Verderben errettet hat! Er will, daß Seine Knechte treu erfunden
werden. Welches Werk ich tue, welchen Dienst ich verrichte,
darauf kommt es nicht an; aber alles hängt davon ab, ob ich
die mir aufgetragene Arbeit mit einem freudigen, treuen Herzen erfülle.
Gedanken über Philipper 2 und 3
Der ganze Brief an die Philipper ist insofern höchst bedeutsam,
weil er den Christen zu der höchsten Stufe gereifter Erfahrung
erhebt. Ich will mich hier jedoch nur mit den beiden Kapiteln
beschäftigen. Das zweite Kapitel zeigt uns den christlichen
Charakter oder — wie man zu sagen pflegt — die christliche
Gnade. Wir sehen Christum, Der, auf die Erde gekommen,
Sich Selbst erniedrigt hat. Das dritte Kapitel befaßt sich mit der
Energie, die den Christen über die gegenwärtigen Dinge erhebt.
Es zeigt uns Christum in der Herrlichkeit, sowie den Kampfpreis unserer Berufung nach oben.
Eine sorgfältige Prüfung läßt uns erkennen, wie im zweiten
Kapitel durchgängig die lieblichen Gnadenfrüchte dargestellt
werden, welche aus der ernsten Betrachtung der Niedrigkeit
unseres gesegneten Herrn, indem das Herz von dieser Gesinnung erfüllt wird, unausbleiblich entspringen. Das dritte Kapitel
stellt uns ein Gemälde von jener gesegneten Energie vor Augen,
welche die Welt für Dreck achtet, auf dem Wege überwindet
und vorwärts auf die Zeit schaut, wo der Herr die Macht des
Todes in uns samt all ihren Folgen beseitigt und den Leib unserer Niedrigkeit in den Leib Seiner Herrlichkeit umwandelt.
Beide Grundsätze und die damit zusammenhängenden Beweggründe sind von tiefgreifender praktischen Bedeutung.
210
Die Christen sind unterschiedlich. Der eine zeichnet sich durch
viel Energie des Glaubens aus, der andere mehr durch einen
sympathischen Charakter. Wenn aber auf unserem Pfade das
Fleisch oder die natürliche Willenskraft sich mit der göttlichen
Kraft vermischt, müssen wir in unserem Wandel das beherzigen, was uns im zweiten Kapitel gesagt wird. Wir bedürfen
einer größeren innerlichen Gemeinschaft mit Christo, mehr der
Ernährung von dem Brote, das aus dem Himmel herniedergekommen ist. Nur dann offenbaren wir Christum in unserem
Wandel; unsere Tätigkeit wird von tieferem Ernst geprägt sein
und größeren Wert haben, unser Wandel wird wahrer und
göttlicher sein. Dagegen kann der Mann von ruhigem Charakter sehr leicht den Stab über seinen Bruder brechen, weil er
dessen Energie, die ihm selbst mangelt, für Fleisch hält, obwohl
sie in der Tat von Gott gewirkt ist.
O möchten wir uns doch nahe genug bei Christo halten und
von Ihm alle Gnade und Hingebung nehmen; möchten wir
alles in uns verurteilen, was uns auf unserem christlichen
Pfade zum Anstoß dienen könnte! Es ist nicht zu erwarten, daß
ein Christ alle positiven Eigenschaften zugleich besitzt. Ich
denke nicht, daß dies in der Absicht Gottes liegt. Ein jeder hat
vielmehr in Demut seinen Platz zu bewahren. Das Auge kann
nicht zur Hand, die Hand nicht zum Fuße sagen: „Ich bedarf
deiner nicht". Nur in Christo allein ist Vollkommenheit. Gegenseitige Abhängigkeit und eine Ergänzung des einen durch
den anderen — das ist die göttliche Ordnung Seines Leibes. Für
einen tätigen Geist scheint dieser Gedanke hart zu sein; aber es
ist wahre Demut, nichts zu sein und zu dienen. Der praktische
Weg zu dieser Einsicht ist, daß einer den anderen höher achtet,
als sich selbst. Andere besitzen das, was uns fehlt. Unser Teil
ist es zu tun, was der Herr uns zu tun heißt, zu dienen und
alles Ihm zuzuschreiben, der in Wirklichkeit der Weisende ist,
und uns, wenn wir Seinen Willen getan haben, zu freuen, daß
wir nichts sind, damit Er alles sei.
Doch beleuchten wir das zweite Kapitel unseres Briefes etwas
näher. Augenscheinlich wird uns hier die Erniedrigung Christi
gezeigt. Die Anwendung ist lieblich. Die Philipper, die schon
früher Beweise echter Anteilnahme am Evangelium geliefert
hatten, hatten an den Apostel in fernem Kerker gedacht, und
211
Epaphroditus hatte, ihrer Liebe Ausdruck gebend, der Bedürftigkeit des Apostels gedient und voll hingebenden Eifers zur
Erfüllung dieses Dienstes sein Leben gewagt (V. 25—30). Paulus macht von der Liebe der Philipper einen rührenden Gebrauch. Er erblickt in diesem erneuerten Zeugnis ihrer Zuneigung eine „Ermunterung in Christo, einen Trost der Liebe,
Gemeinschaft des Geistes, innerliche Gefühle und Erbarmung"
(V. 1)! Sein Herz fühlt sich zu ihnen hingezogen. Wenn sie ihn
aber vollkommen glücklich machen wollten, so konnte dies nur
dadurch geschehen, daß sie völlig eins und glücklich untereinander waren. Mit welcher Liebe und Zärtlichkeit suchte er sie
auf ihre Mängel und Gefahren aufmerksam zu machen! Wie
bewußt war er dabei bemüht, die„Evodia"und die „Synthyche"
(Kap 4, 2) zu gewinnen und sie, da die Gnade so wirksam war, wegen ihrer unterschiedlichen Gesinnung zu beschämen! Dann spricht er davon, wie es möglich ist, in dieser Gesinnung zu wandeln. Ein jeder sollte nicht auf seine eigenen
geistlichen Gaben und Vorrechte sehen, sondern auch auf die
seines Bruders, und das war nur möglich im Blick auf die Gesinnung, die in Christo Jesu war (V. 4. 5). Diese Entfaltung
führt uns zu dem erhabenen Grundsatz des Kapitels.
Christus ist uns hier in völligem Gegensatz zu dem ersten
Adam vor Augen gestellt. Dieser erhob sich, um durch einen
Raub Gott gleich zu sein. „Ihr werdet sein wie Gott, erkennend
Gutes und Böses" (1. Mo 3, 5), hatte die Schlange gesagt. Und
er wurde ungehorsam bis zum Tode. Aber Christus — gepriesen
sei Sein Name! — Der in Gestalt Gottes war, machte Sich Selbst
zu nichts und war in Knechtsgestalt gehorsam bis zum Tode.
Er war wahrhaftiger Gott, wie Adam wahrhaftiger Mensch
war; ja Er war selbst dann noch wahrhaftiger Gott, nachdem
Er die Gestalt eines Menschen angenommen hatte, und war
doch zugleich wahrhaftiger Mensch und Diener in Gnade. Er
erniedrigte Sich Selbst aus Liebe und wurde als Mensch erhöht,
während Adam sich aus Selbstsucht und Hochmut erhob und
erniedrigt wurde. Christus ertrug nicht nur die Schmach von
Seiten der Menschen mit Geduld, sondern Er erniedrigte Sich
Selbst. Das war Liebe. Wir entdecken hier zwei große Stufen. Er
war in Gestalt Gottes und nahm Knechtsgestalt an, und als
Mensch erniedrigte Er Sich Selbst und „ward gehorsam bis zum
212
Tode, ja zum Tode am Kreuze" (V. 6—8). Das ist die Gesinnung, die uns erfüllen muß. Die Liebe macht sich selbst zu
nichts, um anderen zu dienen, und hieran findet sie ihre Freude,
während die Selbstsucht es liebt, bedient zu werden. Der
wahre Ruhm eines göttlichen Charakters ist es, demütig zu
sein; menschlicher Stolz ist nichts als Selbstsucht. Jene Gesinnung erzeugt nicht nur Zuneigung und Hingabe in dem Herzen,
sondern setzt auch bei anderen diese Neigung voraus und ist
auf diese Weise eine Quelle wahrer Freude und Segnung für
die Versammlung.
Nachdem der Apostel im weiteren Verlauf unseres Kapitels an
die Erhöhung und Verherrlichung Christi als Herrn erinnert
hat, ermahnt er die gläubigen Philipper, deren Gehorsam (vollkommen in Christo geoffenbart) er rühmt, ihre „eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern zu bewirken" (V. 12), und dies um
so mehr, da sie jetzt den Angriffen des Feindes unmittelbar
ausgesetzt waren; denn Paulus, der einst unter ihnen gewirkt
hatte, befand sich fern von ihnen im Gefängnis und konnte sie
mit seiner Energie nicht mehr stützen. Doch nach allem war es
Gott — und nicht Paulus — der in ihnen wirkte „sowohl das
Wollen als auch das Wirken nach seinem Wohlgefallen"
(V. ii).
Die Seligkeit oder die Errettung ist in diesem Briefe stets das
große Resultat der endlichen Befreiung vom Bösen und des Eintritts in die Herrlichkeit. Das alles wird am Ende erwartet, obgleich die Segnungen auf unseren Pfad herabstrahlen und sich
auswirken nach den Worten: „Auf daß ihr tadellos und lauter
seid, unbescholtene Kinder Gottes, inmitten eines verdrehten
und verkehrten Geschlechts, unter welchem ihr scheinet wie
Lichter in der Welt, darstellend das Wort des Lebens . . ."
(V. 15. 16). Welches dieser Worte könnte nicht auf Christum
angewandt werden? Er allein war das wahre Muster, und wir,
die wir Leben in Ihm haben, sind berufen, zu folgen. So war
Christus, und so ist der christliche Charakter, den wir mit
Wonne und Anbetung in Ihm erforschen und der in uns verwirklicht wird.
Betrachten wir jetzt die Zuneigungen, die aus der Demut entspringen, wo die Selbstsucht in der Liebe verschwindet. „Wenn
213
ich aber auch als Trankopfer über das Opfer und den Dienst
eures Glaubens gesprengt werde, so freue ich mich und freue
mich mit euch allen" (V. 17). Paulus macht den Glauben der
Philipper zur Hauptsache; denn deren Glaube war das Opfer
für Gott. Sein Anteil daran war, wiewohl er in den Tod ging,
nur eine Zugabe. Er betrachtet die Philipper als das Eigentum
Christi, die Frucht der Arbeit Seiner Seele, die Krone und
Freude des Erlösers. Deshalb waren sie auch für den Apostel
eine Freude, und aus demselben Grunde will er, daß auch sie
sich mit ihm freuen; denn für ihn war es in der Tat ein Ruhm,
sich selbst für Christum aufzugeben.
Aber noch mehr. Er dachte an ihre Glückseligkeit und war im
Begriff, seinen geliebten Timotheus zu ihnen zu senden, um
auf diesem Wege ihre Umstände zu erfahren. Er hatte dieses
Vorhaben jedoch zurückgestellt, bis er ihnen zuverlässige Mitteilungen machen konnte, da er vor dem Kaiser erscheinen und
vielleicht dem Tode entgegengehen mußte. Wie schön und herrlich ist dies alles! Hier ist das Vertrauen der Liebe; es setzt
dieselbe Liebe auch bei anderen voraus und gibt sich ihr im
freien Ausfluß hin. Sie wird gegenseitig gefühlt und erkannt,
und sie war, wie wir sehen, nicht nur in dem Apostel wirksam.
Die um sich greifende allgemeine Erkaltung der Empfindungen
unter den Heiligen, sowie der für das Fleisch so schmachvolle
Widerstand der Welt trugen dazu bei, die Liebe der Philipper, wie
der Apostel in diesem Briefe andeutet, nur zu stärken. Auch die
Liebe des Apostels ließ sich durch alles das nicht zurückschrecken.
Sie erkaltete nicht. Nichtsdestoweniger mußte ihm das Zeugnis
der Liebe tröstlich sein, das Gott ihm durch die so weit entfernten Brüder in Philippi zusandte, wie tröstlich ersehen wir
aus dem Anfang unseres Kapitels. Dieselben Früchte der Liebe
finden wir auch in Epaphroditus und seinen Beziehungen zu
den Philippern. Paulus sendet ihn mit dem Zeugnis seiner
innigsten Zuneigung und Anerkennung zurück, denn Epaphroditus sehnte sich nach ihnen allen. Er hatte seinen Auftrag mit
Freuden übernommen, hatte einen Weg von beinahe zweihundert Meilen zurückgelegt und war infolge seiner Entbehrungen
und Anstrengungen sterbenskrank geworden. Um des Werkes
Christi willen war er bis nahe zum Tode gekommen. Hatte nun
der Einsatz des Epaphroditus für den Apostel etwa deshalb
214
weniger Wert, weil er um des Werkes Christi willen geschehen
war? Keineswegs. Wenn der Gesandte der Philipper als ein
Opfer seines — dem Apostel gewidmeten Dienstes gefallen
wäre, so hätte dies für Paulus einen harten, kummervollen
Schlag bedeutet, zumal sein Leidenskelch ohnehin schon voll
war. Doch Gott hatte sich über Epaphroditus erbarmt, und der
Apostel betrachtete das als eine ihm selbst widerfahrene Barmherzigkeit. Hier sehen wir, wie das Herz, das sich frei in der
Gnade bewegt, empfangene Barmherzigkeit zu schätzen weiß,
nicht aus natürlichen Gefühlen der Verwandtschaft heraus, wie
richtig und passend diese auch an ihrem Platze sein mögen,
sondern gottgemäß. Epaphroditus wäre im Fall seines Ablebens
sicher in den Himmel gegangen; aber in diesem Augenblick
sehnt sich das Herz des Apostels nach Güte — nach der Güte
Gottes, der „die Niedrigen tröstet" und er dankt Gott, daß der
geliebte Epaphroditus nicht als Opfer seines Eifers in der Erfüllung seines Dienstes gefallen ist.
Aber das ist noch nicht alles. Epaphroditus war in großer Besorgnis darüber, daß die Philipper seine Krankheit erfahren
hatten. Er setzte ihre Liebe voraus. Er dachte: „Sie werden bekümmert sein und keine Ruhe haben, bis sie von meiner Genesung überzeugt sind; darum will ich mich aufmachen, um sie
so schnell wie möglich aufzusuchen". — Wie ein Sohn um
seine Mutter, deren Liebe er kennt, besorgt ist, indem er an ihre
Unruhe wegen seiner Krankheit und an ihre Sehnsucht nach
einer Nachricht über seine Umstände denkt, ebenso war Epaphroditus um die Philipper bekümmert, und das waren die
Gefühle der Christen jener Zeit in der die Hingabe und die
Liebe unter ihnen im allgemeinen bereits so geschwunden
waren, daß alle „das ihrige suchten". Das war in der Tat „Ermunterung in Christo, Trost der Liebe, Gemeinschaft des
Geistes"; es waren „innerliche Gefühle und Erbarmungen".
Wie erquickend ist dies! Noch besitzen wir die gesegnete Quelle von alledem in Christo, die, wie traurig auch sonst alles sein
mag, stets für uns sprudelt, und der Glaube kennt keine
Schwierigkeiten, weil er nichts zwischen uns und Christo erblickt. In Christo aber ist freie Entfaltung der Gnade; nichts
hindert uns, deren Früchte hervorzubringen.
Im Blick auf uns selbst können wir nie von Selbsterniedrigung
sprechen; denn wir sind an und für sich nichts. Wir müssen
215
praktisch in Christo sein und Seine Gesinnung muß in uns sein,
und indem wir so mit uns selbst ein Ende gemacht haben, demütigen wir uns in Gnade, offenbaren die Gesinnung, die in
Christo Jesu war, und üben unseren Dienst aus dieser Einstellung heraus. Nur dann werden die lieblichen Früchte der Gnade
ausströmen, wie auch der Zustand der Christenheit um uns her
sein mag. Wir werden in Demut unsere Seligkeit mit Furcht
und Zittern bewirken, und zwar inmitten der geistlichen Gefahren des christlichen Lebens und inmitten der Ansprüche auf
Größe und geistliche Auszeichnung, weil wahre Größe — wie
zur Zeit der Gefängnishaft des Apostels — verschwunden ist.
Das ist nicht etwa Furcht aus Ungewißheit über unsere Seligkeit; die Tatsache, daß Gott in uns wirkt, läßt uns vielmehr
den Ernst und die Wirklichkeit des Kampfes verstehen, wozu
wir berufen sind.
Wenn der Gehorsam — in der Tat die niedrigste Stellung, da
der eigene Wille aufgehört hat — unseren Pfad kennzeichnet, so
werden wir die Gesinnung Christi suchen, um mit Seinem
Charakter bekleidet zu sein. Gesegnetes Vorrecht! Würden wir
diese Gesinnung mit Eifersucht bewahren, und von dem absehen, was wir in uns selbst sind und besitzen, dann würde die
köstliche Gnade himmlischer Liebe uns beseelen und zu einer
Liebestätigkeit vereinigen, die vor allem auf Christum und die
Herzen der Heiligen gerichtet ist. In einem solchen Zustand ist
es leicht, andere höher zu achten, als sich selbst. Paulus betrachtete die Philipper nach dem Wert, den sie für Christum hatten,
und darum war er bereit als Opfer über ihren Glauben gesprengt zu werden, und wenn wir nahe bei Christo sind, erkennen auch wir den Wert, den andere für Christum und in Christo haben und zugleich auch unser eigenes Nichts, ja vielleicht
auch unseren Mangel an Liebe.
Nach diesen Andeutungen über den gesegneten Inhalt des
zweiten Kapitels lenken wir jetzt die Aufmerksamkeit des
Lesers auf das dritte Kapitel des Philipperbriefes. Wir dürfen
dabei nicht aus dem Auge verlieren, daß in dem ganzen Brief
die Seligkeit oder die Errettung des Gläubigen als noch vor
ihm liegend, jedoch keineswegs als ungewiß betrachtet wird.
Der tatsächliche Besitz der Herrlichkeit, der neue Zustand des
Menschen in dem auferstandenen und verherrlichten Chri216
stus, das ist es, worauf allein und ausschließlich das Auge ruht.
Zu diesem Zweck hat Christus den Gläubigen ergriffen, während der Gläubige damit beschäftigt ist, das zu ergreifen, wozu
er ergriffen worden ist. Christum in der Herrlichkeit zu sehen —
und der Apostel hatte Ihn wirklich dort schon gesehen — ist
der Punkt, um den sich alles dreht. Paulus erwartet, an jenem
Tage im Besitz der Gerechtigkeit aus Gott durch den Glauben
in Ihm erfunden zu werden. Von diesem Gedanken ist er so
ausschließlich erfüllt, daß er alle jüdischen und menschlichen
Vorrechte, alles was ihn sonst erheben könnte, abtut. Der
ganze christliche Zustand wird so in Verbindung mit der Auferstehung als zukünftig betrachtet; ist man nämlich „hingelangt zur Auferstehung aus den Toten", so besitzt man alles.
Indem wir zu Gott kommen, erlangen wir die Rechtfertigung,
die Gerechtigkeit als die Folge unserer Annahme in Christo,
und wir kommen in Christo zu Gott. In der Tat wartete der
Apostel auf einen Zustand der Auferstehung der Herrlichkeit.
Dies hatte er noch nicht ergriffen oder erreicht und war darum
auch noch nicht vollendet. Der Zustand des Menschen, der von
Gott nicht lebendig gemacht ist, ist der Zustand des ersten
Adam. Was der Apostel hier von den Gläubigen erwartet, ist
nicht allein, daß er sich einfach vom Bösen, sondern daß er sich
von diesem Zustand fernhalte und daß er, stets im Geiste
wandelnd, zur Herrlichkeit fortschreite und in keinerlei Weise
mit der Sünde beschäftigt sei. Paulus sieht ihn ohne Rückhalt
in den neuen Zustand gebracht, als eins mit Christo in der
Herrlichkeit.
Hätte der Apostel alle Gerechtigkeit aus dem besessen, so wäre
es doch nur eine Gerechtigkeit des ersten Adam und nicht des
Christus, nicht die Gerechtigkeit Gottes aus Glauben, und das
wollte er nicht. Er hatte Christum — den letzten Adam — aufgenommen in Herrlichkeit gesehen. Er war ergriffen worden,
um Ihm gleichförmig zu sein, gleichförmig diesem ganz neuen
Zustand und der Stellung eines Menschen, der sich in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit Gottes befand. Was er in
Christo erblickte, das hatte in seinem Herzen alles andere ersetzt. Er konnte mit nichts Geringerem zufrieden sein. Er
konnte nicht die Stellung des alten Menschen, selbst wenn
dieser Gerechtigkeit besaß, und zugleich die des neuen Menschen einnehmen; beide waren unvereinbar. Er achtete alles für
217
Verlast und Dreck, was dem ersten Menschen, dem Paulus,
dem Ich, Ehre und Ansehen gab. Der auferstandene, verherrlichte Mensch stand vor seinem Auge, nicht in dem Sinn, daß
Christus uns gerechtfertigt hat, weil wir mit Ihm, Der unsere
Versöhnung vollbracht hat, gestorben und mit Ihm nach dem
Wert jenes Werkes auferstanden sind, kraft dessen Er in Seiner
Person auferweckt worden und unsere Annahme als Gerechtfertigte vor Gott bezeugt ist. Auch wird die Auferstehung hier
nicht als die Ursache unserer Rechtfertigung, sondern als ein
neuer Zustand betrachtet, der im Ergebnis auch die Gerechtigkeit Gottes einschließt. Es ist der völlig neue Zustand der Herrlichkeit — ein Zustand, in den das Christentum uns einführt.
Für den Glauben des Apostels existierte der alte Mensch mit
seiner Gerechtigkeit und mit allem, was er je besaß, nicht mehr;
sein Glaube war auf den neuen Menschen, das ist auf Christum
Selbst gerichtet. In Ihm erblickte er seinen eigenen Platz in der
Herrlichkeit und hatte demzufolge teil an der „Auferstehung
aus den Toten" (V. 8—11). Dies führt uns zu dem großen
Grundsatz unseres Kapitels — zu dem ernsten und ungeteilten
Streben nach der Herrlichkeit, nach Christo Selbst, wobei, um
dieses Ziel zu erreichen, alles andere für nichts geachtet, für
wertlos gehalten wird. In dem vorhergehenden Kapitel sahen
wir Christum in Seiner Erniedrigung, und das gereicht uns auf
unserem Weg hier zur gleichen Offenbarung der Gnade gegen
andere. Indem wir Christum, den zweiten, den verherrlichten
Menschen vor Augen haben, erlangt unser Streben geistliche
Energie, erhebt uns über die Welt, über alle ihre Beweggründe
und über alles, was dem alten Menschen Ansehen verleiht; es
macht, als der Gegenstand des neuen Menschen, das Herz weit
und erfüllt es mit himmlischer und ungeteilter Gesinnung in
unserem christlichen Lauf.
Es ist eine der Schönheiten des Christentums, daß es durch
unsere Versöhnung in Christo jene friedliche Zuneigung verleiht, die uns in einem bestehenden Verhältnis vollkommen
glücklich sein läßt und uns zugleich jenen höchsten Gegenstand
unserer Hoffnung vor Augen stellt, der uns zu einer ununterbrochenen Tätigkeit drängt. Diese beiden Elemente bilden die
menschliche Natur für das Gute; sie werden in der höchsten,
göttlichen Weise in Christo gefunden.
218
Mit dem zweiten Element befaßt sich unser Kapitel. Der hier
entwickelte völlig befriedigende herrliche Grundsatz — der
Kampfpreis unserer Berufung nach oben, die Auferstehung aus
den Toten — schließt jede Selbstsucht aus. Alles, was das Ich
mit Ehre bekleidet, ist nur Verlust; es erhebt den alten Menschen. Christus erfüllt das Blickfeld des Gläubigen. Diese Schau
löst uns von allem anderen; sie erhöht den Menschen, aber
nicht das Ich. Wenn der moderne Unglaube den Menschen erhebt, so erhebt er einfach das Ich, während das Christentum
den Menschen zu himmlicher Herrlichkeit und göttlicher Hoheit
emporhebt, aber das Ich gänzlich beiseite setzt. Der Apostel
erklärt „was mir Gewinn war, habe ich um Christi willen für
Verlust geachtet" (V. 7). Gelehrsamkeit, das Verständnis fremder Sprachen u. a. m., ist ein Gewinn für das Ich; meine eigene
Gerechtigkeit, deren ich mich in der Welt oder vor Gott rühmen
kann, ist Nahrung für das Ich. So bin und besitze ich etwas,
was andere nicht sind und nicht besitzen. Solcher Beweggründe
bedarf die Welt. Sie handelt danach; denn sie besitzt keine
anderen. Doch welche Energie solche Bewegungen auch zu erzeugen vermögen, einen Fortschritt in moralischer Beziehung
bewirken sie nicht. Das Ich bleibt die Quelle und der Mittelpunkt aller menschlichen Tätigkeit, auch wenn diese Tätigkeit
große Anerkennung in der Welt findet. Selbst in religiösen
Dingen können wir dies wahrnehmen. Herr „gib uns, daß wir
einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken sitzen
mögen in deiner Herrlichkeit" (Mk 10, 37). — das war die
Sprache des Ichs; einen guten Platz mit anderen gemeinsam
verlangten die beiden Jünger nicht. Der erhabenste Wunsch,
wodurch das Herz von sich selbst ab und zu Christo hingezogen
wird — die höchste Segnung, ausgedrückt in den Worten: „daß
ich Christum gewinne", finden wir hier nicht.
Dieser Wunsch offenbart die Zuneigungen des Herzens zu
Dem, Der, in Sich Selbst höchst vortrefflich, stets die Wonne
des Vaters war. Gott hat uns das Vorrecht gegeben, unsere
Wonne dort zu finden, wo auch Er Seine völlige Wonne gefunden hat. Welch ein herrliches Zeugnis von unserer wahren Versöhnung mit Gott, die nicht nur zu unserer Rechtfertigung nötig
war, sondern die auch unsere moralische Natur zu dem Maße
göttlicher Wonne und Gemeinschaft erhebt, obwohl wir stets
219
die Empfangenden sind, die sich einer solchen Liebe erfreuen.
Er ist immer der göttliche Geber; aber beide, sowohl der Geber,
wie der Empfänger, finden in Christo gleicherweise ihre
Wonne. Die Kreatur besitzt eine Natur, die ihr angepaßt ist
und sein muß; aber der moralische Zustand einer Seele wird
durch ihr Vorbild gebildet und charakterisiert. Wir sind hier
zu Teilnehmern der göttlichen Natur gemacht und haben ein
göttliches Vorbild. Aber wir befinden uns jetzt noch nicht im
Zustand der Ruhe. Wir leben inmitten einer Welt, durch welche
Satan uns zu verführen sucht, indem er auf den alten Menschen einwirkt. Doch wir sind von Christo ergriffen, und das
flößt Mut und Dankbarkeit ein; zudem verleiht Er, als der
Gegenstand unserer Hoffnung, uns die nötige Energie, und da
Er von dem Streben nach selbstsüchtiger Rückkehr zu unserer
eigenen Wichtigkeit befreit, ist Seine Person der mächtige Anziehungspunkt, der uns den Sieg über die Dinge dieser Welt
gibt. Das Bewußtsein, daß wir unser Ziel noch nicht erreicht
oder ergriffen haben, hält uns in Demut und läßt uns, weil wir
Christum zu ergreifen haben, mit einer heiligen Zuneigung
tätig sein. Wir sind durch die anziehende Macht einer auf den
neuen Menschen wirkenden göttlichen Person von der Welt
befreit. Das gibt eine unbesiegbare Kraft, indem das Selbstgericht in der Weise ausgeübt wird, daß wir alles mit Christo in
Verbindung bringen. Dies ist das sicherste Mittel, alles richtig
zu beurteilen und den Zuneigungen ihren wahren Platz einzuräumen; denn sonst kann in moralischen Dingen kein klares
Urteil gefällt werden.
Daneben offenbart sich hier noch ein anderes weniger hervorragendes Element, nämlich eine Macht, die der Macht dieser
Welt entgegengesetzt ist. Ohne Zweifel ist diese Macht durch
den Heiligen Geist gewirkt; aber es geht mir hier nicht um die
Quelle, sondern um die Offenbarung dieser Macht. Man ist
mehr als Überwinder. Das ist die Kraft des Wortes: „Auf irgendeine Weise". — Hier zeigt sich kein Schwanken. Was es
den Apostel auch kosten mochte, welche Wege er auch einschlagen mußte — er war mit allem zufrieden, wenn er nur
seinen Zweck erreichte. Selbst Leiden und Tod hatten keine
Schrecken für ihn; sie bewirkten nur eine um so größere Gleichförmigkeit mit Christo, den er zu ergreifen suchte. Wie wir
220
hier bemerken, suchte er die Kraft der ersten Auferstehung. Er
kannte die göttliche Energie dieses neuen Lebens, die ihn, sozusagen im Geiste, aus dem gegenwärtigen Leben herausversetzte, so daß die Leiden und der Tod — das Ende dieses Lebens
— als Folge seiner Hingabe an Christum ihn nur Christo gleichförmig machten und ihn also auf irgendeine Weise und sei es
auch durch den Tod — die Herrlichkeit des inneren Zusfcandes zu
erreichen befähigte, in welche Christus durch die Auferstehung
eingegangen war. Das soll nicht heißen, daß dieser Zustand für
Christum persönlich neu war; aber er war neu für den Menschen, für die menschliche Natur, welche Er in Gnaden angenommen hatte und mit welcher Er in die Herrlichkeit eingegangen ist. Gerade der Blick auf den Zustand der Auferstehung aus den Toten gab dem Wandel und der täglichen Energie
des Apostels den ausgeprägten Charakter. Er konnte nicht
sagen, daß „er es schon ergriffen habe oder schon vollendet
sei"; denn zu dieser Vollendung gehörte das Gleichsein mit
Christo in der Herrlichkeit. Jedoch jagte er ihm nach, um es zu
ergreifen, wozu er auch von Christo ergriffen war; und indem
er dieses Ziel verfolgte, sah er kein anderes Leitbild. Er kannte
nur dieses eine Ziel und verfolgte es nicht träge und saumselig, sondern mit Ernst und ungeteiltem Eifer, indem er nicht
nur gewisse Dinge mißbilligte, sondern in der überwältigenden
Macht Dessen, Der ihn von allem anderen befreit und ihn an
den einen Gegenstand gefesselt hatte. Stets war dieser Gegenstand vor seinen Augen, aber er hatte ihn noch nicht ergriffen;
immer glänzender wurde er vor seinem Geiste, aber er besaß
ihn noch nicht. Dies veranlaßte ihn, stracks nach vorne zu sehen
und sich nicht mit dem Wege zu beschäftigen, den er zurückgelegt hatte. Er vergaß, was hinter ihm war, und streckte sich
nach dem aus, was vor ihm war. Wer in seinem Wettlauf
stehenbleibt, um den zurückgelegten Weg zu besehen, wird das
Ziel nicht erreichen; das Ich rückt dann in den Vordergrund,
das Manna erzeugt Würmer, und das Herz entfernt sich von
dem was es fesselte.
Die Energie eines einfältigen Auges erzeugt noch eine andere
bemerkenswerte Wirkung: man schaut ausschließlich auf das,
was himmlisch ist. Es ist die Berufung nach oben, an die sich
die Hoffnung und die Gedanken knüpfen, indem man, wie der
221
Apostel sagt, nicht „die Dinge anschaut, welche man sieht,
sondern die, welche man nicht sieht". Das gibt dem ganzen
Wesen und Verhalten des Menschen ein himmlisches Gepräge.
Sein Wandel ist im Himmel, sein Verkehr ist dort oben, das
Herz ist erhoben und mit Dank erfüllt. Es ist die Berufung
Gottes nach oben in Christo Jesu. Das einsichtsvolle Herz erkennt die Quelle und den Weg dieser Berufung.
Ich sehe davon ab, mich mit dem zu befassen, was der Apostel
hier als Gegensatz zu dem Vorhergehenden aufstellt. Es ist die
irdische Gesinnung. Sie fördert das Wachstum nicht, sondern
zieht den Menschen nur ab von dem, was himmlisch, rein und
göttlich ist. Ihr abträglicher Einfluß geht so weit, daß der Apostel von „Feinden des Kreuzes Christi" spricht. Das Kreuz ist
der Tod dieser Welt. Der Heilige rühmt sich durch das Kreuz
der Welt gestorben zu sein. Wenn jemand im Geiste dieser
Welt lebt, so ist er ein Feind des Kreuzes. Das Ende ist Verderben.
Uns bleibt nur eins, nämlich die Hoffnung des Christen bis zu
ihrer Erfüllung in der Ankunft des Herrn zu verwirklichen. Wir
haben diese Hoffnung, „diesen Schatz in irdenen Gefäßen".
Christus wird kommen und den Leib unserer Niedrigkeit so
umgestalten, daß er dem Leibe Seiner Herrlichkeit gleichförmig
ist. Dann wird das, was wir jetzt in Hoffnung besitzen, was wir
ersehnen, was unsere Herzen schon hier bildet, in Herrlichkeit
erfüllt sein. Wir werden Christo gleich und immer bei Ihm sein.
Dies ist das Wesen einer Energie, die uns nicht nur befreit,
sondern uns auch über alles, was in der Welt ist, triumphieren
läßt, indem sie unsere Neigungen den Dingen zuwendet, die
droben und nicht auf der Erde sind, und indem sie Christum,
Der droben ist, zur glänzenden und gesegneten Kostbarkeil
unserer Herzen macht. J.N.D.
Der Herr in der Mitte Seiner Jünger
Es war am Tage der Auferstehung unseres Herrn. Die Jünger
waren versammelt und hatten aus Furcht vor den Juden die
Türen verschlossen. Plötzlich nun stand Jesus in ihrer Mitte.
222
Der auferstandene Herr erschien im Kreise der Seinen. Ja wahilich, es war Derselbe Jesus, Den ihr Auge gesehen hatte. Er hatte
Fleisch und Bein; man konnte die Zeichen der Kreuzigung an
Ihm sehen. Und dennoch, wie sehr war alles an Ihm verändert!
Er war der Überwinder des Todes und des Grabes. Der Vater
hatte Ihn aus den Toten auferweckt. Sein Leib war nicht mehr,
den Mühsalen und Schwachheiten des menschlichen Lebens
unterworfen: Er hatte einen verherrlichten Leib. Die verschlossenen Türen konnten Ihn nicht hindern plötzlich in die Mitte
Seiner Jünger zu treten. Acht Tage später wiederholte sich
dasselbe wunderbare Ereignis. Wiederum waren die Jünger am
ersten Tage der Woche versammelt und diesmal war auch
Thomas bei Ihnen. Wiederum, trotz der verschlossenen Türen,
erschien Jesus in ihrer Mitte.
Wie treffend und herrlich ist dies für uns, besonders wenn wir
daran denken, daß, wie der Herr damals persönlich in der
Mitte Seiner Jünger erschien, Er jetzt im Geist in unsere Mitte
tritt, wenn wir uns in Seinem Namen versammeln. Zweimal —
und zwar jeweils am ersten Tage der Woche — trat Er in den
Kreis der Seinigen. Es war der Tag der Auferstehung, der Tag
des neuen Lebens. Das alte war vergangen — siehe, alles war
neu geworden. Hierdurch hat der Herr diesen Tag zum Tag der
Zusammenkunft für die Seinen geweiht. Die erste Versammlung oder Gemeinde hat dies gut begriffen. Wie die Schrift
besagt, versammelten sich die Jünger am ersten Tage der
Woche, um das Brot zu brechen und in der Offenbarung wird
dieser Tag der „Tag des Herrn" genannt. Wie herrlich für uns!
Wenn wir uns am ersten Tag der Woche im Namen Jesu versammeln, so folgen wir also dem Beispiel unseres Herrn und
der ersten Jünger. Dann kommt Jesus in unsere Mitte, um uns
zu segnen. Freilich sehen wir den Herrn nicht, wie die Jünger
Ihn an den zwei ersten Sonntagen sahen. Er ist jetzt verherrlicht und sitzt zur Rechten Gottes; aber dennoch ist Er ebenso
gewiß in unserer Mitte. Das Auge des Glaubens schaut Ihn.
Und damit wir nicht etwa meinen, unser Vorrecht sei geringer
als das der Jünger, sagt Er: „Glückselig sind, die nicht gesehen
und geglaubt haben"! Welch ein Glück! Sowie Thomas den
Herrn sah und betastete, können wir Ihn mit unseren Sinnen
nicht wahrnehmen; aber das vermindert unsere Freude nicht.
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Im Gegenteil, die, welche nicht sehen und dennoch glauben,
werden vom Herrn Selbst glückselig gepriesen. Wie wichtig ist
es daher, am ersten Tag der Woche in der Mitte der Jünger zu
sein! Dort begegnet man dem Herrn, und wieviel entbehrt der,
welcher eine solch feierliche Gelegenheit versäumt! Thomas
blieb acht Tage länger in Furcht und Zweifel, weil er am ersten
Wochentag abwesend war. Wie gern möchte der Herr uns
segnen, wie gern unser Herz erquicken! O möchte es doch stets
unsere Freude sein, uns vom Herrn segnen zu lassen!
Welch herrliche Segnungen empfingen die Jünger am ersten
Tage der Woche! Jesus trat in ihre Mitte und sprach: „Friede
euch"! In einer solchen Weise hatte Er noch nie zu ihnen gesprochen. Zwar lesen wir in Joh 14, 27 ähnliche Worte; aber
wir dürfen nicht übersehen, daß sich der Herr damals im Geiste
an das Ende des vollbrachten Werkes der Erlösung versetzte.
Hier erscheint Er als der Versöhner der Sünden, als der Erlöser
vom Gericht und vom ewigen Verderben und als Sieger über
Tod, Grab und Hölle in der Mitte der Seinen und ruft ihnen zu:
„Friede euch"! Der Friede war gemacht und Er, der Friedefürst
Selbst, erscheint, um ihnen den Frieden zu verkündigen. Jetzt
war nichts Trennendes mehr zwischen Gott und ihnen. Alles
war hinweggetan; alle Dinge waren in Ordnung. Welch eine
Freude für die Jünger! Als sie dies verstanden, als der Herr ihre
Herzen für die herrlichen Dinge öffnete, da wurden sie voll
Freude erfüllt. Selbst als der Herr bei der Himmelfahrt ihren
Blicken entschwand, kehrten sie, Gott lobend und preisend,
mit großer Freude nach Jerusalem zurück. Waren sie noch kurz
zuvor bestürzt und beunruhigt gewesen, als der Herr nur von
Seinem Heimgang gesprochen hatte, so freuten sie sich jetzt mit
großer Freude, weil sie den Zweck Seines Werkes und Seines
Hingangs zum Vater begriffen hatten.
Und nachdem ihnen der Herr das Wort: „Friede euch" zugerufen hatte, zeigte Er ihnen Seine Hände und Seine Seite.
Wie treffend! Er will sie verstehen lehren, daß Er ihnen darum
jenes Wort zurufen konnte, weil Er am Kreuz gestorben war.
Der Friede war gemacht; aber es hatte Ihn das Leben gekostet.
Das mußten sie verstehen und in ihren Herzen erwägen.
Und, geliebte Brüder, tut Er nicht dasselbe, wenn Er am ersten
Wochentage in unserer Mitte erscheint? Sicher. Er hat uns
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Seinen Tisch zubereitet und hier sehen wir die Sinnbilder
Seines Leidens und Sterbens vor uns. „Das Brot, das wir
brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus?
Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des Christus"? Ja, so wie der Herr persönlich im Kreise Seiner Jünger erschien und ihnen die Male in
Seinen Händen und Seiner Seite zeigte, so tritt Er jetzt in
unsere Mitte und zeigt uns in dem Brot und dem Kelch, daß
Er für uns Sein teures Leben hingegeben und Sein kostbares
Blut vergossen hat. Und dabei ruft Er uns gleichsam zu: „Sehet,
alles habe ich für euch vollbracht, ich habe eure Sünden hinweggenommen und habe euch mit Gott versöhnt — Friede
euch"! So hat Er uns geliebt, daß Er den Tod am Kreuze für
uns erduldete. Um uns Frieden schenken zu können, war Er im
Gericht. Um uns für ewig in die Gemeinschaft mit Gott zu
bringen, wurde Er von Gott verlassen. Welch eine Sicherheit
für unsere Herzen! Er, Der das Werk vollbracht und Frieden
gemacht hat, kommt Selbst in unsere Mitte, um uns zu versichern, daß alles in Ordnung sei. Ja, nun brauchen wir nicht
mehr zu zweifeln. Auch wir können voll Freude sein und Gott
loben und preisen. Der auferstandene und verherrlichte Jesus
erscheint in unserer Mitte, um uns die kostbare Versicherung
zu geben, daß wir für ewig erlöst sind. Sein Name sei gelobt
bis in alle Zeitalter.
Der Magnet
„Ich kann durchaus nicht begreifen", sagte eines Tages ein
Gläubiger zu seinem christlichen Freunde, „in welcher Weise
der Herr Jesus die Seinen aufnehmen wird. Wie wird dies
geschehen? Kannst Du es mir erklären"?
„O ja", war die Antwort. „Hast du schon einmal beobachtet,
wie eine Nadel von einem Magneten angezogen wird? Ebenso
wird es bei der Ankunft des Herrn sein. Er wird vom Himmel
herniederkommen und die Seinen zu Sich ziehen, wie der Magnet die Nadel anzieht".
So wird es sein. Wie die Nadel zu dem Magneten aufspringt
und sich an ihm festklammert, so werden alle, die Christo an225
gehören — wie schwach, wie unwissend, wie gebrechlich sie auch
sein mögen — aufspringen, um dem kommenden Herrn entgegenzugehen. Die entschlafenen Heiligen werden auferstehen,
die noch lebenden Heiligen verwandelt werden, und alle zusammen werden dem Herrn entgegeneilen.
Hierzu noch ein anderer Vergleich! Man fülle ein Gemisch aus
Nadeln und Sand in ein Glas und halte einen kräftigen Magneten darüber. Dieser zieht alsbald die Nadeln an sich, während
der Sand im Glase zurückbleibt. So wird es bei der Ankunft des
Herrn sein. Die Seinen sind in der Welt; sie teilen mit den
Kindern dieser Welt dasselbe Zimmer, dasselbe Pult, fahren
mit demselben Schiff und wandeln auf derselben Straße; aber
wenn Christus kommt, werden alle, die Ihm angehören Ihm im
Nu entgegengerückt werden. Ihre Aufnahme wird eine Folge
der Anziehungskraft Seiner Person, sowie der moralischen
Übereinstimmung sein, die zwischen Ihm und ihnen besteht,
während alle, die Ihm nicht angehören, gleich jenen Sandkörnern zurückbleiben.
Lieber Leser! Wie würde es mit dir sein, wenn der Herr käme,
während du diese Zeilen liest? Er kann jeden Augenblick kommen. Seine Verheißung ist sicher. Er hat gesagt: „Ich werde
wiederkommen"! und: „Ich komme bald"! Die Seinen sind
berufen, täglich nach Seiner Ankunft auszuschauen. Es muß
nicht etwa vor dieser Zeit noch irgend etwas geschehen. Wir
warten nicht auf Zeichen. Wir warten auf die Wiederkunft
des Sohnes Gottes vom Himmel. Unsere Hoffnung wird keineswegs begrenzt durch die Erfüllung der Prophezeiungen. Die
Propheten beschäftigten sich mit Israel und den Nationen, mit
den Ereignissen, die auf der Erde stattfinden werden. Die Versammlung aber wartet auf die Erscheinung des „glänzenden
Morgensterns". Sie erwartet die Ankunft des Herrn Jesus vom
Himmel und wenn Er kommt, werden alle wahren Gläubigen
zu Ihm aufgenommen, während alle Namenchristen zum Gericht zurückbleiben werden.
Das ist in der Tat sehr ernst für alle, die ohne Chrisrum sind.
Bedenke es, mein Leser! Der Herr Jesus kommt für die Seinen.
Dieses Ereignis steht mit göttlicher Klarheit vor den Augen
jedes Christen, der sich vor der Autorität der Heiligen Schrift
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beugt. Er erwartet keineswegs die Bekehrung der Welt durch
das Evangelium. Er weiß, daß die Welt je länger um so schlechter und die Nacht je länger, um so finsterer wird. Er glaubt,
daß der Unglaube und der Aberglaube immer mehr zunehmen,
daß sie wie ein Strom das Christentum überfluten werden und
daß das Gericht das gegenwärtige Zeitalter beschließen und die
Erde für die tausendjährige Herrlichkeit reinigen wird. Wie
wichtig ist es daher, bereit zu sein! Bist du bereit, mein Leser?
Bist du durch Christum gerettet und durch den Heiligen Geist
versiegelt? Wenn es so ist, dann laß die selige Hoffnung der
Ankunft Jesu dein Herz erfüllen! Erwarte Ihn jeden Tag! Er
kommt bald. Darum lebe getrennt von der Welt und von dem
was in der Welt ist! Reinige dich vom Bösen und von allem,
was Gott nicht wohlgefällt. „Wer diese Hoffnung zu ihm hat,
reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist". Der Herr hat uns Sein
ganzes Herz geschenkt; schenken wir Ihm darum auch unser
Herz! Laßt uns mit umgürteten Lenden und mit brennenden
Lampen den Herrn erwarten, Der als Bräutigam kommt, um
Seine geliebte Braut abzuholen und sie in das Haus des Vater?
zu bringen, wo Er uns jetzt einen Platz bereitet.
O wie herrlich wird es sein, Ihn zu sehen, wie Er ist, und Ihm
gleich zu sein! Bei Ihm werden wir ruhen und unaussprechliche
Freude genießen. Wir werden eine ununterbrochene Gemeinschaft mit Ihm haben, und zwar bis in alle Ewigkeit. O komm,
Herr Jesu, und nimm uns auf in Deine Herrlichkeit!
Die zwei Häuser
Ein reicher, mir wohlbekannter Mann beschloß, sich ein großes
und schönes Haus zu bauen. Er kaufte sich einen Platz im
schönsten Teil der Stadt und scheute keine Kosten, seinen Plan
in der prachtvollsten Weise auszuführen. Er ließ geräumige
Zimmer und große Salons einrichten und trug Sorge, daß diese
im Winter wohltuende Wärme und im Sommer erfrischende
Kühle darboten. Nichts wurde gespart, um das Haus so schön
und so bequem wie nur möglich zu gestalten, und sicher hoffte
er, viele Jahre im Genuß seiner neuen und eleganten Wohnung
zu leben.
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Doch neben diesem großen Haus ließ er zugleich noch ein anderes Gebäude errichten. Wie verschieden aber waren diese beiden Häuser! Während das eine eine Menge prachtvoller Gemächer enthielt, umfaßte das zweite nur ein kleines Zimmer
für die ganze Familie, und zwar unter der Erde. Obgleich die
Mauer aus glänzendem Marmor aufgeführt wurde, fand sich
doch nur eine kleine eiserne Tür und sonst keine Öffnung.
Sonderbar! Beide Wohnungen waren für dieselben Personen
bestimmt, jedoch das hohe geräumige und prachtvolle Gebäude
für die Lebenden, das andere — eine kleine enge und niedrige
Gruft — für die Toten, d. h. für die Angehörigen dieser reichen
Familie im Falle ihres Ablebens. Lange vor der Vollendung des
großen Hauses war bereits die Gruft fertig und der reiche Bauherr zog dort ein, noch ehe die schöne Wohnung für ihn fertig
war. Wie seltsam! Lange bevor die geräumigen Gemächer des
neuen Hauses wohnlich eingerichtet waren, befand sich der
Eigentümer in dem engen, dunklen und kalten Raum, den er
nicht eher verlassen wird, als bis die Stunde kommt, in welcher
alle, die in den Gräbern sind, die Stimme des Sohnes Gottes
hören werden.
Das ist, lieber Leser, eine Begebenheit, die deine Aufmerksamkeit fesseln sollte. Viele Dinge im Leben können heiter und
glänzend scheinen und reiche Genüsse versprechen. Wie leicht
aber wird ihr Ende außer acht gelassen oder gar aus den Gedanken verbannt und in die Ferne gerückt! Das „Haus der
Lebenden" ist so groß und so herrlich, daß es in deinen Augen
das „Haus der Toten" verbirgt und überdeckt. Aber vergiß
nicht, daß du —gleich dem Manne in unserer kleinen Erzählung,
ins Grab gelegt werden kannst, bevor du in den Genuß der
erwarteten Lebensfreuden gekommen bist. Der Heiland sagt:
„Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt,
wird leben, auch wenn er gestorben ist; und jeder, der da lebt
und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit" (Joh 11,
25. 26). Das ist wahr in jedem Sinne. Der wahre Gläubige,
dessen Sünden vergeben sind und der in Christo angenommen
ist, hat die Verheißung eines Hauses, welches nicht mit Händen
gemacht ist, das ein ewiges ist, und das nicht in dieser vergänglichen Welt, sondern in den Himmeln ist. Der Übergang des
Gläubigen aus diesem in jenes Leben ist kein Sterben, sondern
ein Entschlafen auf der Erde, um beim Herrn zu erwachen